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Aristoteles: Die Hauptwerke

2009
978-3-7720-5314-6
A. Francke Verlag 
Otfried Höffe

Aristoteles beginnt seine Metaphysik mit dem Satz, daß alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben. Diese Wißbegier führt bei ihm zu einem geradezu enzyklopädischen Werk, das im Laufe der Jahrhunderte nicht nur Philosophen maßgeblich beeinflußt hat, sondern ebenso Naturforscher und Theologen, Literatur- und Politikwissenschaftler, Juristen, Psychologen und Ökonomen. Das Aristoteles-Lesebuch schließt eine Lücke auf dem deutschen Markt: Es bietet eine sorgfältige Auswahl der zentralen Texte des Aristoteles, die aus den fundiertesten deutschen Übersetzungen der entsprechenden Schriften zusammengestellt wurden. Dadurch erschließt sich dem Leser das umfassende Werk eines des wichtigsten Philosophen der Weltgeschichte. Durch Berücksichtigung auch der kleineren Schriften werden die von Aristoteles behandelten Themen, die von der Logik, von Biologie über Physik, Metaphysik bis hin zur Ethik und Politik reichen, sowohl in ihrem Zusammenhang als auch in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit deutlich.

OTFRIED HÖFFE ARISTOTELES: DIE HAUPTWERKE EIN LESEBUCH ARISTOTELES: DIE HAUPTWERKE © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. OTFRIED HÖFFE ARISTOTELES: DIE HAUPTWERKE EIN LESEBUCH © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Titelabbildung: Die Schule von Athen, Fresko von Raffael (1509) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Satz: SATZPUNKT Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8314-3 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Inhalt Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .x Einführung: Leben, Werk, Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi I. Wissen und Wissenschaft Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .3 1. Zur Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .18 1.1 Begründetes Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .18 1.2 Methodische Maximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .18 1.3 Zwei Perspektiven des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .18 1.4 Notwendiges Vorwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20 1.5 Bildung (paideia) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21 1.6 Umfassende Naturforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21 2. Über den Satz (De Interpretatione) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23 2.1 Grundlegende Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23 2.2 Allgemein- und Einzelaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28 2.3 Aussagen über Zukünftiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .31 3. Dialektik (Topik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36 3.1 Der dialektische Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36 3.2 Dialektische Prämisse und dialektisches Problem . . . . . . . .42 3.3 Drei Gruppen von Prämissen und Problemen . . . . . . . . . .46 4. Logik: Syllogistik (Analytica priora) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .46 5. Lehre vom Beweis (Analytica posteriora) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .62 5.1 Der wissenschaftliche Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .62 5.2 Arbeitsweise der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .71 5.3 Wovon es kein (demonstratives) Wissen gibt . . . . . . . . . . .79 5.4 Die Frage nach dem Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .80 5.5 Erkenntnis der Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .82 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. vi Inhalt 6. Einteilung der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .85 II. Naturphilosophie Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .87 1. Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .98 1.1 Der Begriff der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .98 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität . . . . . . . .101 1.3 Bewegung und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .116 1.4 Entstehung und qualitative Veränderung . . . . . . . . . . . .122 1.5 Das Unbegrenzte (Unendliche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .124 1.6 Der Ort (Platz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .130 1.7 Die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .135 1.8 Das Zusammenhängende (Kontinuierliche); Kritik an Zenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 2. Kosmologie (Über den Himmel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .148 2.1 Der erste Körper („Äther“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .148 2.2 Der Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .150 2.3 Die Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .158 3. Zoologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .161 3.1 Die Elementarqualitäten; das Blut . . . . . . . . . . . . . . . . .161 3.2 Die Seelen der Lebewesen; das Denkvermögen . . . . . . . .170 3.3 Entwicklung des Kükens im Ei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .173 3.4 Natürliche Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .175 4. Psychologie (De anima) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .177 4.1 Methodische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .177 4.2 Allgemeines über die Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .181 4.3 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .188 4.4 Passiver und aktiver Intellekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .193 4.5 Streben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .197 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. vii Inhalt III. Erste Philosophie: Metaphysik Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .207 1. Frühe Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .219 2. Wissenschaft der ersten Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .227 3. Aufzählung von Aporien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .233 4. Wissenschaft vom Seienden als Seiendem . . . . . . . . . . . . . . . . .235 5. Der Satz vom Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .241 6. Wissenschaft von der Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .244 7. Das Seiende als Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .270 8. Wissenschaft vom Göttlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .273 IV. Ethik ( Nikomachische Ethik ) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .285 1. Gegenstand und Methode; Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .296 2. Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .304 3. Tugend als „Mitte für uns“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .306 4. Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .314 5. Gerechtigkeit und Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .327 6. Dianoetische Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .343 7. Willensschwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .355 8. Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .374 9. Lust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .386 10. Theoretisches und politisches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .397 V. Politik Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .407 1. Von Natur aus politisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .414 2. Oikonomie; Erwerbskunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .418 3. Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .423 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. viii Inhalt 4. Verfassungen; Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .441 5. Politie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .450 6. Umwälzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .453 7. Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .458 8. Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .461 VI. Rhetorik und Poetik Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .471 1. Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .479 1.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .479 1.2 Beratende Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .484 1.3 Festrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .486 1.4 Gerichtsrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .487 1.5 Überzeugungskraft des Redners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .489 1.6 Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .490 1.7 Beispiel und Enthymem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .499 1.8 Klarheit des Stils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .503 1.9 Gattung und Form; Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .504 2. Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .504 2.1 Systematische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .504 2.2 Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .510 2.3 Vergleich von Epos und Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .518 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .521 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .524 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .533 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Abkürzungen der Werke des Aristoteles An. De anima (Peri psychês): Über die Seele An. post. Analytica posteriora (Analytika hystera): Zweite Analytiken An. pr. Analytica priora (Analytika protera): Erste Analytiken Cael. De caelo (Peri ouranou): Über den Himmel Cat. Categoriae (Katêgoriai): Kategorien EE Ethica Eudemia (Ethika Eudêmeia): Eudemische Ethik EN bzw. Ethik Ethica Nicomachea (Ethika Nikomacheia): Nikomachische Ethik Gen. an. De generatione animalium (Peri zôôn geneseôs): Über die Entstehung der Tiere Gen. corr. De generatione et corruptione (Peri geneseôs kai phthoras): Vom Werden und Vergehen Hist. an. Historia animalium (Peri tôn zôôn historiai): Tierkunde Int. De interpretatione (Peri hermêneias): Hermeneutik Met. Metaphysica (Ta meta ta physika): Metaphysik MM Magna Moralia (Ethikôn megalôn): Große Ethik Mot. an. De motu animalium (Peri zôôn kinêseôs): Über die Bewegung der Tiere Part. an. De partibus animalium (Peri zôôn moriôn): Über die Teile der Tiere Phys. Physica (Physikê akroasis): Physik Poet. Poetica (Peri poêtikês): Poetik Pol. Politica (Politika): Politik Rhet. Ars rhetorica (Rhetorikê technê): Rhetorik Soph. el. Sophistici elenchi (Peri sophistikôn elenchôn): Sophistische Widerlegungen Top. Topica (Topika): Topik Stellenangaben folgen diesem Muster: EN VII 1, 1145b2-7 = Nikomachische Ethik Buch VII, Kap. 1; in der Bekker-Ausgabe (der Standardedition des griechischen Textes) S. 1145, Spalte b, Zeilen 2-7. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Vorwort Aristoteles ist einer der wichtigsten Lehrer der Menschheit. Naturforscher und Philosoph, Logiker, Politikwissenschaftler und Gelehrter in einer Person, hat er seine außergewöhnliche intellektuelle Neugier auf so gut wie alle Bereiche der natürlichen, sozialen und sprachlichen Welt gerichtet. Dank einer seltenen wissenstheoretischen Toleranz hat er all diese Bereiche vorurteilsfrei in ihrer Eigenart und ihrem Eigenrecht erkundet. Seine Fähigkeit, die unterschiedlichsten Phänomene zu sichern und Schwierigkeiten anzuerkennen, aber auch durchzuarbeiten, neue Begriffe zu bilden und bekannte zu klären, vor allem Argumente zu finden und zu schärfen, fasziniert seit nunmehr weit über zweitausend Jahren. Dieses Lesebuch will das immense Spektrum des Aristotelischen Werkes vorstellen. Nach einer allgemeinen Einführung und den Einleitungen folgt deshalb jeweils eine Textauswahl, die sich nicht mit wenigen Hauptwerken und, abgesehen vom Kapitel „Zur Methode“, mit kleinen Portionen zufriedengibt. Für die Physik hat Roman Eisele M. A. dankenswerterweise die ausgewählten Passagen neu übersetzt. Bei allen anderen Texten greife ich auf schon vorliegende Übersetzungen zurück, wofür den Übersetzern und den Verlagen gedankt sei. Das Aristoteles-Lesebuch ist im Rahmen einer Tübinger Vorlesung entstanden. Ich danke den Studenten, meinem damaligen Mitarbeiter, jetzt Dr. Stephan Herzberg, und meinen neuen Mitarbeitern Tankred Freiberger und besonders Moritz Hildt. Tübingen, im Januar 2009 Otfried Höffe © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einführung: Leben, Werk, Wirkung Aristoteles ist einer der bedeutendsten europäischen Denker und einer der großen Kirchenväter des menschlichen Geistes. Der sowohl für die Philosophie als auch für die Einzelwissenschaften überragende Forscher und Lehrer prägt keineswegs nur das Abendland. Auch auf die klassische islamische und jüdische Theologie und Philosophie übt er einen so tiefen Einfluß aus, daß nicht erst das lateinische Hochmittelalter, sondern schon mehr als drei Jahrhunderte vorher der große orientalische Denker al-Farabi (ca. 870-950) ihn schlicht „den“ Philosophen nennt. Und im Zuge der Globalisierung philosophischer Debatten strahlt Aristoteles noch auf andere, mittlerweile auf so gut wie alle Kulturen aus. Aristoteles ist schon deshalb einer der überhaupt größten Denker der Menschheitsgeschichte, weil er in seinem immensen Werk jene Bereiche zusammenführt, die angeblich durch eine Kluft getrennt sind: die Philosophie, die Natur- und die Geistes- oder Kulturwissenschaften. Auch überwindet er die Trennung von umfassender Materialsuche, empirischer Forschung und prinzipienorientierter Theorie. Im Gegensatz zur Einschätzung prominenter Nichtkenner legt Aristoteles weder auf leere Begriffsunterscheidungen wert, noch verfällt er in ein abstraktes, überdies dogmatisches Systemdenken. Um den Phänomenen und deren Problemen gerecht zu werden, läßt er sich, durch und durch undogmatisch, zuerst auf die vielfältige Erfahrung ein und sammelt ein nicht nur für damals ungewöhnlich reiches Erfahrungsmaterial. Er befaßt sich mit den Gestirnen, dem Wetter, den Pflanzen und besonders ausführlich mit der Tierwelt. Er beobachtet den Menschen im persönlichen Handeln, in Familie und Freundeskreis, in Wirtschaft und Staat. Nicht zuletzt wendet er sich den Sprachformen und den Argumentationsweisen, selbst der Rede- und der Dichtkunst zu. Mit diesem empirischen Interesse für die Vielfalt der Phänomene sowohl der natürlichen als auch der sozialen und der sprachlichen Welt verbindet sich die analytische Intention, die Gegenstandsbereiche, deren Teile und Facetten, für sich und im Verhältnis zueinander zu © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xii Einführung bestimmen. Den philosophischen Höhepunkt bildet der wissenschaftlich-spekulative Versuch, all diese Gegenstände aus Ursachen und Gründen, am Ende aus schlechthin ersten Gründen, den Prinzipien, einsichtig zu machen. Der Lebensweg und die Person Für den modernen Mensch überraschend, kennt man von einer so überragenden Figur wie Aristoteles den Lebensweg und die Persönlichkeit nur in großen Zügen. Die Dokumente: das Testament, einige Briefe und Gedichte sowie Ehrendekrete, sind dürftig. Und auf die antiken, erst Generationen später verfaßten Lebensbeschreibungen kann man sich nur bedingt verlassen. Folgendes erscheint aber als gesichert: Aristoteles’ Leben fällt in die Zeit des Untergangs der klassischen Gesellschaftsform der Griechen, der selbständigen Stadtstaaten. Als der Philosoph 384 v. Chr. in Stageira (Starro), einer kleinen Stadt im Nordosten Griechenlands, geboren wird, liegt die politische Vorherrschaft und kulturelle Hochblüte Athens, das sogenannte Perikleische Zeitalter (443-429), schon eineinhalb Generationen zurück. Als Sohn des makedonischen Hofarztes Nikomachos erfährt Aristoteles eine hervorragende Ausbildung. Nach dem frühen Tod des Vaters wird er von einem Vormund erzogen, der ihn, vielleicht wegen Spannungen am makedonischen Königshof, im Jahre 367 nach Athen schickt. Hier, am internationalen Treffpunkt von Wissenschaftlern und Philosophen der Zeit, studiert Aristoteles bei dem schon betagten Rhetor Isokrates (436/ 35-338), vor allem aber beim fast 45 Jahre älteren Platon, der allerdings gerade in Sizilien weilt. Zwanzig Jahre verbringt er in Platons straff organisierter, aber undogmatischer Schule, der Akademie. Zunächst konzentriert sich Aristoteles auf sein Studium. Er bleibt freilich nicht lange Zeit ein „Schüler“; schon bald beginnt er mit selbstständigem Unterricht und eigener Forschung. Als fleißiger Leser, genauer Beobachter und scharfsinniger Analytiker wird er rasch zum Prototyp des gelehrten, aber auch weltgewandten und hochgebildeten Professors. Der Philosoph kennt nicht nur die Schriften Platons und dessen jüngerer Kollegen, etwa von Speusipp (410-339/ 38), © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xiii Einführung Xenokrates (396-314/ 13) und Eudoxos aus Knidos (400/ 95- 347/ 42). Er ist ebenso mit den Werken der Sophisten, der Vorsokratiker und der Mediziner, auch mit der griechischen Lyrik, Epik und Dramatik vertraut. Das eigene Denken, das Aristoteles bald entwikkelt, konkurriert in vieler Hinsicht mit Platons Philosophie. Die beliebte Ansicht, auf den Philosophen der Ideenlehre, den „Idealisten“ Platon, folge der Philosoph des Alltagsverstandes, der „Empirist“ und „Realist“ Aristoteles, wird aber den weit subtileren Unterschieden nicht gerecht. Eine plötzliche Erleuchtung, die den Platon-Anhänger zum Platon-Kritiker bekehrte, findet sich in Aristoteles’ intellektueller Entwicklung nicht. Ebensowenig ist eine philosophische Wende bekannt, die einen späten gegen einen mittleren und einen frühen Aristoteles abzusetzen erlaubte. Der Philosoph macht durchaus Entwicklungen durch, sichtbar zum Beispiel an einer zunächst Platon näherstehenden Begrifflichkeit. Auch enthalten etwa die Topik eine relativ frühe Form der Aristotelischen Logik und die Kategorien eine frühe Gestalt der Ontologie. Und in der Politik lassen sich ältere von jüngeren Gedankengängen unterscheiden. Insgesamt aber scheint Aristoteles’ intellektuelle Biographie bemerkenswert gradlinig und das Reifen seines Denkens rasch verlaufen zu sein. Die persönliche Biographie entfaltet sich dagegen nicht so ruhig. Die verschiedenen Ortswechsel, die die politischen Umstände erzwingen, hindern Aristoteles aber nicht, unbeirrt seiner Lebensaufgabe zu folgen, der wissenschaftlichen und philosophischen Forschung. Wie er persönlich zu Platon stand, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Vermutlich hegte er gegen Platon ähnliche Empfindungen wie dieser gegen Homer, dem Platon zwar mit „Liebe und Ehrfurcht“ und trotzdem mit scharfer Kritik entgegentritt (Politeia X, 595b). Aristoteles’ Platon-Kritik in der Ethik (I 4) wird man später zu dem Ausspruch verdichten „amicus Plato, magis amica veritas“, frei übersetzt: „Ich liebe Plato, aber noch mehr die Wahrheit“. Eine ähnliche Verbindung von Wertschätzung und Kritik erfährt Sokrates (z.B. Met. XIII 4, 1078b17-31; Pol. II 6, 1265a10-13). Platon entstammt der athenischen Hocharistokratie, Aristoteles ist nicht einmal Athener Bürger. Weil er als Metöke, also Ausländer ohne Bürgerrechte, und zusätzlich wegen seiner Beziehungen zum © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xiv Einführung makedonischen Königshof mit Argwohn rechnen muß, engagiert er sich nicht in den politischen Angelegenheiten Athens. Er begründet jedoch eine selbständige Wissenschaft der Politik. Und später soll er zwischen Makedonien und griechischen Städten politisch vermittelt und dabei manches Unheil (mit)verhindert haben. Nach Platons Tod im Jahre 348/ 47 übernimmt nicht etwa Aristoteles, sondern Platons Neffe und Erbe, Speusipp, die Leitung der Platonischen Schule, der Akademie. Aber nicht deshalb, sondern wegen politischer Gefahren verläßt der Philosoph Athen. Die folgenden „zwölf Wanderjahre“, angefüllt mit wissenschaftlicher Arbeit und philosophischer Diskussion, verbringt er zunächst bei seinem ehemaligen Mitschüler Hermeias, dem Herrscher von Assos. Dort wird er mit dem damals etwa 25jährigen Theophrast von Eresos auf Lesbos (372/ 69-288/ 85), seinem späteren Schüler und Mitarbeiter, bekannt. Er heiratet die Schwester oder Nichte Hermeias’, Pythias, mit der er eine gleichnamige Tochter zeugt. Von seiner zweiten Frau Herpyllis kommt später ein Sohn, Nikomachos, hinzu. Im Jahre 343/ 42 entsteht die weltgeschichtlich einzigartige Situation, daß einer der größten Philosophen für einen der bedeutendsten Staatsmänner die Verantwortung übernimmt: Auf Bitten des Makedonischen Königs Philipp II. leitet Aristoteles für drei Jahre die Erziehung des dreizehnjährigen Alexander. Wie sich die Erziehung abspielt, ist nicht überliefert; man darf jedoch annehmen, daß Aristoteles Alexander den Zugang zur griechischen Kultur und Literatur eröffnet. Erstaunlicherweise kommt er aber nirgends in seinem Werk auf den ungewöhnlichen Schüler zu sprechen. Gegen Ende seiner „Wanderjahre“ erhält der Philosoph von Delphi den ehrenvollen Auftrag, eine Liste der Sieger in den Pythischen Spielen zu erstellen. Für seine Leistung, ein Beispiel für Aristoteles’ weite intellektuelle Neugier, wird ihm ein Ehrendekret verliehen, das aber nach Alexanders Tod, beim antimakedonischen Aufruhr des Jahres 323, widerrufen wird. Als Alexander sich für seine Asienexpedition vorbereitet, im Jahre 335/ 34, kehrt der fast 50-jährige Aristoteles nach Athen zurück. Er geht aber nicht an die Akademie, sondern unterrichtet für zwölf Jahre am Lykeion, das wegen seiner Bauart auch Peripatos (überdachte Galerie, Wandelhalle) genannt wird. Eine Schule im formellen Sinn © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xv Einführung gründet er zwar nicht; dies wird erst seinem Nachfolger Theophrast rechtlich erlaubt. Schon Aristoteles dürfte aber die Forschung und Lehre organisiert haben. Außerdem bringt er eine für damals ungewöhnlich große Bibliothek und eine beträchtliche apparative Ausrüstung mit. Wegen der politischen Angriffe, denen Aristoteles nach Alexanders Tod ausgesetzt wird, zieht er sich mit den Worten, er wolle nicht, daß sich die Athener ein zweites Mal (nach der Verurteilung des Sokrates) gegen die Philosophie vergingen, an den Geburtsort seiner Mutter zurück. Hier, in Chalkis auf Euböa, stirbt er ein dreiviertel Jahr später im Alter von 62 Jahren. Das Testament, zu dessen Vollstreckung er seinen Freund Antipater, den Statthalter Alexanders in Griechenland bestimmt, regelt nur die persönlichen Angelegenheiten, nicht die der Schule. In Aristoteles’ Wunsch, neben seiner Frau Pythias bestattet zu werden, und in den Verfügungen zugunsten seiner Angehörigen und der Diener, zeigt sich ein liebenswürdiger, um das Wohl der ihm Nahestehenden besorgter Mensch. Eine vermutlich auf Lysipp, den Hofbildhauer Alexanders des Großen zurückgehende Porträtbüste stellt den etwa 60jährigen Aristoteles mit langem Bart, breitem Mund, starker Unterlippe dar und, als Hinweis auf eine überragende Intelligenz und Konzentration, mit einer auffällig hervortretenden Stirn. Die biographische Tradition der Antike nennt Aristoteles „den Leser“, darüber hinaus „den Geist der wissenschaftlichen Erörterung“. Das Werk Aristoteles hinterläßt ein philosophisches und einzelwissenschaftliches Werk, das schon wegen seines außergewöhnlichen Themenreichtums seinesgleichen sucht. Für die Moderne, die Epoche einer noch wachsenden Spezialisierung, ist fast unvorstellbar, daß eine einzige Person fast alle Forschungsthemen ihrer Zeit nicht nur kennt, sondern sie auch mit bahnbrechenden Forschungsleistungen bereichert. Hinzu kommen neue Forschungsbereiche, so die Topik, einschließlich der Trugschlüsse in den Sophistischen Widerlegungen, die formale Logik und als weitgehend neue Disziplin eine sowohl empirische als auch theoretische Zoologie. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xvi Einführung Allein die praktische Medizin bildet eine Ausnahme. Sie fehlt vermutlich deshalb, weil sie längst in eigenen, zudem nach außen abgeschirmten Kreisen, der hippokratischen Tradition, gepflegt wird. Die theoretische Medizin ist dagegen präsent, angefangen mit wissenschaftstheoretischen Bemerkungen bis zu den biologischen und psychologischen Schriften, die reiches Material zum Menschen, mithin Bausteine zur medizinischen Grundlagenforschung enthalten. Auch die gewöhnliche Mathematik fehlt, nicht aber die Theorie der Mathematik. Davon abgesehen befaßt sich Aristoteles mit so gut wie allen Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie der Geistesgeschichte. Er widmet sich sowohl der empirischen Forschung als auch der einzelwissenschaftlichen Theorie; er nimmt normative Untersuchungen vor und trägt zu den verschiedenen Bereichen genuiner Philosophie bei. Nach heutigem Verständnis ist er ein Naturforscher, ein Sozialforscher, ein geisteswissenschaftlicher Gelehrter und ein Philosoph zugleich. Dieser wahrhaft enzyklopädische Horizont wäre vielleicht noch relativ leicht auszuschreiten, ginge man von einer homogenen Einheitswissenschaft aus. Aristoteles lehnt sie jedoch vehement ab; er verwirft schon deren zwei Voraussetzungen, die Annahme eines einzigen Forschungsinteresses und die eines gleichgearteten Gegenstandes. Aufgrund ihrer Verbindung von Erfahrung mit Begriffsschärfe und spekulativem Denken sind Aristoteles’ Abhandlungen zur Logik und zur Beweistheorie, zur Naturphilosophie, zur Ontologie und philosophischen Theologie, zur Ethik, zur Politik, zur Rhetorik und Poetik bis heute das Urbild philosophischer Lehrschriften. Befreit man ihre Begriffs-, Struktur- und Methodenuntersuchungen, ihre Beobachtungen und Vergleichsanalysen von einiger Zeitbedingtheit und von mancher späteren scholastischen Verkrustung, so können nicht wenige von ihnen bis heute überzeugen. Umfang. In Diogenes Laërtius’ Werk Über Leben, Ansichten und Aussprüche der berühmten Philosophen findet sich ein Verzeichnis der Aristotelischen Schriften, das 146 Titel aufführt. Wenn man der Umfangsangabe trauen darf, 445.270 Zeilen, und die zwei nicht angeführten, aber wichtigen Schriften, die Metaphysik und die Nikomachische Ethik, hinzuzählt, kommt man schon quantitativ gesehen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xvii Einführung auf eine schier unglaubliche Produktivität, nämlich auf ein Oeuvre von umgerechnet 45 Bänden zu etwa 300 Seiten. Da Aristoteles’ Werk nicht so sorgfältig wie das von Platon gehütet wurde, scheint von diesem Gesamtumfang weniger als ein Viertel erhalten zu sein, was aber immer noch zehn stattliche Bände ergibt. Literarische Gattungen. Aristoteles’ schriftstellerisches Werk zerfällt in drei grundverschiedene Gattungen. Eine erste Gattung bilden die Sammlungen von Forschungsmaterial, beispielsweise zu den Lehrmeinungen früherer Philosophen und zur Naturforschung, hier insbesondere zur Zoologie, ferner zur Politik, über Sprichwörter und Homerische Streitfragen. Die Sammlung der Aufführungsdaten der Tragödien und Komödien, die sog. Didaskalien, sind verlorengegangen. Und von der berühmtesten Sammlung, der von 158 Verfassungen griechischer Stadtstaaten, ist nur die Verfassung Athens erhalten. Die zweite Gattung besteht in den stilistisch und inhaltlich ausgefeilten, für ein Publikum gebildeter Laien außerhalb (griech. exô) der Schule gedachten, daher „exoterisch“ genannten Schriften. Zu den nur in wenigen Fragmenten überlieferten Texten gehören eine Schrift, die für die Philosophie wirbt, der Protreptikos, und zahlreiche Dialoge wie etwa Über die Philosophie, Über Gerechtigkeit, Politikos/ Staatsmann und Über Dichter. Cicero lobt deren „goldenen Fluß der Rede“ (Academica II 119) und meint damit den sowohl rhythmisch als auch syntaktisch gepflegten Stil einer nur wenig gehobenen Umgangssprache. Der weitaus umfangreichste Teil der überlieferten Texte wendet sich an Schüler und Kollegen innerhalb (eso) der Schule. Von diesen „esoterischen“ Schriften ist vermutlich bloß die Historia animalium, die Tierkunde, für ein lesendes, nicht hörendes Publikum verfaßt worden. Sorgfältig ausgearbeitet, ohne die Gedankensprünge oder bloßen Andeutungen, die sich in anderen Lehrschriften finden, sind auch die beiden Analytiken und die Nikomachische Ethik. Zum weitaus größten Teil bestehen die Texte aber in nicht zur Veröffentlichung bestimmten Vorlesungsnotizen oder Kollegheften, in sogenannten Pragmatien bzw. Lehrvorträgen. Diese Textgattung, von den Sophisten vorbereitet, wird von Aristoteles zu einer ausgereiften Gestalt gebracht. Sie bereitet das für heute gültige Grundmuster wissen- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xviii Einführung schaftlicher Veröffentlichung vor: die Abhandlung. Im Französischen discours und im Deutschen als Fremdwort Diskurs genannt, ist darunter keine bestimmte Richtung der Philosophie, sondern das für alle Philosophie und Wissenschaft eigentümliche „Durchlaufen“ (lat. discurrere) von Argumenten, ihr Für und Wider, zu verstehen. Wegen ihrer schließlich überlieferten Gestalt ist anzunehmen, daß diese Texte nach einer ersten Niederschrift vielfach überarbeitet wurden, häufig von Aristoteles selbst, teilweise von Theophrast und anderen Schülern. Jedenfalls ist mit verschiedenen Schichten, mit Umgruppierungen, Exkursen und Anmerkungen zu rechnen. Einige Texte scheint Aristoteles jedoch selber redigiert zu haben: außer den Analytiken und der Nikomachischen Ethik vermutlich die Topik und die Kategorien. Merkwürdigerweise gibt es zu einigen Themen verschiedene Texte, insbesondere zur Ethik die Nikomachische Ethik, die Eudemische Ethik und die Große Ethik (Magna Moralia, ihre Authentizität ist jedoch umstritten). Der Philosoph schreibt in der Regel klar, kurz, pointiert und variationsreich, aber auch, wie von Kollegheften zu erwarten, sehr gedrängt, nicht selten elliptisch. Das gesamte Werk verrät einen Schriftsteller von hohem Rang. Da Aristoteles kaum auf Vorbilder zurückgreifen kann, ist er weitgehend der Schöpfer einer wissenschaftlichen Prosa und der Urheber einer Vielzahl neuer Fachausdrücke. Meist in ihrer lateinischen Übersetzung werden sie zum festen Bestandteil der philosophischen Fachterminologie und bilden über viele Jahrhunderte, oft bis heute ein wichtiges Hilfsmittel der Weltorientierung. Hierhin gehört die Unterscheidung von Dingen, die selbständig existieren, den Substanzen, und Dingen, die nur an oder in selbständigen Dingen vorkommen, den Akzidentien. Dazu zählt die Unterscheidung von Materie und Form, ferner die von Wirklichkeit (Akt) und Möglichkeit bzw. Vermögen (Potenz) oder jene von Theorie, Praxis und Poiesis („Technik“). Weil derartige Unterscheidungen längst selbstverständlich geworden sind, vergißt man gern, daß sich teils deren erste Ausarbeitung, teils deren Präzisierung Aristoteles verdankt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xix Einführung Chronologie. Die zeitliche Abfolge von Aristoteles’ Schriften bleibt trotz hoher philologischer Gelehrsamkeit bis heute strittig; weithin anerkannt ist aber folgendes: Die Topik, eine der ältesten Abhandlungen, wird sowohl vor den Kategorien als auch vor den Ersten Analytiken verfaßt; wesentliche Anteile der Rhetorik sind früh geschrieben; das sogenannte Organon entsteht vor den Schriften zur Biologie und zur Metaphysik; innerhalb der Biologie ist De generatione animalium das zeitlich letzte Werk; hinsichtlich der Ontologie entstehen die Kategorien vor den Substanzbüchern der Metaphysik; im Rahmen der praktischen Philosophie wird die Politik vor der Nikomachischen Ethik verfaßt; die Poetik läßt sich schwerlich datieren. Zur Überlieferung. Während Platon schon zu Lebzeiten ein berühmtes Schulhaupt ist, bleibt Aristoteles im national gesinnten Athen ein Fremder und an der Akademie ein zwar bedeutender, aber ausländischer Wissenschaftler unter anderen. Dieser Umstand gehört zu den Ursachen dafür, daß das „professionelle“ Werk eines so überragenden Wissenschaftlers und Philosophen bald nach dessen Tod weitgehend verloren geht. Erst knapp drei Jahrhunderte später, um 50 v. Chr., veranstaltet Andronikos von Rhodos in Rom die erste sorgfältigere Ausgabe der Lehrschriften. Nach antiker Überlieferung stützt sie sich auf die Originalmanuskripte, die auf verschlungenen Wegen nach Rom gelangt waren. Mit dem erhaltenen Corpus Aristotelicum überwiegend identisch, bildet diese Ausgabe die Grundlage, auf der Aristoteles rasch weit bekannt und vielfach kommentiert wird. Die systematische Anordnung des Aristotelischen Werks stammt aber nicht von Aristoteles selbst, sondern von dessen Herausgeber. Von der Idee eines in sich folgerichtig aufgebauten Systems und der hellenistischen Standardeinteilung in Logik, Ethik und Physik geleitet, ordnet Andronikos das Werk in vier Gruppen an: (1) Verstanden als Vorbereitung, Propädeutik, bilden die logischen und wissenschaftstheoretischen Schriften den Anfang. Bemerkenswerterweise schließen sich (2) die Ethik und die Politik, die Rhetorik und die Poetik an. Erst danach folgen (3) die naturphilosophischen (einschließlich der psychologischen) Schriften. Den Abschluß bilden (4) Texte zur ersten Philosophie, die, weil nach (griech. meta) der Naturphilosophie, der Physik, platziert, „Meta-Physik“ genannt werden. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xx Einführung Daß Andronikos‘ zweite Gruppe später am Ende steht und seitdem dort geblieben ist, spiegelt die unter Philosophen vorherrschende Höherschätzung der theoretischen gegenüber der praktischen Philosophie wider. Aristoteles stellt sie dagegen in der Topik (I 14, 105b19-25) an den Beginn, läßt dann die naturphilosophischen und erst an dritter Stelle die logischen Sätze und Probleme folgen. Für wichtiger hält er freilich eine andere Einteilung: die Dreiteilung in theoretisches, in praktisches und in „poietisches“ Wissen (Top. VI 6, 145a15f.; Met. VI 1). Diese Einteilung ist insofern ausgesprochen modern, als sie die Frage nach dem Gegenstandsbereich mit der nach dem leitenden Erkenntnisinteresse verknüpft (s. die Einleitung zu I. Wissen und Wissenschaft). Ob in Andronikos’ oder in der späteren Abfolge - man kann der zugrunde liegenden Systemidee nicht alle philosophische Bedeutung abstreiten. Sie hat aber für die Interpretation keine Verbindlichkeit, zumal Aristoteles selber ebenso ein experimentierender Problemdenker wie ein systematischer Philosoph ist: Nachdem er zum ersten Mal aus der einen Philosophie eine Vielzahl einzelner Forschungsgebiete ausgrenzt, erörtert er diese unter verschiedenen Gesichtspunkten, ohne eine abschließende Lösung zu behaupten. Das Leitziel, eine umfassende philosophische Theorie aus gemeinsamen Prinzipien, gibt er allerdings nicht auf. Zur Wirkung Die Wirkungsgeschichte des Aristoteles ist ein beinahe einzigartiges Phänomen. Nicht kontinuierlich, aber in großen Rezeptionswellen ist sein Werk bis zur Schwelle vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert so wirkungsmächtig, daß sich sowohl in Europa als auch in den nichteuropäischen Mittelmeerländern die Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften großenteils als eine Aufnahme, Weiterentwicklung und Kritik Aristotelischer Gedanken lesen läßt. Noch Leibniz behauptet von Aristoteles’ naturphilosophischen Grundaussagen, sie seien „zum größten Teil wahr“. Und Darwin hält Aristoteles für „einen der größten, wenn nicht den größten Beobachter, der je gelebt hat“ (Brief an Crawley, 12. 2. 1879). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xxi Einführung Die Zeitgenossen scheinen Aristoteles vor allem wegen seiner Vorlesungen zur Logik, wegen seiner kenntnisreichen, scharfsinnigen und zugleich spekulativen Naturphilosophie und aufgrund der phänomenologisch reichhaltigen Ethik geschätzt zu haben. Der streng wissenschaftliche Stil seiner Lehrschriften beeinflußt so bedeutende Wissenschaftler wie den Mathematiker, Astronomen und Geographen Klaudios Ptolemaios (100-178 n. Chr.), den Schöpfer der Grammatik und Syntax Apollonios Dyskolos (1. Hälfte des 2. Jhd.), seinen Sohn Herodian (ca. 170-240), einen Systematiker der Metrik und Prosodie, schließlich den Arzt und Polyhistor Galen (ca. 129- 216). Später wird Aristoteles durch die Stoa und die Schule Epikurs in den Hintergrund gedrängt und noch einmal später in einen Neuplatonismus aufgesogen, der allerdings die Aristoteles-Kommentierung weiterhin pflegt und in sein Einheitsdenken Aristotelische Gedanken aufnimmt. Berühmt ist Porphyrios’ Einleitung (Isagoge) und Kommentar zu Aristoteles’ Kategorien. Auf dem Weg des Neuplatonismus dringen seine Lehren in die griechische Patristik, etwa bei Origines (185-253/ 54), ein. Die lateinischen Kirchenväter dagegen, christliche Platoniker wie Tertullian (150-225) und Hieronymus (347-419/ 29), können Aristoteles nicht verzeihen, daß er so wichtige Gedanken des Christentums wie den Schöpfungsgedanken, die Unsterblichkeit der Seele und den Glauben an die Vorsehung bestreitet. Bis zum Beginn des zwölften Jahrhunderts kennt die lateinische Welt nur einen Vermittler des genuinen Aristoteles von Rang: Boëthius (um 480-524/ 25), der auch „Erzieher des Abendlandes“ genannt wird. Mit seinen Arbeiten zur Logik bereitet er die Ausbildung der scholastischen Methode vor, und mit seinem im Kommentar zur Isagoge aufgeworfenen Universalienproblem gibt er ein Vorspiel zu den erkenntnistheoretischen und metaphysischen Kontroversen der folgenden Jahrhunderte. Ebenfalls mit und über den Neuplatonismus gelangt Aristoteles in den damals intellektuell führenden islamischen Kulturraum und findet von al-Kindi (ca. 800-870) über al- Farabi und Avicenna (Ibn Sina: 980-1037) bis Averroës (Ibn Roschd: 1126-1198) große Bewunderer. In der jüdischen Philosophie des Mittelalters sind vor allem Abraham ibn David (ca. 1110-1181) und Moses ben Maimon (1135-1204) von Aristoteles geprägt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xxii Einführung Dank vieler Übersetzungen aus dem Arabischen, später auch aus dem Griechischen ins Lateinische dringt Aristoteles seit dem zwölften Jahrhundert immer massiver ins abendländische Bildungsprogramm ein. Nach der Eroberung Konstantinopels (1204) gelangt unter den vielen Handschriften auch ein Exemplar der Metaphysik nach Europa, die sofort übersetzt wird. Und im dreizehnten Jahrhundert findet die mächtigste Aristoteles-Renaissance in der christlichen Welt statt - allerdings zunächst unter großen Widerständen. Wo sie die Widerstände überwindet, gelingt es der Philosophie, sich von ihrer Dienstfunktion gegenüber der Theologie zu lösen und über die engen Grenzen eines logischen Propädeutikums hinaus der Vielfalt ihrer eigenen Fragen nachzugehen. Die großen Lehrstreitigkeiten in der Philosophie und Theologie des dreizehnten Jahrhunderts sind zum großen Teil Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Formen des Aristotelismus. Dessen große Bannerträger sind Albert der Große (1193-1280) und Roger Bacon (1214-1292). Die Synthese, die schließlich Thomas von Aquin (1224/ 25-1274) aus christlichem und Aristotelischem sowie anderem philosophischen Gedankengut aufbaut, bleibt nicht unangefochten: Bei Bonaventura (1223-1274) ist der Aristotelismus stärker von Augustinus geprägt, bei Siger von Brabant (1235/ 45- 1281/ 84) werden auch Lehren akzeptiert, die als unvereinbar mit dem Christentum erscheinen. Weil die Scholastik, aber erst die des Spätmittelalters, gegenüber Aristoteles mehr und mehr in Autoritätsgläubigkeit verfällt, gerät sie philosophisch, wissenschaftlich und theologisch stark in Mißkredit. Zu den scharfen Kritikern gehören viele Humanisten und ein Gegenspieler Descartes’, der Mathematiker und Philosoph Pierre Gassendi, während der Reformator Martin Luther Wertschätzung mit Kritik mischt. Dort wo der Aristotelismus gedanklich verflacht, zugleich dogmatisch erstarrt, braucht man sich nicht über Frontalangriffe zu wundern, wie sie etwa in Francis Bacons Novum Organum (1620), Galileo Galileis Dialog über die zwei Weltsysteme (1632) und in Hobbes’ Politischer Philosophie erfolgen. Im Jahr 1580 wird in Oxford, durchaus gegen den Aristotelismus, die Royal Society gegründet. Denn für Oxford gilt dasselbe, was Malebranche für Paris feststellt: „Wer irgendeine Wahrheit erkennt, muß © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xxiii Einführung bis heute noch zeigen, daß schon Aristoteles sie gesehen hat; und wenn Aristoteles ihr entgegensteht, wird die Entdeckung falsch sein.“ (De la recherche de la verité, Buch IV, Kap. 3, Abschn. III). Nur ein so unabhängiger Denker wie Leibniz vermag scholastische Ansichten zu verwerfen, gleichwohl richtige Gedanken des Aristoteles anzuerkennen. Trotz scharfer Kritik von seiten der Gelehrten gilt indes an vielen Universitäten und kirchlichen Institutionen, besonders in den Schulen der Dominikaner (Cajetan) und der Jesuiten (Suarez), aber auch bei Protestanten die aristotelisch-thomistische Philosophie bis zum Ende des Ancien régime als verbindliche Lehre, mancherorts auch darüber hinaus. Das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert bringen nicht bloß eine bemerkenswerte Erneuerung der systematischen und der historisch-philologischen Studien, hier zum Beispiel die entwicklungsgeschichtliche Interpretation von Werner Jaeger. Das Aristotelische Werk wird wieder direkt von systematischer Bedeutung. Schon Hegel studierte Aristoteles’ Werk im Original. Großen Einfluß nimmt Aristoteles auf Schellings Spätphilosophie, auf Franz Brentano (1838- 1917), einem Vorläufer Edmund Husserls, später auf Martin Heidegger (1889-1976). Folgt man dagegen so unterschiedlichen Denkern wie Bertrand Russell (1872-1970), Karl Popper (1902-1994) und Adorno (1903- 1969) sowie Horkheimer (1895-1973), dann braucht man Aristoteles aus zwei Gründen nicht mehr zu lesen: Man weiß schon, was er gesagt hat, und das Gesagte gilt als obsolet. Nach Russell sind „sämtliche aristotelischen Ansichten … falsch, mit Ausnahme der formalen Theorie des Syllogismus, die unwichtig ist“. Und in forscher Verallgemeinerung fährt er fort: „In der ganzen Neuzeit mußte praktisch jeder wissenschaftliche, logische oder philosophische Fortschritt eine Kampfansage an die Anhänger des Aristoteles bedeuten“ (Philosophie des Abendlandes, Kap. 22). Nach Popper, dem Kritiker des logischen Empirismus und zugleich Begründer des Kritischen Rationalismus, ist Aristoteles „trotz seiner erstaunlichen Gelehrsamkeit … kein besonders origineller Denker“; er gilt sogar als „die Quelle all des wortreichen und leeren Scholastizismus, der nicht nur im Mittelalter sein Unwesen trieb“ (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Kap. 11, Abschn. 1). Und © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. xxiv Einführung nach den beiden Hauptvertretern der Kritischen Theorie spiegeln Aristoteles’ philosophische Begriffe „mit derselben Reinheit die Gesetze der Physik, die Gleichheit der Vollbürger und die Inferiorität von Weibern, Kindern, Sklaven wider“, wobei der „metaphysische Nachdruck, die Sanktion durch Ideen und Normen, nichts als die Hypostasierung der Härte und Ausschließlichkeit“ einer Sprache der Herrschenden ist (Dialektik der Aufklärung, Einleitung: Begriff der Aufklärung). Wer Aristoteles selber liest, wird eines anderen belehrt. Es ist daher nicht erstaunlich, daß zwar mancherorts eine Kritik an Aristotelischen Positionen - vom Essentialismus über die Teleologie bis zum Prinzip Glück - vorherrscht. Andernorts gibt es aber zahlreiche Aristoteles-Freunde, zum Beispiel in der philosophischen Handlungstheorie und in der Ethik, in der Topik und in der Rhetorik, in der Politischen Philosophie, in der Sozialtheorie, selbst in der Ontologie. Und einige Philosophen halten die Alternative, zum Beispiel den angeblichen Gegensatz von Aristotelischer oder aber Kantischer Ethik, für übereilt und suchen statt dessen eine wohlbestimmte Verbindung. 1 1 Für eine ausführlichere Darstellung von Aristoteles’ Leben, Werk und Wirkung siehe: O. Höffe, Aristoteles, München 3 2006. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Hauptwerke © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. I. Wissen und Wissenschaft Einleitung Aristoteles’ Werk beginnt in der Anordnung des antiken Herausgebers Andronikos mit sechs Abhandlungen, die noch nicht zur Wissenschaft und Philosophie selbst gehören sollen. Als deren unerläßliche Voraussetzung werden sie „Organon“, Werkzeug oder Instrument, genannt. Denn sie bilden, lautet die Annahme, eine Art von Vor-Philosophie, eine systematisch aufgebaute logisch-methodologische Propädeutik. In Wahrheit verweisen nur zwei Texte, die beiden Analytiken, aufeinander. Der weit umfangreichste Text, die Topik, hat ein eigenes Thema; die Kategorien gehören schon zur Ontologie, also zur Ersten Philosophie bzw. Metaphysik; und die Hermeneutik, lateinisch De Interpretatione, nimmt eine Sonderstellung ein. Zwei weitere, noch gewichtigere Argumente sprechen gegen das lange vorherrschende Verständnis. Zum einen behandelt Aristoteles die Themen des sogenannten Organon, zum Beispiel die formale Logik und die Wissenschaftstheorie, als eigenständige und gleichwertige Gegenstände. Sie sind nicht eine Art von Vor-Philosophie, sondern gehören zur Philosophie selbst. In der Sache richtet er sich gegen zwei Fehleinschätzungen, sowohl gegen eine Überschätzung des philosophischen Gewichtes der formalen Logik und der Wissenschaftstheorie als auch gegen deren Geringschätzung. Zum anderen stellt Aristoteles zahlreiche logisch-methodologische Überlegungen an, sie sind aber über das gesamte Werk verstreut. Aristoteles kennt zwar ein Muster strenger Wissenschaft, den Beweis bzw. die Demonstration. Er vertritt das Muster jedoch nicht in dem „dogmatischen“ Sinn, daß er es den anderen Wissenschaften aufdrängt und ihnen damit die Chance zu einer Methode nimmt, die den Eigentümlichkeiten ihres jeweiligen Gegenstands gerecht wird. Im Gegenteil zeichnet Aristoteles sich durch eine bis heute vorbildliche wissens- und wissenschaftstheoretische („epistemische“) Flexibilität und Toleranz aus. Ohne in eine kriterienlose Beliebigkeit, einen wissenschaftstheoretischen Anarchismus, zu verfallen, beschränkt er © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 4 I. Wissen und Wissenschaft sich nicht auf die strengen Verfahren der formalen Logik und des demonstrativen Beweises. Er hält vielmehr die Welt des Wissens für Sprachanalyse, für Dialektik und für Geistesgeschichte offen; selbst der Rhetorik und der Dichtung räumt er einen festen Platz ein. Im Rahmen von Aristoteles’ reichhaltigem Bündel von logischmethodologischen Überlegungen lassen sich vier Arten unterscheiden: Erstens stellt der Philosoph allgemeine Überlegungen zum Begriff des Wissens und der Wissenschaft an. In der folgenden Auswahl werden unter dem Stichwort „zur Methode“ sechs Gesichtspunkte herausgegriffen: (1) Nach ihrer Leitaufgabe haben Philosophie und Wissenschaft die Wahrheit aus der aitia: der Ursache oder dem Grund zu erforschen. (2) Für die Durchführung dieser Aufgabe drängen sich vier methodische Maximen auf: Phänomene sind zu sichern, Lehrmeinungen zu prüfen, Schwierigkeiten durchzuarbeiten und die Mehrdeutigkeiten der Begriffe auszubreiten. (3) Im Forschungsprozeß gibt es zwei Perspektiven, das für uns und das der Sache nach Bekanntere. (4) Das Wissen beginnt nie im puren Nichtwissen, sondern setzt stets bei einem Vorwissen an. (5) Nach ihrem philosophischen Begriff besteht Bildung (paideia) nicht in möglichst reichen Kenntnissen, sondern in einer allgemeinen Urteilskompetenz. (6) Schließlich soll man im Fall der Natur jedem Wesen in seiner Eigenart gerecht werden: der Gedanke einer umfassenden Naturforschung. Da die allgemeinen logisch-methodologischen Überlegungen über einen Großteil des Werkes verstreut sind, werden zum Themenfeld „Methode“ Texte aus unterschiedlichen Schriften zusammengestellt. Bei den anderen Themen hingegen hält sich dieses Lesebuch möglichst an die jeweils einschlägige Schrift. Die zweite Art logisch-methodologischer Überlegungen besteht in methodischen Exkursen, die in die Sachüberlegungen eingeschoben werden. Hier handelt es sich um Bausteine zu einer speziellen Wissenschaftstheorie, zuständig etwa für die Naturphilosophie (z. B. Phys. IV 4, 211a7-11), für die philosophische Psychologie (z. B. An. I 1, 402a1-403a2) oder für die Ethik (z. B. EN I 1, 1094b11- 1095a11). Exemplarische Beispiele sind in den Texten der Sachgebiete mitabgedruckt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 5 Einleitung Aristoteles befaßt sich drittens mit außerwissenschaftlichen Formen des Wissens und widmet zwei der wichtigsten Formen, der Rhetorik und der Dichtung, je eine eigene Abhandlung (s. Teil VI dieser „Hauptwerke“). Viertens gibt es eigenständige Abhandlungen zur „Hemeneutik“, zur Diskurslogik, zur formalen Logik und zur Wissenschaftstheorie. Sie folgen hier auf die Texte „zur Methode“. Und am Ende dieses Teils stehen Passagen zu Aristoteles’ Einteilung der Wissenschaften. Über den Satz ( De Interpretatione ) Nach der traditionellen Vorstellung bildet diese Schrift innerhalb des Logikkurses den zweiten Teil. Nachdem die Kategorien die kleinsten Elemente eines wissenschaftlichen Satzes, die Begriffe, behandelt haben sollen, gehe es jetzt um jene Verbindung von Begriffen zu jenen einfachen Sätzen bzw. Aussagen (Propositionen), die das Grundelement einer wissenschaftlichen Argumentation darstellen. Auf die Begriffslogik folge also die Urteils- oder Aussagenlogik. Aussagen sind in der Tat ein wesentliches Element jeder Argumentation. In deren kleinstem Teil wird etwas von etwas ausgesagt (ti kata tinos): Es wird ein Sachverhalt behauptet, der die für eine Argumentation entscheidende Eigenschaft besitzt, wahr oder falsch zu sein. Es trifft auch zu, daß der Text über die wahrheitsfähige Behauptung handelt. Der für eine Logik so wichtige Teil nimmt aber in Aristoteles’ sog. Organon den geringsten Umfang ein, die Hälfte des nächst kleineren Textes, der Kategorien, und nur etwa 10 % der umfangreichsten Schrift, der Topik. Wegen ihres Gegenstandes, der wahrheitsfähigen Behauptung, ist der überlieferte Titel irreführend; er ist bei Aristoteles auch nicht belegt. „Peri hermeneias“, „Hermeneutika“ bzw. „Hermeneutik“ oder auch „De interpretatione“ lassen eine Kunstlehre oder Methode der Auslegung erwarten. Tatsächlich wird die Aussage erörtert, was aber in den Analytiken in vertiefter Form und besser geschieht. (Man vergleiche z. B. Int. 3, 16b21 mit An. Post. II 7, 92b14; 16b20 mit II 19, 100b1; 17a8 mit I 25, 86b33.) Nach ihrem Aufbau handelt es sich um eine eigenständige, in sich weithin geschlossene Abhandlung. Die erst gegen Ende des 16. Jahr- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 6 I. Wissen und Wissenschaft hunderts aufkommende Einteilung gliedert den Text in 14 Kapitel, wobei das letzte Kapitel kaum von Aristoteles stammt. Man kann den Text unterschiedlich, zum Beispiel in drei Teile, gliedern. Danach holt Aristoteles in drei Einleitungskapiteln weit aus. Er behandelt zunächst den Zusammenhang von „Äußerungen unserer Stimme“ mit „seelischen Widerfahrnissen“ und Dingen (Kap. 1). Die dabei skizzierte Zeichentheorie ist im Mittelalter fast endlos diskutiert und dabei zum Anlaß oder Ausgang für recht unterschiedliche Sprachphilosophien geworden. Aristoteles erläutert sodann die bedeutungstragenden Bestandteile der Aussage, das „Nennwort“ bzw. Nomen (onoma) (Kap. 2) und das Aussagewort bzw. Verb (rhêma) (Kap. 3). Der erste Hauptteil, Kapitel 4 bis 9, erörtert nacheinander die Grundform der Aussage mit ihren Elementen Satz (logos), Behauptungssatz (apophantikos logos), die Bejahung und Verneinung und den Umstand, daß es zum einen allgemeine und einzelne Aussagen, zum anderen konträre und kontradiktorische Aussagen gibt. Kapitel 9 enthält die bis heute viel diskutierte Frage von Behauptungen über kontingent zukünftige Ereignisse, der contingentia futura: Welchen Wahrheitswert hat die Aussage: „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“? Plausibel ist, daß nach Aristoteles die Zukunft in dem Sinn verzweigt ist, daß in der Gegenwart für die zukünftige Entwicklung der Welt mehrere Wege offenstehen. Infolgedessen haben Aussagen über Ereignisse, die in der Zukunft sowohl eintreten als auch nicht eintreten können, in der Gegenwart noch keinen Wahrheitswert. Der zweite Hauptteil der Schrift, die Kapitel 10-14, untersucht die durch bestimmte Zusätze ausgezeichneten Aussagen, beispielsweise Aussagen mit verneintem Subjekt oder Prädikat (Kap. 10) und Modalaussagen (Kap. 12-13). Dialektik ( Topik ) Die Topik ist ein Lehrbuch der topoi, wörtlich: der Wörter und Gemeinplätze. Als der höchstwahrscheinlich älteste Text der Aristotelischen Logik und Wissenschaftstheorie zeigt sie deren Sitz im Leben: Die abendländische Logik entsteht nicht aus dem Versuch, die formalen Strukturen des Denkens herauszupräparieren und die Wissen- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 7 Einleitung schaftstheorie nicht aus dem Versuch, die Struktur der damals praktizierten Wissenschaften auf den Begriff zu bringen. Beider Ursprung liegt im kunst- und schulgerecht durchgeführten Dialog. Dessen Methode, eine Dialektik im wörtlichen Sinn einer Theorie der Unterredung und Erörterung, beschränkt sich nicht auf bestimmte Themengebiete. Die Topik enthält keine Gebietslogik, die etwa nur für die Rechtswissenschaft und die Politik oder, etwas allgemeiner, für die praktische Philosophie zuständig sei. In Wahrheit, heißt es in der Rhetorik (I 1, 1354a1-3), ist sie wie auch die Rhetorik für jede Wissenschaft geeignet. Da beide, Topik und Rhetorik, sich nicht auf die Wissenschaften im engen Sinn festlegen, ist „Wissenschaft“ hier in einem weiten Verständnis gemeint: Die Topik entwickelt eine universale Methode für beliebige Fragen. In formaler Hinsicht bedient sich die Dialektik desselben Argumentationsmittels wie die Wissenschaft, des Schlusses bzw. Syllogismus. Auch wenn Aristoteles noch nicht im strengen, technischen Sinn der Ersten Analytiken von Figuren und Modi, von lediglich zwei Prämissen und der entscheidenden Bedeutung des Mittelbegriffs spricht, gibt er die beinahe wörtlich selbe Definition: „Ein Syllogismus [„Deduktion“] ist eine Rede [„Argument“], in der, wenn etwas gesetzt ist, etwas anderes als das Gesetzte aufgrund des Vorausgesetzten notwendig folgt.“ (Top. I 1, 100a25-27; An.pr. I 1, 24b18-20). Der Syllogismus bringt bestimmte Voraussetzungen, die Prämissen, und die Schlußfolgerung, die Konklusion, in einen notwendigen Zusammenhang; er ist ein zwingendes Argument. Im Unterschied zum wissenschaftlichen Schluß geht der dialektische von einer anderen Prämissenart, den sogenannten endoxa, aus. Aristoteles versteht darunter anerkannte Meinungen bzw. respektable Ansichten. Eine vernünftige Debatte beginnt nicht bei dem in sachlicher Hinsicht allerersten Anfang, „bei Adam und Eva“. Sie setzt bei Ansichten an, die von den Debattierenden geteilt werden, da sie „entweder von allen oder den meisten oder den Fachleuten … für richtig gehalten werden“ (Top. I 1, 100b21-23). Der so bestimmten Dialektik spricht Aristoteles zu Beginn der Schrift einen dreifachen Nutzen, folglich drei Aufgaben zu und ergänzt sie gegen Ende um eine vierte Aufgabe. Sie diene (1) der (intellektuellen) Übung mit geschulten Gegnern, (2) dem Gedankenaus- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 8 I. Wissen und Wissenschaft tausch mit ungeschulten Leuten auf der Grundlage von deren eigenen Ansichten, nicht zuletzt (3) der Philosophie (I 2, 101a26-28), indem sie den Reichtum aller Hinsichten eines Themas entfalte und sodann das Für und Wider erörtere. (4) Hinzu kommt die Debatte mit sich selbst (VIII 14, 163b3f.). In allen vier Fällen steht die kritische Aufgabe im Vordergrund: Aussagen sollen der Widerlegung ausgesetzt werden. Vor allem im Blick auf die erste Aufgabe erscheint die Dialektik als eine Kunst, sogar Technik des Argumentierens, die sich am zu erwartenden Widerstand des Diskussionspartners orientiert. Indirekt entfaltet sie auch eine affirmative Kraft, denn Aussagen, die immer wieder neuen Kritikversuchen widerstehen, bleiben als bewährt zurück. Nur in ihren ersten zwei Aufgaben ist die Aristotelische Dialektik unmittelbar gesprächsbezogen. Die zwei weiteren Aufgaben zeigen, daß sich die Methode auch außerhalb von Gesprächen bewährt, und zwar so umfassend, daß sie in den Lehrschriften durchgängig als eine der methodischen Maximen, als Diskussion bislang vorherrschender Lehrmeinungen, praktiziert wird. Wie schon Sokrates und Platon, so stellt auch Aristoteles die Dialektik in den Dienst der Wahrheit und widerspricht damit den Sophisten, die aus der Debattierkunst ein Gewerbe machen, das mit Hilfe des eristischen Syllogismus, des „Streitschlusses“, selbst dort den intellektuellen Sieg suche, wo er auf Kosten der Wahrheit gehe. Die Verpflichtung auf Wahrheit läßt sich aber durch keine Argumentationstechnik sicherstellen. Infolgedessen braucht der wahrheitsorientierte Dialektiker zusätzlich zu dem Element, das er mit dem Sophisten teilt, der intellektuellen Gewandtheit, eine gute (moralische) Anlage (euphyia): Er muß bereit sein, das Wahre zu wählen und das Falsche zu meiden (VIII 14, 163b13-15). Wer gut debattieren will, hält die einschlägigen Gesichtspunkte auswendig bereit (VIII 14, 163b18-24). Die Gesichtspunkte, die die Topik entfaltet, sind aber nicht, wie Aristoteles beim Sophisten Gorgias kritisiert (Soph. El. 34, 183b36ff.), ausformulierte Versatzstücke. An einer veritablen Theorie der Sache interessiert, breitet Aristoteles Topoi aus, mit deren Hilfe sich dialektische Argumente konstruieren lassen. Und weil er die Topik vornehmlich diesem Zweck unterordnet, entfaltet sie den in heutigen Diskurslogiken oft vernachlässigten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 9 Einleitung Teil, die deskriptive Seite. Während das erste Buch Grundlagen des dialektischen Argumentierens erörtert: die Grundbegriffe, die Aufgabe, die Verfahrensweise, den Nutzen und die Werkzeuge, und Buch VIII praktische Ratschläge ausbreitet, besteht der Hauptteil der Schrift in einem (stellenweise ermüdenden) Katalog, der mehrere hundert Topoi auflistet. Um eine möglichst umfassende Sammlung zu erhalten, folgt Aristoteles vier Metagesichtspunkten, den sog. Prädikabilien. Er beginnt mit Topoi der Akzidentien (Buch II; Buch III enthält Topoi des Vergleichs), läßt die der Gattung (IV) und die der Eigentümlichkeiten folgen (V) und schließt mit den Topoi der Definition (VI-VII). Die Rhetorik (II 23-25) ergänzt diese Sammlung um Topoi für wirkliche und für scheinbare Enthymeme, das sind verkürzte Syllogismen. Merkwürdigerweise untersucht Aristoteles nirgendwo das Verhältnis von topos und endoxon. Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, endoxa seien die Prämissen, topoi die Argumentationsgründe, die die Auswahl der Prämissen regeln; nach VIII 1, 155b4 f. setzt man aber bei den topoi selber an. - Das Buch IX der Topik trägt einen eigenen Titel. Als Sophistische Widerlegungen (Sophistici elenchi) handelt es über Trugschlüsse und deren Widerlegung. Logik: Syllogistik ( Analytica priora ) Die Ersten Analytiken (Analytica priora) gehören nach den drei entscheidenden Gesichtspunkten, nach philosophischer Originalität, klarer Komposition und Strenge in der Ausarbeitung, zu den besten von Aristoteles’ überlieferten Texten, vielleicht sogar zu den besten philosophischen Texten überhaupt. In souveräner Konzentration auf das Wesentliche entfalten sie die formale Logik als eigenständige Wissenschaft. Auf der Grundlage weniger Vorarbeiten anderer Autoren geschieht es zum ersten Mal im Abendland und vermutlich zum ersten Mal überhaupt. Die auch infrage kommende indische Logik ist nämlich erst um 300 v. Chr., also etwa ein halbes Jahrhundert später, nachweisbar. In der Nachfolge des britischen Empirismus wird die Logik im 19. Jahrhundert vielerorts zur Teildisziplin einer empirischen Psychologie erklärt. Infolgedessen muß sie gegen diesen Psychologismus als eine © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 10 I. Wissen und Wissenschaft psychologiefreie Theorie des rein formalen Schließens wiederentdeckt werden. Aristoteles schiebt dagegen von Anfang an alle psychologischen ebenso wie alle anthropologischen, ethischen und metaphysischen Gesichtspunkte beiseite. Als seinen einzigen Gegenstand untersucht er die Grundformen wissenschaftlicher Rede, die spezifische Verbindung von Teilaussagen im Schluß (Syllogismus). Er erörtert ein in der Sprache der modernen Logik bis heute wichtiges Teilgebiet, die zweistellige Relationenlogik, beispielgebend klar, gründlich und so gut wie fehlerfrei. Und für die Theorie der weder möglich noch notwendig, vielmehr wirklich zutreffenden Schlüsse, für die assertorische Syllogistik, gelingt ihm eine fast vollständige Untersuchung. Um den entscheidenden Punkt, die rein logische Form herauszuarbeiten, führt Aristoteles eine logische Kunstsprache ein. In ihr ist der Schluß ein einziger, dreigliedriger Bedingungssatz. Dessen Vorderglied besteht aus der Verbindung zweier Prämissen und dessen Hinterglied aus dem Schlußsatz, der Konklusion: Wenn die Sterblichkeit (A) allen (a) Menschen (B) und das Menschsein (B) allen (a) Athenern (C) zukommt, so notwendig die Sterblichkeit allen Athenern (AaB & BaC → AaC). Hier wird der Zusammenhang von zwei Begriffen bzw. Termini (A, C) durch den Aufweis eines verbindenden Mittelbegriffs (B) aus der Dimension der bloßen Meinung in die eines gesicherten Wissens erhoben: A kommt deshalb und notwendig allen C zu, weil A allen B und B allen C zukommt. Nach den im Mittelalter üblich gewordenen dreisilbigen Merkwörtern ist das genannte Beispiel ein Schluß der überhaupt wichtigsten Schlußform Barbara, der sich aus drei positiven Allaussagen zusammensetzt (a steht für affirmo: ich bejahe). Der nächstwichtige Syllogismus Celarent schließt aus einer negativen und einer positiven Allprämisse auf eine negative Allkonklusion (e steht für nego: ich verneine). Ein Beispiel: „Wenn Unsterblichkeit keinem Menschen und Menschsein allen Athenern zukommt, so notwendig die Unsterblichkeit keinem Athener.“ Nach der Art, wie ein Begriff einem anderen zukommt, nach ihrer Modalität, unterscheidet Aristoteles apodiktische (notwendig), assertorische (tatsächlich) und problematische (möglicherweise zukommende) Aussagen. Von „notwendig“ ist in seiner Logik also in zwei © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 11 Einleitung Hinsichten die Rede (An. Pr. I 10, 30b32-40). Die syllogistische und relative Notwendigkeit besteht in der Folgerichtigkeit einer Wenndann-Beziehung; sie zeichnet die syntaktische Verknüpfung von mehreren (Teil-)Sätzen aus: „Es ist notwendig, daß wenn AaB und BaC, dann AaC“. Die andere, modale, uneingeschränkte bzw. absolute Notwendigkeit betrifft innerhalb eines (Teil-)Satzes die semantische Verknüpfung von Subjekt und Prädikat: „A kommt B mit Notwendigkeit (und nicht tatsächlich oder möglicherweise) zu.“ Nach ihrer Qualität gibt es bejahende (positive) und verneinende (negative) Aussagen; nach ihrer Quantität allgemeine, partikulare und (gegenüber Allgemeinheit und Partikularität) unbestimmte Aussagen. Aristoteles untersucht vor allem die assertorische Syllogistik bis ins einzelne ihrer Modi (Qualität und Quantität) und Figuren. Je nach Stellung des Mittelbegriffs sind drei Figuren zu unterscheiden (dabei steht x für die vier Modi, für die allgemein affirmativen, die partikular affirmativen, die allgemein negativen und die partikular negativen Aussagen): Figur I: A x B & B x C → A x C; Figur II: B x A & B x C → A x C; Figur III: A x B & C x B → A x C. Es fehlt zwar die Figur IV (B x A & C x B → A x C), über die indirekten (konversen) Entsprechungen erkennt Aristoteles aber deren sämtliche Schlußformen an. Je nach Evidenz spricht er von vollkommenen Schlüssen, deren Schlüssigkeit direkt, und von unvollkommenen Schlüssen, deren Schlüssigkeit nur indirekt, erst nach Zurückführung auf vollkommene Schlüsse einleuchtet. Für die Zurückführung erörtert er drei Arten, die Umkehrung, die reductio ad impossibile (Nachweis eines Widerspruchs bei gegenteiliger Annahme) und die seltene ekthesis (Operation mit einem Unterbegriff ). Auch die Modallogik handelt Aristoteles wegweisend ab. Unter anderem zeigt er, daß aus assertorischen Aussagen keine apodiktischen folgen, was auf den Grundsatz neuzeitlicher Erfahrungswissenschaft hinausläuft: Aus bloß empirischen Aussagen lassen sich keine Gesetze gewinnen. Man liest den Syllogismus meist von oben, den Prämissen, nach unten, zum Schlußsatz, also deduktiv („top-down“). Im gesamten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 12 I. Wissen und Wissenschaft Werk taucht diese Argumentationsweise aber so selten auf, daß Aristoteles seine eigene Logik zu mißachten scheint. In Wahrheit versteht er sie vornehmlich explikativ: Zu einem schon bekannten oder vermuteten Sachverhalt, zum Beispiel daß alle Athener sterblich sind, sucht er die begründungs- oder erklärungskräftigen Prämissen, die Gründe bzw. Ursachen, auf („bottom-up“): „Die Athener sind deshalb sterblich, weil die Menschen sterblich und die Athener Menschen sind.“ Im Sinn einer mathematischen Probe kann man allerdings, um die Argumentation zu überprüfen, die Abfolge umkehren und den Syllogismus von oben nach unten lesen, also deduktiv vorgehen: „Weil alle Menschen sterblich und alle Athener Menschen sind, sind alle Athener sterblich.“ Genau genommen läßt der Syllogismus die Wahrheit aller drei Teilaussagen offen. Er begnügt sich mit dem formal korrekten Schluß: „Wenn alle Menschen sterblich und alle Athener Menschen sind, dann sind alle Athener sterblich.“ Lehre vom Beweis ( Analytica posteriora ) Aristoteles kann für die Wissenschaftstheorie dasselbe wie für die formale Logik beanspruchen: Erst mit seiner einschlägigen Schrift, den Zweiten Analytiken (Analytica posteriora), beginnt die Wissenschaftstheorie als eigene Disziplin. Und erneut setzt sie auf einem so hohen Niveau an, daß sie sich über viele Jahrhunderte weitgehend mit der Auslegung dieses Textes zufriedengeben kann. Aristoteles setzt sich mit Platons Lehre der Wiedererinnerung (anamnêsis) auseinander und widerspricht zwei der damals wichtigsten Ansichten, sowohl Antisthenes’ Skepsis gegen die Möglichkeit von Wissenschaft als auch Xenokrates’ Behauptung, Wissenschaft gebe es nur in Form eines Zirkelbeweises. Vor allem untersucht er, unter welchen Bedingungen formal korrekte Schlüsse zu wahrer, wissenschaftlicher Erkenntnis verhelfen. Die Zweiten Analytiken bauen also auf den Ersten Analytiken auf. Die in der Schrift angeführten Beispiele stammen vor allem aus der Mathematik; in Buch II tauchen aber auch Beispiele aus der Physik, Biologie, Medizin, Geschichtswissenschaft und Ethik auf. Bei seiner Wissenschaftstheorie hat Aristoteles also einen weiten Strauß © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 13 Einleitung von Disziplinen vor Augen. Er geht aber nicht wie des neueren üblich empirisch-rekonstruktiv, sondern konstruktiv vor. Er versucht nicht, eine etablierte Praxis auf den Begriff zu bringen, konstruiert vielmehr das „Wissenschaft“ (epistêmê) genannte Ideal eines Wissens ohne jeden Abstrich, jenes „einfachhin Wissen“, das die immer schon erhobenen Wissensansprüche unverkürzt zu erfüllen trachtet. Dieses nicht bloß vermeintliche, sondern wahrhafte Wissen besteht aus zwei grundverschiedenen Teilen: aus der Erklärung oder Begründung von Sätzen, dem Beweis (apodeixis), und aus der Einsicht (nous) in schlechthin erste Sätze, in Prinzipien. Nach der Standardinterpretation verbindet Aristoteles die Einsicht in letzte Grundaussagen, in Axiome (Axiomatik), mit Letztbegründung (Fundamentalismus) und der Einsicht in ontologische Wesenheiten (Essentialismus). Diese „AFE-Interpretation“ ist nicht etwa falsch, denn die Wissenschaftstheorie der Zweiten Analytiken enthält alle drei Elemente: (1) schlechthin letzte Aussagen, Prinzipien, (2) die Absicht, Wissenschaft in diesen letzten Aussagen zu fundieren, und (3) den Bezug auf Wesensaussagen. Die AFE-Deutung ist jedoch in mancher Hinsicht irreführend. Eine genaue Textlektüre entdeckt eine konzeptuell reichere, zweifellos subtile und flexible Theorie. Gegen ein zu eng, im modernen (mathematiktheoretischen) Sinn axiomatisches Verständnis spricht, daß der Beweis wie schon der Syllogismus nicht ausschließlich, nicht einmal vornehmlich deduktiv, von oben nach unten, als Herleitung von Sätzen aus anderen Sätzen, letztlich aus schlechthin ersten Sätzen, den Prinzipien, zu lesen ist. Zu möglichen Behauptungen werden vielmehr die Ursachen und Gründe gesucht und diese bis zu den Prinzipien hinauf verfolgt. Die Aristotelische Wissenschaft erweitert ein Sachverhalts-, ein Daß-Wissen um ein Deshalb-Wissen und verwandelt es dabei in ein schlechthin Wissen. Gesucht ist weniger die Fundierung in Prinzipien als die Zurückführung (Reduktion) auf und die Vertiefung durch Prinzipien. Von den zwei Perspektiven des Wissens (s. Teil I, Abschn. 1.3) interessiert sich Aristoteles in erster Linie für ein Erklären oder Begründen, nachrangig, im Sinne einer Probe, auch für das Ableiten und damit verbunden für eine Fundierung. Erklären bzw. Begründen und Beweisen schließen sich jedenfalls nicht aus, ebenso wenig das Vertiefen von Wissen und dessen Sichern. Denn eine gelungene Vertie- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 14 I. Wissen und Wissenschaft fung, die Erklärung oder Begründung eines Sachverhalts, erfüllt als solche das Interesse an Wissenssicherung. Gegen ein zu eng axiomatisches Verständnis spricht auch, daß die Prinzipien, mit denen jedes Begründen endet, nach Aristoteles zu zwei Hauptarten gehören und insgesamt von dreierlei Art sind. Es gibt erstens die nur wenigen Axiome, die wie der Satz vom ausgeschlossenen Dritten und den Widerspruchssatz in allem Denken und Wissen, sogar in jedem Handeln vorausgesetzt sind (s. Teil III, Abschn. 5). Die zweite Hauptart, die These, ist dagegen für die jeweilige Wissenschaft spezifisch. Zu den Thesen gehören als insgesamt zweite Prinzipienart die Hypothesen und als drittes die Definitionen, die beide jeweils für bestimmte Wissensbereiche erforderlich sind. Aristoteles versteht unter einer Hypothese keine vorläufige Behauptung, sondern eine Existenzannahme hinsichtlich der elementaren Gegenstände. Unter anderem auf deren Wesen (Essenz) richten sich die Definitionen, so daß eine Aristotelische Wissenschaft durchaus einen essentialistischen Charakter hat, dieser bleibt aber bescheiden und nimmt nicht die gesamte Metaphysik auf. Damit wird die Wissenschaftstheorie des Aristoteles auch seiner Wissenschaftspraxis gerecht; seine Ethik beispielsweise fällt so gut wie metaphysikfrei aus. Die Hypothese der Arithmetik besagt, daß es Zahlen, die der Geometrie, daß es Punkte, Linien, Flächen, die der Biologie, daß es Lebewesen gibt. Aristotelische Wissenschaft befaßt sich nicht mit fiktiven Gegenständen oder fiktiven Sachverhalten, vielmehr ausschließlich mit Realitäten, allerdings nicht nur mit physischen, sondern auch wie in der Mathematik mit gedachten Realitäten. Hypothesen werden zwar in Beweisketten vorausgesetzt, aber nicht als deren Prämissen verwendet. Definitionen treten dagegen als Prämissen auf, wobei vorläufige Definitionen verbreitete Ansichten wiedergeben, aber nur vollgültige Definitionen Erklärungs- oder Begründungskraft haben. Mit der zweiten und der dritten Prinzipienart legt Aristoteles großen Wert auf die der jeweiligen Wissenschaft eigenen Prinzipien. Damit wendet er sich, ohne eine Fundamentalphilosophie abzulehnen, gegen Platons Projekt einer Einheitswissenschaft. Der Fundamentalismus, also die Ansicht, die Wissenschaft lasse sich in letzten Prinzipien gründen, wird später vielfach kritisiert. Er- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 15 Einleitung staunlicherweise kennt schon Aristoteles die entscheidenden Gegenargumente. Auch er verwirft (a) den unendlichen Rückgang, den infiniten Regreß, (b) den logischen Zirkel und (c) den willkürlichen Abbruch des Begründungsverfahrens. Trotzdem kann er am Gedanken einer beweisenden (apodiktischen) Wissenschaft festhalten, denn für ihn ist die Erkenntnis der Prinzipien nicht schlechthin, sondern nur im Verhältnis zum Beweis unmittelbar. Die Erkenntnis der Prinzipien, und zwar der für die einzelnen wissenschaftlichen Prinzipien und nicht der allgemeinen Denkprinzipien, geschieht in einer eigentümlichen, vom modernen Begriff verschiedenen Form von Induktion (epagôgê, Hinführung: An. Post. II 19, 100b4; vgl. Top. I 12, 105a13f.; An. Pr. II 23, 68b15ff.; An. Post. I 18, 81a38ff.). Das genaue Verständnis, vor allem die Rolle des nous (Intellekt, Geist), ist in der Aristoteles-Forschung umstritten. Nach dem Schlußkapitel der Zweiten Analytik erfolgt die Prinzipienerkenntnis in einem vierstufigen Prozeß. Dieser beginnt bei der Wahrnehmung und führt über das Festhalten des Wahrgenommenen, die Erinnerung, zur wiederholten Erinnerung in der Erfahrung. Aus ihr ergibt sich schließlich ein Prinzip der Kunst(fertigkeit) (technê) und der Wissenschaft (epistêmê) (vgl. Met. I 1). Entgegen anderslautenden Deutungen ist der nous kein Jenseits zur Erfahrung. Er ist vielmehr jene intellektuelle Fähigkeit, die die im skizzierten Prozeß stattfindende Aktualisierung eines Allgemeinen zustande bringt, eines Allgemeinen, das in der Wahrnehmung erst potentiell gegeben ist. Das dabei angesprochene Allgemeine ist sehr anspruchsvoll; es heißt im Griechischen nämlich katholou; umfaßt also nach Kap. I 4 der Zweiten Analytiken sowohl das „von allem“ (kata pantos) als auch das „an sich“ (kath’ hauto). Nach dem Hinweis in An. Post. II 19, 100b4f. scheint die Einsicht in das Allgemeine schon bei der Wahrnehmung zu beginnen. Aristoteles unterläuft mit dieser Erkenntnistheorie den gewöhnlichen Gegensatz von Empirismus und Rationalismus. Der Philosoph ist nicht in dem engen Sinn ein Empirist, der die Prinzipienerkenntnis aus einer generalisierenden Erfahrung ableitet. Denn eine bloße Generalisierung gelangt nie zu seinem anspruchsvollem Begriff des Allgemeinen. Er ist aber auch kein schlichter Rationalist, da die Prinzipienerkenntnis notwendig von der Wahrnehmung ausgeht und der © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 16 I. Wissen und Wissenschaft nous keine die Erfahrung transzendierende Fähigkeit, keine Vernunft im Gegensatz zum Verstand, ist. Einteilung der Wissenschaften Mit den ewigen und unveränderlichen Strukturen der Natur und der Erkenntnis befaßt, suchen die drei theoretischen Wissenschaften, die Erste Philosophie, die Mathematik und die Physik (hier im Sinne von Naturwissenschaft und Naturphilosophie) das Wissen um seiner selbst willen. Die beiden praktischen Wissenschaften, die Ethik und die Politik (einschließlich der Ökonomie), sind auf die veränderliche Welt des Menschen und des von ihm erreichbaren Guten gerichtet und stellen ihr Wissen in den Dienst moralischer Praxis. Schließlich befassen sich die poietischen („herstellenden“) bzw. technischen Wissenschaften, das Handwerkswissen, auch die Dichtung und die Medizin, mit dem Hervorbringen von Werken. Die Rhetorik nimmt dagegen eine Zwischenstellung ein, denn einerseits dient sie einem „Werk“, dem Überreden, andererseits ist sie eine Art Hilfswissenschaft von Ethik und Politik; auch sie bezweckt nämlich eupraxia, gutes Handeln (Rhet. I 5, 1360b14). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 17 Einleitung WISSENSCHAFT UND PHILOSOPHIE 1 I. THEORETISCH II. PRAKTISCH III. POIETISCH Erste Philosophie Mathematik Naturforschung Theo- Onto- Denk- reine angew.: philoso- Kosmo- Me- Psycho- Zoo- (Botanik) 2 Ethik Po- Rhe- Hand- Dich- Medi- usw. logie logie prinzip- (Grund- Astrono- phische logie teoro- logie 3 logie litik torik 4 werk 5 tung zin ien lagen): mie, Grund- logie Arithme- Harmo- lagen tik, nielehre Geo- u.a. metrie 1 Dieses Schaubild stammt aus Höffe 3 2006, 32f. 2 Sie wird erst von Theophrast betrieben. 3 Sekundär gehört die Psychologie auch zur Ersten Philosophie. 4 Die Rhetorik gehört auch zu II., aufgrund ihrer Wertneutralität aber vornehmlich zu III. 5 Von Aristoteles selbst nicht betrieben. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 18 I. Wissen und Wissenschaft 1. Zur Methode 1.1 Begründetes Wissen [71b9] Zu wissen nun glauben wir eine jede Sache schlechthin, und nicht auf die sophistische, die zufällige Weise, wann immer wir von der Ursache glauben Kenntnis zu besitzen, aufgrund derer die Sache besteht, daß sie ihre Ursache ist, und daß sie sich nicht anders verhalten kann. Klar ist also, daß das Wissen etwas von dieser Art ist. Denn sowohl die Nicht-Wissenden als auch die Wissenden - die einen glauben selbst in diesem Zustand zu sein, die Wissenden dagegen sind es auch, so daß das, wovon es schlechthin Wissen gibt, sich unmöglich anders verhalten kann. (An. post. I 2) 1.2 Methodische Maximen [1145b2] Wir müssen nun, wie auch sonst, zuerst darlegen, was über die Gegenstände wahr zu sein scheint, und die Schwierigkeiten durchgehen, um dann auf diese Weise, wenn möglich, die Wahrheit aller anerkannten Meinungen über diese Affektionen nachzuweisen, oder wenn nicht, [wenigstens] die Wahrheit der meisten und wichtigsten Meinungen. Denn wenn wir die Schwierigkeiten auflösen und die anerkannten Meinungen bestehen bleiben, dann wird der Gegenstand ausreichend geklärt sein. (EN VII 1) 1.3 Zwei Perspektiven des Wissens [1095a30] Dabei sollten wir beachten, daß es einen Unterschied gibt zwischen Begründungen, die von den Prinzipien ausgehen, und solchen, die zu den Prinzipien hinführen. Mit Recht nahm daher auch Platon diese Schwierigkeit immer wieder auf, indem er untersuchte, ob der Weg von den Prinzipien kommt oder zu ihnen führt - wie der Lauf [1095b] im Stadion von den Schiedsrichtern zum Wendepunkt und zurück geht. Man muß nämlich von dem Bekannten ausgehen. Doch dieses ist von zweifacher Art. Das eine ist das für uns Bekannte, das andere das überhaupt Bekannte. Vermutlich müssen wir also mit dem für uns Bekannten anfangen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 19 1.3 Zwei Perspektiven des Wissens Daher muß, wer für das Hören von Ausführungen über das Werthafte und Gerechte, allgemein über die Themen der politischen Untersuchung, geeignet sein will, bereits einen guten Charakter erworben haben. Denn Ausgangspunkt ist das Daß, und wenn uns dies hinreichend deutlich ist, wird nicht noch darüber hinaus das Warum erforderlich sein. Wer so beschaffen ist [einen guten Charakter erworben hat], der besitzt entweder die ersten Prinzipien, oder er wird sie leicht erhalten. Der, für den weder das eine noch das andere gilt, höre auf die Worte Hesiods: „Von allen der Beste ist, wer selbst alles bedenkt; gut ist auch, wer auf den guten Rat eines anderen hört. Wer aber weder selbst denkt noch sich zu Herzen nimmt, was er von einem anderen hört, ist ein unbrauchbarer Mann.“ (EN I 2) [184a10] Da sich das Wissen und das Verstehen in bezug auf alle Untersuchungsgebiete, von denen es Prinzipien, Ursachen oder Elemente gibt, ja aus der Kenntnis letzterer ergibt - immer dann nämlich glauben wir eine jede Sache zu kennen, sobald wir ihre ersten Ursachen und ihre ersten Prinzipien und (damit die Sache) bis zu ihren Elementen kennenlernen -, ist es klar, daß man auch bei der Wissenschaft von der Natur versuchen muß, zuerst das auf die Prinzipien Bezügliche zu bestimmen. Natürlich ist (hierbei) der Weg von den uns bekannteren und deutlicheren zu den der Natur nach deutlicheren und bekannteren Dingen; denn nicht dieselben Dinge sind sowohl uns als auch schlechthin bekannt. Ebendeshalb ist es notwendig, (die Untersuchung) auf diese Weise von den zwar der Natur nach undeutlicheren, aber uns deutlicheren zu den der Natur nach deutlicheren und bekannteren Dingen voranzutreiben. Uns sind aber zuerst die eher zusammengeschütteten Dinge klar und deutlich; erst später werden aus diesen die Elemente und die Prinzipien bekannt, indem man diese Dinge zergliedert. Deshalb muß man vom Allgemeinen zum Einzelnen fortschreiten. Das Ganze ist nämlich hinsichtlich der Wahrnehmung bekannter, das Allgemeine aber eine Art Ganzes; das Allgemeine umfaßt nämlich viele Dinge als Teile. In ebendemselben Verhältnis stehen [184b10] gewissermaßen auch die Namen (Nennwörter) zur Definitionsformel: Sie bezeichnen nämlich eine Art Ganzes und (das) auf © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 20 I. Wissen und Wissenschaft unbestimmte Weise, wie z.B. ‚der Kreis‘, seine Definition aber zergliedert (den Begriff ,Kreis‘) in die Einzelheiten. Auch die Kleinkinder reden zwar zuerst alle Männer als Väter und die Frauen als Mütter an, später aber unterscheiden sie einen jeden von diesen bestimmt. (Phys. I 1) [1029b4] Denn das Lernen geht bei allen so vor sich, daß sie durch das seiner Natur nach weniger Erkennbare zu dem mehr Erkennbaren fortschreiten; und wie es beim Handeln darauf ankommt, von dem für den Einzelnen Guten ausgehend zu bewirken, daß das schlechthin Gute dem Einzelnen gut sei, so muß man beim Lernen von dem für den Einzelnen Erkennbaren ausgehend bewirken, daß das der Natur nach Erkennbare für den Einzelnen erkennbar werde. Freilich ist das, was für den Einzelnen erkennbar und erstes ist, oft an sich sehr wenig erkennbar und enthält wenig oder nichts vom Seienden; aber dennoch muß man versuchen, von dem an sich zwar wenig Erkennbaren, für den Einzelnen aber Erkennbaren das allgemein Erkennbare zu erkennen, indem man, wie gesagt, durch jenes selbst zu diesem übergeht. (Met. VII 3) 1.4 Notwendiges Vorwissen [71a1] Jede Unterweisung und jedes verständige Erwerben von Wissen entsteht aus bereits vorhandener Kenntnis. Einleuchtend ist dies für diejenigen, die alle Einzelfälle betrachten. Denn sowohl die mathematischen unter den Wissenschaften kommen auf diese Weise zustande als auch jede der übrigen Künste, und ähnlich auch, was die Argumente angeht, sowohl diejenigen, die durch Deduktion, als auch diejenigen, die durch Induktion entstehen. Denn beide bringen durch bereits bekannte Dinge die Unterweisung zustande, die einen, indem sie etwas annehmen wie von Leuten, die verstehen, die anderen, indem sie das Allgemeine aufweisen dadurch, daß das Einzelne klar ist. Auf dieselbe Weise überzeugen auch die rhetorischen Argumente - entweder nämlich durch Beispiele, was eine Induktion ist, oder durch rhetorische Schlüsse, was eine Deduktion ist. (An. post. I 1) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 21 1.6 Umfassende Naturforschung 1.5 Bildung ( paideia) [639a1] Bei jeder Art von theoretischer Einsicht und jedem Forschungsgebiet, mögen sie banaler oder angesehener sein, gibt es offensichtlich zwei verschiedene Weisen, in denen man sie zu eigen haben kann, von denen man die eine zu Recht (wissenschaftliche) Sachkenntnis nennt, die andere Bildung von einer bestimmten Art. Für den Gebildeten ist es nämlich charakteristisch, treffsicher beurteilen zu können, was der Vortragende gut oder nicht gut darstellt. Dies gilt, wie wir glauben, unter anderem für den vollkommen Gebildeten, d. h. Gebildetsein bedeutet, in der beschriebenen Weise urteilen zu können, nur daß dieser (vollkommen Gebildete), wie wir annehmen, sozusagen als einzelner auf allen Gebieten ein Urteil besitzt, der hier Gemeinte aber nur ein Urteil in einem abgegrenzten Bereich hat. Es muß nämlich auch jemanden geben, der in derselben Weise wie der vollkommen Gebildete in einem Teilbereich gebildet ist. Daraus folgt offenkundig, daß auch im Bereich der Naturkunde bestimmte Normen vorhanden sein müssen, auf die man sich beziehen kann, wenn es darum geht, die Art und Weise der Beweisführung einzuschätzen, unabhängig davon, wie es sich mit der Wahrheit verhält, ob auf diese oder jene Weise. (Part. an. I 1) 1.6 Umfassende Naturforschung [644b22] Die Substanzen, welche von Natur aus bestehen, sind teils ungeworden und unvergänglich alle Zeit hindurch, teils haben sie am Werden und Vergehen Anteil. Und es hat sich ergeben, daß uns über jene (erstgenannten), die wertvoll sind und göttlich, weniger Einsichten zur Verfügung stehen - denn sowohl hinsichtlich der Ausgangspunkte, von denen her man sie untersuchen könnte, als auch hinsichtlich dessen, was wir (über sie) zu wissen wünschen, gibt es nur wenig, das aufgrund der Wahrnehmung deutlich ist -; hinsichtlich der vergänglichen Pflanzen und Lebewesen sind wir jedoch, was unsere Kenntnisse betrifft, in einer günstigeren Lage, weil wir mit ihnen zusammen aufwachsen. Denn von jeder [botanischen oder zoologischen] Gattung kann man viele Eigenschaften erkennen, wenn man willens ist, sich genug anzustrengen. Beide (Forschungsbereiche) ha- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 22 I. Wissen und Wissenschaft ben ihren Reiz. Wenn man die erstgenannten Substanzen auch nur in kleinem Maße erfaßt, so ist dies wegen der Wertschätzung ihrer Erkenntnis lustvoller als alles bei uns, wie es auch lustvoller ist, von dem, was man liebt, ein beliebiges kleines Stück zu sehen als vieles andere Große mit Genauigkeit. [645a] Jedoch gewinnt man von den letztgenannten Substanzen, weil man sie intensiver und in größerer Zahl kennenlernen kann, ein umfassenderes Wissen; ferner gewähren sie uns, weil sie uns näher stehen und unserer Natur verwandt sind, bis zu einem gewissen Grade einen Ausgleich für die Wissenschaft von den göttlichen Substanzen. Da wir diese schon behandelt haben und gesagt haben, was uns richtig scheint, bleibt übrig, noch über die (körperliche) Natur der Lebewesen zu sprechen, wobei wir nach Möglichkeit weder, was weniger beachtet wird, noch, was stärker beachtet wird, auslassen wollen. Denn auch bei dem, was daran unansehnlich ist, gewährt die Natur, die es geschaffen hat, bei der Untersuchung in gleicher Weise denen, die imstande sind, die Ursachen zu erkennen und die von Natur aus Philosophen sind, unermeßliche Freuden. Denn es wäre widersinnig und seltsam, wenn wir an der Betrachtung von Abbildungen dieser Dinge Freude haben, weil wir dann die Kunst, die sie geschaffen hat, in unsere Betrachtung mit einbeziehen, zum Beispiel die Malerei oder die Plastik, aber die Betrachtung der natürlichen Dinge selbst nicht noch mehr schätzen würden, zumal wenn wir imstande sind, die Ursachen zu durchschauen. Deshalb darf man nicht in kindischer Weise einen Widerwillen gegen die Untersuchung der niedriger stehenden Lebewesen haben. Denn in allem Natürlichen ist etwas Wunderbares enthalten, und wie Heraklit zu den Gästen gesprochen haben soll, die ihn besuchen wollten, die aber stehenblieben, als sie beim Eintritt sahen, daß er sich am Ofen wärmte - er sagte nämlich, sie sollten getrost eintreten; denn auch hier seien Götter -, so muß man auch an die Untersuchung eines jeden Tiers herangehen, ohne sich zu ekeln, da in allem irgendetwas Natürliches und Schönes ist. Denn das, was „nicht zufällig“ ist, sondern „zu einem Zweck“ existiert, ist in den Werken der Natur sogar in besonderem Maße vorhanden. Dem (erfüllten) Ziel aber, um dessentwillen etwas besteht oder geworden ist, kommt das Prädikat „schön“ zu. Wenn jedoch einer glaubt, daß die Betrachtung der übrigen Lebewe- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 23 2.1 Grundlegende Begriffe sen unwürdig ist, so muß er das in derselben Weise auch von sich selbst glauben: Denn nicht ohne großen Widerwillen kann man sehen, aus was für Bestandteilen das Menschengeschlecht besteht, nämlich aus Blut, Fleisch, Knochen, Adern und derartigen Teilen. Man muß aber davon ausgehen, daß jemand, der sich über einen (Bestand-)Teil oder Ausrüstungsgegenstand von irgendetwas unterhält, nicht dessen Material im Sinn hat und nicht um seinetwillen spricht, sondern wegen dessen ganzer Gestalt, zum Beispiel wegen des Hauses, aber nicht wegen der Ziegel, des Lehms und des Holzes; ebenso muß man davon ausgehen, daß der Naturforscher von der Zusammensetzung und dem Gesamtwesen spricht, aber nicht von denjenigen Dingen, die niemals von ihrer Substanz abgetrennt vorkommen. (Part. an. I 5) 2. Über den Satz ( De interpretatione ) 2.1 Grundlegende Begriffe [16a1] Zunächst gilt es festzusetzen, was ein Nennwort und was ein Aussagewort ist, sodann, was eine Verneinung, eine Bejahung, eine Behauptung und ein Wortgefüge ist. Nun sind die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme ein Symbol für das, was (beim Sprechen) unserer Seele widerfährt, und das, was wir schriftlich äußern, (ist wiederum ein Symbol) für die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme. Und wie nicht alle (Menschen) mit denselben Buchstaben schreiben, so sprechen sie auch nicht alle dieselbe Sprache. Die seelischen Widerfahrnisse aber, für welche dieses (Gesprochene und Geschriebene) an erster Stelle ein Zeichen ist, sind bei allen (Menschen) dieselben; und überdies sind auch schon die Dinge, von denen diese (seelischen Widerfahrnisse) Abbildungen sind, (für alle) dieselben. Von diesen (seelischen Widerfahrnissen) nun ist bereits in den Büchern über die Seele die Rede gewesen; denn sie sind Gegenstand einer anderen Disziplin. Wie sich aber in unserer Seele bald ein Gedanke befindet, ohne daß es ihm zukäme, wahr oder falsch zu sein, bald aber auch einer, dem notwendigerweise eines von beidem zukommt, so äußern wir auch mit der Stimme (teils sprachliche Ausdrücke der einen und teils © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 24 I. Wissen und Wissenschaft solche der anderen Art). Denn Falschheit wie Wahrheit sind an Verbindung und Trennung geknüpft. Es gleichen nun die Nennwörter und die Aussagewörter für sich allein einem Gedanken ohne Verbindung und Trennung, wie z. B. das Wort „Mensch“ oder das Wort „weiß“, wenn nicht noch etwas hinzugefügt wird. Denn (für sich allein) ist (ein solches Wort) noch nicht falsch oder wahr, aber es ist (dennoch) ein Zeichen mit einer ganz bestimmten Bedeutung. Auch das Wort „Bockhirsch“ (beispielsweise) bedeutet ja etwas, ist aber (deshalb) noch lange nicht wahr oder falsch, wenn man nicht hinzufügt - sei es schlechthin, sei es in einer temporal abgewandelten Form -, daß (die mit ihm gemeinte Sache) ist oder nicht ist (d. h. existiert oder nicht existiert). Ein Nennwort nun ist eine gemäß einer Übereinkunft etwas bedeutende stimmliche Äußerung ohne (Bezug zur) Zeit, von der kein Teil eigenständig etwas bedeutet. In (dem Namen) „Schönpferd“ (beispielsweise) bedeutet „-pferd“ nämlich nicht, wie („Pferd“) in dem Wortgefüge „schönes Pferd“, für sich allein etwas. Freilich verhält es sich so, wie es sich im Falle der einfachen Nennwörter verhält, nicht auch im Falle der zusammengesetzten. Denn bei jenen bedeutet der Teil in gar keiner Weise etwas, während er bei diesen zwar etwas bedeuten soll, aber eben nicht eigenständig, wie z. B. „-kreuzer“ in „Jollenkreuzer“. Die Bestimmung „gemäß einer Übereinkunft“ (füge ich deshalb hinzu), weil von den Nennwörtern keines von Natur aus (ein Nennwort) ist, sondern (ein jedes) erst dann, wenn es zu einem Symbol geworden ist; denn auch solche nicht buchstabierbaren Laute wie beispielsweise die Laute der wilden Tiere geben ja etwas kund, ohne daß einer von ihnen (deshalb schon) ein Nennwort wäre. Der Ausdruck „Nicht-Mensch“ aber ist kein Nennwort. Freilich steht uns ein Wort, das die richtige Benennung für ihn wäre, gar nicht zur Verfügung - er ist ja weder ein Wortgefüge noch eine verneinende Aussage -; aber nennen wir ihn doch ein unbestimmtes Nennwort. Ausdrücke wie „Philons“ oder „(dem) Philon“ und [16b] dergleichen sind (ebenfalls) keine Nennwörter, sondern Abwandlungen eines Nennwortes. Für einen solchen Ausdruck gilt in allen Punkten dasselbe (wie für ein Nennwort), außer daß er zusammen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 25 2.1 Grundlegende Begriffe mit dem Wort „ist“, dem Wort „war“ oder dem Ausdruck „wird sein“ nicht etwas Wahres oder etwas Falsches ausdrückt, was ein Nennwort hingegen stets tut. So drückt ja z. B. „Philons ist“ oder „(Philons) ist nicht“ noch nichts Wahres und auch noch nichts Falsches aus. Ein Aussagewort ist ein die Zeit mit hinzubedeutender Ausdruck, von dem kein Teil eine eigenständige Bedeutung hat. Und es ist stets ein Zeichen für etwas, das von etwas anderem gesagt wird. Wenn ich sage, daß es die Zeit mit hinzubedeutet, so meine ich damit, daß z. B. „Gesundheit“ ein Nennwort, „gesundet“ hingegen ein Aussagewort ist; denn es bedeutet mit hinzu, daß (das, wofür es ein Zeichen ist, etwas anderem) jetzt zukommt. Und daß es stets ein Zeichen für etwas von etwas anderem Gesagtes ist, heißt, daß es stets für etwas, das von einem zugrundeliegenden Gegenstand gesagt wird, [oder (für etwas, von dem gesagt wird, daß es) in einem zugrundeliegenden Gegenstand ist,] ein Zeichen ist. Einen Ausdruck wie „gesundet nicht“ oder „erkrankt nicht“ bezeichne ich nicht als Aussagewort; denn obwohl ein solcher Ausdruck die Zeit mit hinzubedeutet und stets (ein Zeichen für etwas ist, von dem gesagt wird, daß es) etwas (anderem) zukommt, (besteht ein Unterschied zwischen ihm und einem Aussagewort), ohne daß uns jedoch eine diesem Unterschied Rechnung tragende Benennung (für ihn) zur Verfügung stände. Aber nennen wir ihn doch ein unbestimmtes Aussagewort, weil er gleichermaßen auf alles zutrifft, sowohl auf Seiendes als auch auf Nicht-Seiendes. Ebenso ist auch ein Ausdruck wie „gesundete“ oder „wird gesunden“ kein Aussagewort, sondern eine (temporale) Abwandlung eines Aussagewortes. Von einem Aussagewort unterscheiden sich solche Ausdrücke darin, daß es die gegenwärtige Zeit, sie aber die Zeit außerhalb (der Gegenwart) mit hinzubedeuten. Werden sie für sich allein ausgesprochen, so sind die Aussagewörter Nennwörter, als welche sie auch etwas bedeuten; denn jemand, der (ein solches Wort) ausspricht, bringt sein Denken (bei der mit ihm gemeinten Sache) zum Stehen, und jemand, der (es) hört, kommt (in seinem Denken bei dieser Sache) zum Stillstand. Ob aber (das, was es bedeutet,) ist oder nicht ist, dies bedeutet (ein Aussagewort für sich allein) noch nicht; denn (für) das Sein der (mit ihm © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 26 I. Wissen und Wissenschaft gemeinten) Sache oder deren Nichtsein ist es kein Zeichen. Auch das Wort „seiend“ ist dies nicht, wenn man es für sich allein ausspricht; denn für sich selbst ist es nichts, sondern bedeutet (lediglich) eine gewisse Verbindung mit hinzu, die sich ohne das, was jeweils miteinander verbunden ist, nicht verstehen läßt. Ein Wortgefüge ist eine etwas bedeutende stimmliche Äußerung, von deren Teilen (mindestens) einer eigenständig etwas bedeutet, und zwar als ein Ausdruck, der etwas sagt, nicht als einer, der etwas aussagt. Ich meine damit, daß z. B. das Wort „anthropos“ („Mensch“) zwar etwas bedeutet, aber nicht, daß dies ist oder nicht ist; vielmehr liegt eine bejahende oder verneinende Aussage erst dann vor, wenn noch etwas hinzugefügt wird. Nicht aber bedeutet eine einzelne Silbe des Wortes „anthropos“ etwas; denn es hat ja nicht einmal „(h)ys“ („Sau“) innerhalb von „mys“ („Maus“) eine Bedeutung, sondern ist in diesem Falle nur eine stimmliche Äußerung. Bei den Doppelwörtern hingegen bedeutet zwar, wie schon gesagt, (auch ein Teil) etwas, aber nicht für sich allein. Jedes Wortgefüge hat zwar [17a] eine Bedeutung - nicht nach Art eines Werkzeugs freilich, sondern, wie schon gesagt, gemäß einer Übereinkunft -, ein Behauptungssatz aber ist nicht jedes, sondern nur eines, dem es zukommt, wahr oder falsch zu sein. Nicht allen kommt dies zu. So ist z. B. eine Bitte zwar ein Wortgefüge, aber weder wahr noch falsch. Die anderen nun wollen wir beiseite lassen; denn sie zu untersuchen ist eher Sache der Rhetorik oder der Poetik. Der Behauptungssatz aber ist Gegenstand der jetzt anzustellenden Betrachtung. Ein einheitlicher Behauptungssatz ist zunächst die bejahende Aussage und sodann die verneinende. Alle anderen (Behauptungssätze) bilden aufgrund einer Verknüpfung eine Einheit. Notwendig ist, daß jeder Behauptungssatz ein Aussagewort oder eine (temporale) Abwandlung eines Aussagewortes enthält. Denn auch das den Menschen definierende Wortgefüge ist, solange nicht „ist“, „war“, „wird sein“ oder ein anderer derartiger Ausdruck hinzugefügt wird, noch kein Behauptungssatz. Weshalb aber (die Definition) „zweifüßiges Land-Lebewesen“ etwas Einheitliches ist und nicht © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 27 2.1 Grundlegende Begriffe vieles - denn sie wird ja sicherlich nicht deshalb eine Einheit bilden, weil sie (eine) zusammenhängend ausgesprochene Folge von Wörtern) ist -, dies zu sagen ist Sache einer anderen Disziplin. Ein einheitlicher Behauptungssatz ist entweder ein solcher, der etwas Einheitliches zu verstehen gibt, oder ein solcher, der aufgrund einer Verknüpfung einheitlich ist. Eine Vielheit hingegen bilden diejenigen, die vieles und nicht eines zu verstehen geben, oder diejenigen, die nicht miteinander verknüpft sind. Ein Nennwort nun und ein Aussagewort wollen wir einen Ausdruck nennen, der lediglich etwas sagt; denn man kann mit der Äußerung, die man macht, wenn man (ein solches Wort) ausspricht, nicht in der Weise etwas zu verstehen geben, daß man - sei es, daß jemand eine Frage (ge)stellt (hat), sei es, daß man sich ungefragt (zum Sprechen) entschließt - eine Behauptung aufstellt. Eine Art von ihnen (d. h. von den Behauptungssätzen) ist die einfache Behauptung, diejenige nämlich, die etwas etwas anderem zuspricht oder etwas etwas anderem abspricht, eine andere diejenige, die aus solchen (einfachen Behauptungen) zusammengesetzt ist, die also ein zusammengesetztes Wortgefüge darstellt. Eine einfache Behauptung ist eine stimmliche Äußerung, die als Zeichen dafür, ob etwas (etwas anderem) zukommt oder nicht zukommt, etwas bedeutet, und zwar der Einteilung der Zeitformen gemäß. Eine bejahende Aussage ist eine Behauptung, die etwas etwas anderem zuspricht, eine verneinende Aussage hingegen ist eine Behauptung, die etwas etwas anderem abspricht. Behaupten kann man nun aber sowohl von dem, was (einer Sache) zukommt, daß es (ihr) nicht zukommt, als auch von dem, was (einer Sache) nicht zukommt, daß es (ihr) zukommt, sowie von dem, was (einer Sache) zukommt, daß es (ihr) zukommt, und von dem, was (einer Sache) nicht zukommt, daß es (ihr) nicht zukommt, und ebenso auch, was die Zeiten außerhalb der Gegenwart anbetrifft. Daher kann man (einer Sache) doch wohl alles, was (ihr) irgend jemand zugesprochen hat, auch absprechen und alles, was (ihr) irgend jemand abgesprochen hat, auch zusprechen. Somit ist es offenkundig, daß jeder bejahenden Aussage eine verneinende entgegengesetzt ist und jeder verneinenden Aussage © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 28 I. Wissen und Wissenschaft eine bejahende. Und wenn eine bejahende und eine verneinende Aussage einander entgegengesetzt sind, so wollen wir sie eine Kontradiktion (d. h. ein kontradiktorisches Aussagenpaar) nennen. Als einander entgegengesetzt bezeichne ich (eine bejahende und eine verneinende Aussage) dann, wenn sie dasselbe demselben Gegenstand zubzw. absprechen, nicht in homonymer Weise freilich und was wir an näheren Bestimmungen dieser Art sonst noch hinzufügen, um uns lästiger Sophistereien zu erwehren. (Int. 1-6) 2.2 Allgemein- und Einzelaussagen [17a37] Von den Dingen sind die einen allgemeine, die anderen hingegen einzelne - als allgemein bezeichne ich das, was seiner Natur nach dazu geeignet ist, von mehrerem prädiziert zu werden, als einzeln hingegen das, was seiner Natur nach hierzu nicht geeignet ist; so gehört z. B. (der Begriff ) „Mensch“ [17b] zum Allgemeinen, Kallias hingegen zum Einzelnen -, und somit ist es notwendigerweise bald etwas Allgemeines und bald etwas Einzelnes, wovon man behauptet, daß ihm etwas zukommt oder (daß es ihm) nicht zukommt. Wenn man nun in allgemeiner Weise von etwas Allgemeinem behauptet, daß ihm etwas zukommt oder (daß es ihm) nicht zukommt, so sind die Behauptungen, (die man aufstellt), konträr. Wenn ich davon spreche, daß von etwas Allgemeinem in allgemeiner Weise etwas behauptet wird, so meine ich Behauptungen wie „Jeder Mensch ist weiß“, „Kein Mensch ist weiß“. Stellt man jedoch über etwas Allgemeines nicht in allgemeiner Weise Behauptungen auf, so sind diese zwar nicht konträr, aber das, was man mit ihnen zu verstehen gibt, kann zuweilen konträr sein. Wenn ich davon spreche, daß von etwas Allgemeinem nicht in allgemeiner Weise etwas behauptet wird, so meine ich Behauptungen wie „(Ein) Mensch ist weiß“, „(Ein) Mensch ist nicht weiß“. Denn (der Begriff ) „Mensch“ ist zwar etwas Allgemeines, aber es wird hier nicht in allgemeiner Weise etwas von ihm behauptet. Das Wort „jeder“ bedeutet nämlich nicht die Allgemeinheit (von etwas Allgemeinem), sondern vielmehr, daß (von etwas Allgemeinem) in allgemeiner Weise (die Rede ist). Wenn man aber von etwas, das in allgemeiner Weise Gegenstand einer Prädikation ist, etwas Allgemeines in allgemeiner Weise prädiziert, so ist (das, was man © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 29 2.2 Allgemein- und Einzelaussagen damit aussagt,) nicht wahr. Keine bejahende Aussage (jedenfalls) kann ja wahr sein, in der von etwas, das in allgemeiner Weise Gegenstand einer Prädikation ist, etwas Allgemeines (in allgemeiner Weise) prädiziert wird, wie z. B. (in der Aussage) „Jeder Mensch ist jedes Lebewesen“. Kontradiktorisch entgegengesetzt, sage ich nun, ist eine bejahende Aussage einer verneinenden dann, wenn die eine bedeutet, (daß) etwas Allgemeinem (in allgemeiner Weise), und (die andere), daß demselben (Allgemeinen) nicht in allgemeiner Weise (etwas zukommt bzw. nicht zukommt), wie z. B. (im Falle der beiden Aussagenpaare) „Jeder Mensch ist weiß“ - „Nicht jeder Mensch ist weiß“, „Kein Mensch ist weiß“ - „Irgendein Mensch ist weiß“. Als konträr entgegengesetzt bezeichne ich hingegen eine auf etwas Allgemeines bezogene (allgemein-)bejahende und die auf das(selbe) Allgemeine bezogene (allgemein-)verneinende Aussage, wie z. B. „Jeder Mensch ist gerecht“ - „Kein Mensch ist gerecht“. Solche Aussagen können daher nicht zugleich wahr sein, während dies bei den ihnen (kontradiktorisch) entgegengesetzten Aussagen in bezug auf ein und denselben (allgemeinen) Gegenstand bisweilen möglich ist, z. B. (bei den Aussagen) „Nicht jeder Mensch ist weiß“ und „Irgendein Mensch ist weiß“. Nun muß bei all denjenigen kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen, die etwas Allgemeines in allgemeiner Weise zum Gegenstand haben, notwendigerweise die eine wahr und die andere falsch sein und ebenso auch bei all denjenigen, die, wie z. B. „Sokrates ist weiß“ (und) „Sokrates ist nicht weiß“, etwas Einzelnes zum Gegenstand haben. Bei all denjenigen aber, die zwar etwas Allgemeines zum Gegenstand haben, aber nicht in allgemeiner Weise, ist nicht immer die eine wahr und die andere falsch. Denn beides ist zugleich wahr, wenn man (einerseits) behauptet, daß (ein) Mensch weiß ist, und (andererseits), daß (ein) Mensch nicht weiß ist, und auch, wenn man (einerseits) behauptet: „(Ein) Mensch ist schön“ und (andererseits): „(Ein) Mensch ist nicht schön“. [Wenn (ein Mensch) nämlich häßlich ist, so ist er nicht schön, und wenn er etwas (erst) wird, so ist er es (noch) nicht.] Auf den ersten Blick könnte man dies vielleicht für abwegig halten, weil der Satz „(Ein) Mensch ist nicht weiß“ (damit, daß er bedeutet, daß ein Mensch nicht weiß ist,) zugleich auch zu © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 30 I. Wissen und Wissenschaft bedeuten scheint, daß kein Mensch weiß ist; aber weder bedeutet er dasselbe (wie der Satz „Kein Mensch ist weiß“), noch ist (das, was er bedeutet,) notwendigerweise zugleich (mit dem, was dieser Satz bedeutet, der Fall). Offenbar gibt es für genau eine bejahende jeweils auch genau eine verneinende Aussage; denn eine verneinende Aussage muß jeweils dasselbe absprechen, was die (ihr entsprechende) bejahende Aussage zugesprochen hat, und zwar ein und demselben, sei es irgend etwas Einzelnem [18a] oder irgend etwas Allgemeinem, sei es, (daß sie es) in allgemeiner, sei es, (daß sie es) nicht in allgemeiner Weise (zum Gegenstand hat). Ich meine damit (Aussagenpaare wie) z. B. „Sokrates ist weiß“ - „Sokrates ist nicht weiß“. Wenn (eine verneinende Aussage) aber etwas anderes (abspricht als das, was eine bejahende Aussage zugesprochen hat,) oder dasselbe etwas anderem, so ist sie nicht die (ihr kontradiktorisch) entgegengesetzte, sondern eine von dieser verschiedene Aussage. Der Aussage „Jeder Mensch ist weiß“ (z. B. ist) die Aussage „Nicht jeder Mensch ist weiß“ (kontradiktorisch entgegengesetzt), der Aussage „Irgendein Mensch ist weiß“ die Aussage „Kein Mensch ist weiß“ und der Aussage „(Ein) Mensch ist weiß“ die Aussage „(Ein) Mensch ist nicht weiß“. Daß also genau eine bejahende Aussage genau einer verneinenden kontradiktorisch entgegengesetzt ist und welches diese (kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen) sind, ist nun dargelegt, und auch, daß die konträren Aussagen andere sind und welches diese sind, ferner, daß von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen nicht in jedem Fall die eine wahr und die andere falsch ist, weshalb dem so ist, und wann (von zwei solchen Aussagen) die eine wahr und die andere falsch ist. Eine einheitliche bejahende und (eine einheitliche) verneinende Aussage ist eine solche, die ihrer Bedeutung nach etwas Einheitliches von etwas Einheitlichem aussagt, sei dies nun etwas Allgemeines, das sie in allgemeiner Weise, oder etwas Allgemeines, das sie nicht in dieser Weise (zum Gegenstand hat), wie z. B. „Jeder Mensch ist weiß“ - „Nicht jeder Mensch ist weiß“, „(Ein) Mensch ist weiß“ - „(Ein) Mensch ist nicht weiß“, „Kein Mensch ist weiß“ -- „Irgendein Mensch ist weiß“, falls das Wort „weiß“ eine einheitliche Bedeutung © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 31 2.3 Aussagen über Zukünftiges hat. Wenn aber (in einem Satz) ein einziges Wort zur Bezeichnung von zwei Dingen dient, aus denen sich nichts Einheitliches ergibt, so ist (dieser Satz) keine einheitliche bejahende und auch keine einheitliche verneinende Aussage. Würde z. B. jemand das Wort „Mantel“ zur Bezeichnung von Pferd und Mensch verwenden, so wäre der Satz „(Ein) Mantel ist weiß“ keine einheitliche bejahende [und auch keine einheitliche verneinende] Aussage. Denn es macht dann ja keinen Unterschied, ob man dies sagt oder: „(Ein) Pferd und (ein) Mensch sind weiß“. Dies zu sagen ist aber nichts anderes als zu sagen: „(Ein) Pferd ist weiß“ und: „(Ein) Mensch ist weiß“. Wenn nun diese beiden Aussagen (zusammen) mehr als eine Bedeutung haben und mehr als nur eine Aussage sind, so hat offenbar auch die ursprüngliche entweder mehr als eine oder aber überhaupt keine Bedeutung; denn so etwas wie einen Pferdemenschen gibt es ja nicht. Folglich ist es auch im Falle solcher Aussagen nicht notwendig, daß das eine Glied einer Kontradiktion wahr und das andere falsch ist. (Int. 7-8) 2.3 Aussagen über Zukünftiges [18a27] Bei dem, was (gegenwärtig) der Fall ist, und dem, was bereits geschehen ist, muß also, wenn es Gegenstand einer bejahenden oder (der ihr kontradiktorisch entgegengesetzten) verneinenden Aussage ist, diese notwendigerweise wahr oder falsch sein. Und zwar muß dann, wenn etwas Allgemeines in allgemeiner Weise Gegenstand (zweier solcher Aussagen) ist, stets die eine wahr und die andere falsch sein, und auch dann, wenn ihr Gegenstand etwas Einzelnes ist, wie bereits dargelegt wurde. Ist ihr Gegenstand hingegen etwas Allgemeines, das nicht in allgemeiner Weise angesprochen wird, so besteht diese Notwendigkeit nicht. Auch davon war ja bereits die Rede. Bei Einzelnem, das noch bevorsteht, aber verhält es sich (mit den Aussagen) nicht so. Wenn nämlich jede bejahende und (jede) verneinende Aussage wahr oder falsch ist, muß ja notwendigerweise auch alles zutreffen oder nicht zutreffen, so daß offenbar, wenn von ein und demselben (Einzelding) einer behauptet, daß es (das und das) sein wird, und ein anderer, daß es (dies) nicht sein wird, notwendigerweise einer von beiden die Wahrheit sagen muß, wenn jede bejahende und (jede) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 32 I. Wissen und Wissenschaft verneinende Aussage wahr oder falsch ist. Denn beides kann ja nicht zugleich zutreffen, wenn es sich um Dinge dieser Art handelt. Notwendigerweise muß ein solches Ding nämlich, wenn (z. B.) die Aussage, daß es weiß, oder (die Aussage), daß es nicht [18b] weiß ist, wahr ist, (entweder) weiß oder nicht weiß sein; und wenn es (entweder) weiß ist oder nicht weiß, so ist (von den beiden erwähnten Aussagen) entweder die bejahende oder die verneinende wahr. Und wenn (das, was man von ihm aussagt,) nicht (auf es) zutrifft, macht man eine falsche Aussage, und wenn man eine falsche Aussage macht, trifft (das, was man von ihm aussagt,) nicht (auf es) zu. Daher muß notwendigerweise entweder die bejahende oder die verneinende Aussage wahr bzw. falsch sein. Nichts ist der Fall und nichts geschieht folglich als bloßes Ergebnis eines (glücklichen oder unglücklichen) Zufalls oder je nachdem, wie es sich gerade trifft, und es wird auch nichts in dieser Weise sein oder nicht sein, sondern alles wird mit Notwendigkeit geschehen und nicht je nachdem, wie es sich gerade trifft - denn es sagt ja entweder derjenige die Wahrheit, der die bejahende, oder derjenige, der die verneinende Aussage macht -; andernfalls könnte (etwas) nämlich ebensogut geschehen wie nicht geschehen, denn mit dem, was je nachdem, wie es sich gerade trifft, (geschieht oder nicht geschieht), verhält es sich um nichts eher so - oder wird es sich um nichts eher so verhalten - als nicht so. Ferner konnte, wenn (etwas) jetzt weiß ist, schon früher wahrheitsgemäß von ihm behauptet werden, daß es weiß sein werde, und so konnte auch von jedem beliebigen Ereignis, das (irgendwann einmal) eintrat, schon immer wahrheitsgemäß behauptet werden, daß es eintreten werde. Wenn aber (von etwas) schon immer wahrheitsgemäß behauptet werden konnte, daß es (jetzt) eintritt oder daß es (in Zukunft) eintreten wird, so hätte es nicht (jetzt) nicht eintreten können bzw. kann es nicht (in Zukunft) nicht eintreten. Für etwas, das nicht nicht geschehen kann, ist es aber unmöglich, daß es nicht geschieht; und für etwas, für das es unmöglich ist, daß es nicht geschieht, ist es notwendig, daß es geschieht. Das Eintreten aller Ereignisse, die (in Zukunft) eintreten werden, ist folglich notwendig. Nichts wird sich also je nachdem, wie es sich gerade trifft, ereignen oder als bloßes Ergebnis eines (glücklichen oder unglücklichen) Zu- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 33 2.3 Aussagen über Zukünftiges falls eintreten; denn wenn ein Ereignis als ein bloßes Zufallsergebnis eintritt, tritt es nicht mit Notwendigkeit ein. Es besteht aber auch nicht die Möglichkeit zu sagen, daß keines von beidem wahr ist, das heißt: (zu sagen), daß (das und das) weder der Fall sein noch nicht der Fall sein wird. Denn sonst wäre erstens, wenn die bejahende Aussage falsch wäre, die verneinende nicht wahr; und wenn diese falsch wäre, ergäbe es sich, daß die bejahende nicht wahr wäre. Und überdies muß, wenn (z. B. von etwas) wahrheitsgemäß behauptet werden kann, daß es weiß und (daß es) groß ist, beides (auf es) zutreffen; und wenn für beides gilt, daß es morgen (auf es) zutreffen wird, so muß es morgen (auf es) zutreffen. Wenn aber (etwas) morgen weder der Fall sein noch nicht der Fall sein würde, so wäre es nicht etwas, das je nachdem, wie es sich gerade trifft, (der Fall oder nicht der Fall sein wird); denn im Falle einer Seeschlacht beispielsweise müßte es ja dann so sein, daß sie morgen weder stattfindet noch nicht stattfindet. Es sind also die hier aufgezeigten und andere derartige absurde Konsequenzen, die sich ergäben, wenn denn notwendigerweise für jede bejahende und die ihr (kontradiktorisch) entgegengesetzte verneinende Aussage - sei es, daß sie etwas Allgemeines zum Gegenstand haben, das in allgemeiner Weise angesprochen wird, sei es, daß sie etwas Einzelnes zum Gegenstand haben - gälte, daß die eine von ihnen wahr und die andere falsch ist; (es ergäbe sich) nämlich, (wie gesagt), daß überall dort, wo etwas geschieht, nichts je nachdem, wie es sich gerade träfe, (so oder nicht so) wäre, sondern daß alles mit Notwendigkeit der Fall wäre und geschähe, so daß wir weder Überlegungen anzustellen noch in der Erwägung tätig zu sein brauchten, es werde, wenn wir das und das tun, das und das der Fall sein, wenn wir es aber nicht tun, nicht. Denn es steht ja nichts im Wege, daß bereits zehntausend Jahre im voraus einer behauptet, das und das werde dann sein, und ein anderer, dies werde dann nicht sein, so daß mit Notwendigkeit eintreffen wird, was auch immer von beidem schon damals wahrheitsgemäß (vorher)gesagt werden konnte. Dabei spielt es freilich überhaupt keine Rolle, ob irgendwelche Leute die beiden kontradiktorisch entgegengesetzten Behauptungen (tatsächlich) aufstellten oder nicht. Denn offenbar verhält es sich ja mit den Dingen auch dann so, (wie es sich nun einmal mit ihnen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 34 I. Wissen und Wissenschaft verhält), wenn nicht einer etwas (von ihnen) behauptete und ein anderer es bestritt. Denn nicht deshalb, weil es in einer bejahenden oder verneinenden Aussage (vorher)gesagt wurde, wird ja (etwas) der Fall oder nicht der Fall sein, und zwar in [19a] zehntausend Jahren ebensowenig wie zu irgendeinem beliebig weit entfernten (anderen) Zeitpunkt. Es war folglich, wenn es sich schon zu allen Zeiten so verhielt, daß eines von beidem wahr war, (schon immer) notwendig, daß es eintreffen würde; und zwar verhielt es sich dann mit jedem Ereignis, das tatsächlich (irgendwann einmal) eintrat, schon immer so, daß es mit Notwendigkeit eintreten mußte. Denn ein Ereignis, von dem jemand wahrheitsgemäß behauptete, daß es eintreten werde, hätte ja nicht nicht eintreten können; und von einem Ereignis, das tatsächlich eintrat, konnte dann ja schon immer wahrheitsgemäß behauptet werden, daß es eintreten werde. Wenn nun also die besagten (Konsequenzen) unmöglich sind - denn wir sehen doch, daß es für das, was (in Zukunft) sein wird, sowohl in unseren Überlegungen als auch in unserem Handeln einen Ursprung gibt und daß überhaupt für diejenigen Dinge, die sich nicht immer im Zustand der Verwirklichung (einer bestimmten Möglichkeit) befinden, die Möglichkeit besteht, (das und das) zu sein, und auch (die Möglichkeit, es) nicht zu sein, wobei für diese Dinge jeweils beides möglich ist: sowohl, daß sie (das und das) sind, als auch, daß sie (es) nicht sind, und demzufolge sowohl, daß sie (es) werden, als auch, daß sie (es) nicht werden; und bei vielen Dingen ist es doch ganz offenkundig für uns, daß es sich so mit ihnen verhält, daß es z. B. für diesen Mantel da möglich ist, (irgendwann) auseinandergeschnitten zu werden, daß er aber dann doch nicht auseinandergeschnitten, sondern zuvor aufgetragen wird, wobei es aber ebenso auch möglich ist, daß man ihn nicht auseinanderschneidet; denn es könnte ja nicht dazu kommen, daß man ihn zuvor aufträgt, wenn es nicht möglich wäre, daß man ihn nicht auseinanderschneidet; und so verhält es sich demnach auch mit allen anderen Geschehnissen, die im Sinne dieser Art von Möglichkeit (als möglich) bezeichnet werden - (wenn also die besagten Konsequenzen unmöglich sind), so leuchtet ein, daß nicht alles mit Notwendigkeit der Fall ist oder geschieht, sondern daß manches je nachdem, wie es sich gerade trifft, (geschieht © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 35 2.3 Aussagen über Zukünftiges oder nicht geschieht), wobei die bejahende Aussage um nichts eher wahr ist als die verneinende, während bei anderem zwar eher und in der Regel das eine (eintrifft), aber gleichwohl an seiner Stelle auch das andere eintreffen kann. Freilich ist es für das, was ist, notwendig, daß es ist, wenn es ist, und für das, was nicht ist, notwendig, daß es nicht ist, wenn es nicht ist. Aber es ist weder für alles, was ist, notwendig, daß es ist, noch ist es für alles, was nicht ist, notwendig, daß es nicht ist. Denn daß alles, was ist, dann mit Notwendigkeit ist, wenn es ist, und daß es schlechthin mit Notwendigkeit ist, ist nicht dasselbe; und ebenso verhält es sich auch mit dem, was nicht ist. Und dasselbe gilt für die (Glieder einer) Kontradiktion. (Somit) ist es zwar für alles notwendig, daß es (entweder) ist oder nicht ist, und auch, daß es (entweder) sein oder nicht sein wird; nicht aber ist eines von beidem, wenn man es getrennt (vom anderen) behauptet, notwendig. Ich meine damit, daß es beispielsweise zwar notwendig ist, daß morgen eine Seeschlacht entweder stattfinden oder nicht stattfinden wird, daß es aber nicht notwendig ist, daß morgen eine Seeschlacht stattfindet, und auch nicht notwendig, daß morgen keine Seeschlacht stattfindet. Daß jedoch morgen eine Seeschlacht (entweder) stattfindet oder nicht stattfindet, ist notwendig. Da (es sich) mit dem Wahrsein der Sätze in derselben Weise (verhält) wie mit den Dingen, ist es demnach bei allem, womit es sich so verhält, daß (sich) je nachdem, wie es sich gerade trifft, (die eine oder die andere von zwei einander entgegengesetzten Möglichkeiten verwirklicht), und (überhaupt so, daß) einander entgegengesetzte Möglichkeiten bestehen, offensichtlich notwendig, daß es sich auch mit dem (Wahrsein der Glieder des entsprechenden) kontradiktorischen Aussagenpaar(es) in dieser Weise verhält. Dies ist nun bei denjenigen Dingen der Fall, die nicht immer (so und so) sind oder nicht immer nicht (so und so) sind. Denn bei diesen muß zwar notwendigerweise eines der beiden Kontradiktionsglieder wahr sein bzw. falsch, aber nicht (so, daß es) dieses oder jenes (bestimmte wäre), sondern (so, daß es) je nachdem, wie es sich gerade trifft, (das eine oder das andere ist,) oder auch (so, daß) die eine (der beiden kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen) zwar eher wahr (oder eher falsch ist als die andere), aber dennoch nicht schon (jetzt) wahr oder falsch. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 36 I. Wissen und Wissenschaft Es ist daher offensichtlich, [19b] daß nicht notwendigerweise für jede bejahende und die ihr (kontradiktorisch) entgegengesetzte verneinende Aussage gilt, daß die eine von ihnen wahr und die andere falsch ist. Denn so wie bei dem, was ist, verhält es sich (mit den Aussagen) nicht auch bei dem, was nicht ist, aber (in Zukunft) sein oder nicht sein kann, sondern (hierbei verhält es sich mit ihnen so), wie es (von uns) dargelegt wurde. (Int. 9) 3. Dialektik ( Topik ) 3.1 Der dialektische Schluß [100a18] Die Abhandlung beabsichtigt, ein Verfahren zu finden, aufgrund dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus anerkannten Meinungen zu deduzieren und, wenn wir selbst ein Argument vertreten, nichts Widersprüchliches zu sagen. Zuerst muß nun gesagt werden, was eine Deduktion ist und welche unterschiedlichen Arten es von ihr gibt, damit die dialektische Deduktion erfaßt wird, denn diese untersuchen wir im Zuge der vorliegenden Abhandlung. Eine Deduktion ist also ein Argument, in welchem sich, wenn etwas gesetzt wurde, etwas anderes als das Gesetzte mit Notwendigkeit durch das Gesetzte ergibt. Ein Beweis liegt dann vor, wenn die Deduktion aus wahren und ersten (Sätzen) gebildet wird, oder aus solchen, deren Kenntnis ursprünglich auf bestimmte wahre und erste (Sätze) zurückgeht. Dialektisch ist dagegen die Deduktion, die aus anerkannten Meinungen deduziert. [100b18] Wahre und erste (Sätze) sind aber diejenigen, die nicht durch andere (Sätze), sondern durch sich selbst überzeugend sind. Man muß nämlich bei den wissenschaftlichen Prinzipien nicht nach dem Warum suchen, sondern jedes der Prinzipien ist an sich selbst überzeugend. Anerkannte Meinungen dagegen sind diejenigen, die entweder von allen oder den meisten oder den Fachleuten und von diesen entweder von allen oder den meisten oder den bekanntesten und anerkanntesten für richtig gehalten werden. Eristisch aber ist eine Deduktion, die aus Meinungen deduziert, die nur scheinbar, aber nicht wirklich anerkannt sind, oder diejenige, die aus anerkannten Meinungen oder aus scheinbar © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 37 3.1 Der dialektische Schluß anerkannten Meinungen nur scheinbar deduziert. Denn nicht alles, was eine anerkannte Meinung zu sein scheint, ist auch eine anerkannte Meinung. Denn keine der genannten anerkannten Meinungen trägt die Scheinhaftigkeit ganz auf der Oberfläche, wie es bei den Prinzipien der eristischen Argumente der Fall ist, wo die Natur des Fehlers in der Regel sofort denjenigen vollkommen klar ist, die auch nur ein wenig den Überblick bewahren können. [101a] Die erste der genannten eristischen Deduktionen ist ebenfalls als „Deduktion“ zu bezeichnen, die andere zwar als „eristische Deduktion“, aber nicht als „Deduktion“, da sie nur scheinbar, aber nicht wirklich deduziert. Ferner gibt es aber neben allen den genannten Deduktionen diejenigen Fehlschlüsse, die aus den eigentümlichen Annahmen bestimmter Wissenschaften entstehen, wie es bei der Geometrie und den damit verwandten Disziplinen vorkommen kann. Es hat nämlich den Anschein, daß diese Form sich von den genannten Deduktionen unterscheidet. Denn weder aus wahren und ersten (Sätzen) deduziert derjenige, der durch falsche Zeichnungen täuscht, noch aus anerkannten Meinungen. Er fällt nicht unter die Definition, denn er nimmt weder an, was alle für richtig halten, noch die meisten noch die Fachleute und von diesen weder alle noch die meisten noch die anerkanntesten, sondern er bildet die Deduktion aus den Annahmen, die zwar der Wissenschaft eigentümlich, aber nicht wahr sind. Indem er entweder die Halbkreise nicht so zeichnet, wie es sich gehört, oder bestimmte Linien nicht so zieht, wie sie zu ziehen sind, bildet er den Fehlschluß. Die Arten der Deduktion seien durch das Gesagte im Umriß erfaßt. Allgemein ist auch mit Hinblick auf alles, was gesagt wurde, und auf das, was später gesagt werden soll, zu bemerken, daß wir es (nur) so weit bestimmen wollen, da wir nicht vorhaben, für irgendetwas davon eine genaue Erklärung zu geben, sondern wir wollen es nicht weiter als im Umriß abhandeln, weil wir glauben, daß für das vorliegende Verfahren die Fähigkeit vollkommen ausreichend ist, jedes von ihnen irgendwie zu erkennen. Im Anschluß an das Gesagte dürfte zu erläutern sein, für wie viele und für welche Dinge die Abhandlung nützlich ist. Sie ist es für drei Dinge: für die Übung, für die Begegnungen (mit der Menge), für die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 38 I. Wissen und Wissenschaft philosophischen Wissenschaften. Daß sie nun für die Übung nützlich ist, versteht sich von selbst. Denn wenn wir über ein Verfahren verfügen, werden wir leichter angreifen können, was man uns vorlegt. Für die Begegnungen (mit der Menge) aber, weil wir uns, nachdem wir die Meinungen der Leute gesichtet haben, mit ihnen nicht aufgrund fremder, sondern aufgrund ihrer eigenen Ansichten auseinandersetzen werden und dabei das zurechtrücken, was sie uns nicht richtig zu sagen scheinen. Für die philosophischen Wissenschaften aber, weil wir, wenn wir zu beiden Seiten hin Schwierigkeiten durchgehen können, leichter an jedem sowohl das Wahre als auch das Falsche erblicken werden. Ferner ist sie aber für die ersten (Sätze) einer jeden Wissenschaft nützlich: Denn es ist unmöglich, ausgehend von den eigentümlichen Prinzipien einer vorliegenden Wissenschaft irgendetwas über diese (Prinzipien) zu sagen, da die Prinzipien gegenüber allen (anderen Sätzen) vorrangig [101b] sind; es ist dagegen notwendig, sie mit Hilfe der über sie bestehenden anerkannten Meinungen durchzugehen. Dies aber ist das Eigentümliche oder im höchsten Maße Eigene der Dialektik: Da sie ein Prüfungsverfahren ist, eröffnet sie einen Weg zu den Prinzipien von allen Disziplinen. Vollständig im Besitz dieses Verfahrens werden wir sein, wenn wir darüber in ähnlicher Weise verfügen wie über die Rhetorik und die Heilkunst und derartige Fähigkeiten. Das bedeutet, daß wir nach Möglichkeit tun können, was wir vorhaben. Denn weder wird der Redner auf jede Weise überzeugen noch der Arzt heilen; wenn er aber keine der Möglichkeiten ausläßt, werden wir sagen, daß er über die Wissenschaft in ausreichender Weise verfügt. Zuerst muß betrachtet werden, auf welchen Dingen das Verfahren beruht. Wenn wir nun erfassen, auf wie viele und auf welche Dinge sich die Argumente beziehen, woraus sie gebildet werden und wie wir mit ihnen ohne Schwierigkeiten argumentieren, dürften wir die vorliegende Aufgabe angemessen gelöst haben. Es ist der Anzahl nach gleich und dasselbe, woraus die Argumente sind und worüber die Deduktionen gebildet werden. Die Argumente werden aus Prämissen gebildet, worüber aber die Deduktionen gebildet werden, das sind die Probleme. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 39 3.1 Der dialektische Schluß Jede Prämisse und jedes Problem bezeichnet entweder eine Eigentümlichkeit oder eine Gattung oder ein Akzidens. Der Unterschied ist nämlich, weil er mit der Gattung verwandt ist, auch zur Gattung zu rechnen. Weil aber vom Eigentümlichen der eine Teil das Was-es-hieß-dieszu-sein bezeichnet, der andere dies aber nicht bezeichnet, soll die Eigentümlichkeit in diese beiden genannten Teile unterteilt werden, und der eine, der das Was-es-hieß-dies-zu-sein bezeichnet, soll „Definition“ genannt, der andere nach der gemeinsam für beide angegebenen Bezeichnung als „Eigentümlichkeit“ angesprochen werden. Aus dem Gesagten ist also klar, daß durch die jetzige Einteilung insgesamt vier (Teile) entstanden sind: entweder Definition oder Eigentümlichkeit oder Gattung oder Akzidens. Allerdings sollte niemand dies so auffassen, als würden wir behaupten, jedes von diesen stelle für sich allein durch die bloße Nennung schon eine Prämisse oder ein Problem dar, denn wir behaupten nur, daß aus ihnen sowohl die Probleme als auch die Prämissen gebildet werden. Problem und Prämisse unterscheiden sich aber durch die Formulierung. So liegen nämlich, wenn gefragt wird: „Ist ,zweibeiniges, sich zu Lande bewegendes Lebewesen‘ die Definition für Mensch? “ und „Ist Lebewesen die Gattung des Menschen? “, Prämissen vor. Wenn aber gefragt wird: „Ist ,zweibeiniges, sich zu Lande bewegendes Lebewesen‘ die Definition für Mensch oder nicht? “, wird daraus ein Problem. Ebenso verhält es sich auch in den anderen Fällen. Daher überrascht es nicht, daß die Probleme und die Prämissen der Zahl nach gleich sind, denn aus jeder Prämisse läßt sich ein Problem bilden, indem man die Formulierung verändert. Was Definition, Eigentümlichkeit, Gattung und Akzidens sind, muß erläutert werden. Eine Definition ist eine Begriffsbestimmung, die das Was-es-hieß-dies-zu-sein bezeichnet. Entweder gibt man [102a] die Begriffsbestimmung anstelle eines Wortes an oder eine Begriffsbestimmung anstelle einer Begriffsbestimmung; es ist nämlich auch möglich, die durch eine Begriffsbestimmung bezeichneten Dinge zu definieren. Diejenigen aber, deren Antwort irgendwie aus einem einzelnen Wort besteht, geben offensichtlich keine Definition der Sache, weil jede Definition eine Begriffsbestimmung ist. Als „definitorisch“ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 40 I. Wissen und Wissenschaft muß man allerdings auch derartiges gelten lassen wie: „Das Edle ist das Schickliche“. Ähnlich verhält es sich aber auch mit der Frage, ob Wahrnehmung und Wissen dasselbe oder verschieden seien. Denn auch bei den Definitionen beschäftigt man sich am längsten damit, ob es dasselbe oder verschieden ist. Der Einfachheit halber sollte man alles „definitorisch“ nennen, was unter dasselbe Verfahren fällt wie die Definition. Daß alle soeben genannten Dinge von dieser Art sind, ist von selbst klar. Wenn wir nämlich in der Lage sind, dialektisch zu prüfen, was dasselbe und was verschieden ist, werden wir auch keine Schwierigkeiten haben, auf dieselbe Weise Definitionen anzugreifen. Denn wenn wir gezeigt haben, daß es nicht dasselbe ist, werden wir die Definition aufgehoben haben. Das gerade Gesagte läßt sich allerdings nicht umkehren, denn, um eine Definition aufzustellen, ist es nicht ausreichend zu zeigen, daß es dasselbe ist. Um sie hingegen aufzuheben, genügt es zu zeigen, daß es nicht dasselbe ist. Eine Eigentümlichkeit ist das, was zwar nicht das Was-es-hießdies-zu-sein bezeichnet, was aber ausschließlich dieser Sache zukommt und an ihrer Stelle ausgesagt werden kann. Beispielsweise ist es eine Eigentümlichkeit des Menschen, daß er Lesen und Schreiben lernen kann. Denn wenn etwas ein Mensch ist, dann kann es Lesen und Schreiben lernen; und wenn es Lesen und Schreiben lernen kann, dann ist es ein Mensch. Niemand bezeichnet nämlich als Eigentümlichkeit etwas, das auch anderem zukommen kann, beispielsweise „Schlafen“ als Eigentümlichkeit eines Menschen, selbst dann nicht, wenn es zufällig zu einer bestimmten Zeit ausschließlich ihm zukäme. Wenn also auch etwas Derartiges als Eigentümlichkeit bezeichnet wird, dann nicht schlechthin, sondern man müßte es „zeitweilige“ oder „relative“ Eigentümlichkeit nennen. Denn auf der rechten Seite zu sein ist eine zeitweilige Eigentümlichkeit, und Zweibeinigkeit ist gelegentlich eine relative Eigentümlichkeit, beispielsweise für den Menschen relativ zu Pferd und Hund. Daß von dem, was auch auf etwas anderes zutreffen kann, nichts anstelle der Sache ausgesagt werden kann, ist klar. Denn es ist nicht notwendig, daß, wenn etwas schläft, dies ein Mensch ist. Gattung ist das, was in der Kategorie des Was-es-ist von mehreren, der Art nach verschiedenen Dingen ausgesagt wird. Unter „in der Kategorie des Was-es-ist ausgesagt“ ist all das zu verstehen, womit die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 41 3.1 Der dialektische Schluß Frage, was das Vorliegende sei, angemessen beantwortet werden kann. So ist es beim Menschen angemessen, auf die Frage, was er sei, zu antworten, er sei ein Lebewesen. Gattungsbezogen ist aber die Frage, ob das eine zu derselben Gattung gehöre wie das andere oder zu einer anderen, denn derartiges fällt unter dasselbe Verfahren wie die Gattung. Wenn nämlich dialektisch geprüft wurde, daß das Lebewesen die Gattung des Menschen darstellt, gleichermaßen aber auch die des Rindes, werden wir dialektisch geprüft haben, daß beide in dieselbe [102b] Gattung gehören. Wenn wir aber zeigen können, daß es die Gattung des einen ist, die des anderen jedoch nicht, werden wir dialektisch geprüft haben, daß beide nicht zu derselben Gattung gehören. Ein Akzidens ist (erstens) das, was zwar keines von diesen ist, weder Definition noch Eigentümlichkeit noch Gattung, der Sache aber zukommt, und (zweitens) das, was einer und derselben Sache zukommen und auch nicht zukommen kann. Zum Beispiel kann derselben Sache „sitzt“ zukommen und nicht zukommen; mit „ist weiß“ verhält es sich ähnlich. Denn es spricht nichts dagegen, daß dieselbe Sache zu einem Zeitpunkt weiß und zu einem anderen nicht weiß ist. Von den beiden Definitionen für das Akzidens ist die zweite allerdings besser. Bei der ersten ist es nämlich notwendig, wenn sie jemand verstehen will, daß er bereits weiß, was eine Definition, eine Eigentümlichkeit und eine Gattung ist. Die zweite dagegen reicht alleine aus, um zu erkennen, was das Gemeinte an sich ist. Zum Akzidens gehören aber auch die gegenseitigen Vergleiche, die irgendwie mit Blick auf Akzidenzien formuliert werden, wie zum Beispiel, ob das Schöne oder das Nützliche in höherem Maße wählenswert ist und ob das tugendhafte oder das genußreiche Leben angenehmer ist und was sonst noch wie diese Beispiele formuliert werden sollte. Bei allen derartigen (Vergleichen) nämlich stellt sich die Frage, welchem der beiden Dinge das Ausgesagte in höherem Grade akzidentell zukommt. Offensichtlich spricht nichts dagegen, daß ein Akzidens zeitweilig und relativ auch zur Eigentümlichkeit werden kann. Zum Beispiel wird das Akzidens des Sitzens, wenn zeitweilig nur einer sitzen sollte, eine Eigentümlichkeit sein; wenn er nicht als Einziger sitzen sollte, dann wird es relativ zu denjenigen, die nicht sitzen, eine Eigentümlichkeit sein. Daher spricht auch nichts dage- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 42 I. Wissen und Wissenschaft gen, daß ein Akzidens relativ und zeitweilig zur Eigentümlichkeit wird. Es wird aber nicht schlechthin eine Eigentümlichkeit sein. Wir sollten aber nicht vergessen, daß alles, was zu Eigentümlichkeit, Gattung und Akzidens gesagt wurde, auch im Hinblick auf die Definition angemessen sein wird. Wenn wir nämlich gezeigt haben, daß die Definition nicht ausschließlich auf ihren Gegenstand zutrifft - wie auch bei der Eigentümlichkeit -, oder daß in der Definition nicht die (richtige) Gattung angegeben wurde, oder daß etwas, das in der Formulierung der Definition behauptet wird, auf den Gegenstand nicht zutrifft - was auch über das Akzidens gesagt werden kann -, werden wir die Definition aufgehoben haben. Daher ist nach der oben gegebenen Erklärung alles, was wir bisher aufgezählt haben, in bestimmter Weise definitorisch. Aber deswegen sollte man nicht nach einem allgemeinen Verfahren für alles suchen. Denn erstens ist dies nicht leicht zu finden, zweitens, selbst wenn man es findet, dürfte es vollkommen unklar und unbrauchbar für die vorliegende Untersuchung sein. Wenn man jedoch für jede der unterschiedenen Gattungen ein eigenes Verfahren angibt, dürfte sich aus den Eigentümlichkeiten [103a] jeder Einzelnen eine leichtere Durchführung des Vorliegenden ergeben. Daher muß man sie, wie zuvor gesagt wurde, im Umriß einteilen, von den übrigen (Gattungen) aber muß man das einem jeden jeweils am meisten Eigentümliche hinzunehmen und es als „definitorisch“ und „gattungsbezogen“ bezeichnen. Ungefähr so wurden die genannten Dinge den jeweiligen (Gattungen) zugeteilt. (Top. 1-6) 3.2 Dialektische Prämisse und dialektisches Problem [104a3] Zuerst ist jetzt zu unterscheiden, was eine dialektische Prämisse und was ein dialektisches Problem ist. Nicht jede Prämisse und nicht jedes Problem sind als dialektisch anzusetzen. Niemand, der bei Verstand ist, wird eine Prämisse vertreten, die niemand für richtig hält, oder aus etwas ein Problem machen, was für alle oder die meisten offensichtlich ist. Denn das eine enthält keine Schwierigkeit, das andere würde niemand vertreten. Eine dialektische Prämisse ist dagegen eine Frage, die anerkannt ist, entweder bei allen oder den meisten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 43 3.2 Dialektrische Prämisse und dialektrisches Problem oder den Fachleuten, und von diesen entweder bei allen oder den meisten oder den bekanntesten, sofern sie nicht im Widerspruch zur herrschenden Meinung steht. Denn man würde doch vertreten, was die Fachleute für richtig halten, wenn es den Ansichten der Menge nicht entgegengesetzt ist. Dialektische Prämissen sind aber auch diejenigen, die den anerkannten Meinungen ähnlich sind, und die verneinten Gegenteile der gültigen anerkannten Meinungen und alle Ansichten, die aus dem Bereich der bestehenden Künste stammen. Wenn es nämlich eine anerkannte Meinung ist, daß dasselbe Vermögen Gegensätzliches erkennt, dürfte es in gleichem Maße eine anerkannte Meinung sein, daß Gegensätzliches mit demselben Vermögen wahrgenommen wird. Und wenn es nur eine Schreibkunst gibt, dann gibt es auch nur eine Kunst des Flötenspiels, wenn es aber mehrere Schreibkünste gibt, dann gibt es auch mehrere Künste des Flötenspiels. Denn alle diese Dinge scheinen ähnlich und verwandt zu sein. Auf ähnliche Weise sind anscheinend aber auch die verneinten Gegenteile der anerkannten Meinungen anerkannte Meinungen. Wenn nämlich anerkannt ist, daß man seinen Freunden Gutes tun solle, dann genauso, daß man ihnen nichts Böses tun darf. Das Gegenteil ist, daß man seinen Freunden Böses tun muß, die verneinte Form davon aber, daß man ihnen nichts Böses tun darf. In ähnlicher Weise: wenn man seinen Freunden Gutes tun soll, dann auch: daß man seinen Feinden nichts Gutes tun darf. Auch dies ist die Verneinung des Gegenteils, denn das Gegenteil ist, daß man seinen Feinden Gutes tun muß. So verhält es sich aber auch bei den anderen Fällen. Als anerkannte Meinung wird sich in der Gegenüberstellung aber auch das konträre Gegenteil vom Gegenteil erweisen. Zum Beispiel: Wenn man Freunden Gutes tun muß, dann muß man auch Feinden Böses tun. Es könnte den Anschein haben, als wäre „Freunden Gutes tun“ das Gegenteil von „Feinden Böses tun“. Ob dies in Wahrheit so ist oder nicht, werden wir in den Ausführungen über die Gegensätze sagen. Es ist aber klar, daß die Ansichten aus dem Bereich der Künste dialektische Prämissen sind. Man übernimmt nämlich die Ansichten derer, die diese Dinge genau untersucht haben, in Fragen der Heil- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 44 I. Wissen und Wissenschaft kunst beispielsweise ist dies der Arzt, in Fragen der Geometrie der Mathematiker. Und ähnlich verhält es sich bei den übrigen Künsten. [104b] Ein dialektisches Problem ist eine Fragestellung, die entweder auf Wählen und Vermeiden oder auf Wahrheit und Erkenntnis zielt - entweder selbst oder als Beitrag auf etwas anderes von dieser Art -, wovon entweder keine von beiden (Antworten) für richtig gehalten wird, oder die Menge anders denkt als die Fachleute oder die Fachleute anders denken als die Menge oder innerhalb jeder von beiden (Gruppen Meinungsverschiedenheiten bestehen). Einige der Probleme zu kennen ist nützlich mit Blick auf das Wählen oder Vermeiden, zum Beispiel: „Soll man die Lust wählen oder nicht? “, einige dagegen nur mit Blick auf das Wissen, zum Beispiel: „Ist die Welt ewig oder nicht? “. Einige sind aber an sich selbst für keines von diesen beiden nützlich, sondern sind Beiträge zu der Klärung von irgendwelchen Fragen dieser Art. Denn viele Dinge wollen wir nicht als solche selbst erkennen, sondern wegen anderer Dinge, um auf diesem Wege durch jene etwas anderes zu erkennen. Probleme sind aber auch diejenigen (Fragestellungen), zu denen es entgegengesetzte Deduktionen gibt, denn es bereitet Schwierigkeiten zu sagen, ob es sich auf eine bestimmte Weise verhält oder nicht, da es überzeugende Argumente für beide Seiten gibt; und diejenigen, zu denen wir wegen ihrer Größe über kein Argument verfügen, weil wir glauben, daß es schwierig sei, das Warum anzugeben, zum Beispiel: „Ist die Welt ewig oder nicht? “. Denn man könnte wohl auch derartige Dinge untersuchen. Die Probleme und die Prämissen sollen nun, wie ausgeführt wurde, definiert sein. Eine These aber ist eine der herrschenden Meinung widersprechende Auffassung von einem der bekannten Philosophen, zum Beispiel, daß es keinen Widerspruch gebe, wie Antisthenes sagte, oder daß sich alles bewege, nach Heraklit, oder daß das Sein eines sei, wie Melissos sagte. Sich den Kopf zu zerbrechen, wenn irgendein Beliebiger etwas behauptet, das unseren Ansichten entgegengesetzt ist, wäre nämlich dumm. Oder (Thesen sind die Auffassungen), über die wir ein Argument besitzen, das den Meinungen (der meisten) entgegengesetzt ist, zum Beispiel: „Nicht alles, was ist, ist entweder entstanden oder ewig“, wie die Sophisten (mit dem folgenden Argu- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 45 3.2 Dialektische Prämisse und dialektisches Problem ment) behaupten: „Wer nämlich gebildet ist, der ist auch sprachkundig, obwohl er es weder geworden ist noch ewig ist.“ Denn auch wenn jemand dieses (eigentlich) nicht für richtig hält, könnte er es (doch) für richtig halten, weil es dafür ein Argument gibt. Auch die These ist also ein Problem, aber nicht jedes Problem ist eine These, da einige der Probleme so beschaffen sind, daß wir keine von beiden Antworten für richtig halten. Daß aber auch die These ein Problem ist, ist klar. Denn aus dem Gesagten folgt notwendig, daß die Menge über eine These anderer Meinung ist als die Fachleute oder daß innerhalb einer der beiden (Gruppen Meinungsverschiedenheiten bestehen), da eine These eine der herrschenden Meinung widersprechende Auffassung ist. Derzeit werden jedoch fast alle dialektischen Probleme Thesen genannt. Es soll aber keinen Unterschied machen, wie sie genannt werden, denn wir haben sie nicht unterteilt, um Namen zu erfinden, sondern damit [105a] uns nicht verborgen bleibt, welche Unterschiede zwischen einigen von ihnen bestehen. Man soll weder jedes Problem noch jede These untersuchen, sondern diejenigen, bei denen jemand Schwierigkeiten haben könnte, weil er Argumente benötigt und nicht Züchtigung oder Wahrnehmung. Denn wem es Schwierigkeiten bereitet zu sagen, ob man die Götter ehren und die Eltern lieben soll oder nicht, benötigt Züchtigung; wem es aber Schwierigkeiten bereitet zu sagen, ob Schnee weiß ist oder nicht, der benötigt Wahrnehmung. Auch sollte man weder diejenigen (Probleme und Thesen) untersuchen, bei welchen der Beweis nah ist, noch diejenigen, bei welchen er übermäßig weit entfernt ist. Denn die einen enthalten keine Schwierigkeiten, die anderen für die Übung zu viele. Nachdem diese Dinge definiert sind, muß man noch einteilen, wie viele Arten von dialektischen Argumenten es gibt. Die eine (Art) ist die Induktion, die andere die Deduktion. Und was eine Deduktion ist, wurde früher gesagt. Eine Induktion aber ist der Aufstieg vom Einzelnen zum Allgemeinen. Zum Beispiel: Wenn derjenige Steuermann, der sich auskennt, der beste (Steuermann) ist und so auch beim Wagenlenker, dann ist überhaupt in jedem Bereich derjenige, der sich auskennt, der beste. Die Induktion ist überzeugender und klarer und anschaulicher und der Menge vertraut, die Deduktion ist © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 46 I. Wissen und Wissenschaft dagegen zwingender und gegen die Gegenredner wirksamer. (Top. I 10-12) 3.3 Drei Gruppen von Prämissen und Problemen [105b19] Es gibt, um es im Umriß zu bestimmen, drei Gruppen von Prämissen und Problemen, denn es gibt Prämissen aus den Bereichen der Ethik, der Naturforschung und der Logik. Zur Ethik gehören derartige Fragen wie: „Soll man eher den Eltern oder den Gesetzen gehorchen, wenn beide Verschiedenes verlangen? “ Zur Logik gehören Fragen wie: „Bezieht sich dasselbe Wissen auf die Gegensätze oder nicht? “, zur Naturforschung schließlich solche Fragen wie: „Ist der Kosmos ewig oder nicht? “ Ähnlich lassen sich auch die Probleme einteilen. Wie jede der angeführten Gruppen beschaffen ist, läßt sich zwar nicht ohne weiteres mit Hilfe einer Definition von ihnen angeben, man muß aber mit Hilfe der durch die Induktion gewonnenen Vertrautheit versuchen, jede von ihnen zu erkennen, indem man die angeführten Beispiele im Blick behält. Für die Philosophie müssen sie mit Blick auf die Wahrheit behandelt werden, auf dialektische Weise aber mit Blick auf die Meinung. Erfassen muß man alle Prämissen in möglichst allgemeiner Form und aus einer viele machen, beispielsweise aus der Prämisse, daß auf die Gegensätze dasselbe Wissen bezogen ist, die Prämissen, daß es auf konträre und auf relationale Gegensätze bezogen ist. Auf dieselbe Weise muß man auch diese Prämissen wieder unterteilen, solange sie sich unterteilen lassen, beispielsweise bis zu den Prämissen, daß es nur ein Wissen gibt von gut und schlecht und von hell und dunkel und von kalt und warm. Ähnlich verhält es sich aber auch bei den anderen Prämissen. (Top. I 14) 4. Logik: Syllogistik ( Analytica priora ) [24a10] Als erstes ist anzugeben, worüber und wovon unsere Untersuchung handelt. Sie handelt über den Beweis und von der beweisenden Wissenschaft. Als nächstes müssen wir uns darüber verständigen, was eine (syllogistische) Aussage, was ein Terminus und was ein Syllogismus ist sowie welcher Syllogismus vollkommen und welcher un- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 47 3.3 Drei Gruppen von Prämissen und Problemen vollkommen ist; danach darüber, was es heißt, daß etwas in (etwas als) einem Ganzen ist oder nicht ist, und was wir mit dem Ausgesagtwerden-von-jedem oder -von-keinem meinen. Eine Aussage ist eine Rede, die etwas von etwas bejaht oder verneint. Eine solche (Rede) ist entweder allgemein oder partikulär oder unbestimmt. ,Allgemein‘ nenne ich (eine Aussage), die ein Jedem- Zukommen oder Keinem-Zukommen (aussagt), ,partikulär‘ (eine Aussage), die ein Irgendeinem-Zukommen, Irgendeinem-nicht-Zukommen oder Nicht-jedem-Zukommen aussagt, ,unbestimmt‘ (eine Aussage), die ein Zukommen oder Nicht-Zukommen aussagt ohne Angabe über den allgemeinen oder partikulären Charakter der Aussage, z. B. ,Gegensätze fallen in dieselbe Wissenschaft‘, ,Vergnügen ist kein Gut‘. Die in einem Beweis gebrauchte Protasis unterscheidet sich von einer dialektischen auf folgende Weise: Die in einem Beweis gebrauchte (Protasis) ist die Festlegung auf ein Glied eines kontradiktorischen Gegensatzes, denn wer einen Beweis führt, stellt nicht (einem Diskussionspartner) Fragen, sondern legt sich auf etwas fest. Die dialektische Protasis ist eine Frage bezogen auf einen kontradiktorischen Gegensatz. Das macht aber für das Zustandekommen eines Syllogismus in jedem der beiden Fälle keinen Unterschied; denn derjenige, der einen Beweis führt, schließt ebenso wie derjenige, der (einem Diskussionspartner) Fragen stellt, aufgrund einer Annahme dergestalt, daß etwas einer Sache zukommt oder nicht zukommt, so daß eine syllogistische Protasis überhaupt eine (Aussage) ist, die etwas von einer Sache in der angegebenen Weise bejaht oder verneint. Sie ist eine in einem Beweis gebrauchte Protasis, wenn sie wahr ist und aufgrund der zu Anfang gemachten [24b10] Annahmen festliegt; eine dialektische Protasis ist für den Fragesteller eine Frage bezogen auf einen kontradiktorischen Gegensatz, für den, der die Folgerungen zieht, die Annahme von etwas, das wahr scheint und allgemein für wahr gehalten wird, wie in der Topik erläutert. Was eine Protasis ist und wie sich die Protasis eines Syllogismus, eines Beweises und eine dialektische Protasis unterscheiden, wird im folgenden noch genauer erläutert; für das, was wir gegenwärtig brauchen, mag das Gesagte vorerst genügen. 4. Logik: Syllogistik (Analytica priora) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 48 I. Wissen und Wissenschaft ,Terminus‘ nenne ich das, worin sich eine Aussage zerlegen läßt, nämlich in das, was (als Prädikat) ausgesagt wird, und in das, wovon es (als von einem Subjekt) ausgesagt wird, indem man ,ist‘ oder ,ist nicht‘ hinzufügt. Ein Syllogismus ist eine Rede, in der, wenn bestimmte (Sachverhalte) gesetzt sind, ein von den gesetzten (Sachverhalten) verschiedener (Sachverhalt) sich mit Notwendigkeit dadurch ergibt, daß die gesetzten (Sachverhalte) vorliegen. Das ,dadurch, daß die gesetzten (Sachverhalte) vorliegen (sich ergeben)‘ definiere ich als ,aufgrund dieser (Sachverhalte) sich ergeben‘ und das ,aufgrund dieser (Sachverhalte) sich ergeben‘ als dies, daß es keines weiteren Terminus bedarf, um das Notwendige zustande kommen zu lassen. - ,Vollkommen‘ nenne ich einen Syllogismus, bei dem es über die Annahmen hinaus keines weiteren (Schrittes) bedarf, um das Notwendige einleuchtend zu machen. - ,Unvollkommen‘ nenne ich einen Syllogismus, der (dazu) eines oder mehrerer (Schritte) bedarf, die zwar aufgrund der (Verhältnisse zwischen den) gegebenen Termini notwendig, aber nicht mit den Prämissen angenommen sind. Daß etwas in etwas als einem Ganzen ist und daß letzteres von jedem ersteren ausgesagt wird, ist dasselbe. Wir reden von ,Von-jedem-Ausgesagtwerden‘, wenn man keines der unter den Subjektterminus fallenden Dinge herausgreifen kann, von dem das andere nicht ausgesagt wird. Und bei ,Von-keinem-(Ausgesagtwerden)‘ ebenso. [25a] Da jede Aussage entweder ein (einfaches) Zukommen oder ein notwendiges oder ein mögliches Zukommen behauptet, da diese Behauptungen in jedem dieser Fälle nach den jeweiligen (modalen) Zusätzen, teils bejahend, teils verneinend sind, da wiederum die bejahenden und verneinenden Aussagen teils allgemein, teils partikulär, teils unbestimmt sind, ist im Fall des (einfachen) Zukommens die allgemeine verneinende Aussage hinsichtlich ihrer Termini notwendig konvertierbar, etwa wenn kein Vergnügen ein Gut ist, so wird auch kein Gut ein Vergnügen sein. Bei der (allgemeinen) bejahenden Aussage ist diese Umkehrung notwendig, allerdings nicht allgemein, sondern nur partikulär, etwa wenn jedes Vergnügen ein Gut ist, so ist auch irgendein Gut ein Vergnügen. Bei den partikulären ist die beja- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 49 hende notwendig partikulär konvertierbar - denn wenn irgendein Vergnügen ein Gut ist, so wird auch irgendein Gut ein Vergnügen sein -, die verneinende jedoch nicht notwendig. Denn es ist nicht (notwendig) so, daß, wenn Mensch irgendeinem Lebewesen nicht zukommt, auch Lebewesen irgendeinem Menschen nicht zukommt. Angenommen, die Aussage (mit den Termini) A B sei allgemein und verneinend. Wenn nun keinem der B das A zukommt, so wird auch keinem der A das B zukommen. Denn wenn B irgendeinem A zukommt, sagen wir dem C, so wird es nicht wahr sein, daß keinem der B das A zukommt, denn C ist eines der B. - Wenn das A jedem B zukommt, so wird das B auch irgendeinem A zukommen; denn wenn es keinem (zukommt), so wird auch das A keinem B zukommen; vorausgesetzt war aber, daß es jedem (B) zukommt. - Ähnlich auch, wenn die Aussage partikulär ist. Denn wenn das A irgendeinem der B (zukommt), so kommt notwendig auch das B irgendeinem der A zu. Denn wenn es keinem (zukommt), so (kommt) auch das A keinem der B (zu). - Wenn jedoch das A irgendeinem der B nicht zukommt, so ist es nicht notwendig, daß auch das B irgendeinem der A nicht zukommt, etwa wenn das B Lebewesen, das A Mensch ist; denn Mensch kommt zwar nicht jedem Lebewesen zu, Lebewesen aber kommt jedem Menschen zu. Genauso aber werden die Dinge auch bei den Notwendigkeitsaussagen liegen. Die allgemeine verneinende (Aussage) ist nämlich allgemein konvertierbar, und von den beiden bejahenden (Aussagen) ist jede partikulär (konvertierbar). Denn wenn es notwendig ist, daß das A keinem B zukommt, dann ist es auch notwendig, daß das B keinem A zukommt; wenn es nämlich irgendeinem (zukommen) kann, dann könnte auch das A irgendeinem B (zukommen). - Kommt aber das A mit Notwendigkeit jedem oder irgendeinem B zu, dann ist es auch notwendig, daß das B irgendeinem A zukommt; bestünde diese Notwendigkeit nämlich nicht, so würde auch nicht das A irgendeinem B mit Notwendigkeit zukommen. Die partikuläre verneinende (Aussage) ist dagegen nicht konvertierbar, und zwar aus demselben Grund, den wir oben schon anführten. Was nun die Möglichkeitsaussagen betrifft (, so gilt): Da das ,(sein) können‘ mehrfach ausgesagt wird - wir sprechen nämlich sowohl bei 4. Logik: Syllogistik (Analytica priora) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 50 I. Wissen und Wissenschaft dem Notwendigen als auch bei dem nicht Notwendigen und bei dem, was sein kann, von Können -, so wird es sich hinsichtlich der Konversion bei den bejahenden (Aussagen) in allen (eben unterschiedenen) Fällen auf analoge Weise (wie bei den Notwendigkeitsaussagen) verhalten. Wenn nämlich das A [25b] jedem oder irgendeinem B (zukommen) kann, so wird auch das B irgendeinem A (zukommen) können; denn wenn (es) keinem (zukommen kann), dann auch das A keinem B. Das ist oben gezeigt worden. Bei den verneinenden (Aussagen) verhält es sich dagegen nicht ebenso, sondern (es gilt): Wo von ,(nicht-zukommen) können‘ die Rede ist, weil ein notwendiges Nicht-Zukommen vorliegt oder weil kein notwendiges Zukommen vorliegt, da (ist das Konversionsverhalten) analog (dem der Notwendigkeitsaussagen), wie wenn einer etwa sagen würde, der Mensch sei möglicherweise nicht ein Pferd oder das Weiß komme (möglicherweise) keinem Gewand zu. Hiervon kommt nämlich das eine mit Notwendigkeit nicht zu, während das andere nicht notwendig zukommt, und die (jeweilige Möglichkeits-) Aussage ist analog konvertierbar. Denn wenn Pferdsein möglicherweise keinem Menschen (zukommt), dann auch Menschsein möglicherweise keinem Pferd; und wenn das Weiß möglicherweise keinem Gewand (zukommt), dann auch das Gewand möglicherweise keinem Weißen - wenn (das Zukommen von Gewand) nämlich für irgendein (Weißes) notwendig wäre, so müßte auch das Weiß irgendeinem Gewand mit Notwendigkeit zukommen, wie vorhin gezeigt wurde. Analog (ist es) auch bei der partikulären verneinenden (Möglichkeitsaussage). Wo dagegen deshalb, weil (etwas sich) in aller Regel oder natürlicherweise (auf eine bestimmte Weise verhält), von Können die Rede ist - und zwar von Können, wie wir es definieren -, da verhält es sich bei den Konversionen verneinender Aussagen nicht analog. Vielmehr ist (in diesem Fall) die allgemeine verneinende Aussage nicht konvertierbar, wohl aber die partikuläre (verneinende). Das wird klar werden, wenn wir das Mögliche behandeln. Jetzt aber soll für uns, in Ergänzung des schon Gesagten, soviel klar sein, daß das Jedem-möglicherweise-nicht- oder (das) Irgendeinem-möglicherweise-nicht-Zukommen von bejahender Form ist - denn das ,es kann (das und das sein)‘ wird analog gebraucht wie das © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 51 ,es ist (das und das)‘, und das ,es ist‘ bewirkt, mit welchen Bestimmungen auch immer es kombiniert wird, stets und grundsätzlich eine Bejahung, wie z. B. in ,es ist nicht-gut‘ oder ,es ist nicht-weiß‘ oder überhaupt ,es ist nicht-das-und-das‘; auch dies wird durch das Folgende deutlich werden; und doch verhalten (die betreffenden Möglichkeitsaussagen) sich hinsichtlich der Konversionen analog zu den anderen (Aussagen). Nachdem wir uns hierüber verständigt haben, wollen wir jetzt angeben, woraus und wann und wie jeder Syllogismus zustande kommt. Später ist dann über den Beweis zu reden. Über den Syllogismus ist aber eher zu reden als über den Beweis, weil der Syllogismus allgemeiner ist: Denn der Beweis ist eine Art des Syllogismus, aber nicht jeder Syllogismus ist ein Beweis. Wenn sich nun drei Termini so zueinander verhalten, daß der letzte im Mittleren als einem Ganzen (enthalten) ist und der mittlere im ersten als einem Ganzen entweder (enthalten) ist oder nicht (enthalten) ist, kommt notwendig ein vollkommener Syllogismus hinsichtlich der Außentermini zustande. Ich nenne ,Mittelterminus‘ denjenigen, der einerseits selbst in einem anderen (enthalten), in dem andererseits ein anderer (enthalten) ist, der auch durch seine Stellung zum mittleren wird. Als ,Außentermini‘ bezeichne ich den, der selbst in einem anderen (enthalten) ist, und den, in dem ein anderer (enthalten) ist. - Denn wenn das A von jedem B und das B von jedem C (ausgesagt wird), so wird notwendig auch das A von jedem C ausgesagt. Oben ist nämlich erläutert worden, wie das ,Von-jedem(-Ausgesagtwerden)‘ zu verstehen ist. Analog wird, wenn das A von keinem [26a] B, das B aber von jedem C (ausgesagt wird), das A keinem C zukommen. Wenn jedoch der erste (Terminus) jedem mittleren folgt, der mittlere aber keinem letzten zukommt, so wird es keinen Syllogismus hinsichtlich der Außentermini geben. Denn nichts ergibt sich notwendig dadurch, daß die gesetzten (Sachverhalte) vorliegen; denn der erste (Terminus) kann ebensogut jedem wie keinem letzten zukommen, so daß weder das Partikuläre noch das Allgemeine notwendig zustande kommt. Da aufgrund dieser (Aussagen) nichts notwendig ist, wird es keinen Syllogismus geben. Termini für ,jedem zukom- 4. Logik: Syllogistik (Analytica priora) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 52 I. Wissen und Wissenschaft men‘: Lebewesen, Mensch, Pferd; für ,keinem zukommen‘: Lebewesen, Mensch, Stein. Ebensowenig wird sich ein Syllogismus ergeben, wenn weder der erste (Terminus) dem mittleren noch der mittlere dem letzten zukommt. Termini für ,zukommen‘: Wissenschaft, Linie, Medizin; für ,nicht zukommen‘: Wissenschaft, Linie, Einheit. Für den Fall allgemeiner Termini ist damit klar, wann sich in dieser Figur ein Syllogismus ergibt und wann sich keiner ergibt, und daß, wenn sich ein Syllogismus ergibt, die Termini notwendig in den angegebenen Verhältnissen zueinander stehen, und daß sich, wenn sie in diesen Verhältnissen stehen, ein Syllogismus ergeben wird. Angenommen, der eine Terminus steht in einer allgemeinen, der zweite in einer partikulären Beziehung auf den (jeweils) anderen: Wenn man das Allgemeine zum größeren Außenterminus stellt, gleichgültig, ob bejahend oder verneinend, das Partikuläre zum kleineren, aber bejahend, dann ergibt sich notwendig ein vollkommener Syllogismus. Wenn man (das Allgemeine) aber zum kleineren (Außenterminus) stellt oder auch wenn die Termini in irgendeiner anderen Beziehung zueinander stehen, so ist das unmöglich. - ,Größer‘ nenne ich den Außenterminus, in dem der mittlere (enthalten) ist, ,kleiner‘ den, der unter dem mittleren ist. Denn einmal angenommen, daß das A jedem B, das B irgendeinem C zukommt. Wenn nun das ,Von-jedem-Ausgesagtwerden‘ das ist, als was wir es zu Beginn definiert haben, so kommt das A notwendig irgendeinem C zu. Und wenn das A keinem B zukommt, das B aber irgendeinem C, so kommt das A notwendig irgendeinem C nicht zu. Denn es war auch festgelegt worden, wie wir das ,Von-keinem-(Ausgesagtwerden)‘ verstehen, so daß sich ein vollkommener Syllogismus ergibt. - Analog auch, wenn die B-C(-Aussage) unbestimmt ist, vorausgesetzt, sie ist bejahend; denn es ergibt sich derselbe Syllogismus bei einer unbestimmten wie bei einer partikulären (Aussage). Wenn dagegen das Allgemeine zum kleineren Außenterminus gestellt wird, gleichgültig, ob bejahend oder verneinend, so wird sich kein Syllogismus ergeben, weder wenn das Unbestimmte oder das Partikuläre bejahend noch wenn es verneinend ist, etwa wenn das A irgendeinem B zukommt oder nicht zukommt, das B aber jedem C © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 53 zukommt. Termini für ,zukommen‘: Gut, Eigenschaft, Klugheit; für ,nicht zukommen‘: Gut, Eigenschaft, Unwissenheit. Umgekehrt: Wenn das B keinem C, das A aber irgendeinem B zukommt oder nicht zukommt oder nicht jedem zukommt, so gibt es auch auf diese Weise keinen Syllogismus. Termini: Weiß, Pferd, Schwan; Weiß, Pferd, Rabe. Dieselben (Termini) sind auch (anwendbar), wenn A-B unbestimmt ist. Auch wenn (die Prämisse) mit [26b] dem größeren Außenterminus allgemein wird, gleichgültig, ob sie bejahend oder verneinend ist, die aber mit dem kleineren partikulär und verneinend, so ergibt sich kein Syllogismus, etwa wenn das A jedem B zukommt, das B aber irgendeinem C nicht, oder nicht jedem zukommt. Denn der erste (Terminus) wird jedem und keinem von dem folgen, dem der mittlere partikulär nicht zukommt. Denn man setze einmal die Termini Lebewesen, Mensch, Weiß voraus; dann nehme man von den weißen Dingen, von denen Mensch nicht ausgesagt wird, die Schwäne und den Schnee; Lebewesen wird nun im einen Fall von jedem, im anderen von keinem ausgesagt, so daß sich kein Syllogismus ergibt. Umgekehrt: Das A komme keinem B zu, das B komme irgendeinem C nicht zu. Die Termini seien Unbelebt, Mensch, Weiß. Dann nehme man von den weißen Dingen, von denen Mensch nicht ausgesagt wird, die Schwäne und den Schnee. Unbelebt wird nämlich im einen Fall von jedem, im anderen von keinem ausgesagt. Außerdem: Da ,irgendeinem C kommt das B nicht zu‘ insofern unbestimmt ist, als sowohl, wenn es keinem zukommt, als auch, wenn es nicht jedem zukommt, wahr ist, daß es irgendeinem nicht zukommt, und da sich, wie vorhin erläutert, kein Syllogismus ergibt, wenn die Termini so gewählt werden, daß es keinem zukommt, so ist klar, daß sich kein Syllogismus ergibt, wenn die Termini in der beschriebenen Weise zueinander im Verhältnis stehen. Denn sonst gäbe es auch in dem gerade erwähnten Fall einen Syllogismus. Das läßt sich auch auf analoge Weise zeigen, wenn die allgemeine (Prämisse) als verneinend gesetzt wird. Wenn beide (Begriffs-)Verhältnisse partikulär ausgesagt werden, sei es bejahend oder verneinend, oder jeweils eines bejahend, das andere verneinend, oder das eine unbestimmt, das andere bestimmt, oder beide unbestimmt, so ergibt sich niemals ein Syllogismus. Ge- 4. Logik: Syllogistik (Analytica priora) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 54 I. Wissen und Wissenschaft meinsame Termini für alle (diese Fälle): Lebewesen, Weiß, Pferd; Lebewesen, Weiß, Stein. Aus dem Gesagten ist klar, daß die Termini, wenn sich in dieser Figur ein partikulärer Syllogismus ergibt, notwendig so zueinander in Beziehung stehen, wie wir gesagt haben. Denn stehen sie in anderen Beziehungen zueinander, so kommt niemals (ein Syllogismus) zustande. Weiterhin ist klar, daß alle Syllogismen in dieser (Figur) vollkommen sind, denn alle werden mittels der ursprünglichen Annahmen zu Ende geführt, und daß sich in dieser Figur alle (Typen von) Aussagen beweisen lassen, nämlich das Jedem-, das Keinem-, das Irgendeinem- und das Irgendeinem-nicht-Zukommen. Ich nenne diese Figur die erste. Wenn dasselbe dem einen (Terminus) allgemein bejahend, dem anderen allgemein verneinend zukommt, oder beiden entweder allgemein bejahend oder allgemein verneinend, so nenne ich eine solche Figur die zweite; ,Mittelterminus‘ nenne ich in ihr das von beiden prädizierte Prädikat, ,Außentermini‘ die, von denen dieser ausgesagt wird, ,größeren‘ Außenterminus den, der näher am Mittelterminus liegt, ,kleineren‘ den, der weiter vom Mittelterminus entfernt ist. Der Mittelterminus wird außerhalb der Außentermini gesetzt und ist seiner Stellung nach der erste. [27a] Einen vollkommenen Syllogismus wird es in dieser Figur nie geben, aber (ein Syllogismus) ist möglich, sowohl, wenn die Termini allgemein sind, als auch, wenn sie das nicht sind. Für den Fall allgemeiner (Termini) ergibt sich ein Syllogismus, wenn der mittlere (Terminus) dem einen (Außenterminus) allgemein bejahend, dem anderen allgemein verneinend zukommt, gleichgültig, bei welchem von beiden die Verneinung steht, sonst aber nie. Denn angenommen, das M werde von keinem N, aber von jedem X ausgesagt; da nun die verneinende (Aussage) konvertierbar ist, wird keinem M das N zukommen; das M aber kam jedem X zu; also (kommt) das N keinem X (zu); das ist nämlich vorhin gezeigt worden. Umgekehrt: Wenn das M jedem N, aber keinem X (zukommt), wird auch das X keinem N zukommen. - Denn wenn das M keinem X, so auch das X keinem M; das M aber kam jedem N zu; also wird das X keinem N zukommen; es ist nämlich wieder die erste Figur © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 55 zustande gekommen. - Da aber die verneinende (Aussage) konvertierbar ist, wird auch das N keinem X zukommen, so daß sich derselbe Syllogismus ergibt. Man kann dies auch durch eine reductio ad impossibile zeigen. Damit ist klar, daß sich ein Syllogismus ergibt, allerdings kein vollkommener, wenn die Termini in der angegebenen Weise zueinander im Verhältnis stehen. Denn nicht aufgrund der ursprünglichen Annahmen allein, sondern auch aufgrund anderer (Schritte) wird das Notwendige zu Ende geführt. Wenn das M von jedem N und von (jedem) X ausgesagt wird, ergibt sich kein Syllogismus. Termini für ,zukommen‘: Substanz, Lebewesen, Mensch; für ,nicht zukommen‘: Substanz, Lebewesen, Zahl. - Substanz (ist) Mittelterminus. - Ebenso, wenn weder vom N noch vom X das M ausgesagt wird. Termini für ,zukommen‘: Linie, Lebewesen, Mensch; für ,nicht zukommen‘: Linie, Lebewesen, Stein. Damit ist klar: Wenn es einen Syllogismus mit allgemeinen Termini gibt, so muß es sich mit den Termini so verhalten, wie wir zu Beginn gesagt haben. Denn wenn es sich anders verhält, kommt das Notwendige nicht zustande. Wenn der Mittelterminus aber nur zu einem (Außenterminus) allgemein (gestellt wird), dann ergibt sich, vorausgesetzt, er wird allgemein zum größeren (Außenterminus) gestellt, gleichgültig ob bejahend oder verneinend, zum kleineren dagegen partikulär und jeweils der allgemeinen (Prämisse) entgegengesetzt - mit ,entgegengesetzt‘ meine ich: Wenn die allgemeine (Prämisse) verneinend ist, so ist die partikuläre bejahend, wenn dagegen die allgemeine bejahend ist, so die partikuläre verneinend -, notwendig ein verneinender partikulärer Syllogismus. Denn wenn das M keinem N, aber irgendeinem X zukommt, so ist es notwendig, daß das N irgendeinem X nicht zukommt. Denn da die verneinende (Prämisse) konvertierbar ist, so wird auch keinem M das N zukommen; das M aber, so war vorausgesetzt, kommt irgendeinem X zu, so daß das N irgendeinem X nicht zukommen wird. Es kommt nämlich ein Syllogismus in der ersten Figur zustande. Umgekehrt: Wenn jedem N das M zukommt, irgendeinem X aber nicht, so ist es notwendig, daß das N irgendeinem X nicht zukommt. Denn wenn es jedem zukommt und das M von jedem N ausgesagt 4. Logik: Syllogistik (Analytica priora) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 56 I. Wissen und Wissenschaft wird, so ist es notwendig, daß das M [27b] jedem X zukommt; vorausgesetzt war aber, daß es irgendeinem nicht zukommt. Und wenn das M jedem N zukommt, aber nicht jedem X, so ergibt sich als Schlußfolgerung, daß das N nicht jedem X (zukommt). Der Beweis ist derselbe. Wenn es dagegen von jedem X, aber nicht von jedem N ausgesagt wird, so ergibt sich kein Syllogismus. Termini: Lebewesen, Substanz, Rabe; Lebewesen, Weiß, Rabe. Ebenfalls nicht, wenn es von keinem X, aber von irgendeinem N (ausgesagt wird). Termini für ,zukommen‘: Lebewesen, Substanz, Einheit; für ,nicht zukommen‘: Lebewesen, Substanz, Wissenschaft. Für den Fall, daß das Allgemeine dem Partikulären entgegengesetzt ist, ist dargelegt worden, wann sich ein Syllogismus ergibt und wann nicht. Für den Fall aber, daß die Prämissen (in der Qualität) gleichförmig sind, etwa beide verneinend oder (beide) bejahend, ergibt sich nie ein Syllogismus. Denn sie seien zuerst verneinend, und das Allgemeine soll zum größeren Außenterminus gestellt worden sein, es komme etwa das M keinem N zu und irgendeinem X nicht zu. Dann kann das N sowohl jedem als auch keinem X zukommen. Termini für ,nicht zukommen‘: Schwarz, Schnee, Lebewesen. Für ,jedem zukommen‘ lassen sich keine Termini auffinden, wenn das M irgendeinem X zukommt und irgendeinem nicht. Denn wenn jedem X das N, das M aber keinem N (zukommt), so wird das M keinem X zukommen. Wir waren aber von der Voraussetzung ausgegangen, daß es irgendeinem zukommt. Auf diese Weise ist es also nicht möglich, Termini aufzufinden. Man muß es vielmehr aus dem Unbestimmten beweisen; denn da auch dann wahr ist, daß das M irgendeinem X nicht zukommt, wenn es keinem zukommt, und da, wenn es keinem zukam, kein Syllogismus zustande kam, so ist klar, daß sich auch jetzt keiner ergibt. Umgekehrt: Sie seien bejahend, und das Allgemeine sei an derselben Stelle, es komme etwa das M jedem N und irgendeinem X zu. Dann kann das N sowohl jedem als auch keinem X zukommen. Termini für ,keinem zukommen‘: Weiß, Schwan, Stein; für das ,jedem (zukommen)‘ lassen sich keine (Termini) auffinden, aus demselben Grund wie vorhin; man muß es vielmehr aus dem Unbestimmten beweisen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 57 Wenn dagegen das Allgemeine beim kleineren Außenterm steht und das M keinem X, irgendeinem N aber nicht zukommt, so kann das N sowohl jedem als auch keinem X zukommen. Termini für ,zukommen‘: Weiß, Lebewesen, Rabe; für ,nicht zukommen‘: Weiß, Stein, Rabe. - Wenn die Prämissen bejahend sind, (so sind) Termini für ,nicht zukommen‘: Weiß, Lebewesen, Schnee; für ,zukommen‘: Weiß, Lebewesen, Schwan. Damit ist klar, daß sich, wenn die Prämissen (in der Qualität) gleichförmig sind und die eine allgemein, die andere partikulär ist, nie ein Syllogismus ergibt. Aber auch nicht, wenn der (Mittelterminus) beiden (Außentermini) partikulär zukommt oder nicht zukommt oder dem einen (zukommt), dem anderen nicht, oder in beiden Fällen nicht jedem, oder auf unbestimmte Weise. Gemeinsame Termini für alle (diese Fälle): Weiß, Lebewesen, Mensch; Weiß, Lebewesen, Unbelebt. [28a] Aus dem Gesagten ist klar, daß dann, wenn die Termini so zueinander in Beziehung stehen, wie gesagt wurde, notwendig ein Syllogismus zustande kommt und daß die Termini, wenn ein Syllogismus vorliegt, notwendig so zueinander in Beziehung stehen. Weiterhin ist klar, daß alle Syllogismen in dieser Figur unvollkommen sind - denn alle werden dadurch zu Ende geführt, daß man zusätzlich etwas einbringt, was entweder notwendig in den (Beziehungen der) Termini enthalten ist oder als Voraussetzung gesetzt wird, etwa wenn wir etwas per impossibile beweisen - und daß kein bejahender Syllogismus mittels dieser Figur zustande kommt, sondern daß alle verneinend sind, sowohl die allgemeinen als auch die partikulären. Wenn demselben (Terminus) der eine (Terminus) allgemein bejahend, der andere allgemein verneinend zukommt, oder beide allgemein bejahend oder allgemein verneinend, so nenne ich eine solche Figur die dritte. ,Mittelterminus‘ nenne ich in ihr den, von dem die beiden prädizierten Prädikate (ausgesagt werden), ,Außentermini‘ die Prädikate; ,größeren Außenterminus‘ den, der vom Mittelterminus weiter entfernt ist, ,kleineren‘ den, der näher daran ist. Der Mittelterminus wird außerhalb der Außentermini gesetzt und ist seiner Stellung nach der letzte. 4. Logik: Syllogistik (Analytica priora) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 58 I. Wissen und Wissenschaft Ein vollkommener Syllogismus kommt nun auch in dieser Figur nicht zustande, aber (ein Syllogismus) ist möglich, sowohl, wenn die Termini in allgemeiner Beziehung zum Mittelterminus stehen, als auch, wenn das nicht der Fall ist. Für den Fall, daß sie allgemein sind, (ergibt sich), wenn sowohl das P als auch das R jedem S zukommt, daß notwendig irgendeinem R das P zukommen wird. Denn da die bejahende (Prämisse) konvertierbar ist, wird das S irgendeinem R zukommen, so daß notwendig, da jedem S das P und irgendeinem R das S (zukommt), auch das P irgendeinem R zukommt. Denn es kommt ein Syllogismus mittels der ersten Figur zustande. Dieser Beweis läßt sich auch per impossibile sowie mittels der Ekthesis führen. Angenommen nämlich, beide (Außentermini) kommen jedem S zu: Wenn man nun eines der S herausgreift, etwa das N, so wird diesem sowohl das P als auch das R zukommen, so daß irgendeinem R das P zukommen wird. Auch wenn das R jedem S, das P aber keinem zukommt, ergibt sich ein Syllogismus, daß notwendigerweise das P irgendeinem R nicht zukommen wird. Da sich die R-S-Prämisse konvertieren läßt, ist die Art und Weise des Beweises dieselbe. Das läßt sich ebenso, wie in den vorhergehenden Fällen, per impossibile beweisen. Wenn dagegen das R keinem, das P aber jedem S zukommt, so ergibt sich kein Syllogismus. Termini für ,zukommen‘: Lebewesen, Pferd, Mensch; für ,nicht zukommen‘: Lebewesen, Unbelebt, Mensch. Ebensowenig ergibt sich ein Syllogismus, wenn beide von keinem S ausgesagt werden. Termini für ,zukommen‘: Lebewesen, Pferd, Unbelebt; für ,nicht zukommen‘: Mensch, Pferd, Unbelebt. Unbelebt ist Mittelterminus. Damit ist auch für diese Figur klar, wann sich bei allgemeinen Termini ein Syllogismus ergibt und wann nicht. Denn wenn beide (Außen)termini bejahend sind, ergibt sich der Syllogismus, daß der eine Außenterminus dem anderen Außenterminus partikulär zukommt. Sind sie aber verneinend, so ergibt sich kein (Syllogismus). [28b] Wenn der eine bejahend, der andere verneinend ist, so ergibt sich für den Fall, daß der größere verneinend, der andere bejahend ist, der Syllogismus, daß der eine Außenterminus dem anderen partikulär nicht zukommt; im umgekehrten Fall ergibt sich kein (Syllogismus). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 59 Wenn der eine (Terminus) allgemein, der andere partikulär zum Mittelterminus (gestellt wird), so kommt für den Fall, daß beide bejahend sind, notwendig ein Syllogismus zustande, gleichgültig welcher von den Termini allgemein ist. Denn wenn das R jedem S, das P aber irgendeinem (zukommt), dann kommt notwendig das P irgendeinem R zu. Da nämlich die Bejahung konvertierbar ist, wird das S (auch) irgendeinem P zukommen, so daß, da das R jedem S und das S irgendeinem P (zukommt), auch das R irgendeinem P zukommen wird. Also (wird auch) das P irgendeinem R (zukommen). - Umgekehrt: Wenn das R irgendeinem S, das P aber jedem zukommt, so kommt notwendig das P irgendeinem R zu. Die Art und Weise des Beweises ist dieselbe. Ebenso wie in den vorhergehenden Fällen läßt sich das auch per impossibile und über die Ekthesis beweisen. Wenn der eine (Außenterminus) bejahend, der andere verneinend ist, der bejahende aber allgemein ist, so wird sich für den Fall, daß der kleinere bejahend ist, ein Syllogismus ergeben. Denn wenn das R jedem S zukommt, das P dagegen irgendeinem nicht, so kommt notwendig das P irgendeinem R nicht zu. (Kommt) es nämlich jedem (zu) und das R jedem S, dann wird auch das P jedem S zukommen. Es kam aber nicht (jedem) zu. Man kann das auch ohne reductio zeigen, wenn man eines der S wählt, dem das P nicht zukommt. Für den Fall, daß der größere (Terminus) bejahend ist, wird sich kein Syllogismus ergeben, etwa wenn das P jedem S zukommt, das R aber irgendeinem S nicht. Termini für ,jedem zukommen‘: Belebt, Mensch, Lebewesen; für ,keinem (zukommen)‘ lassen sich keine Termini angeben, wenn das R irgendeinem S zukommt und irgendeinem nicht. Denn wenn das P jedem S zukommt und das R irgendeinem S, dann wird auch das P irgendeinem R zukommen. Vorausgesetzt war aber, daß es keinem zukommt. Man muß (die Termini) wie in den schon behandelten Fällen wählen: Denn da ,irgendeinem nicht zukommen‘ unbestimmt ist, kann man auch von dem, was keinem zukommt, wahrheitsgemäß sagen, daß es irgendeinem nicht zukommt. Für diesen Fall hatte sich aber kein Syllogismus ergeben. Es ist also klar, daß sich kein Syllogismus ergeben wird. Wenn der verneinende der (beiden Außen-)Termini allgemein ist, so ergibt sich für den Fall, daß der größere verneinend, der kleinere 4. Logik: Syllogistik (Analytica priora) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 60 I. Wissen und Wissenschaft bejahend ist, ein Syllogismus. Denn wenn das P keinem S, das R aber irgendeinem S zukommt, so wird das P irgendeinem R nicht zukommen. Wiederum ergibt sich nämlich nach Konversion der R-S-Prämisse die erste Figur. - Für den Fall, daß der kleinere (Außenterminus) verneinend ist, ergibt sich kein Syllogismus. Termini für ,zukommen‘: Lebewesen, Mensch, Wild; für ,nicht zukommen‘: Lebewesen, Wissenschaft, Wild. Mittelterminus in beiden Fällen ist Wild. Auch nicht für den Fall, daß beide (Außentermini) verneinend gesetzt werden, der eine allgemein, der andere partikulär. Termini [29a] für den Fall, daß der kleinere in allgemeiner Beziehung zum mittleren steht: Lebewesen, Wissenschaft, Wild; Lebewesen, Mensch, Wild. Für den Fall, daß dagegen der größere (Außenterminus in dieser Beziehung steht), sind Termini für ,nicht zukommen‘: Rabe, Schnee, Weiß. Für ,zukommen‘ lassen sich keine (Termini) angeben, wenn das R irgendeinem S zukommt und irgendeinem nicht. Denn wenn das P jedem R und das R irgendeinem S (zukommt), dann auch das P irgendeinem S; vorausgesetzt war aber, (daß es) keinem (zukommt). Man muß es vielmehr aus dem Unbestimmten beweisen. Auch wenn jeder (Außenterminus) dem Mittelterminus partikulär zukommt oder nicht zukommt, oder der eine (ihm partikulär) zukommt, der andere nicht, oder der eine irgendeinem (zukommt), der andere nicht jedem, oder wenn sie unbestimmt (zukommen), so ergibt sich nie ein Syllogismus. Gemeinsame Termini für alle (diese Fälle): Lebewesen, Mensch, Weiß; Lebewesen, Unbelebt, Weiß. Damit ist auch für diese Figur klar, wann sich ein Syllogismus ergibt und wann nicht, und daß dann, wenn es sich mit den Termini so verhält, wie gesagt wurde, notwendig ein Syllogismus zustande kommt und daß es sich mit den Termini, wenn ein Syllogismus zustande kommt, notwendig so verhält. Es ist weiterhin klar, daß alle Syllogismen in dieser Figur unvollkommen sind - denn alle werden dadurch zu Ende geführt, daß man zusätzlich etwas einbringt - und daß sich mittels dieser Figur nichts Allgemeines erschließen läßt, weder verneinend noch bejahend. Deutlich ist auch, daß in sämtlichen Figuren, in all den Fällen, in denen kein Syllogismus zustande kommt, dann überhaupt nichts Notwendiges zustande kommt, wenn beide (Außen)termini bejahend © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 61 oder verneinend sind; ist aber der eine bejahend, der andere verneinend, so ergibt sich, wenn der verneinende allgemein angenommen wird, immer ein Syllogismus, der den kleineren Außenterminus zum größeren in Beziehung setzt, etwa wenn das A jedem oder irgendeinem B, das B aber keinem C zukommt. Denn nach Konversion der Prämissen kommt notwendig das C irgendeinem A nicht zu. Analog auch für die anderen Figuren; denn immer kommt aufgrund der Konversion ein Syllogismus zustande. Deutlich ist auch, daß die unbestimmte Aussage an Stelle der partikulären bejahenden denselben Syllogismus in allen Figuren zustande bringt. Es ist auch klar, daß alle unvollkommenen Syllogismen mittels der ersten Figur zu Ende geführt werden; denn alle werden entweder durch direkten Beweis oder per impossibile abgeschlossen. Auf beide Weisen aber kommt die erste Figur zustande: Bei den durch direkten Beweis zu Ende geführten, weil sie, wie wir sahen, alle durch Konversion abgeschlossen werden und die Konversion die erste Figur erzeugt; bei den per impossibile bewiesenen, weil durch die Annahme des Falschen der Syllogismus mittels der ersten Figur zustande kommt, etwa in der letzten Figur, wenn das A und das B jedem C zukommt, kommt das A auch irgendeinem B zu; kommt es nämlich keinem zu, das B aber jedem C, so wird auch das A keinem C zukommen; vorausgesetzt war aber, daß es jedem zukommt. Analog auch in den anderen Fällen. [29b] Es ist auch möglich, alle Syllogismen auf die allgemeinen Syllogismen in der ersten Figur zu reduzieren. Denn es ist klar, daß die in der zweiten (Figur) durch jene zu Ende gebracht werden, allerdings nicht alle auf die gleiche Weise, sondern die allgemeinen durch die Konversion der verneinenden (Prämisse), jeder der beiden partikulären durch die reductio ad impossibile. Die partikulären (Syllogismen) in der ersten (Figur) werden zwar auch durch sich selbst zu Ende geführt, es ist aber auch möglich, sie mittels der zweiten Figur durch reductio ad impossibile zu beweisen, etwa (folgendermaßen): Wenn das A jedem B und das B irgendeinem C (zukommt), so (kommt auch) das A irgendeinem C (zu); kommt es nämlich keinem zu, aber jedem B, so wird keinem C das B zukommen; denn das wissen wir aufgrund der zweiten Figur. Der Beweis für den verneinenden (Syllogismus) ist analog: Wenn nämlich das A kei- 4. Logik: Syllogistik (Analytica priora) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 62 I. Wissen und Wissenschaft nem B, das B aber irgendeinem C zukommt, dann wird das A irgendeinem C nicht zukommen; kommt es nämlich jedem zu, aber keinem B, dann wird keinem C das B zukommen; das aber war die mittlere Figur. Da also die Syllogismen in der mittleren Figur sich alle auf die allgemeinen Syllogismen in der ersten reduzieren lassen, die partikulären (Syllogismen) in der ersten aber auf die in der mittleren, so ist klar, daß auch die partikulären auf die allgemeinen Syllogismen in der ersten Figur reduziert werden. Die in der dritten Figur werden für den Fall, daß die (kleineren) Termini allgemein sind, unmittelbar aufgrund jener Syllogismen zu Ende geführt; für den Fall, daß sie partikulär angenommen wurden, mittels der partikulären Syllogismen in der ersten Figur; diese wurden aber auf jene reduziert, so daß auch die partikulären in der dritten Figur (auf jene reduzierbar sind). Damit ist klar, daß alle (Syllogismen) auf die allgemeinen Syllogismen in der ersten Figur reduziert werden können. Was die Syllogismen betrifft, die ein (bloßes) Zukommen oder nicht-Zukommen beweisen, so ist hiermit sowohl dargelegt, in welchen Beziehungen diejenigen zueinander stehen, die zur selben Figur gehören, als auch, welche Beziehungen zwischen denjenigen bestehen, die zu verschiedenen Figuren gehören. (An. pr. I 1-7) 5. Lehre vom Beweis ( Analytica posteriora ) 5.1 Der wissenschaftliche Beweis [71a1] Jede Unterweisung und jedes verständige Erwerben von Wissen entsteht aus bereits vorhandener Kenntnis. Einleuchtend ist dies für diejenigen, die alle Einzelfälle betrachten. Denn sowohl die mathematischen unter den Wissenschaften kommen auf diese Weise zustande als auch jede der übrigen Künste, und ähnlich auch, was die Argumente angeht, sowohl diejenigen, die durch Deduktion, als auch diejenigen, die durch Induktion entstehen. Denn beide bringen durch bereits bekannte Dinge die Unterweisung zustande, die einen, indem sie etwas annehmen wie von Leuten, die verstehen, die ande- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 63 5.1 Der wissenschaftliche Beweis ren, indem sie das Allgemeine aufweisen dadurch, daß das Einzelne klar ist. Auf dieselbe Weise überzeugen auch die rhetorischen Argumente - entweder nämlich durch Beispiele, was eine Induktion ist, oder durch rhetorische Schlüsse, was eine Deduktion ist. Auf zweifache Weise jedoch ist es notwendig, bereits Kenntnisse zu besitzen. Denn es ist notwendig, von einigen Dingen im voraus anzunehmen, daß sie sind, von anderen zu verstehen, was das Gesagte ist, von wieder anderen dagegen beides - wie etwa vom Umstand, daß man wahrheitsgemäß alles entweder bejaht oder verneint, daß es ist; vom Dreieck, daß es dies bezeichnet; von der Einheit dagegen beides, sowohl was sie bezeichnet als auch daß sie ist. Denn nicht auf ähnliche Weise ist ein jedes dieser Dinge klar für uns. Man kann aber auch insofern Kenntnisse besitzen, als man einige Dinge zuvor zur Kenntnis nimmt, von anderen dagegen auch gleichzeitig Kenntnis gewinnt, wie etwa von allem, was unter das Allgemeine fällt, von dem man Kenntnis besitzt. Daß nämlich jedes Dreieck Winkel hat, die zwei Rechten gleich sind, wußte man bereits; daß aber dieses hier im Halbkreis ein Dreieck ist, davon gewinnt man zugleich unter Durchführung einer Induktion Kenntnis. Bei einigen Dingen nämlich erfolgt auf diese Weise das Erwerben von Wissen - und nicht durch den Mittelbegriff gewinnt man vom Außenbegriff Kenntnis -, und zwar bei allen Dingen, die tatsächlich zum Einzelnen gehören und nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden. Bevor man dagegen eine Induktion durchgeführt oder eine Deduktion vorgenommen hat, muß man vielleicht sagen, daß man es zwar auf gewisse Weise weiß, auf andere Weise jedoch nicht. Wovon man nämlich nicht wußte, ob es schlechthin ist, wie wußte man davon, daß es zwei rechte Winkel hat - schlechthin? Aber es ist klar, daß man so weiß, daß man allgemein weiß, schlechthin jedoch nicht weiß. Andernfalls wird sich das Problem im Menon ergeben: entweder man wird keinerlei Wissen erwerben oder was man besitzt. Keineswegs nämlich darf man so reden, wie einige es zu lösen versuchen. Weißt du von jeder Zweiheit, daß sie gerade ist, oder nicht? Bejaht man, so bringen sie gewöhnlich eine Zweiheit vor, von der man nicht glaubte, daß sie es ist, also auch nicht, daß sie gerade ist. Sie lösen es nämlich, indem sie leugnen zu wissen, daß jede Zweiheit gerade ist, sondern nur jene, von der sie wissen, daß sie eine Zweiheit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 64 I. Wissen und Wissenschaft ist. Dennoch [71b] wissen sie dasjenige, wovon sie eine Demonstration besitzen und worüber sie Annahmen gemacht haben, sie haben jedoch nicht Annahmen gemacht über alles, wovon sie irgend wissen, daß es ein Dreieck oder daß es eine Zahl ist, sondern schlechthin über jede Zahl und jedes Dreieck. Denn keine Prämisse wird angenommen, die von der Art ist, daß sie sagt: wovon du weißt, daß es eine Zahl ist, oder: wovon du weißt, daß es geradlinig ist, sondern: von jedem. Aber nichts, so glaube ich, hindert daran, wovon jemand Wissen erwirbt, auf eine Weise zu wissen, auf eine andere Weise jedoch nicht zu wissen. Absurd nämlich ist es nicht, wenn jemand in gewisser Weise weiß, wovon er Wissen erwirbt, sondern wenn auf diese bestimmte Weise, das heißt inwiefern er Wissen erwirbt und wie. Zu wissen nun glauben wir eine jede Sache schlechthin, und nicht auf die sophistische, die zufällige Weise, wann immer wir von der Ursache glauben Kenntnis zu besitzen, aufgrund derer die Sache besteht, daß sie ihre Ursache ist, und daß sie sich nicht anders verhalten kann. Klar ist also, daß das Wissen etwas von dieser Art ist. Denn sowohl die Nicht-Wissenden als auch die Wissenden - die einen glauben selbst in diesem Zustand zu sein, die Wissenden dagegen sind es auch, so daß das, wovon es schlechthin Wissen gibt, sich unmöglich anders verhalten kann. Ob es nun auch eine andere Weise des Wissens gibt, werden wir später sagen; wir behaupten jedenfalls auch durch Demonstration zu wissen. Demonstration nenne ich dabei eine wissenschaftliche Deduktion, und wissenschaftlich nenne ich jene, gemäß der wir dadurch, daß wir sie besitzen, wissen. Wenn also das Wissen von der Art ist, wie wir es festgesetzt haben, so hängt auch notwendigerweise das demonstrative Wissen von Dingen ab, die wahr und ursprünglich und unvermittelt und bekannter und vorrangig und ursächlich im Verhältnis zur Konklusion sind. Denn so werden auch die Prinzipien angemessen sein für das Aufgewiesene. Eine Deduktion nämlich wird es auch ohne diese Dinge geben, eine Demonstration dagegen wird es nicht geben, denn sie wird kein Wissen zustandebringen. Wahr nun also müssen sie sein, weil es nicht möglich ist, das Nichtseiende zu wissen, wie etwa daß © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 65 5.1 Der wissenschaftliche Beweis die Diagonale kommensurabel ist. Von ursprünglichen und nichtdemonstrierbaren Dingen: weil man nichts wissen wird, ohne daß man eine Demonstration von ihnen besitzt. Denn das Wissen jener Dinge, von denen es eine Demonstration gibt - nicht auf zufällige Weise - ist das Besitzen einer Demonstration. Ursächlich und bekannter müssen sie sein und vorrangig - ursächlich weil wir dann wissen, wenn wir die Ursache wissen, und vorrangig, wenn in der Tat ursächlich, und bereits bekannt nicht nur auf die eine Art, durch das Verstehen, sondern auch durch das Wissen, daß sie sind. Vorrangig aber ist etwas, und bekannter, auf doppelte Weise. Denn es ist nicht dasselbe, vorrangig von Natur aus zu sein und in bezug auf uns vorrangig, [72a] und auch nicht bekannter und für uns bekannter. Ich nenne dabei in bezug auf uns vorrangig und bekannter das der Wahrnehmung Nähere, schlechthin vorrangig und bekannter dagegen das Entferntere. Es ist aber am entferntesten das Allgemeinste, am nächsten jedoch das Einzelne, und diese sind einander entgegengesetzt. Von ursprünglichen Dingen heißt: von angemessenen Prinzipien, denn dasselbe nenne ich Ursprüngliches und Prinzip. Ein Prinzip ist eine unvermittelte Prämisse einer Demonstration, unvermittelt aber: der gegenüber keine andere vorrangig ist. Eine Prämisse ist der eine Teil einer Prädikation, eines über anderes, und zwar eine dialektische, wenn sie unterschiedslos einen beliebigen Teil annimmt, eine demonstrative dagegen, wenn sie definitiv einen der beiden annimmt, weil er wahr ist. Eine Prädikation ist ein beliebiger Teil einer Kontradiktion, und eine Kontradiktion ist ein Gegensatz, zwischen dem es in bezug auf ihn selbst nichts gibt; Teil einer Kontradiktion schließlich ist einerseits - etwas über etwas - eine Bejahung, andererseits - etwas nicht über etwas - eine Verneinung. Ein unvermitteltes deduktives Prinzip nenne ich: Festsetzung, wenn man es nicht beweisen kann und nicht besitzen muß, um irgendein Wissen zu erwerben - wenn man es dagegen besitzen muß, um welches Wissen auch immer zu erwerben: Postulat. Es gibt nämlich einiges von dieser Art, und diesen Namen pflegen wir meistens bei solchen Dingen zu verwenden. Eine Festsetzung, die welchen der Teile einer Kontradiktion auch immer annimmt - ich meine, daß © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 66 I. Wissen und Wissenschaft etwas ist oder daß etwas nicht ist - nenne ich: Hypothese, diejenige dagegen ohne dieses: Definition. Die Definition nämlich ist eine Festsetzung: es setzt nämlich der Arithmetiker fest, daß eine Einheit das Unteilbare in Hinsicht auf das Quantitative ist; eine Hypothese aber ist es nicht, denn was eine Einheit ist und daß eine Einheit ist, ist nicht dasselbe. Da man jedoch überzeugt sein und eine Sache wissen sollte dadurch, daß man eine Art von Deduktion besitzt, die wir Demonstration nennen, und diese dadurch zustandekommt, daß diejenigen Dinge der Fall sind, von denen die Deduktion abhängt, so ist es nicht nur notwendig, die ursprünglichen Dinge bereits zu kennen, entweder alle oder einige, sondern auch in höherem Grade; stets nämlich trifft dasjenige, aufgrund dessen ein jedes zutrifft, jenem gegenüber in höherem Grade zu, wie etwa: aufgrund dessen wir lieben, das ist liebenswert in höherem Grade. Daher, wenn wir wirklich wissen aufgrund der ursprünglichen Dinge, und überzeugt sind, dann wissen wir auch jene Dinge, und sind überzeugt, in höherem Grade, weil aufgrund jener auch die späteren Dinge zutreffen. Und es ist nicht möglich, in höherem Grade überzeugt zu sein, als wovon man weiß, von jenen Dingen, für die faktisch nicht gilt, daß man sie weiß oder ihnen gegenüber besser disponiert ist, als wenn man sie faktisch wüßte. Es wird dies aber folgen, wenn jemand nicht bereits etwas kennt gegenüber jenen, die aufgrund einer Demonstration überzeugt sind. Denn in höherem Grade muß man von den Prinzipien überzeugt sein, entweder von allen oder von einigen, als von der Konklusion. Wer aber das Wissen besitzen will, und zwar das aufgrund einer Demonstration, muß nicht nur die Prinzipien in höherem Grade kennen und in höherem Grade von ihnen überzeugt sein als vom Bewiesenen, [72b] sondern auch nichts anderes darf für ihn überzeugender oder bekannter sein unter denjenigen - den Prinzipien entgegengesetzten - Dingen, von denen die Deduktion des konträren Irrtums abhängt, wenn denn wirklich der schlechthin Wissende nicht vom Gegenteil überzeugt werden kann. Einigen freilich scheint es aufgrund der Notwendigkeit, die ursprünglichen Dinge zu wissen, kein Wissen zu geben; anderen scheint es © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 67 5.1 Der wissenschaftliche Beweis zwar Wissen, aber von allem auch eine Demonstration zu geben. Davon ist nichts wahr oder notwendig. Die einen nämlich, die voraussetzen, es sei nicht möglich, auf andere Weise zu wissen - diese Leute betonen, man werde ins Unendliche geführt, so daß man nicht das Nachrangige aufgrund des Vorrangigen wissen kann, unter dem Ursprüngliches nicht vorkommt; und recht haben sie damit; unmöglich nämlich ist es, das Unendliche durchzugehen. Und wenn es zum Stehen kommt und es Prinzipien gibt, dann seien diese unerkennbar, da es von ihnen keine Demonstration gebe, was - so behaupten sie - das Wissen sei, und zwar einzig und allein. Wenn es aber nicht möglich ist, die ursprünglichen Dinge zu wissen, dann könne man auch das von ihnen Abhängige nicht schlechthin oder auf vorzügliche Weise wissen, sondern nur abhängig von einer Hypothese, - wenn jene sind. Die anderen stimmen zwar über das Wissen überein: durch Demonstration komme es zustande, und zwar einzig und allein; aber daß es von allem eine Demonstration gibt, daran hindere nichts, denn es sei möglich, daß die Demonstration zirkulär entsteht und auseinander. Wir aber behaupten, daß nicht jedes Wissen demonstrierbar, sondern das der unvermittelten Dinge undemonstrierbar ist; und daß dies notwendig ist, ist einleuchtend, denn wenn es notwendig ist, das Vorrangige zu wissen und das, wovon die Demonstration abhängt, und die unvermittelten Dinge irgendwann zum Stehen kommen, dann müssen sie undemonstrierbar sein. Diese Dinge also sagen wir auf diese Weise, und wir behaupten, daß es nicht nur Wissen, sondern auch ein gewisses Prinzip von Wissen gibt, durch das wir von den Definitionen Kenntnis besitzen. Und daß es unmöglich ist, zirkulär zu demonstrieren, und zwar schlechthin, ist klar, wenn die Demonstration wirklich von vorrangigen und bekannteren Dingen abhängen soll. Denn unmöglich kann dasselbe denselben Dingen gegenüber zugleich vorrangig und nachrangig sein, es sei denn auf eine andere Weise: wie etwa das eine in bezug auf uns, das andere schlechthin -, auf welche Weise die Induktion es bekannt macht. Wenn aber so, dann wäre wohl das Wissen schlechthin nicht angemessen definiert, sondern ein Doppeltes; oder die andere Demonstration ist dies nicht schlechthin, da sie doch von dem uns Bekannteren abhängt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 68 I. Wissen und Wissenschaft Es ergibt sich aber für diejenigen, die sagen, eine zirkuläre Demonstration sei möglich, nicht nur das soeben Gesagte, sondern auch daß sie nichts anderes sagen, als daß dieses der Fall ist, wenn dieses der Fall ist. Auf diese Weise allerdings ist alles leicht zu beweisen. Es ist klar, daß sich dies ergibt, wenn drei Begriffe festgesetzt werden; denn zu behaupten, daß es durch viele oder durch wenige wieder zum Ausgangspunkt zurückkommt, macht keinen Unterschied - durch wenige oder durch zwei. Denn wenn, falls A der Fall ist, notwendigerweise B der Fall ist, und wenn dies, dann C, so wird, wenn A der Fall ist, C der Fall sein. Wenn also, falls A der Fall ist, notwendigerweise B der Fall ist, und wenn dies, [73a] dann A (denn dies war das Zirkuläre), so sei das A als das C zugrundegelegt. Zu sagen also, daß - wenn B der Fall ist - A der Fall ist, heißt zu sagen, daß C der Fall ist, und dies, daß wenn A der Fall ist, C der Fall ist; das C aber war dasselbe wie A. So daß folgt, daß diejenigen, die behaupten, eine zirkuläre Demonstration sei möglich, nichts anderes sagen, als daß, wenn A der Fall ist, A der Fall ist. So aber alles zu beweisen, ist leicht. Nicht einmal dies freilich ist möglich, außer bei denjenigen Dingen, die einander wechselseitig folgen, wie die spezifischen Dinge. Wenn Eines zugrundegelegt ist, so ist bewiesen worden, daß niemals notwendigerweise etwas anderes der Fall ist - ich verstehe unter: wenn Eines, daß weder wenn ein einziger Begriff noch wenn eine einzige Festsetzung festgesetzt ist -von zwei Festsetzungen aus dagegen als ersten und der Zahl nach wenigsten kann es sein, wenn man überhaupt deduzieren kann. Wenn also das A dem B und dem C folgt, und diese einander und dem A, so können auf diese Weise alle geforderten Dinge wechselseitig auseinander bewiesen werden, und zwar in der ersten Figur, wie es bewiesen worden ist in der Abhandlung über die Deduktion. Es wurde ferner auch bewiesen, daß in den anderen Figuren entweder eine Deduktion nicht zustandekommt oder nicht von den angenommenen Dingen aus. Diejenigen Dinge dagegen, die nicht gegenseitig voneinander ausgesagt werden, können niemals zirkulär bewiesen werden, so daß es, da wenige derartige Dinge in den Demonstrationen vorkommen, einleuchtend ist, daß es leer und unmöglich ist zu sagen, die Demonstration erfolge wechselseitig auseinander und deshalb könne es von allem eine Demonstration geben. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 69 5.1 Der wissenschaftliche Beweis Da sich nun unmöglich anders verhalten kann, wovon es Wissen schlechthin gibt, so dürfte dasjenige notwendig sein, was nach Maßgabe des demonstrativen Wissens gewußt wird; demonstrativ aber ist jenes, das wir dadurch besitzen, daß wir eine Demonstration besitzen. Eine Deduktion aus notwendigen Dingen folglich ist die Demonstration. Wir müssen daher genauer fassen, von welchen und wie beschaffenen Dingen die Demonstrationen abhängen. Zuerst aber wollen wir bestimmen, was wir das auf jedes und was das an sich und was das allgemein Zutreffende nennen. Auf jedes zutreffend nun nenne ich das, was weder auf einiges zutrifft, auf anderes jedoch nicht, noch zuweilen, zuweilen jedoch nicht, wie etwa wenn auf jeden Menschen Lebewesen zutrifft: wenn es wahr ist, diesen hier Mensch zu nennen, dann auch Lebewesen, und wenn jetzt das eine, auch das andere, und wenn in jeder Linie ein Punkt ist, ebenso. Ein Zeichen dafür: auch die Einwände bringen wir ja so vor, wenn gefragt, ob etwas auf jedes zutrifft: entweder wenn es bei einem nicht zutrifft, oder wenn irgendwann nicht. An sich aber trifft sowohl das zu, was im Was-es-ist vorkommt, wie etwa auf Dreieck Linie und auf Linie Punkt - denn ihre grundlegende Struktur hängt von diesen Dingen ab, und sie kommen in der Bestimmung, die sagt was sie sind, vor -, als auch dasjenige, bei dem die Dinge, auf die es zutrifft, selbst in der Bestimmung vorkommen, die klar macht, was es ist, wie etwa das Gerade auf Linie zutrifft und das Runde, und das Gerade und Ungerade auf Zahl, und das prim und zusammengesetzt und gleichseitig [73b] und rechteckig; und bei all diesen Dingen kommt in der Bestimmung, die sagt was sie sind, hier Linie dort Zahl vor. Ähnlich auch bei den übrigen Dingen nenne ich derartiges an sich zutreffend auf jedes einzelne, was dagegen auf keine dieser Weisen zutrifft, Zufälliges, wie z. B. das Musikalische oder Weiße auf Lebewesen. Ferner, was nicht über irgendein anderes Zugrundeliegendes ausgesagt wird - wie etwa das Gehende als ein gewisses anderes Ding gehend ist und weiß, die grundlegende Struktur dagegen, und was ein Dieses bezeichnet, nicht als ein gewisses anderes Ding das ist, was es wirklich ist - das nicht über ein Zugrundeliegendes Ausgesagte also nenne ich an sich, das über ein Zugrundeliegendes Ausgesagte dagegen zufallig. Ferner ist auf andere Weise das, was durch sich © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 70 I. Wissen und Wissenschaft selbst zutrifft auf ein jedes Ding, an sich, dasjenige dagegen, was nicht durch sich selbst, zufällig, wie etwa wenn es, als jemand spazieren ging, blitzte, ist es zufällig; denn nicht aufgrund des Spazierengehens blitzte es, sondern zufälligerweise, behaupten wir, traf es sich so. Wenn dagegen durch sich selbst, an sich, wie zum Beispiel etwas, das geopfert wurde, starb, und zwar im Verlaufe des Opfers, weil aufgrund des Opferns, und es sich nicht zufällig so traf, daß es geopfert wurde und starb. Was also bei den schlechthin gewußten Dingen an sich zutreffend genannt wird, insofern es im Ausgesagten vorkommt oder dieses in jenem, trifft durch sich selbst zu und aus Notwendigkeit. Denn es ist nicht möglich, daß es nicht zutrifft - entweder schlechthin oder das Gegensätzliche, wie etwa auf Linie das Gerade oder das Runde und auf Zahl das Gerade oder das Ungerade. Denn das Konträre ist entweder eine Wegnahme oder eine Kontradiktion in derselben Gattung, wie etwa gerade ist, was nicht ungerade ist bei Zahlen, insofern es folgt. Daher, wenn es notwendig ist zu bejahen oder zu verneinen, so ist es auch für das an sich Zutreffende notwendig zuzutreffen. Das auf jedes und an sich Zutreffen sei also auf diese Weise bestimmt. Allgemein zutreffend aber nenne ich das, was auf jedes zutrifft und an sich und als solches. Es ist daher einleuchtend, daß das, was allgemein zutrifft, aus Notwendigkeit auf die Dinge zutrifft. Das an sich aber und als solches ist dasselbe, wie etwa an sich auf die Linie Punkt zutrifft und das Gerade - nämlich auch als Linie - und auf das Dreieck als Dreieck zwei Rechte - nämlich auch an sich ist das Dreieck zwei Rechten gleich. Das Allgemeine aber trifft dann zu, wenn es für etwas Beliebiges und Ursprüngliches bewiesen wird, wie etwa das zwei Rechte haben weder auf die Figur allgemein zutrifft - freilich kann man für eine Figur beweisen, daß sie zwei Rechte hat, aber nicht für eine beliebige Figur, und der Beweisende benutzt auch nicht eine beliebige Figur; denn das Viereck ist zwar eine Figur, hat aber nicht Winkel, die zwei Rechten gleich sind; das Gleichschenklige dagegen, und zwar ein beliebiges, hat zwar Winkel, die zwei Rechten gleich sind, ist aber nicht ursprünglich, sondern das Dreieck ist vorrangig. Wovon also als einem Beliebigen, Ursprünglichen bewiesen wird, daß es zwei Rechte hat oder irgendetwas anderes, auf das trifft © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 71 5.2 Arbeitsweise der Wissenschaft es als auf ein Ursprüngliches [74a] allgemein zu, und die Demonstration gilt davon an sich allgemein; von den übrigen Dingen aber in gewisser Weise nicht an sich, und außerdem vom Gleichschenkligen gilt sie nicht allgemein, sondern reicht weiter. (An. post. I 1-4) 5.2 Arbeitsweise der Wissenschaft [76a31] Ich nenne Prinzipien in einer jeden Gattung diejenigen, von denen es unmöglich ist zu beweisen, daß sie sind. Was sie bezeichnen - und zwar sowohl die ursprünglichen Dinge als auch die von ihnen abhängigen Dinge -, wird angenommen; daß sie jedoch sind, muß man von den Prinzipien annehmen, von den übrigen Dingen dagegen beweisen, wie zum Beispiel was eine Einheit ist oder was das Gerade und Dreieck, aber auch daß die Einheit ist und Größe, muß man annehmen, das übrige dagegen beweisen. Es sind aber von den Dingen, die sie benutzen in den demonstrativen Wissenschaften, einige spezifisch für jede einzelne Wissenschaft, andere dagegen gemeinsam - gemeinsam freilich nach Analogie, da nützlich nur in der unter die Wissenschaft fallenden Gattung. Spezifisch ist etwa, daß eine Linie von der und der Art ist und das Gerade, gemeinsam etwa, daß wenn man Gleiches von Gleichem abzieht, das Übrige gleich ist. Hinreichend freilich ist ein jedes dieser Dinge, soweit es in der Gattung gilt; dasselbe nämlich wird es zustandebringen, [76b] auch wenn man es nicht für alle Dinge annimmt, sondern für Größen allein und - für den Arithmetiker - für Zahlen. Es sind aber spezifisch auch Dinge - von denen angenommen wird, daß sie sind -, bei denen die Wissenschaft das an sich Zutreffende betrachtet, wie etwa bei Einheiten die Arithmetik, die Geometrie dagegen bei Punkten und Linien. Von diesen Dingen nämlich nehmen sie an, daß sie sind und daß sie dieses sind. Die an sich zutreffenden Eigenschaften dieser Dinge jedoch - was eine jede bezeichnet, nehmen sie an, wie etwa die Arithmetik, was ungerade oder gerade oder Quadratzahl oder Kubikzahl, und die Geometrie, was das Inkommensurable oder das Bilden nichtrechter oder rechter Winkel; daß sie dagegen sind, beweisen sie durch die gemeinsamen Postulate und aus den demonstrierten Dingen; und die Astronomie ebenso. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 72 I. Wissen und Wissenschaft Jede demonstrative Wissenschaft nämlich ist auf drei Dinge gerichtet: was sie zu sein festsetzt - das aber ist die Gattung, deren an sich zutreffende Eigenschaften sie betrachtet -, und die gemeinsamen sogenannten Postulate, aus denen, als ursprünglichen Dingen, sie demonstriert, und als drittes die Eigenschaften, von denen sie das, was eine jede bezeichnet, annimmt. Daß einige Wissenschaften freilich über einige dieser Dinge hinwegsehen, daran hindert nichts, wie etwa von der Gattung nicht vorauszusetzen, daß sie ist, wenn es einleuchtend ist, daß sie ist - denn nicht in ähnlicher Weise ist klar, daß Zahl ist und daß Kaltes und Warmes -, und von den Eigenschaften nicht anzunehmen, was sie bezeichnen, wenn sie klar sind, sowie auch von den gemeinsamen Postulaten nicht anzunehmen, was sie bezeichnen - das Gleiches vom Gleichen Abziehen -, weil es bekannt ist. Aber nichtsdestoweniger sind es jedenfalls von Natur aus diese drei Dinge: worüber sie beweisen und was sie beweisen und woraus. Es ist aber weder eine Hypothese noch eine Forderung, was notwendig ist durch sich selbst und notwendig zu sein scheint. Denn nicht auf das äußere Argument bezieht sich die Demonstration, sondern auf das in der Seele - da nicht einmal eine Deduktion. Immer nämlich ist es möglich, Einwände vorzubringen gegen das äußere Argument, aber gegen das innere Argument nicht immer. Was nun, obgleich es beweisbar ist, jemand annimmt, ohne es selbst zu beweisen, das setzt er, wenn er es als plausibel annimmt für den, der Wissen erwirbt, voraus, und es ist nicht schlechthin eine Hypothese, sondern nur relativ zu jenem; wenn er dagegen, ohne daß eine Meinung vorhanden ist oder wenn sogar eine konträre vorhanden ist, dasselbe annimmt, so stellt er eine Forderung auf. Und darin unterscheiden sich Hypothese und Forderung: eine Forderung ist nämlich das Konträre zu der Meinung desjenigen, der Wissen erwirbt, was jemand, obgleich es demonstrierbar ist, annimmt und benutzt, ohne es bewiesen zu haben. Die Begriffe sind nicht Hypothesen - denn in keiner Weise wird gesagt, daß sie sind oder nicht - sondern zu den Prämissen gehören die Hypothesen, die Begriffe dagegen muß man nur verstehen. Dies aber ist nicht eine Hypothese - es sei denn jemand will behaupten, daß auch das Hören eine Hypothese ist -, sondern wovon, wenn es der Fall ist, dadurch daß jene Dinge der Fall sind, die Konklusion © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 73 5.2 Arbeitsweise der Wissenschaft zustandekommt. Auch setzt der Geometer nichts Falsches voraus, wie einige behauptet haben, indem sie sagen, daß man nicht das Falsche benutzen darf, daß aber der Geometer falsch redet, wenn er die Linie, die nicht einen Fuß lang ist, einen Fuß lang nennt, oder die gezeichnete Linie gerade, obgleich sie nicht gerade [77a] ist. Aber der Geometer folgert nicht daraus, daß diese Linie hier existiert, die er selbst beschrieben hat, sondern was durch diese Dinge klargemacht wird. Ferner ist die Forderung und jede Hypothese entweder wie ein Ganzes oder wie ein Spezielles, die Begriffe dagegen sind keines von beiden. Daß es Formen gibt oder ein gewisses Eines neben den vielen Dingen, ist nicht notwendig, wenn Demonstration möglich sein soll; daß es jedoch ein Eines gibt, das auf viele Dinge zutrifft - daß dies wahr ist zu sagen, ist notwendig. Denn es wird kein Allgemeines geben, wenn dies nicht der Fall ist. Wenn es aber das Allgemeine nicht gibt, wird es den Mittelbegriff nicht geben, und daher auch keine Demonstration. Es muß folglich ein gewisses Eines und Identisches bei mehreren Dingen geben, das nicht mehrdeutig ist. Daß es nicht möglich ist, zugleich zu bejahen und zu verneinen, nimmt keine Demonstration an, es sei denn es ist nötig zu beweisen, daß auch die Konklusion von der Art ist. Es wird aber bewiesen, wenn man annimmt, daß das Ursprüngliche auf den Mittelbegriff zutrifft - daß dies wahr ist -, und es zu verneinen nicht wahr. Was jedoch den Mittelbegriff betrifft, so macht es keinen Unterschied anzunehmen, daß er zutrifft und daß er nicht zutrifft, ebenso auch der dritte. Wenn nämlich eingeräumt wird, daß das, wovon Mensch zu sagen wahr ist - selbst wenn es auch von einem Nicht-Menschen wahr ist, aber wenn nur vom Menschen - Lebewesen ist, Nicht-Lebewesen jedoch nicht, so wird es wahr sein zu sagen, daß Kallias, selbst wenn auch ein Nicht-Kallias, dennoch Lebewesen ist, Nicht- Lebewesen jedoch nicht. Ursache dafür ist, daß das Ursprüngliche nicht nur vom Mittelbegriff gesagt wird, sondern auch von anderem, weil es von mehreren Dingen gilt, sodaß selbst wenn der Mittelbegriff sowohl es ist als auch nicht, es für die Konklusion keinen Unterschied macht. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 74 I. Wissen und Wissenschaft Daß man aber alles bejaht oder verneint, nimmt die auf das Unmögliche führende Demonstration an, und dies nicht immer allgemein, sondern soweit ausreichend, und zwar ausreichend für die Gattung - ich sage für die Gattung wie in bezug auf die Gattung, für die man Demonstrationen vorbringt, so wie auch früher gesagt wurde. Es vereinigen sich aber alle Wissenschaften miteinander in Hinsicht auf die gemeinsamen Postulate - gemeinsam nenne ich jene, die sie benutzen, um aus ihnen zu demonstrieren, aber nicht worüber sie beweisen und auch nicht was sie beweisen -, und die Dialektik mit allen, und wenn sonst irgendeine allgemein versuchte die gemeinsamen Postulate zu beweisen, wie daß man alles bejaht oder verneint, oder daß Gleiches von Gleichem, oder von derartigen Dingen irgendetwas. Die Dialektik aber ist nicht in dieser Weise auf bestimmte Dinge gerichtet und auch nicht auf irgendeine einzige Gattung. Denn dann würde sie keine Fragen stellen - wer nämlich demonstriert, kann nicht Fragen stellen, weil, wenn Gegensätzliches der Fall ist, nicht dasselbe bewiesen wird. Bewiesen ist dies aber in der Schrift über Deduktion. (An. post. I 10-11) [78a22] Das Daß und das Weshalb zu wissen, macht einen Unterschied, zuerst in derselben Wissenschaft, und in dieser auf doppelte Weise - auf eine Art, wenn die Deduktion nicht durch unvermittelte Dinge zustandekommt, denn es wird nicht das ursprüngliche Ursächliche angenommen, das Wissen des Weshalb jedoch ist bezogen auf das ursprüngliche Ursächliche; auf eine andere Art ferner, wenn sie zwar durch unvermittelte Dinge zustandekommt, aber nicht durch das Ursächliche, sondern, wenn die Dinge konvertieren, durch das Bekanntere. Es hindert nämlich nichts daran, daß, wenn sie wechselseitig voneinander ausgesagt werden, zuweilen bekannter das Nicht-Ursächliche ist, so daß durch dieses die Demonstration zustandekommen wird, wie etwa daß die Planeten nahe sind durch das Nicht-Funkeln; es sei C Planeten, B das Nicht-Funkeln, A das Nahesein. Wahr also ist es, das B vom C auszusagen, denn die Planeten funkeln nicht, aber auch das A vom B, denn das Nicht-Funkelnde ist nahe; dieses aber sei angenommen durch Induktion oder durch Wahrnehmung. Notwendig also trifft das A auf das C zu, so daß demonstriert ist, daß die Planeten nahe sind. Dieses nun ist die Deduk- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 75 5.2 Arbeitsweise der Wissenschaft tion nicht des Weshalb, sondern des Daß, denn nicht aufgrund des Nicht-Funkelns sind sie nahe, sondern aufgrund des Naheseins funkeln sie nicht. Es ist aber möglich, daß auch durch das Erstere das Letztere bewiesen wird, und es wird die Demonstration des Weshalb sein: es sei etwa C Planeten, B [78b] das Nahesein, das A das Nicht- Funkeln; so trifft also das B auf das C zu und das A auf das B, so daß auch auf das C das A, das Nicht-Funkeln. Und es ist die Deduktion des Weshalb; angenommen nämlich wurde das ursprüngliche Ursächliche. Wiederum, wie sie vom Mond beweisen, daß er kugelförmig ist, durch die Zunahmen - wenn nämlich das so Zunehmende kugelförmig ist, der Mond aber zunimmt, so ist einleuchtend, daß er kugelförmig ist -, so ist auf diese Weise nun die Deduktion des Daß entstanden, wenn dagegen der Mittelbegriff umgekehrt festgesetzt ist, die des Weshalb. Denn nicht aufgrund der Zunahmen ist er kugelförmig, sondern aufgrund des Kugel-förmig-Seins nimmt er derartige Zunahmen an - Mond C, Kugelförmig B, Zunahme A. Bei denjenigen Dingen dagegen, bei denen die Mittelbegriffe nicht konvertieren und das Nicht-Ursächliche bekannter ist, wird das Daß bewiesen, das Weshalb jedoch nicht, und außerdem bei denjenigen Dingen, bei denen der Mittelbegriff nach außen gesetzt wird; denn auch in diesen Fällen kommt die Demonstration des Daß, und nicht des Weshalb, zustande; es wird nämlich nicht das Ursächliche genannt. Wie etwa: warum atmet die Mauer nicht? Weil kein Lebewesen. Wenn nämlich dieses für das Nicht-Atmen ursächlich wäre, so müßte das Lebewesen-Sein ursächlich sein für das Atmen, wie wenn die Verneinung Ursache des Nicht-Zutreffens ist, die Bejahung die des Zutreffens ist - so wie wenn das Nicht-im-Gleichgewicht-Sein des Warmen und des Kalten für das Nicht-Gesundsein, dann das Im- Gleichgewicht-Sein für das Gesundsein; und in ähnlicher Weise auch wenn die Bejahung für das Zutreffen, so die Verneinung für das Nicht-Zutreffen. Bei den auf diese Weise vorgegebenen Dingen jedoch folgt das Gesagte nicht: nicht jedes Lebewesen nämlich atmet. Die Deduktion kommt allerdings zustande - bei einer derartigen Ursache - in der mittleren Figur. Es sei etwa das A Lebewesen, das B das Atmen, das C Mauer; auf jedes B folglich trifft das A zu - denn jedes Atmende ist Lebewesen -, aber auf kein C, so daß auch das B auf kein © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 76 I. Wissen und Wissenschaft C; es atmet folglich die Mauer nicht. Es gleichen aber diese Arten von Ursachen den überzogenen Argumenten - das ist das Nennen des weiter entfernt stehenden Mittelbegriffs -, wie zum Beispiel das des Anacharsis, daß es bei den Skythen keine Flötenspielerinnen gibt, weil keine Weinstöcke. In Hinsicht also auf dieselbe Wissenschaft und in Hinsicht auf die Position der Mittelbegriffe sind dies die Unterschiede der Deduktion des Daß zur Deduktion des Weshalb. Auf andere Weise dagegen unterscheidet sich das Weshalb vom Daß durch das Betrachten jedes von beiden durch eine jeweils andere Wissenschaft. Von solcher Art sind Dinge, die sich so zueinander verhalten, daß das eine unter dem anderen ist, wie die Optik zur Geometrie und die Mechanik zur Stereometrie und die Harmonik zur Arithmetik und die Himmelskunde zur Astronomie. Nahezu gleichnamig sind einige dieser Wissenschaften, wie etwa die mathematische und [79a] die nautische Astronomie, und die mathematische und die akustische Harmonik. Hier nämlich ist das Daß zu wissen Sache der beobachtenden Wissenschaften, das Weshalb dagegen Sache der mathematischen Wissenschaften. Diese nämlich besitzen die Demonstrationen der Ursachen, und oft wissen sie nicht das Daß, geradeso wie diejenigen, die das Allgemeine betrachten, häufig einiges vom Einzelnen nicht wissen, aufgrund mangelnder Beobachtung. Es sind dies aber all jene, die, da sie etwas anderes sind - ihrer grundlegenden Struktur nach -, die Formen benutzen. Denn die mathematischen Dinge sind über Formen ausgesagt - nicht nämlich von einem Zugrundeliegenden; denn wenn die geometrischen Dinge auch von einem Zugrundeliegenden ausgesagt sind, so doch jedenfalls nicht als von einem Zugrundeliegenden. Es verhält sich aber auch zur Optik, so wie diese zur Geometrie, eine andere Wissenschaft zu dieser - etwa die vom Regenbogen; das Daß nämlich zu wissen, ist Sache des Naturwissenschaftlers, das Weshalb dagegen Sache des Optikers entweder schlechthin oder des mathematischen. Und auch viele von der nicht untereinander geordneten Wissenschaften verhalten sich in dieser Weise zueinander, wie Medizin zur Geometrie; daß nämlich die runden Wunden langsamer heilen, ist Sache des Arztes zu wissen, weshalb dagegen Sache des Geometers. (An. post. I 13) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 77 5.2 Arbeitsweise der Wissenschaft [81a38] Es ist auch einleuchtend, daß wenn eine bestimmte Wahrnehmung ausbleibt, notwendig auch ein bestimmtes Wissen ausbleibt, welches unmöglich zu erwerben ist, wenn wir wirklich Wissen erwerben entweder durch Induktion oder durch Demonstration und die Demonstration [81b] vom Allgemeinen abhängt, die Induktion dagegen vom Speziellen, und es unmöglich ist, das Allgemeine zu betrachten außer durch Induktion - denn auch die sogenannten abstrakten Dinge wird man durch Induktion bekannt machen können: daß auf jede Gattung einige zutreffen, auch wenn sie nicht abgetrennt sind, insofern ein jedes von der und der Beschaffenheit ist -, und eine Induktion durchzuführen ohne Wahrnehmung zu haben unmöglich ist. Die Wahrnehmung richtet sich nämlich auf das Einzelne, denn man kann davon kein Wissen erwerben - weder nämlich aus dem Allgemeinen ohne Induktion noch durch Induktion ohne die Wahrnehmung. (An. post. I 18) [84b1] Nachdem diese Dinge bewiesen worden sind, ist einleuchtend, daß wenn dasselbe auf zwei Dinge zutrifft, wie etwa das A auf das C und das D, ohne daß das eine vom anderen ausgesagt wird - entweder auf keine Weise oder nicht von jedem -, daß es dann nicht stets in Hinsicht auf etwas Gemeinsames zutreffen wird, wie etwa auf das Gleichschenklige und das Ungleichschenklige das Haben von Winkeln gleich zwei Rechten in Hinsicht auf etwas Gemeinsames zutrifft: als bestimmte Figur nämlich trifft es auf sie zu, und nicht als Verschiedenes. Dies aber verhält sich nicht immer so; es sei nämlich das B dasjenige, in Hinsicht auf welches das A auf das C, D zutrifft; es ist folglich klar, daß auch das B auf das C und D in Hinsicht auf ein anderes Gemeinsames zutrifft und dieses in Hinsicht auf noch ein anderes, so daß zwischen zwei Begriffe unendlich viele Begriffe hineinfallen würden. Aber das ist unmöglich. In Hinsicht auf etwas Gemeinsames also trifft nicht notwendig stets dasselbe auf mehrere Dinge zu, denn es wird doch unvermittelte Intervalle geben. In derselben Gattung freilich müssen die Begriffe sein und von denselben unteilbaren Dingen abhängig, wenn wirklich das Gemeinsame zu den an sich zutreffenden Dingen gehören soll. Denn es war nicht möglich, daß das Bewiesene aus einer Gattung in eine andere überwechselt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 78 I. Wissen und Wissenschaft Einleuchtend ist aber auch, daß wenn das A auf das B zutrifft, es, falls es einen Mittelbegriff gibt, möglich ist zu beweisen, daß das A auf das B zutrifft, und die Elemente dieser Sache diese sind, und zwar so viele, wie es Mittelbegriffe gibt. Die unvermittelten Prämissen nämlich sind Elemente, entweder alle oder die allgemeinen. Wenn es dagegen keinen gibt, dann ist keine Demonstration mehr möglich; vielmehr ist dies der Weg zu den Prinzipien. In ähnlicher Weise auch wenn das A auf das B nicht zutrifft, so ist, wenn es entweder einen Mittelbegriff oder etwas Vorrangiges gibt, auf das es nicht zutrifft, eine Demonstration möglich, wenn dagegen nicht, dann unmöglich, sondern es ist ein Prinzip, und die Elemente sind so viele wie die Begriffe. Denn die Prämissen dieser Dinge sind Prinzipien der Demonstration, und so wie einige nicht-demonstrierbare Prinzipien besagen, daß dieses dieses ist und dieses auf dieses zutrifft, so auch daß dieses nicht dieses ist und dieses nicht auf dieses zutrifft, so daß die einen besagen werden, daß etwas der Fall ist, die anderen Prinzipien dagegen, daß etwas nicht der Fall ist. Wenn man beweisen soll, muß etwas angenommen werden, was vom B ursprünglich ausgesagt wird - es sei das C - und von diesem in ähnlicher Weise das D; und wenn man stets auf diese Weise vorgeht, wird niemals eine Prämisse oder ein Zutreffendes außerhalb des A angenommen beim Beweisen, sondern stets wird der Mittelbegriff verdichtet, bis sie unteilbar werden und Eines. Es ist aber Eines, wenn es unvermittelt wird, und schlechthin eine ist die unvermittelte Prämisse. Und so wie bei den übrigen Dingen das Prinzip einfach ist, dieses jedoch nicht überall dasselbe ist, sondern beim Gewicht die Mine, beim Gesang der Halbton, und anderes bei anderem, so ist bei der Deduktion das Eine [85a] die unvermittelte Prämisse und bei der Demonstration und dem Wissen die Einsicht. Bei den Deduktionen also, die das Zutreffende beweisen, fällt nichts außerhalb; bei den verneinenden dagegen fällt in einem Fall, was das Ding betrifft, das nicht zutreffen soll, nichts außerhalb dieses Dinges, wie etwa wenn das A auf das B durch das C nicht zutrifft - wenn nämlich auf jedes B das C, und auf kein C das A. Wenn es wiederum so sein soll, daß das A auf kein C zutrifft, muß ein Mittelbegriff für das A und C angenommen werden, und auf diese Weise © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 79 5.3 Wovon es kein (demonstratives) Wissen gibt wird man stets fortfahren. Wenn man dagegen beweisen soll, daß das D auf das E nicht zutrifft dadurch, daß das C auf jedes D zutrifft und auf kein E, so wird es niemals außerhalb E fallen; dieses aber ist das, worauf es zutreffen soll. Und bei der dritten Art wird man niemals, weder bei dem wovon noch was man verneinen soll, nach außen gehen. (An. post. I 23) 5.3 Wovon es kein (demonstratives) Wissen gibt [87b19] Vom Zufälligen gibt es kein Wissen durch Demonstration. Weder notwendig nämlich noch häufig ist das Zufällige, sondern abweichend von diesen Dingen kommt es vor; die Demonstration dagegen richtet sich auf eines dieser Dinge. Jede Deduktion nämlich kommt entweder durch notwendige oder durch häufig zutreffende Prämissen zustande, und wenn die Prämissen notwendig sind, dann ist auch die Konklusion notwendig, wenn aber häufig zutreffend, dann ist auch die Konklusion von dieser Art. Daher, wenn das Zufällige weder häufig noch notwendig ist, so dürfte es von ihm keine Demonstration geben. Auch durch Wahrnehmung ist es nicht möglich zu wissen. Auch wenn nämlich die Wahrnehmung sich auf das Quale und nicht auf ein Dieses richtet - wahrgenommen wird doch jedenfalls notwendigerweise ein Dieses, und zwar irgendwo und jetzt. Das Allgemeine und auf alles Zutreffende dagegen kann nicht wahrgenommen werden, denn es ist kein Dieses und auch nicht jetzt; sonst wäre es nicht allgemein, denn was immer und überall ist, nennen wir allgemein. Da nun die Demonstrationen allgemein sind, dieses aber nicht wahrgenommen werden kann, ist es einleuchtend, daß man durch Wahrnehmung auch nicht wissen kann; vielmehr ist klar, daß selbst wenn man wahrnehmen könnte, daß das Dreieck Winkel gleich zwei Rechten hat, wir nach einer Demonstration suchen und nicht, wie einige behaupten, wissen würden. Wahrgenommen nämlich wird notwendig das Einzelne, das Wissen dagegen ist das Kennen des Allgemeinen. Auch wenn wir daher auf dem Mond wären und sähen, wie die Erde dazwischentritt, so würden wir noch nicht die Ursache [88a] der Verfinsterung wissen; denn wir würden wahrnehmen, daß © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 80 I. Wissen und Wissenschaft er sich jetzt verfinstert, und nicht weshalb im ganzen, denn nicht auf das Allgemeine richtete sich die Wahrnehmung. Allerdings, aufgrund der Betrachtung, daß dies oft geschieht, das Allgemeine einfangend würden wir eine Demonstration besitzen, denn aus mehreren einzelnen Dingen wird das Allgemeine klar. Das Allgemeine aber ist wertvoll, weil es das Ursächliche klar macht; daher ist bei solchen Dingen das allgemeine Wissen wertvoller als die Wahrnehmungen und die Einsicht, deren Ursache von ihnen verschieden ist; über die ursprünglichen Dinge dagegen gibt es eine andere Bestimmung. Es ist also einleuchtend, daß es unmöglich ist, durch das Wahrnehmen eines der demonstrierbaren Dinge zu wissen, es sei denn jemand nennt das Wahrnehmen dies: das Besitzen von Wissen durch Demonstration. Es gibt freilich einige unter den Problemen, die zurückgeführt werden auf ein Ausbleiben von Wahrnehmung. Einige Dinge nämlich würden wir, wenn wir sie sähen, nicht untersuchen - nicht weil wir sie wüßten durch das Sehen, sondern weil wir das Allgemeine besitzen infolge des Sehens, wie etwa wenn wir das Glas durchbrochen sähen und das Licht hindurchgehen, dann auch klar wäre warum - wenn auch nur dadurch, daß wir es getrennt bei jedem einzelnen sähen, dann jedoch zugleich einsähen, daß es bei allen so ist. (An. post. I 30-31) 5.4 Die Frage nach dem Wesen [90a35] Daß also alles, was untersucht wird, eine Untersuchung eines Mittelbegriffs ist, ist klar; wie aber das Was-es-ist bewiesen wird und welches die Weise der Zurückführung ist, und was eine Definition ist und von welchen Dingen, das wollen wir sagen, indem wir zuerst die Probleme durcharbeiten, die es damit gibt. Der Anfang der Dinge, die gesagt werden sollen, sei derjenige, [90b] der am angemessensten ist für die anschließenden Argumente. Es könnte nämlich jemand das Problem aufwerfen, ob es möglich ist, dasselbe und in derselben Hinsicht durch Definition zu wissen und durch Demonstration. Oder ist es unmöglich? Denn die Definition scheint sich auf das Was-es-ist zu richten, das Was-es-ist jedoch ist sämtlich allgemein und bejahend; Deduktionen dagegen sind teils © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 81 5.4 Die Frage nach dem Wesen verneinend, teils nicht allgemein, wie etwa die in der zweiten Figur alle verneinend sind, die in der dritten dagegen nicht allgemein. Ferner, nicht einmal von allen bejahenden Aussagen in der ersten Figur gibt es eine Definition, wie etwa daß jedes Dreieck Winkel gleich zwei Rechten hat. Ein Argument dafür ist, daß das Wissen des Demonstrierbaren das Besitzen einer Demonstration ist, so daß, da es von derartigen Dingen eine Demonstration gibt, es klarerweise von ihnen nicht auch noch eine Definition geben dürfte; sonst würde nämlich jemand auch gemäß der Definition wissen, ohne die Demonstration zu besitzen; nichts nämlich hindert daran, es nicht zugleich zu besitzen. Hinreichende Überzeugung entsteht auch aus der Induktion; von nichts nämlich haben wir jemals dadurch, daß wir definiert haben, Kenntnis erhalten - weder von den an sich zutreffenden Dingen noch von den zufälligen Dingen. Ferner, wenn die Definition eine Kenntnis einer gewissen grundlegenden Struktur ist, so ist einleuchtend, daß derartige Dinge jedenfalls keine grundlegenden Strukturen sind. Daß es also nicht von allem eine Definition gibt, wovon auch eine Demonstration, ist klar. Wie aber, wovon eine Definition, gibt es von dem allem eine Demonstration oder nicht? Nun, ein bestimmtes Argument ist auch zu dieser Sache dasselbe. Denn von einem einzigen Ding, als eines, gibt es ein einziges Wissen, so daß, wenn wirklich das Wissen des Demonstrierbaren das Besitzen der Demonstration ist, etwas unmögliches folgen wird; wer nämlich eine Definition besitzt, wird ohne die Demonstration wissen. Ferner sind die Prinzipien der Demonstrationen Definitionen, von denen früher bewiesen worden ist, daß es von ihnen keine Demonstrationen geben wird - entweder werden die Prinzipien demonstrierbar sein und es gibt Prinzipien der Prinzipien, und dies wird bis ins Unendliche gehen, oder die ursprünglichen Dinge werden nichtdemonstrierbare Definitionen sein. Aber wenn nicht jedes Ding dasselbe ist, ist dann nicht wenigstens einiges dasselbe, auf das sich Definition und Demonstration richten? Oder ist es unmöglich? Denn es gibt keine Demonstration von dem, wovon es eine Definition gibt. Eine Definition nämlich richtet sich auf das Was-es-ist und eine grundlegende Struktur; die Demonstra- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 82 I. Wissen und Wissenschaft tionen dagegen scheinen alle das Was-es-ist vorauszusetzen und anzunehmen, wie etwa die mathematischen, was eine Einheit ist und was das Ungerade, und die anderen auf ähnliche Weise. Ferner, jede Demonstration beweist etwas von etwas, wie etwa daß es so ist oder nicht ist; in der Definition dagegen wird in keiner Weise eines vom anderen ausgesagt, zum Beispiel weder das Lebewesen vom Zweifüßigen noch dieses vom Lebewesen, und auch nicht von der Fläche die Figur; nicht nämlich ist die Fläche Figur und auch nicht die Figur Fläche. Ferner, es ist verschieden, das Was-es-ist und das Daß-es-ist zu beweisen. [91a] Die Definition macht das Was-es-ist klar, die Demonstration dagegen, daß dieses von diesem gilt oder nicht gilt. Von Verschiedenen aber ist eine Demonstration verschieden, wenn etwas nicht gleichsam Teil des Ganzen ist. Damit meine ich, daß bewiesen worden ist, daß das Gleichschenklige zwei Rechte hat, wenn es von jedem Dreieck bewiesen worden ist, denn es ist ein Teil, letzteres aber das Ganze. Jene Dinge dagegen verhalten sich zueinander nicht auf diese Weise - das Daß-es-ist und das Was-es-ist -, denn das eine ist nicht Teil des anderen. Es ist folglich einleuchtend, daß es weder wovon es eine Definition gibt, von diesem allem eine Demonstration gibt, noch wovon eine Demonstration, von diesem allem eine Definition, noch daß es im ganzen möglich ist, von irgend ein- und derselben Sache beide zu besitzen; so daß klar ist, daß Definition und Demonstration weder dasselbe sein dürften noch das eine im anderen, denn sonst würden sich die zugrundeliegenden Dinge auf ähnliche Weise verhalten. (An. post. II 3) 5.5 Erkenntnis der Prinzipien [99b15] Von Deduktion also und Demonstration ist sowohl was ein jedes ist als auch wie es zustandekommt einleuchtend - zugleich auch von demonstrativem Wissen, denn es ist dasselbe. Von den Prinzipien dagegen wird sowohl wie sie bekannt werden als auch welches der kennende Zustand ist aus folgendem klar - wobei wir zuerst Probleme aufwerfen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 83 5.5 Erkenntnis der Prinzipien Daß es nicht möglich ist, durch Demonstration zu wissen, ohne Kenntnis zu besitzen von den ursprünglichen, unvermittelten Prinzipien, ist früher gesagt worden. Was jedoch die Kenntnis der unvermittelten Dinge angeht, so könnte jemand sowohl das Problem aufwerfen, ob sie dieselbe ist oder nicht dieselbe, als auch ob es ein Wissen von jedem gibt oder nicht, oder vom einen zwar Wissen, vom anderen dagegen eine andere Gattung, und ob die Zustände nicht in uns sind, sondern zustandekommen oder in uns sind, aber verborgen bleiben. Nun, wenn wir sie besitzen, ist es abwegig; es folgt nämlich, daß wir Kenntnisse besitzen, genauer als Demonstration, und es zugleich verborgen bleibt. Wenn wir sie dagegen annehmen, ohne sie zuvor zu besitzen, wie sollten wir dann wohl Kenntnisse gewinnen und Wissen erwerben aus nicht bereits vorhandener Kenntnis? Es ist nämlich unmöglich, wie wir auch im Falle der Demonstration sagten. Es ist folglich einleuchtend, daß es weder möglich ist, sie zu besitzen, noch daß sie in uns, ohne daß wir es wissen und irgendeinen Zustand besitzen, zustandekommen. Es ist folglich notwendig, eine bestimmte Fähigkeit zu besitzen, nicht allerdings eine von der Art zu besitzen, daß sie wertvoller sein wird als diese Dinge in Hinsicht auf Genauigkeit. Es scheint dieses nun in der Tat bei allen Tieren vorzuliegen; sie besitzen nämlich eine Fähigkeit, verbunden mit ihrer Natur und unterscheidungskräftig, die man Wahrnehmung nennt. Und wenn Wahrnehmung in ihnen vorhanden ist, kommt in einigen Tieren ein Bleiben des Wahrnehmungsinhalts zustande, in anderen dagegen kommt es nicht zustande. Für diejenigen nun, in denen es nicht zustandekommt, entweder ganz oder in bezug auf was es nicht zustandekommt, gibt es keine Kenntnis außerhalb des Wahrnehmens. Denjenigen dagegen, in denen es zustandekommt, ist es möglich, wenn sie ein gewisses Eines wahrnehmen, [100a] es in der Seele zu halten. Und wenn viele derartige Dinge zustandekommen, so kommt endlich ein Unterschied zustande, so daß für einige eine Bestimmung zustandekommt aus dem Bleiben derartiger Dinge, für andere dagegen nicht. Aus Wahrnehmung also entsteht Erinnerung wie wir sagen; und aus Erinnerung desselben Dinges, wenn sie oft zustandekommt, Erfahrung - denn viele Erinnerungen sind eine einzige Erfahrung - und © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 84 I. Wissen und Wissenschaft aus Erfahrung, oder aus jedem Allgemeinen, das zur Ruhe gekommen ist in der Seele - das eine neben den vielen, was in allen jenen Dingen als eines dasselbe ist -, ein Prinzip von Kunst und Wissen - wenn in Hinsicht auf Werden, von Kunst, wenn dagegen in Hinsicht auf das Sein, von Wissen. Weder also kommen die Zustände abgesondert bestimmt in uns vor, noch entstehen sie von anderen Zuständen aus, die kenntnisreicher sind, sondern von Wahrnehmung aus - wie etwa in einer Schlacht, wenn eine Wende zustandekommt, falls einer stehen bleibt, ein anderer stehen bleibt, darauf ein weiterer, bis man zum Anfang kommt: die Seele ist grundsätzlich von der Art, daß sie fähig ist dieses geschehen zu lassen. Was soeben gesagt worden ist, aber nicht deutlich gesagt worden ist, wollen wir noch einmal sagen. Wenn nämlich eines der undifferenzierten Dinge zum Stehen kommt, so gibt es ein ursprüngliches Allgemeines in der Seele - in der Tat nämlich wird zwar das Einzelne wahrgenommen, aber die Wahrnehmung richtet sich auf das Allgemeine, [100b] wie etwa auf Mensch, jedoch nicht auf Kallias den Menschen -, und wiederum in diesen Dingen kommt es zum Stehen, bis die Dinge ohne Teile zum Stehen kommen und die allgemeinen Dinge - wie etwa ein solches Tier, bis Tier, und in diesem ebenso. Es ist also klar, daß uns die ursprünglichen Dinge notwendig durch Induktion bekannt werden; in der Tat nämlich bringt die Wahrnehmung auf diese Weise darin das Allgemeine zustande. Da nun von den auf den Verstand bezogenen Zuständen, mit denen wir die Wahrheit erfassen, die einen immer wahr sind, die anderen dagegen das Falsche zulassen - wie etwa Meinung und Folgerung, wahr dagegen sind stets Wissen und Einsicht - und genauer als Wissen keine andere Gattung ist als Einsicht und die Prinzipien der Demonstrationen bekannter sind und jedes Wissen mit einem Argument verbunden ist, so dürfte es von den Prinzipien kein Wissen geben; da aber nichts wahrer sein kann gegenüber einem Wissen als Einsicht, so dürfte sich Einsicht auf die Prinzipien richten - und, wenn man es von diesen Dingen aus untersucht, auch deshalb, weil ein Prinzip von Demonstration nicht Demonstration und also von Wissen nicht Wissen ist. Wenn wir also neben Wissen keine andere wahre Gattung besitzen, so dürfte Einsicht Prinzip von Wissen sein, und die erstere dürfte sich als Prinzip auf das Prinzip richten, und das © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 85 6 Einteilung der Wissenschaften letztere verhält sich insgesamt auf ähnliche Weise zu der gesamten Sache. (An. post. II 19) 6. Einteilung der Wissenschaften [105b19] Es gibt, um es im Umriß zu bestimmen, drei Gruppen von Prämissen und Problemen, denn es gibt Prämissen aus den Bereichen der Ethik, der Naturforschung und der Logik. Zur Ethik gehören derartige Fragen wie: „Soll man eher den Eltern oder den Gesetzen gehorchen, wenn beide Verschiedenes verlangen? “ Zur Logik gehören Fragen wie: „Bezieht sich dasselbe Wissen auf die Gegensätze oder nicht? “, zur Naturforschung schließlich solche Fragen wie: „Ist der Kosmos ewig oder nicht? “. (Top. I 14) [145a14] [D]ie Unterschiede der relativen Dinge sind ebenfalls relativ, wie auch beim Wissen. Dieses wird nämlich in betrachtendes und handlungsleitendes und hervorbringendes eingeteilt. (Top. VI 6) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. II. Naturphilosophie Einleitung In der frühen Neuzeit häufen sich von seiten der Naturwissenschaftler Vorwürfe an Aristoteles, seine theoretischen Vormeinungen, seine Vorurteile, würden den Fortgang der Forschung behindern. Längst hat man jedoch gelernt, eine in der Tat mancherorts erstarrte und verflachte Aristoteles-Scholastik gegen einen bleibend kreativen Aristotelismus, etwa gegen die von Aristoteles beeinflußte Schule von Padua, abzusetzen, und vor allem beide von Aristoteles selbst zu unterscheiden. Und innerhalb seines Denkens versteht man, die teils methodischen, teils begrifflichen und substantiellen Grundüberlegungen von konkreten Einzeluntersuchungen und diese von bloßen Beispielen zu trennen. Sobald man sich auf Aristoteles’ eigene Naturforschung einläßt, bemerkt man rasch das wissenschaftliche und philosophische Genie. Als erstes fällt der weite thematische Horizont auf, umfaßt er doch die gesamte unbelebte und belebte Natur. Von der Physik im engeren Sinn und der Kosmologie über die Meteorologie einschließlich Hydrologie und Mineralogie, über die Biologie, hier vor allem die Zoologie, bis zur Psychologie der subhumanen und humanen Welt hält Aristoteles jeden Bereich der Natur für erforschungswürdig. Zur thematischen kommt die methodische Weite hinzu. Wie moderne Naturforscher so sucht auch Aristoteles ein möglichst reiches Beobachtungsmaterial auf, um es mit Hilfe allgemeiner Begriffe und durch die Erkenntnis gemeinsamer Strukturen rational durchschaubar zu machen. Dabei reicht sein Erkenntnisinteresse vom Beobachten und dessen systematischer Durchführung über das Klassifizieren bis zum Erklären aus Ursachen und dem Begründen aus letzten Prinzipien. Im Gegensatz zu dem bisweilen exzessiven Spekulieren einiger Platoniker betont er den Wert der Erfahrung und verlangt für jeden Naturvorgang eine eigene, klar umrissene Erklärung. Obwohl er sich vielerorts mehr auf unmittelbare Beobachtungen stützt, nimmt er © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 88 II. Naturphilosophie auch Experimente, sogar Tiersektionen vor. Nicht zuletzt untersucht er sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede von Mathematik und Physik. Und jene Naturwissenschaften, in denen die Mathematisierung ihre Triumphe feiern wird, die Mechanik, die Optik und die Astronomie, ordnet auch er der angewandten Mathematik zu. Zwei Faktoren moderner Naturforschung sind also Aristoteles nicht fremd, weder das Experiment noch eine Mathematisierung, soweit sie denn möglich ist. Der gravierende Unterschied zur Neuzeit liegt anderswo. Seit Francis Bacon sucht man die Natur zu beherrschen und selbst ein so theoretischer Denker wie Descartes erwartet von der Naturforschung, daß sie den Menschen zu „Herren und Besitzern der Natur“ werden lasse (Discours de la methode, VI 2). Aristoteles’ Naturforschung erfolgt dagegen aus rein theoretischem Interesse (Phys. II 3, 194b17f.). Noch in einer weiteren Eigenart unterscheidet sich Aristoteles von der Moderne: Der Philosoph kennt die Unterschiede, die zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft bestehen, richtet seine eigene Naturforschung aber auf beide Bereiche. Die zugehörigen Schriften, die etwa die Hälfte des überlieferten Werkes umfassen, kann man in vier Sachgebiete einteilen: (1) Die Physik, im wörtlichen Sinn des Titels eine allgemeine Naturlehre, untersucht die apriorischen Voraussetzungen der gesamten Natur (physis). Da derartige Voraussetzungen fundamentalphilosophischen Charakter haben, ist es nicht erstaunlich, daß einige dieser Überlegungen in gedrängter Form in der Metaphysik (XI 8-12; XII 1-5) auftauchen, so wie umgekehrt die Physik auch fundamentalphilosophische, metaphysische Themen erörtert. Trotz derartiger Überschneidungen handelt es sich aber um zwei unterschiedliche Forschungsbereiche. Denn die Metaphysik befaßt sich unter anderem mit dem Seienden als Seienden (on hê on), die Physik erörtert dagegen einen bestimmten Teil, das naturhaft Seiende (physei on). Physik Der unter dem Titel Physik überlieferte Text sucht vor allem Grundbegriffe zu klären, die für die gesamte Natur und deren Erforschung gleichermaßen gültig sind, also die Natur (physis), ihre Ursachen und © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 89 Einleitung Gründe, die Bewegung und Veränderung, den Ort (Raum), die Zeit und die Stetigkeit (Kontinuität). Während sich die bloße Erfahrung mit Sachverhalten zufrieden gibt, fragt die Wissenschaft nach dem Warum. Unter den entsprechenden Antworten, den aitiai, den Ursachen oder Gründen, sind all die Faktoren zu verstehen, die am Zustandekommen eines Sachverhaltes „schuld“ sind. Aristoteles unterscheidet vier Arten von Warum-Fragen und entsprechend vier Arten von Darum-Antworten, die sogenannten vier Ursachen. Genau genommen handelt es sich aber nicht um vier Ursachen, sondern um vier Richtungen wissenschaftlichen Forschens, die häufig erst in ihrer Gesamtheit den zur Untersuchung stehenden Sachverhalt voll durchsichtig machen. Im Fall einer Marmorstatue zum Beispiel kommt es darauf an, vier Dinge zu erkennen: (1) das, woraus etwas wird (to ex hou gignetai), den Stoff bzw. das Material (hylê, später causa materialis genannt), im Beispiel der Marmorstein; (2) die wesentliche Gestalt bzw. Form oder den Begriff (eidos, morphê, paradeigma, logos: causa formalis), hier den Entwurf, den der Bildhauer im Kopf hat; (3) den Ursprung der Veränderung bzw. Bewegung (hothên hê archê tês metabolês / kinêseôs), die Wirkursache (causa efficiens), hier den Bildhauer, der die Statue erstellt; und (4) das Worumwillen der Veränderung (to hou heneka), das Ziel oder den Zweck (telos: causa finalis), der in erster Linie in der fertigen Statue, vielleicht aber auch in der (etwa religiösen oder dekorativen) Funktion besteht, die die Statue erfüllt. Die vierte Ursachenart ist vor allem in der Biologie zuhause; die meisten teleologischen Aussagen finden sich in den Büchern II-IV der Schrift Über die Teile der Tiere (De partibus animalium). Deren Teleologie geht von der Erfahrungstatsache aus, daß sich Lebewesen auf eine bestimmte Gestalt hin entwickeln und daß es bei den ausgewachsenen Gestalten vollkommenere und weniger vollkommene Exemplare, beispielsweise prachtvoll entfaltete Bäume oder Krüppelgestalten gibt. Im Gegensatz zu späteren Unterstellungen haben verborgene, aber zielstrebig wirkende Kräfte für Aristoteles bestenfalls eine metaphorische Bedeutung. Und im Gegensatz zur allumspannenden Teleologie aus Platons Dialog Timaios versteht Aristoteles nicht die ganze Natur als eine hierarchische, von einer planenden Instanz, einem Demiurgen, eingerichtete Ordnung. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 90 II. Naturphilosophie Mehrere Fragearten können übrigens dieselbe Antwort erhalten: Im Fall der Marmorstatue ist die wesentliche Gestalt zugleich das Ziel, um dessentwillen der Marmor bearbeitet wird. Und die Wesensgestalt eines Löwen ist zugleich der Zweck, auf den die Entwicklung eines Löwen (vom Samen bis zum ausgewachsenen Tier) zuläuft. Die Entwicklung wird durch die Zeugung in Gang gesetzt, die wiederum von einem Exemplar derselben Tierart erfolgt: Löwen erzeugen Löwen, nicht Hasen oder Rehe. Nach Aristoteles zeichnet sich die Natur durch Bewegung (kinêsis) bzw. Veränderung (metabolê) aus. Der bewußt sehr weite Begriff umfaßt alles von der Bewegung im Raum über die quantitative Veränderung (jemand wird kleiner oder größer) und die qualitative Veränderung (jemand wird gesund) bis zur Wesensveränderung (ein Nichtmensch wird zum Menschen). In all diesen Bewegungsarten entdeckt Aristoteles eine gemeinsame Grundstruktur, die sich durch drei Momente von Prinzipienrang auszeichnet: Jede Veränderung vollzieht sich zwischen dem Gegensatzpaar von Mangel (sterêsis, wörtlich Beraubung, Privation; z. B. Krankheit) und Gestalt bzw. Form (eidos, morphê; Gesundheit); und das dritte Prinzip besteht im Gegenstand (Substrat: hypokeimenon), der die Veränderung durchläuft, im Beispiel ein Mensch. Dank eines im hohen Maß undogmatischen Denkens legt sich Aristoteles nicht auf ein einziges Strukturmodell fest. Sowohl bei ihm selbst als auch in seiner Wirkungsgeschichte spielt ein zweites Modell die noch größere Rolle, das Begriffs- und zugleich Prinzipienpaar von Möglichkeit, Fähigkeit bzw. Potentialität (dynamis) und von Verwirklichung bzw. Aktualität (energeia). Wie nach dem Beginn der Zweiten Analytiken kein Wissen aus purem Nichtwesen entsteht, so auch kein Sein aus bloßem Nichtsein. Hier liegt übrigens einer der Gründe, warum die mittelalterlichen Theologen, sowohl die Christen als auch die Juden und die Muslime, mit ihrem sonst so hochgeschätzten Philosophen Schwierigkeiten haben: Für Aristoteles ist eine Schöpfung aus dem absoluten Nichts, eine creatio ex nihilo, nicht einmal denkbar, also im strengsten Sinn ein Unding: Weil kein Sein aus reinem Nichtsein entsteht, erhält bei ihm das Sein einen zweifachen Sinn. Ein unbehauener Stein ‚ist‘ eine Statue, der Samen ‚ist‘ ein Baum im Modus der Möglichkeit, wäh- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 91 Einleitung rend das fertige Werk bzw. die ausgewachsene Pflanze im Modus der Aktualität ‚sind‘. Das Begriffspaar Möglichkeit und Wirklichkeit hängt eng mit den beiden ersten Ursachearten zusammen, der Begriff der Potentialität mit dem von Stoff, Materie und der der Aktualität mit dem der Gestalt bzw. des Begriffs. Insofern der Marmorstein der Stoff ist, aus dem der Bildhauer nach Maßgabe eines Begriffs von Statue diese herstellt, ist der Marmor schon die Statue, aber erst potentialiter: der Möglichkeit nach. Dabei kann etwas, zum Beispiel ein Ziegel, in einer Hinsicht, nämlich für ein Haus Stoff, in anderer Hinsicht, als gebrannter Ton gegenüber dem ungebrannten Ton, Form sein. Dieses Begriffspaar Möglichkeit und Verwirklichung bzw. Potentialität und Aktualisierung wird das abendländische Denken weithin prägen. Je nach dem Ursprung der Bewegung unterscheidet Aristoteles zweimal zwei Arten. Auf der einen Seite gibt es die Natur; sie hat den Ursprung von Bewegung und Stillstand in sich selbst. Ihr defizienter Modus besteht in dem, was von selbst (spontan) geschieht (automatos), ohne daß man den Vorgang erklären kann. Beispielsweise entgeht ein Pferd einem Unglück, da es ohne besonderen Anlaß davonläuft. Auf der anderen Seite gibt es die Kunstfertigkeit (technê), die ihren Ursprung in einem anderen hat; so verdankt sich die Gesundheit dem Arzt und dessen Wissen. Ihr defizienter Modus ist der Zufall (tychê), bei dem ein vorangehendes Wissen, ein Plan, fehlt, so zum Beispiel, daß jemand auf dem Markt seinen Schuldner trifft (Phys. II 4, 196a3-5; II 5, 196b33ff.) oder daß er beim Umgraben eines Ackers einen Topf voller Goldmünzen findet (EN III 5, 1112a27). Zu den besten Teilen in Aristoteles’ Werk, sogar der gesamten antiken Naturphilosophie gehören innerhalb der Physik vier Abhandlungen: (1) über das Unbegrenzte bzw. Unendliche (III 4, 6-7), (2) über den Raum, genauer den Ort (topos) (IV 4), (3) über die Zeit (IV 10-11, 14) und (4) über Stetigkeit bzw. Kontinuität (VI 1, 9). Man könnte diese vier Themen aus dem Blickwinkel der Mathematik erörtern. Aristoteles’ Physik geht es aber um die Natur und den für sie eigentümlichen Begriff, die Bewegung. Während er zuvor, bei der Vier-Ursachenlehre, das Naturding, sofern aus ihm Bewegung möglich sein soll, untersucht, geht es ihm aber jetzt um die inneren Vor- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 92 II. Naturphilosophie aussetzungen von Bewegung, wobei das Naturding als solches eingeklammert wird: Ort und Zeit sind Voraussetzungen der Naturerfahrung, und das Unbegrenzte und die Stetigkeit sind Bedingungen, um die zwei Voraussetzungen zu begreifen. Wer Aristoteles’ Überlegungen zum Sprechen bringt, stößt auf erstaunlich unveraltete Gedanken. In der Untersuchung zur Stetigkeit beispielsweise kann er begriffsanalytische Voraussetzungen der mathematischen Probleme von Infinitesimalrechnung und (quantentheoretischer) Schwierigkeiten mit der Stetigkeit entdecken. Und die Untersuchung über das Unendliche operiert mit der bis heute relevanten Unterscheidung eines aktual und eines potentiell Unendlichen. Kosmologie In den Schriften Über den Himmel (De caelo), Über Entstehen und Vergehen (De generatione et corruptione) und in der Meteorologie untersucht Aristoteles die physikalischen Grundlagen des Kosmos, dessen stoffliche Elemente und dessen Naturerscheinungen wie Erdbeben, Vulkanismus, Wind und Wetter. Vor allem zur Mineralogie und Hydrologie liefert er mit seiner Schule die für die gesamte Antike maßgebenden Werke. Vor Aristoteles behaupteten die Philosophen, die Welt habe einen Anfang, für den Platons Dialog Timaios einen Schöpfungsmythos skizziert. Aristoteles unterscheidet zunächst die Verhältnisse auf der Erde, die der sublunaren (‚diesseits des Mondes‘) Welt, von den translunaren Verhältnissen der Planeten und Fixsterne. Dort, in der Welt des Vergänglichen, sieht er die vier traditionellen Grundstoffe, die Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde, herrschen. Und natürlicherweise, das heißt solange kein äußerer Beweger „gewaltsam“ auf sie einwirkt, bewegen sich diese Stoffe gradlinig teils nach oben, teils nach unten. In der Einführung eines weiteren Elements sieht Aristoteles seinen neuen Forschungsbeitrag. Dieses fünfte Element, die „Quintessenz“ (lat.: fünftes Wesen), der Äther, bilde den Stoff der Gestirne und Himmelssphären. Diese bewegen sich nach der zweiten natürlichen Bewegungsart; nach der gradlinigen ist es jetzt die vollkommene, die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 93 Einleitung kreisförmige Bewegung. Weil die Kreisbewegung weder einen Anfang noch ein Ende hat, ist sie und mit ihr die gesamte translunare Welt ewig: unentstanden, unvergänglich, was einmal mehr gegen den Schöpfungsgedanken spricht. Innerhalb der Äthersphäre wird die Sphäre der Fixsterne gegen die der Planeten deutlich abgesetzt. Weil die Planeten vom „göttlichen Ursprung“ weiter entfernt sind, ist die Zahl ihrer (stets kreisförmigen) Bewegungen größer und uneinheitlicher, was die verschiedenartigen ekliptischen Bewegungen verständlich machen soll. Zoologie In seiner umfänglichsten Gruppe naturwissenschaftlicher Schriften, in denen der Zoologie, erforscht Aristoteles die Tierwelt, einschließlich der Menschen, in klassifikatorischer und physiologischer Hinsicht. Wegen der Fülle des dort versammelten Tatsachenmaterials und dessen theoretischer Durchdringung begründen sie neben der formalen Logik für Jahrhunderte den Ruhm des Philosophen. Charles Darwin inspirieren sie zu dem schon in der allgemeinen Einführung erwähnten Ausspruch, Aristoteles sei „einer der größten, wenn nicht der größte Beobachter gewesen, der je gelebt hat“. Um sich auf diese reiche Beobachtung einzulassen, war jedoch eine epistemische Barriere zu überwinden. Weil Aristoteles wie generell die Griechen den Bereich der Gestirne für ranghöher als den der Tiere und Menschen hielt, drohte die Gefahr, die nichtastronomische Naturforschung zu vernachlässigen. Dem tritt der Philosoph mit drei Argumenten entgegen: Erstens gibt es in der Welt der Tiere, auch der Pflanzen weit mehr zu beobachten; zweitens steht diese Welt dem Menschen näher als die der göttlichen Gestirne; und drittens haben selbst die niedrigsten Tiere in ihrer Zweckmäßigkeit etwas Bewundernswertes an sich (Part. an. I 5; s.o. Teil I, Abschn. 1.6). Von Platon muß der Biologiehistoriker sagen: „Das Entstehen des modernen biologischen Denkens besteht zum Teil in der Emanzipation von der Platonischen Philosophie“. Zu Aristoteles erklärt er dagegen: „Niemand vor Darwin hat einen so großen Beitrag zum Verständnis der lebenden Welt geleistet wie Aristoteles… Fast jedes Teilgebiet der Geschichte der Biologie muß mit Aristoteles anfan- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 94 II. Naturphilosophie gen“ (E. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 1984, 73). Der einschlägige Text De partibus animalium (Über die Teile der Tiere) faßt zwei verschiedenartige Schriften zusammen. Nur die Bücher II-IV werden dem Titel gerecht. Sie untersuchen nämlich Elementarkräfte und gleichartige Substanzen wie Blut, Fett, Mark, Gehirn, Fleisch und Knochen; besonders ausführlich widmen sie sich den Organen, den Sinnesorganen, Zähnen, Eingeweiden. Das erste Buch ist dagegen eine Art von allgemeiner Zoologie, eine systematische Einleitung in die gesamte Tierkunde. Sie begründet die von den Griechen bislang weitgehend vernachlässigte Zoologie als eine nach Erkenntnisinteresse, Methode und Gegenstand eigenständige Wissenschaft: Auf das dreiteilige Plädoyer für eine umfassende biologische Forschung folgen Überlegungen zur Klassifikation. Gegen die von Platon und Speusipp vertretene Dichotomie (Zweiteilung) vertritt Aristoteles eine Einteilung nach Gattungen und natürlichen Merkmalen, wobei Gattungen wichtiger als Arten und diese wichtiger als das Individuum gelten. Dabei drängt sich die Frage auf, ob hier ein Widerspruch zur Kategorienschrift vorliegt, da diese das Individuum zur ersten, die Art aber nur zur zweiten Substanz erklärt. Die thematisch reichhaltige Schrift De generatione animalium (Über die Entstehung der Tiere) befaßt sich, nach Tierklassen geordnet, mit der Fortpflanzung, den Geschlechtsunterschieden, der Vererbung und mit sekundären Eigenschaften wie der Behaarung und dem Grauwerden. Einflußreich wird Aristoteles’ Ansicht über die Entwicklung eines Keimes, die Epigenesislehre. Nach dem Vorsokratiker Anaxagoras und den Atomisten Leukipp und Demokrit stammt das genetische Gut aus allen (griech. pan) Teilen des Körpers. Mit dieser Pangenesislehre verbindet sich die Präformationslehre, nach der alle Teile eines künftigen Individuums bereits im Kleinen vorgebildet, präformiert, seien. Aristoteles stellt zunächst diese Auffassung vor, sucht die zugrundeliegenden Argumente zu entkräften und trägt erst danach seine eigene Ansicht vor: daß die Organe sich nach und nach entwickeln und daß sich dabei zunächst die Gattungs-, dann die Artmerkmale ausbilden. Beim Embryo entstehen zunächst die vegetativen, dann die Empfindungsfähigkeiten. Und beim Menschen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 95 Einleitung kommt zuletzt der Geist hinzu, und zwar von außen; da er körperlos, göttlich und ewig sei, existiere er nämlich schon vorab. Psychologie Der Titel Über die Seele (De anima) ist irreführend, da sich die Schrift nicht auf eine Psychologie im heutigen Sinne konzentriert. Während man heute den Fokus im wesentlichen auf den Menschen, allenfalls noch auf einige höhere Tierarten wie die Primaten richtet, untersucht Aristoteles wegen seines sehr weiten Begriffs von Seele nicht bloß das Seelische im Sinne von Gefühlen und Affekten und zusätzlich das Geistige, also Bewußtsein und Intentionalität. Ihm geht es vielmehr um die verschiedenen Vermögen alles Lebendigen, die mit dem Ernährungsvermögen beginnen und über das Wahrnehmungs- und Bewegungsbis zum Denkvermögen reichen. Zweifellos modern, ordnet Aristoteles seine Psychologie der Naturforschung zu. Durchaus modern ist auch sein Argument, daß weder die Seele noch ihre Affekte wie Zorn oder Furcht von der Materie der Lebewesen getrennt existierten. Allerdings betreibt er in De anima keine empirische, sondern eine theoretische Forschung. Während sich die Physik mit den Grundbegriffen und Prinzipien aller Naturdinge befaßt, erörtert er hier die philosophischen Grundlagen der gesamten Biologie, einschließlich der Humanbiologie. Die Schrift enthält eine Art Fundamentalphilosophie oder Metaphysik des Lebendigen. Soweit sie dabei auf den Menschen eingeht, betrachtet sie ihn als ein Lebewesen, als ein höheres Tier. Wie es schon im Argument für die Zuordnung zur Naturforschung erscheint, legt Aristoteles großen Wert auf die untrennbare Verbindung von Seele und Leib bzw. Körper. Den Dualismus, den viele seiner Vorgänger vertreten, lehnt er vehement ab. Aristoteles verwirft allerdings auch dessen schlichten Gegner, einen Physikalismus bzw. Naturalismus, der die Seele für etwas rein Körperliches hält. Er bestreitet zwar nicht, daß einige seelische Phänomene nicht an Körperlichkeit gebunden sind, hält dann aber andere Forschungszweige für zuständig, so für die mathematischen Gegenstände die Mathematik und für den reinen Geist die Erste Philosophie. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 96 II. Naturphilosophie Um die leiblich-seelische Einheit der Lebensprozesse deutlich zu machen, greift Aristoteles auf das Begriffspaar zurück, mit dem er sich generell dualistischem Denken widersetzt, dem von Form und Materie: Ein konkretes Lebewesen besteht aus dem Körper bzw. Leib (sôma) als der Materie und aus jener Form, die das für sich allein bloß potentielle Leben (dynamei zôê: An. II 1, 412a20) zu einem aktualen Lebewesen werden läßt. Dieses Aktualisierungsmoment nennt Aristoteles Seele. Er versteht unter ihr also nicht ein eigenes, körperliches oder unkörperliches Ding, sondern das Moment, das den lebendigen vom toten Leib unterscheidet. „Seele“ heißt, was das Lebendigsein des Lebendigen ausmacht. Als dessen Aktualitätsprinzip hält sie den Leib zusammen und gibt ihm die Einheit, während er ohne die Seele vergeht und verfault. Als Prinzip der Lebewesen (I 1, 402a6f.) ist sie genauer die Ursache in den drei Bedeutungen von Form, Zweck und Bewegungsprinzip (II 4, 415b8ff.). Von den vier Ursachenarten fehlt nur die Materialursache, denn sie liegt im Körper. Weil die Seele nicht etwas ist, das ein Lebewesen „hat“, sondern dessen volle Wirklichkeit, sein Lebendig-sein, bedeutet, spricht Aristoteles auch von Entelechie. Darunter versteht er etwas, das „in sein Ziel“ (en telei), folglich zu seiner Erfüllung gelangt. Weil die Seele keine selbständige Substanz und noch weniger eine Eigenschaft ist, vielmehr die Entelechie einer leiblich-seelischen Ganzheit, gibt es für sie kein vom Leib abgelöstes Dasein. Die einzelnen seelischen Fähigkeiten sind an entsprechende Organe gebunden. Selbst bei der einzigen Ausnahme, dem Geist, ist zwischen einem vergänglichen, deshalb doch an den Körper gebundenen und einem körperlosen, daher unvergänglichen und zugleich göttlichen, freilich auch unpersönlichen Element zu unterscheiden. Folgerichtig lehnt Aristoteles die Unsterblichkeit einer individuellen Seele ab. Er verwirft auch die pythagoreische Lehre der Seelenwanderung, räumt jedoch ein, jedes beseelte Wesen, selbst die Pflanze, habe durch die „natürlichste Leistung“, die Reproduktion eines Wesens derselben Art, „am Ewigen und Göttlichen Anteil“. Die nähere Bestimmung der Seele erfolgt über die verschiedenen Lebensfunktionen bzw. Seelenkräfte. Dabei führt Aristoteles jene Stufenleiter der Natur an, die Reihenfolge Pflanze - Tier - Mensch, in der er nicht ohne Grund einen Aufstieg zu immer reicheren und komplexeren Lebensvollzügen sieht: Die vegetative Seele („Pflanzen- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 97 Einleitung seele“) ist für Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung zuständig. Die animalische Seele („Tierseele“) versteht sich dagegen auf Wahrnehmung (II 5-III 2), verbunden mit Schmerz oder Lust und Begierde. Gelegentlich charakterisiert Aristoteles das Tier, dann pars pro toto, allein durch die Wahrnehmung. Und diese wird gemäß dem naturphilosophischen Charakter der Schrift weit ausführlicher erörtert als die dritte Seele, die für den Geist und Logos zuständig ist, die humane Seele. Insgesamt ist die Reihenfolge der Seelenkräfte so angelegt, daß die jeweils höheren Lebewesen auch über die niederen Lebensfunktionen verfügen. Das Kriterium für den höheren Rang liegt in der Zusatzfähigkeit: Tiere verfügen über vegetative und zusätzlich über animalische und Menschen in einem weiteren Zusatz auch über geistige Fähigkeiten. Die niederen Lebensfunktionen bleiben also erhalten, nach Maßgabe der höheren Lebensfunktionen verändern sie sich aber. Ernährung, Wahrnehmung und Fortpflanzung sind daher beim Menschen nicht dasselbe wie bei den anderen Lebewesen. Für die Erkenntnistheorie wichtig ist Aristoteles’ Unterscheidung eines leidenden Geistes (nous pathêtikos) vom wirkenden und leidensunfähigen Geist (nous poiêtikos / apathês). Die knappe, extrem verkürzte Argumentation dürfte zu den meistkommentierten Passagen der gesamten antiken Philosophie gehören. Aristoteles’ zunächst kaum verständliche Unterscheidung folgt einerseits aus dem Begriffspaar Möglichkeit und Wirklichkeit, andererseits aus einer Entsprechung und gleichzeitigen Differenz von Denken und Wahrnehmung. Gemeinsam ist beiden, daß jeweils ein aufnahmefähiges Vermögen (… pathêthikos) durch ein anderes, wirkendes Moment (… poiêtikos) aktiviert wird. Im Fall des Wahrnehmens kommt es aber nur dann zu einer Aktivierung, wenn im Wahrnehmungsfeld Gegenstände auftauchen; hier liegt das die Wirklichkeit hervorrufende Moment außerhalb des Geistes. Das Denken ist dagegen nicht an äußere Gegenstände gebunden, so daß bei ihm die Differenz von passiver Aufnahmefähigkeit und ihrer Aktivierung, modern gesprochen: von Rezeptivität und Spontaneität, in das Denken selbst fällt. Wie eine leere Schreibtafel, sagt Aristoteles, verfügt der leidende Geist über eine unbegrenzte Aufnahmefähigkeit, der der wirkende Geist so zur Wirklichkeit verhilft, wie das Licht Farben aktuell sichtbar macht. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 98 II. Naturphilosophie 1. Physik 1.1 Der Begriff der Natur [192b8] Von den Dingen, die es gibt, sind die einen von Natur aus, die anderen aus anderen Ursachen: Von Natur aus sind sowohl die Lebewesen als auch ihre Teile und die Pflanzen und die einfachen von den Körpern, wie z. B. Erde, Feuer, Luft und Wasser - wir sagen ja, daß diese und die derartigen Dinge von Natur aus sind -; all diese Dinge unterscheiden sich aber offenbar gegenüber den nicht von Natur aus bestehenden. Von diesen (ersteren) besitzt nämlich jedes einzelne in sich selbst ein Prinzip von Bewegung und Stillstand, die einen hinsichtlich des Ortes, die anderen hinsichtlich Vergrößerung und Abnahme, noch andere hinsichtlich qualitativer Veränderung. Eine Liege dagegen und ein Gewand und was sonst eine derartige Gattung ist besitzt, insofern es ein jedes (derartige) Prädikat erlangt hat und insoweit es von einer Kunst herrührt, keinen angestammten Trieb zum Wandel; insofern es ihnen aber akzidentell zukommt, aus Stein oder (Ton-)Erde oder aus diesen gemischt zu sein, besitzen sie (einen solchen Trieb), und zwar (gerade) insoweit: (was zu der Annahme führt,) daß die Natur eine Art Prinzip und Ursache des Sichbewegens und Ruhens in demjenigen ist, in dem sie primär vorhanden ist, (d. h.) an sich und nicht akzidentell. - Ich sage aber „nicht akzidentell“, weil (z. B.) jemand für sich selbst zum Verursacher der Gesundheit werden könnte, da er Arzt ist; aber dennoch besitzt er die Heilkunst nicht, insoweit er geheilt wird, sondern es hat sich eben ergeben, daß derselbe (Mensch) Arzt und Geheilter ist; deshalb trennen sich (diese Rollen) auch manchmal voneinander. - Gleichermaßen (verhält es sich) auch mit jedem der anderen hergestellten Dinge: Keines von ihnen besitzt nämlich das Prinzip seiner Herstellung in sich selbst, sondern die einen (besitzen es) in anderen Dingen und von außen her, wie z. B. ein Haus und jedes der anderen handgefertigten Dinge, die anderen (besitzen ihr Prinzip) zwar in sich selbst, jedoch nicht an sich, (nämlich) alle, die akzidentell für sich selbst zu Ursachen (von Veränderungen) werden könnten. Natur ist demnach das Gesagte, eine Natur besitzen aber alle Dinge, die ein derartiges Prinzip besitzen. Und all diese sind (jeweils) eine Substanz; sie sind nämlich etwas Zugrundeliegendes (ein Substrat), und die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 99 1.1 Der Begriff der Natur Natur ist immer in einem Zugrundeliegenden. Naturgemäß sind sowohl diese Dinge als auch alles, was diesen an sich zukommt, wie z. B. dem Feuer das Aufsteigen; denn dies ist zwar nicht [193a] Natur und besitzt auch keine Natur, es ist aber von Natur aus und naturgemäß. Was also die Natur ist, ist (damit) gesagt, und was ‚von Natur aus‘ und ‚naturgemäß‘ (bedeuten). Daß es aber die Natur gibt beweisen zu wollen, wäre lächerlich; es ist nämlich offensichtlich, daß von den Dingen, die es gibt, viele so beschaffen sind. Die offensichtlichen Dinge durch nichtoffensichtliche beweisen (zu wollen) ist aber (Kennzeichen eines Menschen), der das aus sich selbst und das nicht aus sich selbst Bekannte nicht zu unterscheiden vermag - daß es aber möglich ist, sich in diesem Zustand zu befinden, ist kein Geheimnis: denn (auch) ein von Geburt an Blinder könnte über Farben räsonieren -, so daß für solche (Leute) notwendig (nur) von den Namen (Nennwörtern) die Rede ist, sie (dabei) aber nichts denken. Die Natur und die Substanz der von Natur aus seienden Dinge scheint einigen (Denkern) das als erstes in einer jeden Sache Vorhandene zu sein, 〈 das 〉 an sich ohne Maß und Ordnung 〈 ist 〉 , so (daß) z. B. die Natur einer Liege das Holz, eines Standbildes das Erz (wäre). Als Zeichen (dafür) führt Antiphon an: Wenn man eine Liege vergrübe und die Fäulnis Kraft bekäme, so daß (daraus) ein Keimling hervorbräche, dann entstünde keine Liege, sondern Holz, weil das eine akzidentell vorhanden sei - die konventionsgemäße Anordnung (der Holzteile zur Liege) und die (daran verwendete) Kunst -, die Substanz dagegen dasjenige sei, was zusammenhängend (kontinuierlich) fortdauere, auch während es diese (Einwirkungen) erleide. Wenn aber auch von diesen (Materialien) ein jedes zu einem anderen in demselben Verhältnis stehe (wie die Liege zum Holz) - so z. B. das Erz und das Gold zu Wasser, die Knochen und das Holz zu Erde, gleichermaßen aber auch jedes beliebige von den anderen -, dann sei letzteres (jeweils) ihre Natur und Substanz. Ebendeshalb erklären die einen das Feuer, die anderen die Erde, noch andere die Luft, noch andere das Wasser, noch andere einige von diesen (Elementen), noch andere all diese (Elemente zusammen) zur Natur der Dinge, die es gibt. Denn welches von diesen (Elementen) jemand einmal als solches (Prinzip) angenommen hat, ob eines oder mehrere, von diesem und so vielen (Elementen) behauptet er dann, sie seien die gesamte Substanz, alle anderen Dinge seien dagegen (nur) Eigenschaften, Zustände und © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 100 II. Naturphilosophie Anordnungen dieser (als Substanz angenommenen Elemente); und während von letzteren jedes beliebige ewig sei - es gebe für sie nämlich keinen Wandel auseinander -, entstünden und vergingen die anderen Dinge unzählige Male. Auf eine Weise sagt man demnach in diesem Sinne von der Natur, (sie sei) der erste, jedem einzelnen zugrundeliegende Stoff der in sich selbst ein Prinzip von Bewegung und Wandel besitzenden Dinge; auf eine andere Weise dagegen, (sie sei) die Gestalt und die dem Begriff (einer jeden Sache) gemäße Form. Gerade wie man nämlich das Kunstgemäße und Kunstvolle ‚Kunst‘ nennt, so [nennt man] auch das Naturgemäße und Natürliche ‚Natur‘. Wir würden aber wohl weder schon dann von etwas behaupten, es verhalte sich gemäß der Kunst oder sei Kunst, wenn es allein dem Vermögen nach eine Liege ist, aber noch nicht die Form der Liege hat, noch (Entsprechendes) im (Bereich der) von Natur aus zustandekommenden Dinge: Was nämlich (nur) dem Vermögen nach Fleisch oder Knochen ist, besitzt [193b] weder schon seine eigene Natur, bevor es nicht seine Form gemäß jenem Begriff erhalten hat, mit dem wir definitorisch sagen, was Fleisch oder Knochen ist, noch ist es von Natur aus. Daher dürfte die Natur auf eine andere Weise die Gestalt und die Form der in sich selbst ein Bewegungsprinzip besitzenden Dinge sein, (wobei letztere) nicht abtrennbar ist außer in Hinsicht auf den Begriff. - Das aus diesen (Stoff und Form Gebildete) dagegen ist zwar nicht Natur, aber von Natur aus, wie z. B. ein Mensch. - Und diese (Form) ist eher Natur als der Stoff; ein jedes wird nämlich immer eher dann (etwas Bestimmtes) genannt, wenn es (dies) der Wirklichkeit nach ist, als wenn es (dies nur) dem Vermögen nach ist. Ferner entsteht ein Mensch aus einem Menschen, aber keine Liege aus einer Liege; deshalb behaupten sie auch, nicht die Figur sei die Natur (der Liege), sondern das Holz, weil (ja), wenn es keimen würde, keine Liege, sondern Holz entstünde. Wenn aber folglich letzteres Natur ist, so ist auch die Gestalt Natur; aus einem Menschen entsteht ja ein Mensch. Ferner ist die Natur, insofern man von ihr im Sinne einer Entstehung spricht, ein Weg zur Natur. (Sie verhält sich) nämlich nicht wie eben die Heilung, die nicht ein Weg zur Heilkunst, sondern zur Gesundheit genannt wird; denn während die Heilung notwendig von der Heilkunst, nicht zur Heilkunst erfolgt, verhält sich die Natur nicht auf diese Weise zur Natur, sondern das sich natürlich Entwickelnde geht aus etwas in © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 101 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität etwas über, insofern es sich natürlich entwickelt. Was also entwickelt sich (dabei) natürlich? Nicht das, aus dem (es entsteht), sondern das, zu dem (es wird). Folglich ist die Gestalt Natur. Die Gestalt und die Natur werden in zweierlei Sinn so genannt; auch die Beraubung (von einer Bestimmtheit, Privation) ist nämlich gewissermaßen eine Form. Ob aber Beraubung sowie konträr Entgegengesetztes etwas in bezug auf die Entstehung schlechthin bedeuten oder nicht, ist später zu untersuchen. (Phys. II 1) 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität [194b16] Nachdem diese Dinge bestimmt sind, ist in bezug auf die Ursachen zu untersuchen, wie beschaffen und wie viele sie ihrer Zahl nach sind. Denn da diese Abhandlung zugunsten des Wissens (unternommen wird), wir aber ein jedes nicht früher zu wissen glauben, als bis wir das Warum in bezug auf ein jedes erfaßt haben - d. h. aber, seine erste Ursache erfaßt zu haben -, ist es klar, daß auch wir diese Aufgabe auch in bezug auf Entstehung und Vergehen und den ganzen natürlichen Wandel haben, damit wir versuchen (können), in Kenntnis ihrer Prinzipien jeden einzelnen der Forschungsgegenstände auf sie (die Prinzipien) zurückzuführen. Auf eine Weise wird also das Ursache genannt, aus dem als in (etwas) Vorhandenem (dieses) Etwas entsteht, wie z. B. das Erz (als Ursache) für das Standbild, das Silber für die Schale, und (ebenso) deren (übergeordnete) Gattungen; auf eine andere (Weise) dagegen die Form und das Muster, d. h. der Begriff des ‚Was es hieß (dies) zu sein‘ und dessen (übergeordnete) Gattungen - wie z. B. für die Oktave das (Verhältnis) 2: 1 und überhaupt die Zahl - sowie die (Definitions-)Teile in diesem Begriff. Ferner (wird das Ursache genannt,) woher das erste Prinzip (Ursprung) des Wandels oder des Ruhigseins (rührt), wie z. B. der Ratgeber Verursacher (für einen Beschluß) ist und der Vater für das Kind, und überhaupt das Bewirkende für das Bewirkte und das Wandelnde für das Gewandelte. Ferner (wird die Ursache aufgefaßt) als das Ziel (der Zweck), d. h. als das Worumwillen, wie z. B. für das Spazierengehen die Gesundheit; (denn auf die Frage: ) „Warum geht er denn spazieren? “ antworten wir: „Damit er gesund bleibt“, und indem wir so sprechen, glauben wir die Ursache angegeben zu haben. Und (auf dieselbe Weise ist Ursache) offen- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 102 II. Naturphilosophie bar alles, was, nachdem etwas anderes eine Bewegung angestoßen hat, zwischen (diesem und) dem Ziel entsteht, wie z. B. für die Gesundheit das Abnehmen, die (innere) Reini[195a]gung, die Medikamente oder die (ärztlichen) Werkzeuge; all diese Dinge sind nämlich um des Zieles willen, sie unterscheiden sich aber darin voneinander, daß die einen Werke, die anderen Werkzeuge sind. In ungefähr so vielen (Bedeutungen) spricht man demnach von Ursachen; es ergibt sich aber, da die Ursachen in vielfachem Sinne so genannt werden, daß es auch für dieselbe Sache mehrere Ursachen gibt, (und das) nicht akzidentell; z. B. für das Standbild sowohl die Bildhauerkunst als auch das Erz, (und zwar) nicht in irgendeiner anderen Beziehung, sondern insofern es ein Standbild ist, freilich nicht auf dieselbe Weise, sondern das eine als Stoff, das andere als (das,) woher die Bewegung (rührt). Einige Dinge sind auch gegenseitig füreinander Ursachen, wie z. B. die Anstrengung für die gute Kondition und (umgekehrt) letztere für die Anstrengung; freilich nicht auf dieselbe Weise, sondern das eine als Ziel, das andere als Prinzip (Ursprung) der Bewegung. Ferner ist (ein und) dasselbe (auch Ursache) für konträr entgegengesetzte Dinge: Was nämlich anwesend Ursache für dieses ist, das machen wir auch, wenn es abwesend ist, zuweilen für das konträr Entgegengesetzte verantwortlich, wie z. B. für das Kentern des Schiffes die Abwesenheit des Steuermannes, dessen Anwesenheit Ursache der Rettung gewesen wäre. Alle jetzt genannten Ursachen fallen unter vier höchst offensichtliche Weisen. Denn die Buchstaben sind für die Silben, der Stoff ist für die (daraus) erzeugten Dinge, das Feuer und das Derartige ist für die Körper, die Teile sind für das Ganze und die Prämissen für die Konklusion Ursachen im Sinne des Woraus, davon aber die einen im Sinne des Zugrundeliegenden (des Substrates), wie z. B. die Teile, die anderen im Sinne des ‚Was es hieß (dies) zu sein‘: sowohl das Ganze als auch die Zusammensetzung und die Form. Aber der Same, der Arzt, der Ratgeber und überhaupt das Bewirkende, all (das ist Ursache im Sinne dessen,) woher das Prinzip des Wandels oder Stillstandes [oder der Bewegung] (rührt). Noch andere (sind schließlich Ursachen) im Sinne des Zieles und des Guten für die anderen Dinge: Das Worumwillen will nämlich ein Bestes und Ziel für die anderen Dinge sein; es möge aber keinen Unterschied machen, ob man es ein Gut oder ein anscheinendes Gut nennt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 103 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität Die Ursachen sind demnach diese und so viele ihrer Art nach; die Weisen aber, von Ursachen (zu sprechen), sind zwar ihrer Zahl nach viele, unter Hauptpunkten zusammengefaßt werden aber auch diese weniger. Ursachen werden nämlich in vielfachem Sinne so genannt, und sogar von den gleichartigen die eine in früherem (ursprünglicherem), die andere in späterem (abgeleiteterem) Sinne, wie z. B. (als Ursache) für die Gesundheit ein Arzt und ein Fachmann, für die Oktave das Doppelte und eine Zahl, und so immer die umfassenden (Gattungen) im Verhältnis zu den einzelnen (Arten). Ferner (spricht man von Ursachen) im Sinne des Akzidens und deren (übergeordneten) Gattungen, wie z. B. für ein Standbild in einem Sinne Polykleitos (Verursacher ist), in einem anderen ein Bildhauer, weil es dem Bildhauer akzidentell zukommt, Polykleitos zu sein. Und (Ursachen heißen auch) die das Akzidens umfassenden (Gattungen), wie wenn z. B. der Mensch Verursacher eines Standbildes wäre oder [195b] überhaupt ein Lebewesen. Es sind aber auch von den Akzidenzien die einen entfernter, die anderen näher, wie wenn z. B. ‚der Blasse‘ und ‚der Gebildete‘ Verursacher des Standbildes genannt würde. Alle (Ursachen) aber, sowohl die eigentlich als auch die akzidentell so genannten, werden teils als vermögende so genannt, teils als wirksame (wirkliche), wie z. B. für das Erbauen eines Hauses ein Baumeister oder ein (gerade) bauender Baumeister. Gleichermaßen wie bei dem Behandelten wird man auch bei den Dingen sprechen, deren Ursachen die Ursachen sind, wie z. B. (bei der Ursache) für dieses Standbild oder für ein Standbild oder für ein Bildnis überhaupt, und für dieses Erz oder für ein Erz oder für einen Stoff überhaupt; und bei den Akzidenzien ebenso. Ferner wird sowohl dieses als auch jenes miteinander verknüpft (Ursache) genannt werden, wie z. B. nicht ‚Polykleitos‘ und auch nicht ‚ein Bildhauer‘, sondern ‚Polykleitos der Bildhauer‘. Aber dennoch ergeben diese alle zusammen der Menge nach (nur) sechs (Weisen, von Ursachen zu sprechen), die aber (jeweils) in zweierlei Sinn (Ursachen) genannt werden: nämlich entweder als das einzelne oder als die Gattung, oder als das Akzidens oder als die Gattung des Akzidens, oder als Verknüpfungen davon oder als einfach ausgesagte; alle aber entweder als wirksame (Ursachen) oder hinsichtlich des Vermögens. (Letzteres) macht insoweit einen Unterschied, als zwar die wirksamen und die einzelnen (Ursachen) zugleich mit den Dingen, deren Ursachen sie sind, sind bzw. nicht sind, wie z. B. dieser Heilende mit diesem Gesundenden © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 104 II. Naturphilosophie und dieser Bauende mit diesem im Bau Befindlichen, dagegen die hinsichtlich des Vermögens (bestehenden Ursachen) nicht immer; das Haus und der Baumeister vergehen ja nicht zugleich. Man muß immer nach der höchsten Ursache für jedes einzelne forschen, gerade wie auch bei den anderen (Untersuchungen immer nach der letzten Erklärung) - so z. B.: ein Mensch baut, weil er Baumeister ist, der Baumeister aber (baut) gemäß der Baukunst; letzteres ist somit die frühere (ursprünglichere) Ursache, und so (verhält es sich) bei allen Dingen -. Ferner (sind) die Gattungen (als Ursachen) für die Gattungen, aber die Einzeldinge (als Ursachen) für die Einzeldinge (zu suchen) - wie z. B. ein Bildhauer für ein Standbild, aber dieser (Bildhauer) für dieses (Standbild) -, und die Vermögen (als Ursachen) für die möglichen, aber die wirksamen (Ursachen) im Hinblick auf die bewirkten (Wirkungen). Wie viele Ursachen es demnach gibt und auf welche Weise sie Ursachen sind, möge (hiermit) für uns hinreichend bestimmt sein. Man nennt auch den Zufall und das Spontane unter den Ursachen und (sagt), daß viele Dinge durch Zufall und durch das Spontane sowohl sind als auch entstehen (bzw. geschehen); also ist zu untersuchen, auf welche Weise der Zufall und das Spontane zu diesen (soeben unterschiedenen Arten von) Ursachen gehören, ob der Zufall und das Spontane dasselbe sind oder Verschiedenes, und was der Zufall und das Spontane überhaupt sind. Einige (Philosophen) sind nämlich sogar im Zweifel (der Schwierigkeit), ob es (Zufall und Spontaneität überhaupt) gibt oder nicht; [196a] denn offenbar entstehe nichts aus Zufall, behaupten sie, vielmehr gebe es (jeweils) irgendeine bestimmte Ursache für alle Dinge, von denen wir sagen, sie entstünden aus Spontaneität oder Zufall, wie z. B. dafür, ‚aus Zufall‘ auf den Marktplatz zu kommen und (dort) zu treffen, wen man zwar (treffen) wollte, aber nicht (dort zu treffen) glaubte, Ursache der Wunsch sei, zum Einkauf auf dem Markt auszugehen. Gleichermaßen sei auch bei den anderen der ,aus Zufall‘ genannten Dinge immer irgend etwas als ihre Ursache zu fassen, jedoch nicht der Zufall, da ja, falls der Zufall etwas (Reales und daher nicht-zufällig Verursachendes) wäre, dies wahrhaft absurd erschiene und man in die Schwierigkeit geriete, warum denn eigentlich keiner der altehrwürdigen Weisen bei seiner Erörterung der Ursachen in bezug auf Entstehung und Vergehen irgend etwas in © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 105 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität bezug auf den Zufall bestimmt hat, sondern - wie es scheint - auch jene nicht glaubten, daß irgend etwas aus Zufall sei. Allerdings ist auch dies erstaunlich: Viele Dinge entstehen und sind ja aus Zufall und aus Spontaneität, (und) obwohl (den Leuten) keineswegs unbekannt ist, daß man jedes einzelne von den entstehenden Dingen auf irgendeine Ursache zurückführen kann - ganz so wie der alte Spruch sagt, der den Zufall aufhebt -, behaupten sie dennoch alle, von diesen Dingen seien die einen aus Zufall, die anderen nicht aus Zufall; deshalb hätten doch auch sie (jene Weisen) auf irgendeine Weise (dieses Problems) Erwähnung tun sollen. Gleichwohl glaubten sie auch nicht, daß der Zufall eines jener (von ihnen angenommenen Prinzipien) sei, wie z. B. Freundschaft, Streit, Vernunft, Feuer oder irgend etwas anderes von den derartigen Dingen. Absurd ist es also (auf jeden Fall), ob sie nun annahmen, es gebe (den Zufall gar) nicht, oder ob sie ihn, obwohl sie (an sein Dasein) glaubten, beiseite ließen; und dies, während sie ihn zuweilen (doch zur Erklärung) gebrauchten, wie etwa Empedokles behauptet, die Luft sondere sich nicht immer ganz zuoberst ab, sondern so wie es sich zufällig treffe. Er sagt wenigstens in seiner Welterschaffung : So stieß (der Äther) in seinem Lauf bald so, oft aber anders zusammen - und auch von den Teilen der Lebewesen behauptet er, die meisten seien aus Zufall entstanden. Es gibt aber manche (Philosophen), die sowohl für dieses gegenwärtige Himmelsgebäude als auch für alle Welten (überhaupt) als Ursache das Spontane angeben; aus Spontaneität sei nämlich der Wirbel entstanden und die Bewegung, welche (die verschiedenartigen Atome) voneinander abgesondert und das All in diese Ordnung gebracht habe. Gerade dies ist nun freilich des Staunens wert: Während sie nämlich einerseits sagen, daß die Lebewesen und die Pflanzen weder aus Zufall seien noch entstünden, sondern vielmehr Natur, Vernunft oder irgend etwas anderes Derartiges ihre Ursache sei - denn aus einem jeden Samen entstehe nicht, was sich eben zufällig traf, sondern zwar aus dem so beschaffenen ein Ölbaum, aus dem anders beschaffenen dagegen ein Mensch -, (sagen sie dennoch) andererseits, das Himmelsgebäude und die göttlichsten von den offen sichtbaren Dingen seien aus Spontaneität entstanden und es gebe (für sie) keine solche Ursache wie für die Lebewesen und die Pflanzen. Doch sogar wenn es sich so verhielte, wäre gerade dies der Aufmerksamkeit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 106 II. Naturphilosophie wert, und es wäre schön, wenn (von jenen Philosophen) etwas (Näheres) darüber ge[196b]sagt worden wäre. Denn abgesehen davon, daß das Gesagte auch in anderer Hinsicht absurd ist, ist es noch absurder, diese Dinge zu sagen, während sie zwar am Himmel nichts aus Spontaneität Entstehendes sehen (wollen), unter den nicht aus Zufall (entstehenden Dingen) aber viele, die sich aus Zufall ergäben; und wahrscheinlich wäre doch, daß das konträr Entgegengesetzte geschähe. Es gibt aber manche (Philosophen), denen der Zufall zwar eine Ursache zu sein scheint, aber (eine) für den menschlichen Verstand undurchschaubare, (weil sie annehmen,) er sei etwas Göttliches und eher Übernatürliches. Daher ist sowohl zu untersuchen, was jedes der beiden ist, als auch, ob der Zufall und das Spontane dasselbe sind oder Verschiedenes, und wie sie unter die (oben) bestimmt unterschiedenen (Arten von) Ursachen fallen. Erstens ist es also, da wir ja die einen Dinge immer auf dieselbe Weise entstehen (geschehen) sehen, die anderen in der Regel, offensichtlich, daß für keines von diesen beiden der Zufall oder das aus Zufall (Entstehende) als Ursache genannt wird, weder für das aus Notwendigkeit und immer noch für das in der Regel (Entstehende). Doch da es ja Dinge gibt, die auch entgegen diesen (beiden Gesetzmäßigkeiten) entstehen, und von diesen Dingen alle behaupten, sie seien aus Zufall, ist es offensichtlich, daß der Zufall und das Spontane etwas (Reales) sind; wir wissen nämlich, daß sowohl die so beschaffenen Dinge aus Zufall als auch die aus Zufall (entstehenden Dinge) so beschaffen sind. Von den entstehenden Dingen entstehen die einen um eines (Zwekkes) willen, die anderen nicht - von diesen (ersteren) die einen gemäß einer Absicht, die anderen nicht gemäß einer Absicht; beide (befinden sich) aber unter den um eines (Zweckes) willen (entstehenden Dingen) -, so daß klar ist, daß es auch unter den entgegen dem Notwendigen und dem ‚In der Regel‘ (entstehenden Dingen) einige gibt, in bezug auf die das ‚Um eines (Zweckes) willen‘ vorliegen kann. Um eines (Zweckes) willen ist aber sowohl alles, was von einem Verstand, als auch alles, was von einer Natur vollbracht werden könnte. Sooft nun die derartigen Dinge akzidentell entstehen, behaupten wir, sie seien aus Zufall. - Gerade wie nämlich auch etwas Seiendes teils an sich, teils akzidentell ist, so kann auch eine Ursache (Ursache) sein, wie z. B. für ein Haus zwar an © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 107 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität sich das Baukundige Ursache ist, akzidentell aber das Blasse oder das Gebildete. Das an sich Verursachende ist also (eindeutig) bestimmt (abgegrenzt), das akzidentell (Verursachende) dagegen unbestimmt (nicht abgegrenzt), denn unbegrenzt viele (Bestimmungen) könnten dem einen (Verursachenden zusätzlich) zukommen. - Genau also wie gesagt: Sooft unter den um eines (Zweckes) willen entstehenden Dingen dies entsteht (geschieht), dann sagt man, (es entstehe) ‚aus Spontaneität‘ und ‚aus Zufall‘ - deren gegenseitiger Unterschied zueinander ist später zu bestimmen; für jetzt möge dies offensichtlich sein, daß sich beide unter den um eines (Zweckes) willen entstehenden Dingen befinden -. So z. B.: (Jemand) wäre um des Zurückerhaltens seines Geldes willen (auf den Marktplatz) gekommen, als (sein Schuldner selbst dort gerade) den Beitrag eintrieb, wenn er (denn letzteres) gewußt hätte; er kam aber nicht um dessentwillen, sondern es ergab sich akzidentell, daß er (gerade dorthin) kam und 〈 das 〉 um des Eintreibens willen 〈 Nötige 〉 machte; und dies, obwohl er weder in der Regel die [197a] Örtlichkeit zu besuchen pflegte noch aus Notwendigkeit. Das Ziel - das Eintreiben - gehört aber nicht zu den Ursachen in ihm selbst, sondern zu den absichtlichen und von einem Verstand (herrührenden Ursachen). Und so sagt man eben in diesem Fall, er sei aus Zufall (dorthin) gekommen; falls er aber in der Absicht (das Geld einzutreiben) und um dessentwillen (dorthin kam) oder immer oder in der Regel (diese Örtlichkeit) [zum Geldeintreiben] zu besuchen pflegte, (sagt man, er sei) nicht aus Zufall (dorthin gekommen). Folglich ist klar, daß der Zufall eine akzidentelle Ursache im (Bereich jener) um eines (Zweckes) willen (entstehenden Dinge) ist, die gemäß einer Absicht (entstehen). Deshalb beziehen sich Verstandestätigkeit und Zufall auf dasselbe; die Absicht (bildet sich) nämlich nicht ohne Verstandestätigkeit. Notwendig sind demnach die Ursachen unbestimmt (nicht abgegrenzt), infolge derer das aus Zufall (Entstehende) entstehen könnte. Von daher scheint auch der Zufall zum Unbestimmten (nicht Abgegrenzten) zu gehören und für einen Menschen undurchschaubar, und in gewissem Sinne könnte es den Anschein haben, nichts entstünde aus Zufall. All dies wird nämlich zu Recht gesagt, (und zwar) aus gutem Grund. In gewissem Sinne entstehen nämlich (tatsächlich) Dinge aus Zufall - sie entstehen nämlich akzidentell, und der Zufall ist als Akzidens © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 108 II. Naturphilosophie Ursache -, schlechthin dagegen (ist der Zufall Ursache) für nichts; wie z. B. für ein Haus ein Baumeister Verursacher ist, akzidentell dagegen ein Flötenspieler, und dafür, daß (jemand auf den Marktplatz) kam und sein Geld eintrieb, obwohl er nicht um dessentwillen gekommen war, (sind die möglichen akzidentellen Ursachen) der Menge nach unbestimmt (unbegrenzt): nämlich, daß er (dort) jemanden sehen wollte, daß er (jemanden gerichtlich) verfolgte, daß er (selbst gerichtlich) verfolgt wurde, daß er zuschauen wollte (usw.). Auch die Behauptung, der Zufall sei etwas Unberechenbares (paralogon), ist richtig: Die Berechnung (logos) (betrifft) nämlich entweder die immerseienden oder die in der Regel (entstehenden Dinge), aber der Zufall (erscheint) im (Bereich der) entgegen (para) diesen (Gesetzmäßigkeiten) entstehenden Dinge. Daher ist, weil die auf diese Weise (wirkenden) Ursachen unbestimmt (nicht abgegrenzt) sind, auch der Zufall unbestimmt (nicht abgegrenzt). Dennoch könnte man bei einigen (Fällen) in die Schwierigkeit geraten, ob tatsächlich das zufällig erstbeste Ursache für den Zufall werden könnte, wie z. B. für die Gesundheit entweder ein Windhauch oder die Sonnenwärme, jedoch nicht, daß man sich (die Haare) schneiden ließ; von den akzidentellen Ursachen sind nämlich die einen näher als die anderen. Ein Zufall wird ‚gut‘ (glücklich) genannt, sooft etwas Gutes, ‚schlecht‘ (unglücklich) dagegen, sooft etwas Schlechtes dabei herauskommt, ‚Glücksfall‘ und ‚Unglücksfall‘ aber, wenn diese Dinge eine (bedeutende) Größe haben. Auch (nur) beinahe ein großes Übel oder Gut zu empfangen, heißt deshalb (schon) ‚Glück haben‘ bzw. ‚Unglück haben‘, weil der Verstand es wie etwas (tatsächlich) Vorhandenes anspricht; das beinahe (Eingetretene) scheint nämlich gewissermaßen gar nicht mehr entfernt zu sein. Ferner (heißt) der Glücksfall (das Glück) aus gutem Grund etwas Unbeständiges, der Zufall ist nämlich (selbst) unbeständig; keines der aus Zufall (bestehenden Dinge) kann nämlich immer oder in der Regel sein. Demnach sind beide - sowohl der Zufall als auch das Spontane - ganz so wie gesagt akzidentelle Ursachen im (Bereich jener) Dinge, die fähig sind, nicht schlechthin und auch nicht in der Regel zu entstehen, und von diesen (wiederum) für alle, die um eines (Zweckes) willen entstehen könnten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 109 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität Sie unterscheiden sich aber (darin), daß das Spontane der weitere (Begriff ) ist, denn zwar ist alles aus Zufall (Entstehende zugleich) aus Spontaneität, aber letzteres nicht alles [197b] aus Zufall. Der Zufall und das aus Zufall (Entstehende) wird nämlich allen (Wesen) zuteil, denen auch das Glückhaben zukommen könnte und überhaupt die Handlung. Deshalb bezieht sich der Zufall auch notwendig auf die durch Handlungen erreichbaren Dinge - ein Zeichen (dafür) ist, daß der Glücksfall (das Glück) entweder dasselbe zu sein scheint wie die Glückseligkeit oder (ihr doch) wenigstens nahe; die Glückseligkeit aber ist eine Art Handlung, nämlich ein Rechthandeln -, so daß es allen (Wesen), denen es nicht möglich ist, zu handeln, auch nicht (möglich ist), etwas aus Zufall zu machen. Und deswegen macht weder etwas Unbelebtes noch ein Tier noch ein Kleinkind irgend etwas aus Zufall, weil es keine Absicht hat; weder Glücksfall noch Unglücksfall kommt diesen zu, außer einer Ähnlichkeit nach (gleichnishaft), wie etwa Protarchos behauptet hat, glücklich seien die Steine, aus denen die Altäre (bestehen), weil sie geehrt, ihre Artgenossen aber niedergetreten würden. Aus Zufall aber etwas zu erleiden wird in gewissem Sinne auch diesen (Wesen) zukommen, sobald der Handelnde irgend etwas in bezug auf sie aus Zufall tut; anders ist es aber nicht möglich. Das Spontane dagegen (kommt) auch den anderen Lebewesen und vielen von den unbelebten Dingen (zu), wie wir z. B. sagen: „Das Pferd ist spontan gekommen“, insofern es zwar durch sein Kommen (aus der Schlacht zurück zu den eigenen Linien o. ä.) gerettet wurde, aber nicht um des Gerettetwerdens willen kam; und (ebenso: ) „Der Dreifuß ist spontan (gerade auf seine Füße) gefallen“, denn er stand zwar um des Daraufsitzens willen da, er fiel jedoch nicht um des Daraufsitzens willen (gerade auf seine Füße). Daher ist offensichtlich, daß wir im (Bereich der) schlechthin um eines (Zweckes) willen entstehenden Dinge immer dann, wenn etwas, dessen Ursache außerhalb (seiner selbst liegt), nicht um des (tatsächlichen) Ergebnisses willen entsteht, (dies) ‚aus Spontaneität‘ nennen; ‚aus Zufall‘ aber (nennen wir wiederum) von diesen Dingen alle (diejenigen) beabsichtigbaren Dinge, die aus Spontaneität für der Absicht fähige (Wesen) entstehen. Ein Zeichen (dafür ist der Ausdruck) ‚vergeblich‘, weil er gebraucht wird, sooft für das um eines anderen willen (Seiende) jenes (andere) nicht © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 110 II. Naturphilosophie entsteht, um dessentwillen (es ist) - so z. B., wenn das Spazierengehen um der Lockerung (einer Verstopfung) willen ist (stattfindet), wenn (letztere) aber bei jemandem, der spazierengegangen ist, nicht entsteht, so behaupten wir, er sei vergeblich spazierengegangen, und der Spaziergang war vergeblich -, (was zu der Annahme führt), daß (eben) dies das Vergebliche ist: das von Natur um eines anderen willen Beschaffene, sooft es jenes nicht zu Ende bringt, um dessentwillen es war und von Natur beschaffen war; denn falls jemand behaupten würde, er habe sich vergeblich gewaschen, weil sich die Sonne nicht verfinstert habe, wäre er lächerlich: Dieses (Waschen) fand ja nicht um dessentwillen statt. So (liegt) offenbar das Spontane (automaton) schon seinem Namen nach immer dann (vor), wenn etwas (in bezug auf sich) selbst vergeblich (auto matên) entsteht; (so z. B.: ) Der Stein fiel ja nicht um des Treffens willen herab, folglich fiel der Stein aus Spontaneität herab, insofern er ja auch von jemandem (angestoßen) und um des Treffens willen hätte fallen können. Am deutlichsten ist (das Spontane) von dem aus Zufall (Entstehenden) im (Bereich der) von Natur aus entstehenden Dinge getrennt; sooft nämlich etwas naturwidrig entsteht, dann behaupten wir nicht, es sei aus Zufall, sondern vielmehr, es sei aus Spontaneität entstanden. Aber auch dies ist (eigentlich von der Spontaneität) verschieden: Die Ursache des einen (des Spontanen) ist nämlich außerhalb, die des anderen (des Naturwidrigen) innerhalb (seiner selbst). [198a] Was also das Spontane und was der Zufall ist, ist (hiermit) gesagt, und worin sie sich voneinander unterscheiden. Nach den (Auffassungs-)Weisen der Ursache aber (befindet sich) jedes von ihnen beiden unter denjenigen Dingen, woher das Prinzip (der Ursprung) der Bewegung (rührt); es ist nämlich immer entweder eine der von Natur aus oder eine der von einem Verstand her (wirkenden) Ursachen, deren Menge ist jedoch unbestimmt (nicht abgegrenzt). Da aber das Spontane und der Zufall Ursachen (von Dingen) sind, für die (auch) entweder Vernunft oder Natur Verursacher werden könnte, wenn etwas von diesen (Vernunft und Natur) akzidentell zur Ursache für sie wird, nichts Akzidentelles aber früher (ursprünglicher) ist als die an sich (seienden Dinge), so ist klar, daß auch die akzidentelle Ursache nicht früher (ursprünglicher) ist als die (Ursache) an sich. Folglich sind das Spontane und der Zufall später (nachgeordneter) als Vernunft und Natur; daher sind, wenn das Spontane auch noch so sehr Ursache für das Himmelsgebäude wäre, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 111 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität (doch) notwendig noch früher (ursprünglicher) Vernunft und Natur Ursache sowohl für viele andere Dinge als auch für dieses gegenwärtige All. Daß es Ursachen gibt und daß sie ihrer Zahl nach so viele sind, wie wir behaupten, ist klar: so vieles umfaßt nämlich das Warum der Zahl nach; denn entweder wird das Warum letztlich auf das ‚Was es ist‘ zurückgeführt, (nämlich) im (Bereich der) unbewegten Dinge - wie z. B. in der Mathematik, (dort) wird es nämlich letztlich auf eine Definition des Geraden oder Kommensurablen oder eines anderen (Begriffes) zurückgeführt -, oder auf das erste in Bewegung Versetzende - wie z. B. (auf die Frage: ) „Warum zogen sie in den Krieg? “ (die Antwort lautet: ) „Weil (ihre Gegner ihnen eine Stadt) weggenommen hatten“ -, oder (es ist das) Worumwillen - (so z. B. bei der Alternativantwort: ) „Damit sie herrschten“ -, oder im (Bereich der) entstehenden Dinge der Stoff. Daß also die Ursachen diese und so viele sind, ist offensichtlich; da aber die Ursachen vier sind, (ist es Aufgabe) des Naturforschers, über alle Bescheid zu wissen, und er wird das Warum auf natürliche Weise darlegen, indem er (seine Untersuchungsgegenstände) auf sie alle zurückführt: auf den Stoff, die Form, das in Bewegung Versetzende, das Worumwillen. Die drei (letzteren) kommen vielfach in [das] eines zusammen; das ‚Was es ist‘ und das Worumwillen sind nämlich eines, dasjenige aber, woher die Bewegung zuerst (rührt), ist der Art nach dasselbe wie diese: Ein Mensch erzeugt nämlich einen Menschen, und (so verhält es sich) überhaupt bei allen Dingen, die (etwas) bewegen, indem sie sich bewegen. - Dagegen (gehören) alle Dinge, bei denen (dies) nicht (der Fall ist), nicht mehr zur Naturforschung: Sie bewegen nämlich nicht, indem sie in sich selbst Bewegung oder auch ein Bewegungsprinzip besitzen, sondern obwohl sie (selbst) unbewegt sind; deshalb gibt es drei (verschiedene) Abhandlungen, die eine über unbewegte Dinge, die andere über sich zwar bewegende, aber unvergängliche Dinge, die (dritte) aber über die vergänglichen Dinge. - Daher wird das Warum dargelegt, indem man es sowohl auf den Stoff zurückführt als auch auf das ‚Was es ist‘ und auf das erste in Bewegung Versetzende. In bezug auf eine Entstehung untersucht man die Ursachen nämlich meistens auf diese Weise, (daß man fragt: ) „Was geschieht nach © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 112 II. Naturphilosophie was? “, „Was hat als erstes etwas bewirkt oder erlitten? “, und so immer das Nächstfolgende. Die auf natürliche Weise bewegenden Prinzipien sind von zweierlei Art, von denen das eine nicht (auch seinerseits wieder) natürlich ist; es [198b] besitzt nämlich kein Bewegungsprinzip in sich selbst. Etwas Derartiges liegt vor, wenn irgend etwas bewegt, ohne sich zu bewegen, wie etwa sowohl das auf jede Weise Unbewegte und [das] erste aller Dinge als auch das ‚Was es ist‘ und die Gestalt (einer Sache); (letztere sind) nämlich Ziel und Worumwillen (dieser Sache). Daher muß man, weil die Natur um eines (Zweckes) willen ist, auch über diese (Art von Ursache) Bescheid wissen, und das Warum ist auf jede Weise darzulegen, wie z. B., daß aus diesem notwendig dieses (entsteht) - das ‚aus diesem‘ (gilt dabei) aber entweder schlechthin oder in der Regel -, und, wenn (jenes sein) soll, dieses sein werde - gerade wie aus den Prämissen die Konklusion (folgt) -, und daß dieses (oder jenes) das ‚Was es hieß (dies) zu sein‘ (einer bestimmten Sache) war, und etwas deshalb (soundso beschaffen sei), weil es so besser sei - nicht schlechthin (besser), sondern mit Rücksicht auf die Substanz jedes einzelnen -. Zu besprechen ist nun erstens, warum die Natur zu den um eines (Zwekkes) willen (wirkenden) Ursachen gehört, zweitens in bezug auf das Notwendige, wie es sich bei den natürlichen Dingen verhält. Auf diese Ursache führen nämlich alle (Philosophen Dinge) zurück, (indem sie sagen,) da das Warme ja von Natur soundso beschaffen sei und (entsprechend) das Kalte und eben eine jede der derartigen (Naturkräfte), so sei und entstehe (bzw. geschehe) dieses (und jenes) ,aus Notwendigkeit‘; denn auch wenn sie eine andere Ursache erwähnen, berühren sie (diese nur) und verabschieden (sie dann wieder): der eine die Freundschaft und den Streit, der andere die Vernunft. Es hat aber seine Schwierigkeit, was die Natur (eigentlich) daran hindert, etwas nicht um eines (Zweckes) willen zu machen und auch nicht, weil es besser ist, sondern gerade so wie Zeus es nicht regnen läßt, damit er das Getreide wachsen lasse, sondern aus Notwendigkeit - das aufgestiegene (verdampfte Wasser) muß ja abkühlen und das abgekühlte, weil es zu Wasser geworden ist, (wieder) herunterkommen; daß aber das Getreide wächst, wenn dies geschehen ist, ergibt sich eben -; doch auch wenn jemandem das Getreide auf der Tenne verdirbt, regnet es gleichermaßen nicht um dessentwillen, damit es verderbe, sondern (auch) dies © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 113 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität hat sich eben ergeben. Was hindert daher, daß sich auch die Teile in der Natur auf diese Weise verhalten, wie z. B., daß die Zähne aus Notwendigkeit hervorgekommen wären - die vorderen scharf, passend zum Zerteilen, die Backenzähne dagegen breit und brauchbar zum Zermahlen der Nahrung -, da sie (dann ja eben) nicht um dessentwillen entstanden wären, sondern (weil) es sich (eben so) zugetragen hätte? Gleichermaßen (kann man) aber auch in bezug auf alle anderen Teile (fragen), bei denen das ‚Um eines (Zweckes) willen‘ vorhanden zu sein scheint. (Der Einwand lautet also: ) Wo immer sich demnach alles zusammen eben gerade so ergeben hatte, als ob es um eines (Zweckes) willen entstanden wäre, diese (Wesen) blieben am Leben, weil sie sich aus Spontaneität in passender Weise gebildet hatten; alle dagegen, die nicht auf diese Weise (entstanden waren), gingen und gehen zugrunde, ganz so wie Empedokles von den „Rindergeschlechtlichen mit Menschenbug“ sagt. Das Argument, durch das man in Schwierigkeiten geraten könnte, wäre also dieses, und falls es (noch) irgendein anderes derartiges gibt; es ist aber unmöglich, daß es sich auf diese Weise verhält. Diese und alle von Natur aus (gebildeten) Dinge entstehen nämlich entweder immer oder in der Regel so, (wie sie eben entstehen,) von den aus Zufall und Spontaneität (gebildeten) dagegen keines. Nicht [199a] aus Zufall noch auch aus bloßem Zusammentreffen scheint es ja im Winter häufig zu regnen, jedoch dann, wenn (dies) an den Hundstagen (geschieht); noch (erscheint) Sommerhitze an den Hundstagen (zufällig), jedoch dann, wenn (sie) im Winter (vorkommt). Wenn Dinge also entweder aus bloßem Zusammentreffen oder um eines (Zweckes) willen zu sein scheinen (und) wenn diese Dinge weder aus bloßem Zusammentreffen noch aus Spontaneität sein können, dann dürften sie wohl um eines (Zweckes) willen sein. Nun sind aber die so beschaffenen Dinge alle von Natur aus, wie auch sie selbst zugeben dürften, die diese (Einwände) vorbringen. Folglich gibt es das ‚Um eines (Zweckes) willen‘ in den von Natur aus entstehenden und seienden Dingen. Ferner wird bei allen (Tätigkeiten), bei denen es eine Art Ziel gibt, um dessentwillen das Vorhergehende und (darauf der Reihe nach jeweils) das Nächstfolgende getan. Somit ist es von Natur so beschaffen, wie es getan wird, und wie es von Natur beschaffen ist, so wird ein jedes getan, falls nicht irgend etwas dazwischenkommt. Getan wird es aber um eines (Zweckes) willen; folglich ist es auch von Natur um eines (Zweckes) wil- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 114 II. Naturphilosophie len beschaffen. Wenn so z. B. ein Haus zu den von Natur aus entstehenden Dingen gehören würde, entstünde es ebenso, wie (es) jetzt durch die Kunst (entsteht); und wenn die von Natur aus (entstehenden Dinge) nicht allein von Natur aus, sondern auch durch Kunst entstünden, so entstünden sie gerade ebenso, wie sie von Natur beschaffen sind. Folglich ist (in der Natur genau wie in der Kunst) das eine um des anderen willen. Überhaupt vollendet die Kunst ja teils, was die Natur nicht (völlig) auszuarbeiten vermag, teils ahmt sie (die Natur) nach. Wenn also die kunstgemäßen Dinge um eines (Zweckes) willen sind, so ist klar, daß auch die naturgemäßen Dinge (um eines Zweckes willen sind); die späteren (Arbeitsschritte) verhalten sich nämlich zu den früheren bei den kunstgemäßen und bei den naturgemäßen Dingen gleichermaßen zueinander. Im höchsten Grade offensichtlich (wird dies) bei den anderen Lebewesen (neben dem Menschen), welche ohne Kunst und ohne nachgeforscht oder beratschlagt zu haben etwas herstellen; weshalb manche (Denker) die Schwierigkeit aufwerfen, ob die Spinnen, die Ameisen und die derartigen (Tiere) mit Vernunft oder mit irgend etwas anderem (ihr Werk) schaffen. Indem man in kleinen Schritten in diesem Sinne (argumentativ) fortschreitet, zeigt es sich, daß sogar bei den Pflanzen die nützlichen Dinge mit Rücksicht auf das Ziel entstehen, wie z. B. die Blätter um der Bedeckung der Frucht willen. Wenn daher sowohl von Natur aus als auch um eines (Zweckes) willen die Schwalbe ihr Nest und die Spinne ihr Netz baut, und die Pflanzen ihr Laub um der Früchte willen sowie ihre Wurzeln nicht aufwärts, sondern abwärts um der Nahrung (willen treiben), so ist offensichtlich, daß es die derartige Ursache in den von Natur aus entstehenden und seienden Dingen (tatsächlich) gibt. Und da die Natur zwiefältig ist, die eine als Stoff, die andere als Gestalt, letztere aber ein Ziel ist, um des Zieles willen aber alles andere ist, dürfte die Ursache (im Sinne des) Worumwillen letztere sein. Fehler entstehen ja sogar bei den kunstgemäßen Dingen - der Schreibkundige hat ja schon unrichtig geschrieben und der Arzt das Heilmittel [unrichtig] (falsch) verabreicht -, so daß es klarerweise auch bei den naturgemäßen Dingen [199b] möglich ist. Wenn es nun einige kunstgemäße Dinge gibt, bei denen das richtig (Ausgeführte) um eines (Zweckes) willen ist, dagegen bei den fehlerhaft (ausgeführten) zwar um irgendeines (Zweckes) willen begonnen, (dieser) jedoch verfehlt wird, so dürfte es sich auch bei den natürlichen Dingen gleichermaßen verhalten, und die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 115 1.2 Vier-Ursachen-Lehre, Zufall und Spontaneität Mißgeburten sind Verfehlungen jenes ‚Um eines (Zweckes) willen‘. Auch bei den ursprünglichen Zusammensetzungen wären folglich die ‚Rindergeschlechtlichen‘, wenn sie nicht zu einer Art Abgrenzung und Ziel zu kommen vermochten, wegen der Verderbnis irgendeines Prinzips entstanden, gerade wie heutzutage (Mißgeburten in Folge eines Verderbnisses) des Samens. Ferner ist notwendig zuerst ein Same entstanden und nicht direkt die Lebewesen; auch das „zuerst Ganzgewachsene“ war ein Same. Ferner wohnt auch den Pflanzen das ‚Um eines (Zweckes) willen‘ inne, aber weniger deutlich gegliedert; ob also wohl auch bei den Pflanzen, gerade wie (bei den Tieren) die „Rindergeschlechtlichen mit Menschenbug“, so auch ‚Weinstockgeschlechtliche mit Ölbaumbug‘ entstanden, oder nicht? (Das wäre) ja absurd; gleichwohl müßte es wohl (so gewesen sein), wenn es tatsächlich auch bei den Lebewesen (so gewesen wäre). Ferner müßte (dann) auch bei der (Fortpflanzung durch) Samen entstehen, was immer sich gerade zufällig traf; aber wer so spricht, hebt sowohl die von Natur aus (seienden Dinge) als auch die Natur (selbst) gänzlich auf. Von Natur aus sind nämlich alle Dinge, die von einer Art in ihnen selbst (enthaltenem) Prinzip in zusammenhängender Bewegung zu einer Art Ziel gelangen; durch jedes (Prinzip entsteht) aber nicht in allen (Fällen) dasselbe und auch nicht das zufällig erstbeste, indessen (erfolgt die Bewegung) immer in Richtung auf dasselbe, falls nicht irgend etwas dazwischenkommt. Das Worumwillen aber und das, was um dessentwillen ist, könnte auch aus Zufall entstehen, wie wir z. B. sagen, daß der Gastfreund aus Zufall gekommen und, nachdem er das Lösegeld (für seinen gefangenen Freund) gezahlt hatte, (wieder) weggegangen sei, sobald er so handelte, als ob er um dessentwillen gekommen wäre, (tatsächlich) aber nicht um dessentwillen gekommen war. Und dies (entsteht) akzidentell - der Zufall gehört nämlich zu den akzidentellen Ursachen, ganz so wie wir schon zuvor gesagt haben -, sobald dies jedoch immer oder in der Regel entsteht, ist es kein Akzidens und auch nicht aus Zufall; bei den natürlichen Dingen aber (verhält es sich) immer so, falls nicht irgend etwas dazwischenkommt. Absurd ist es aber, nicht zu glauben, daß etwas um eines (Zweckes) willen entsteht, wenn man nicht das Bewegende beim Beratschlagen (über diesen Zweck) gesehen hat. (Denn) freilich beratschlagt auch die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 116 II. Naturphilosophie Kunst nicht, und wenn die Schiffsbaukunst dem Holz innewohnen würde, ginge sie gleichermaßen zu Werke wie die Natur; wenn daher das ‚Um eines (Zweckes) willen‘ der Kunst innewohnt, dann auch der Natur. Im höchsten Grade klar wird (dies), sooft jemand sich selbst ärztlich behandelt: Diesem nämlich gleicht die Natur. Daß die Natur demnach eine Ursache ist, und zwar in dem Sinne wie um eines (Zweckes) willen, ist (damit) offensichtlich. (Phys. II 3-8) 1.3 Bewegung und Wandel [200b12] Da die Natur ein Prinzip von Bewegung und Wandel ist, unsere Untersuchungsweise sich aber auf die Natur bezieht, darf nicht verborgen bleiben, was Bewegung ist; wenn man sie nicht kennt, kennt man nämlich notwendig auch die Natur nicht. Sobald wir aber Bestimmungen in bezug auf die Bewegung getroffen haben, ist zu versuchen, auf dieselbe Weise in bezug auf die nächstfolgenden (Themen) vorzugehen. Die Bewegung scheint ja zu den zusammenhängenden (kontinuierlichen) Dingen zu gehören, am Zusammenhängenden aber zeigt sich zuerst das Unbegrenzte (Unendliche) - deshalb widerfährt es auch denen, die das Zusammenhängende definieren, (daß sie dazu) vielfach den Begriff des Unbegrenzten zu Hilfe nehmen, (in der Annahme,) das ins Unbegrenzte Teilbare sei zusammenhängend -. Außerdem (denkt man,) Bewegung sei ohne Ort, Leere und Zeit unmöglich. Also ist klar, daß man sowohl aus diesen (Gründen) als auch deshalb, weil diese (Begriffe) allen (natürlichen Dingen) gemeinsam und allgemein sind, jeden einzelnen von diesen zur Hand nehmen und untersuchen muß - die Betrachtung der Eigentümlichkeiten ist ja später (nachgeordneter) als die der Gemeinsamkeiten -; und zwar zuerst, ganz so wie wir gesagt haben, die Bewegung. Nun ist [etwas] das eine allein der Wirklichkeit nach, das andere dem Vermögen und der Wirklichkeit nach, (und zwar) teils als ein Dieses (bestimmtes Etwas), teils als ein Sovieles (quantitativ Bestimmtes), teils als ein Sobeschaffenes (qualitativ Bestimmtes), und gleichermaßen (als etwas) in den anderen Kategorien des Seienden. Von dem ‚In bezug auf etwas‘ (Relativen) wird das eine hinsichtlich Übertreffen und hinsichtlich Zurückbleiben gesagt, das andere hinsichtlich des Bewirkenden und Erleidenden (Aktiven und Passiven), und überhaupt sowohl (hinsicht- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 117 1.3 Bewegung und Wandel lich) des zum Bewegen Fähigen als auch des Beweglichen; das zum Bewegen Fähige ist ja zum Bewegen des Beweglichen fähig, und das Bewegliche ist von dem zum Bewegen Fähigen beweglich. Es gibt aber keine Bewegung außerhalb der Gegenstände. Das sich Wandelnde wandelt sich nämlich immer entweder hinsichtlich seiner Substanz oder hinsichtlich des Wieviel oder hinsichtlich des Wiebeschaffen oder hinsichtlich des Ortes; etwas Gemeinsames aber über diesen kann man nicht erfassen, wie wir behaupten, welches weder ein Dieses noch ein Wie[201a]viel noch ein Wiebeschaffen noch irgendeines der anderen Kategoreme wäre; daher wird es auch keine Bewegung und keinen Wandel von irgend etwas außerhalb der genannten Dinge geben, weil es ja nichts außerhalb der genannten Dinge gibt. Ein jedes (Kategorem) kommt aber allem in zweierlei Sinne zu, wie z. B. das Dieses - das eine davon ist nämlich Gestalt, das andere Beraubung (von einer Bestimmtheit, Privation) -, und hinsichtlich des Wiebeschaffen ist ja das eine blaß, das andere dunkel, und hinsichtlich des Wieviel das eine vollständig, das andere unvollständig. Gleichermaßen ist auch hinsichtlich der Fortbewegung (Ortsbewegung) das eine oben, das andere unten oder das eine leicht, das andere schwer. Daher gibt es von Bewegung und Wandel ebenso viele Arten wie von dem Seienden. Weil hinsichtlich jeder Gattung einerseits das der Wirklichkeit nach, andererseits das dem Vermögen nach (Seiende) bestimmt unterschieden wird, ist die Wirklichkeit des dem Vermögen nach Seienden, insofern es ein solches ist, Bewegung, wie z. B. von dem qualitativ Veränderbaren, insofern es qualitativ veränderbar ist, eine qualitative Veränderung, von dem zum Vergrößern und dem entgegengesetzten zum Abnehmen Fähigen - es gibt ja keinen gemeinsamen Namen für beides - Vergrößerung und Abnahme, von dem zum Entstehen und Vergehen Fähigen Entstehung und Vergehen, von dem Fortbeweglichen Fortbewegung. Daß die Bewegung dies ist, wird aus folgendem klar. Sooft nämlich das Erbaubare, insofern wir sagen, es sei ein solches, der Wirklichkeit nach ist, wird es erbaut, und dieser (Vorgang) ist eine Erbauung; gleichermaßen (verhält es sich) auch (mit) Erlernung, Heilung, Umwälzung, Springung, Reifung und Alterung. Da aber einige Dinge dasselbe sowohl dem Vermögen als auch der Wirklichkeit nach sind - aber nicht zugleich oder in derselben Hinsicht, sondern z. B. zwar der Wirklichkeit nach warm, aber dem Vermögen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. 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Also ist die 〈 Wirklichkeit 〉 des dem Vermögen nach Seienden, sooft es, indem es (eben schon) der Wirklichkeit nach ist, wirksam ist - nicht insofern es es selbst ist, sondern insofern es beweglich ist -, (die) Bewegung. Ich meine das ‚insofern‘ folgendermaßen. Das Erz ist ja dem Vermögen nach ein Standbild, aber dennoch ist die Wirklichkeit des Erzes, insofern es Erz ist, keine Bewegung; es ist ja nicht dasselbe, aus Erz zu sein und dem Vermögen nach aus etwas [Beweglichem] zu sein, denn (nur) wenn es schlechthin und dem Begriff nach dasselbe wäre, wäre die Wirklichkeit des Erzes, insofern es Erz ist, Bewegung; es ist aber, wie gesagt, nicht dasselbe. - Klar (wird dies) an den konträr entgegengesetzten Dingen: Das Gesundseinkönnen und das Krank[201b]seinkönnen sind ja Verschiedenes, (sonst) wären ja auch das Gesundsein und das Kranksein dasselbe, das Zugrundeliegende (Substrat) dagegen, das sowohl gesund als auch krank ist, sei es nun Feuchtigkeit oder Blut, ist dasselbe und eines. - Da es aber nicht dasselbe ist, gerade wie auch Farbe und Sichtbares nicht dasselbe sind, so ist offensichtlich, daß die Wirklichkeit des Vermögenden, insofern es vermögend ist, Bewegung ist. Daß (die Bewegung) demnach diese (Wirklichkeit) ist, und daß sich ein Sichbewegen immer (gerade) dann ergibt, wenn die Wirklichkeit diese ist, und weder früher noch später, ist klar. Jedes einzelne (Vermögende) kann nämlich bald wirksam sein, bald nicht, wie z. B. das Erbaubare, und die Wirksamkeit (Wirklichkeit) des Erbaubaren, insofern es erbaubar ist, ist eine Erbauung - die Wirksamkeit [des Erbaubaren] ist ja entweder eine Erbauung oder das Haus; sobald es jedoch ein (fertiges) Haus gibt, gibt es kein Erbaubares mehr; erbaut wird aber das Erbaubare, also ist die Wirksamkeit (des Erbaubaren) notwendig eine Erbauung -; die Erbauung ist aber eine Art Bewegung. Dasselbe Argument wird nun aber auch auf die anderen (Arten von) Bewegungen passen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 119 1.3 Bewegung und Wandel Daß (dies) gut gesagt ist, wird klar sowohl aus dem, was die anderen (Philosophen) über sie (die Bewegung) sagen, als auch daraus, daß es nicht leicht ist, sie anders zu definieren. Denn einerseits vermöchte man die Bewegung und den Wandel wohl kaum in eine andere Gattung zu setzen, (was) andererseits klar wird, wenn man untersucht, wie einige (Philosophen) sie setzen, indem sie behaupten, die Bewegung sei Verschiedenheit und Ungleichheit und das Nichtseiende: Von diesen bewegt sich keines notwendigerweise, weder wenn es verschiedene noch wenn es ungleiche noch wenn es nichtseiende Dinge sind; auch der Wandel findet ja weder in diese noch aus diesen (Gattungen) eher statt als (in die oder) aus den entgegengesetzten. Ursache (dafür, die Bewegung) in diese (Gattungen) zu setzen, ist, daß die Bewegung etwas Unbestimmtes zu sein scheint, aber die Prinzipien der anderen Spalte (der Gegensatztabelle) unbestimmt sind, weil sie beraubend (privativ) sind; keines von ihnen ist nämlich ein Dieses oder ein Sobeschaffenes, noch (gehört es zu einer) der anderen Kategorien. (Dafür) aber, daß die Bewegung unbestimmt zu sein scheint, ist Ursache, daß man sie weder zum Vermögen der seienden Dinge noch zu (deren) Wirksamkeit (Wirklichkeit) setzen kann; denn einerseits bewegt sich weder das, was ein Wievieles (quantitativ Bestimmtes) zu sein vermag, (deshalb) aus Notwendigkeit, noch das, was der Wirksamkeit nach ein Wievieles ist, andererseits scheint die Bewegung zwar eine Art Wirksamkeit zu sein, aber eine unvollendete; Ursache (davon) ist, daß (auch) das Vermögende unvollendet ist, dessen Wirksamkeit sie ist. Und gerade deswegen ist es schwer, (in bezug auf ) sie zu erfassen, was sie ist; man muß sie nämlich notwendig entweder zur Beraubung (von einer Bestimmtheit, Privation) setzen oder zum Vermögen oder zur Wirksamkeit schlechthin, davon ist jedoch offenbar keines zulässig. Somit [202a] bleibt (nur) die genannte (Erklärungs-)Weise übrig, daß sie zwar eine Art Wirksamkeit ist, aber eine solche Wirksamkeit, wie wir beschrieben haben, (welche) zwar schwer einzusehen (ist), aber (doch) sein kann. Alles in der genannten Weise Bewegende bewegt sich auch, (d. h.) das, was dem Vermögen nach beweglich ist und dessen Bewegungslosigkeit Ruhe ist - welchem nämlich die Bewegung zukommen (kann), dessen Bewegungslosigkeit ist Ruhe -. Denn das Wirksamsein auf dieses (Bewegliche), insofern es ein solches ist, ist gerade das Bewegen; dies © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 120 II. Naturphilosophie macht (das Bewegende) aber durch eine Berührung, so daß es zugleich auch (selbst eine Einwirkung) erleidet. [[Deshalb ist die Bewegung (die) Wirklichkeit des Beweglichen, insofern es beweglich ist; dies ergibt sich aber durch eine Berührung (von seiten) des zum Bewegen Fähigen, so daß (letzteres) zugleich auch (selbst eine Einwirkung) erleidet.]] Irgendeine Form wird das Bewegende immer mit sich bringen, entweder ein Dieses oder ein Sobeschaffen (qualitativ Bestimmtes) oder ein Soviel (quantitativ Bestimmtes), welche Prinzip und Ursache der Bewegung sein wird, sooft sie bewegt, wie z. B. der der Wirklichkeit nach (seiende) Mensch aus dem dem Vermögen nach seienden Menschen einen Menschen macht. Auch die (Lösung der) aufgeworfenen Schwierigkeit ist offensichtlich, daß die Bewegung (statt im Bewegenden) im Beweglichen stattfindet: Sie ist nämlich dessen Wirklichkeit [und] durch das zum Bewegen Fähige. Auch die Wirksamkeit (Wirklichkeit) des zum Bewegen Fähigen ist keine andere, (die Bewegung) muß ja eine Wirklichkeit beider sein: Denn zum Bewegen fähig ist etwas durch sein Vermögen, bewegend durch sein Wirksamsein, zum Wirksamsein fähig ist es jedoch (nur) auf das Bewegliche, so daß die Wirksamkeit beider im gleichen Sinne eine einzige ist wie das Intervall (von) 1 zu 2 und (von) 2 zu 1 dasselbe ist sowie das Ansteigende und das Abfallende; diese sind nämlich zwar (je) eines, ihr Begriff ist indessen nicht ein einziger; gleichermaßen (verhält es sich) aber auch bei dem Bewegenden und sich Bewegenden. (Dies) enthält aber eine dialektische Schwierigkeit: Vielleicht gibt es ja notwendigerweise eine Art Wirksamkeit des Bewirkenden (Aktiven) und (eine andere) des Erleidenden (Passiven); das eine wäre offenbar Aktivität, das andere Passivität, Werk und Ziel aber des einen wäre ein Erzeugnis, des anderen eine Eigenschaft. Da also beides Bewegungen sind, worin (finden sie dann statt), wenn sie denn tatsächlich verschieden sind? Denn entweder (finden) beide in dem (eine Einwirkung) Erleidenden und sich Bewegenden (statt), oder zwar die Aktivität in dem Bewirkenden, aber die Passivität in dem Erleidenden - falls man aber auch letztere als Aktivität benennen muß, ist sie wohl (lediglich) homonym -. Wenn nun aber letzteres (der Fall ist), wird die Bewegung in dem Bewegenden (stattfinden) - denn dasselbe Argument (wie für Aktives und Passives gilt) für Bewegendes und sich Bewegendes -, so daß sich entwe- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 121 1.3 Bewegung und Wandel der alles Bewegende (zugleich) bewegen wird oder es sich nicht bewegen wird, obwohl es Bewegung hat. Wenn dagegen beide in dem sich Bewegenden und (eine Einwirkung) Erleidenden (stattfinden), sowohl die Aktivität als auch die Passivität, und (so z. B.) sowohl die Unterrichtung als auch die Erlernung, obwohl sie zweierlei sind, in dem Lernenden (stattfinden), so wird erstens die Wirksamkeit jedes einzelnen nicht in (diesem) einzelnen vorhanden sein, und zweitens ist es absurd, daß zwei Bewegungen zugleich ablaufen sollten; denn welche zwei qualitativen Änderungen wird es von einem einzigen Ding und zu einer einzigen Form (zugleich) geben? Nein, das ist unmöglich. Doch (nehmen wir an,) die Wirksamkeit wird eine einzige sein. Es ist jedoch [202b] widersinnig, daß es von zwei der Art nach verschiedenen Dingen dieselbe und eine Wirksamkeit geben (soll); und wenn die Unterrichtung und die Erlernung tatsächlich dasselbe wären sowie (ebenso) die Aktivität und die Passivität, so wird auch das Unterrichten dasselbe sein wie das Lernen sowie das Bewirken wie das Erleiden (einer Einwirkung), so daß der Unterrichtende notwendig (zugleich) alles erlernen und der Bewirkende (die Einwirkung selbst) erleiden wird. Oder (ist es nicht doch eher) weder absurd, daß die Wirksamkeit eines Dings in etwas (von diesem) Verschiedenem stattfindet - die Unterrichtung ist ja eine Wirksamkeit des zum Unterrichten Geschickten, indessen findet sie in etwas (anderem) statt, und sie ist nicht abgeschnitten, sondern (eine Wirksamkeit) von diesem in diesem -; noch hindert etwas, daß eine einzige (Wirksamkeit) von zwei Dingen dieselbe ist - nicht im Sinne von dem Sein nach dasselbe, sondern so wie das dem Vermögen nach Seiende im Verhältnis zum Wirksamen vorhanden ist -; noch erlernt der Unterrichtende notwendig (zugleich), auch dann nicht, wenn das Bewirken und das Erleiden dasselbe sind, indessen nicht unter der Voraussetzung, daß die 〈 das 〉 ‚Was es hieß (dies) zu sein‘ ausdrückende Definitionsformel eins ist - so wie z. B. (bei) ‚Kleid‘ und ‚Gewand‘ -, sondern (wenn sie so identisch sind) wie der Weg von Theben nach Athen und der von Athen nach Theben, gerade wie schon zuvor gesagt? ! Denn den Dingen, die in irgendeinem Sinne dieselben sind, kommt nicht alles dasselbe zu, sondern allein denjenigen, deren Sein dasselbe ist. Indessen ist nicht einmal dann, wenn die Unterrichtung dasselbe wie die Erlernung ist, auch das Erlernen (deshalb dasselbe) wie das Unterrichten, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 122 II. Naturphilosophie gerade wie nicht einmal dann, wenn die Entfernung (zweier) voneinander entfernter Dinge eine einzige ist, auch das Entferntsein von hier dorthin und von dort hierher ein und dasselbe ist. Kurz gesagt: Auch die Unterrichtung ist nicht im eigentlichen Sinne dasselbe wie die Erlernung noch auch die Aktivität wie die Passivität, sondern (nur) dasjenige, dem diese zukommen, (ist jeweils dasselbe, nämlich) die Bewegung; denn eine Wirksamkeit von diesem in diesem und von diesem durch dieses zu sein, ist dem Begriff nach verschieden. Was demnach Bewegung ist, ist (damit) gesagt, sowohl im Allgemeinen als auch im Einzelnen; es ist nämlich kein Geheimnis, wie jede einzelne ihrer Arten definiert werden wird: Denn (z. B.) ist qualitative Veränderung die Wirklichkeit des qualitativ Veränderbaren, insofern es qualitativ veränderbar ist. [[(Um es) aber noch verständlicher (zu formulieren): (Qualitative Veränderung) ist die (Wirklichkeit) des dem Vermögen nach Bewirkenden und Erleidenden, insofern es ein solches ist, sowohl schlechthin als auch wiederum einzeln, sei es (z. B.) Erbauung oder Heilung.]] Auf dieselbe Weise wird aber auch über jede einzelne der anderen (Arten von) Bewegungen gesprochen werden. (Phys. III 1-3) 1.4 Entstehung und qualitative Veränderung [319b6] In bezug auf Entstehung und qualitative Veränderung wollen wir sagen, worin sie sich unterscheiden: Wir behaupten ja, daß diese (Arten von) Wandlungen voneinander verschieden sind. Nachdem also einmal irgend etwas das Zugrundeliegende (Substrat) ist und etwas anderes die Eigenschaft, in deren Natur es liegt, über das Zugrundeliegende ausgesagt zu werden, und es einen Wandel von jedem dieser beiden gibt, so ist (dieser Wandel) eine qualitative Veränderung, sooft sich, während das Zugrundeliegende, das sinnlich wahrnehmbar ist, bestehenbleibt, (etwas) in den Eigenschaften desselben wandelt, ob sie (nun) konträr entgegengesetzt sind oder dazwischen(stehen) - wie z. B. der Körper gesund und ein andermal krank ist, während er doch als dasselbe bestehenbleibt, und das Erz (bald) rund, bald eckig ist, während es doch dasselbe ist -. Sooft sich dagegen ein Ganzes wandelt, ohne daß irgend etwas Wahrnehmbares als dasselbe Zugrundeliegende bestehenbleibt, sondern so wie z. B. aus dem ganzen männlichen Samen Blut oder aus Wasser Luft oder aus der ganzen Luft Wasser wird, erst dann ist das so Beschaf- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 123 1.4 Entstehung und qualitative Veränderung fene eine Entstehung, aber (zugleich) ein Vergehen des anderen, (aus dem es entsteht,) in erster Linie aber dann, wenn der Wandel aus etwas - entweder für den Tastsinn oder für alle Sinne - Nichtwahrnehmbarem zu etwas Wahrnehmbarem geschieht, wie z. B., sooft Wasser (aus Luft) entsteht oder in Luft vergeht: Die Luft ist ja etwas so ziemlich Nichtwahrnehmbares. Wenn in diesen (Fällen) irgendeine Eigenschaft, (welche die eine Seite) eines konträren Gegensatzes (bildet,) in dem Entstandenen als dasselbe wie dem Vergangenen bestehenbleibt - wie z. B. falls, sooft aus Luft Wasser wird, beide durchsichtig oder 〈 naß, aber nicht 〉 kalt sind -, so darf das andere, in das sich (das Vergehende) wandelt, keine Eigenschaft dieses (identisch Bleibenden) sein; wenn aber doch, wird es eine qualitative Veränderung sein. So z. B.: Der gebildete Mensch verging, ein ungebildeter Mensch entstand, aber der Mensch bleibt als dasselbe bestehen. Wenn also die Bildung und die Unbildung nicht an sich (nur) eine Eigenschaft dieses (Menschen) wären, dann wäre es eine Entstehung des einen, aber ein Vergehen des anderen; tatsächlich ist dies aber (nur) eine Eigenschaft des Bestehenbleibenden, [[weshalb diese zwar Eigenschaften eines Menschen sind, aber Entstehung und Vergehen eines gebildeten Menschen und eines ungebildeten Menschen,]] weshalb die so beschaffenen (Fälle jeweils) eine qualitative Veränderung sind. Sooft demnach der Wandel (von einer Seite) des konträren Gegensatzes (zur anderen) hinsichtlich des Wieviel erfolgt, ist er Vergrößerung und Abnahme, sooft hinsichtlich des Ortes, ist er Fortbewegung, sooft hinsichtlich der Eigenschaft und des Wiebeschaffen, ist er qualitative Veränderung, und sooft gar [320a] nichts bestehenbleibt, von dem das (gewandelte) andere eine Eigenschaft oder überhaupt ein Akzidens wäre, ist er eine Entstehung, aber (zugleich) ein Vergehen (dessen, woraus es entsteht). Der Stoff ist zwar am meisten im eigentlichen Sinne das zur Aufnahme von Entstehung und Vergehen geeignete Zugrundeliegende (Substrat), auf gewisse Weise aber auch das den anderen (Arten von) Wandlungen (Zugrundeliegende), weil alle zugrundeliegenden Dinge für die Aufnahme von konträren Gegensätzen irgendeiner Art geeignet sind. In bezug auf Entstehung - ob es sie gibt oder nicht und in welchem Sinne es sie gibt - sowie in bezug auf qualitative Veränderung möge demnach auf diese Weise bestimmt sein. (Gen. corr. I 4) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 124 II. Naturphilosophie 1.5 Das Unbegrenzte (Unendliche) [202b30] Da die Wissenschaft von der Natur sich auf Größen, Bewegung und Zeit bezieht, von denen jedes notwendig entweder unbegrenzt (unendlich) oder begrenzt (endlich) ist - wenn auch nicht alles unbegrenzt oder begrenzt ist, wie z. B. Eigenschaft oder Punkt, denn von den derartigen Dingen befindet sich vielleicht keines notwendigerweise in einer dieser beiden (Klassen) -, so dürfte es angebracht sein, daß der sich mit Abhandlungen über die Natur Beschäftigende in bezug auf das Unbegrenzte (Unendliche) betrachtet, ob es (letzteres) gibt oder nicht und, wenn es (dasselbe) gibt, was es ist. […] [203b15] Die Überzeugung, das Unbegrenzte sei etwas (Reales), dürfte sich daraus ergeben, daß man etwa fünf Dinge ins Auge faßt: sowohl aus der Zeit - denn diese ist unbegrenzt - als auch aus der Teilung bei den Größen - denn auch die Mathematiker gebrauchen (den Begriff ) des Unbegrenzten -; ferner daraus, daß allein auf diese Weise Entstehung und Vergehen nicht aufhören, wenn es ein Unbegrenztes gibt, von dem das Entstehende weggenommen wird; ferner daraus, daß das Begrenzte immer an irgend etwas seine Grenze erreicht, so daß es notwendig keine (letzte) Grenze gibt, wenn notwendig immer eines am anderen seine Grenze erreicht. Hauptsächlich aber und im eigentlichsten Sinne (aus dem Argument), das allen (Denkern) die gemeinsame Schwierigkeit macht: Weil sie im Denken nicht aufhören, scheint sowohl die Zahl unbegrenzt zu sein als auch die mathematischen Größen als auch das außerhalb des Himmelsgebäudes (Befindliche). Wenn aber das außerhalb (Befindliche) unbegrenzt ist, scheint es auch einen unbegrenzten (Welt-)Körper zu geben und (unbegrenzt viele) Welten; wieso (sollte der Weltkörper) nämlich eher an dieser Stelle des Leeren sein als an jener? Daher (denkt man), wenn es denn irgendwo Masse gebe, dann (gebe es sie) auch überall. Zugleich aber gibt es, wenn es sowohl Leere als auch unbegrenzten Ort gibt, notwendig auch einen (unbegrenzten) Körper; denn möglich sein oder (wirklich) sein macht im (Bereich der) ewigen Dinge keinen Unterschied. Die Betrachtung über das Unbegrenzte hat aber eine Schwierigkeit an sich, denn sowohl gesetzt den Fall, es sei nicht, ergeben sich viele unmögliche (Konsequenzen), als auch (gesetzt den Fall), es sei. Ferner, in welcher von beiden Weisen ist es, als Substanz oder als ein irgend etwas © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 125 1.5 Das Unbegrenzte (Unendliche) (anderem) von Natur aus (zukommendes) wesentliches Akzidens? Oder ist es in keiner von beiden Weisen, (und) gibt es nichtsdestoweniger dennoch ein Unbegrenztes oder der Menge nach [204a] unbegrenzte Dinge? Hauptsächlich aber ist es (Aufgabe) eines Naturforschers, zu untersuchen, ob es eine wahrnehmbare unbegrenzte Größe gibt. Als erstes ist also zu bestimmen, in wievielfachem Sinne das Unbegrenzte so genannt wird. Auf eine Weise also (wird ‚unbegrenzt‘ genannt), was (vollständig) zu durchlaufen unmöglich ist, da es von Natur nicht zum Durchlaufen beschaffen ist, gerade wie die Stimme (von Natur) unsichtbar (beschaffen ist); auf andere aber das, was einen nicht zu vollendenden Durchgang hat, oder das, was (nur) mit Mühe (zu durchlaufen ist), oder das, in dessen Natur es (zwar) liegt, einen Durchgang [oder eine Grenze] zu haben, (das aber) keinen hat. Ferner ist alles Unbegrenzte entweder hinsichtlich Hinzufügung oder hinsichtlich Teilung oder auf beide Weisen (unbegrenzt). (Phys. III 4) [206a9] Daß sich aber, wenn es das Unbegrenzte schlechthin nicht gibt, viele unmögliche (Konsequenzen) ergeben, ist klar. (Dann) wird es nämlich einen Anfang und ein Ende der Zeit geben, die Größen werden nicht (ausnahmslos) in Größen teilbar sein und die Zahl wird nicht unbegrenzt sein. Sooft aber, nachdem solchermaßen (die Alternativen) bestimmt sind, auf keine von beiden Weisen (eine Lösung) möglich zu sein scheint, bedarf es eines Schiedsrichters, und es ist klar, daß (das Unbegrenzte) zwar in irgendeinem Sinne ist, in einem anderen aber (auch wieder) nicht. Nun wird ‚sein‘ teils dem Vermögen, teils der Wirklichkeit nach gesagt, und das Unbegrenzte ist teils der Hinzufügung nach, teils ist es auch der Teilung nach (unbegrenzt). Daß die Größe zwar hinsichtlich der Wirksamkeit (Wirklichkeit) nicht unbegrenzt ist, wurde (bereits) gesagt, aber der Teilung nach ist sie es - es ist nämlich nicht schwer, (die Lehre von) den unteilbaren Linien aufzuheben -; also bleibt (nur) übrig, daß das Unbegrenzte dem Vermögen nach ist. Man darf aber ‚dem Vermögen nach seiend‘ nicht so nehmen, daß gerade wie, wenn es möglich ist, daß dieses Standbild ist, dieses Standbild dann auch (wirklich einmal) sein wird, (daß also) ebenso auch ein Unbegrenztes (dem Vermögen nach ist), welches (dann auch einmal) der Wirksamkeit nach sein wird; sondern da das Sein in vielfachem Sinne (so genannt wird), ist, gerade wie der Tag © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 126 II. Naturphilosophie und der Wettkampf dadurch ist, daß immer wieder etwas anderes entsteht, auch das Unbegrenzte in diesem Sinne - auch bei diesem gibt es nämlich sowohl ‚dem Vermögen nach‘ als auch ‚der Wirksamkeit nach‘: die Olympischen Spiele sind ja sowohl dadurch, daß der Wettkampf stattfinden kann, als auch dadurch, daß er (wirklich) stattfindet -. [Das Unbegrenzte] (Das Unbegrenztsein) wird aber sowohl an der Zeit als auch bei den Menschen auf andere Weise klar als bei der Teilung der Größen. Überhaupt ist das Unbegrenzte nämlich in dem Sinne, daß immer wieder etwas anderes genommen wird, und das Genommene zwar immer begrenzt ist, jedoch (auch) immer wieder etwas Verschiedenes; [[ferner wird das Sein in vielfachem Sinne so genannt, so daß man das Unbegrenzte nicht als ein Dieses (bestimmtes Etwas) nehmen darf, wie z. B. einen Menschen oder ein Haus, sondern so wie man vom Tag und vom Wettkampf spricht, denen das Sein nicht wie eine Art Substanz zuteil geworden ist, sondern (deren Sein) immer in einer Entstehung oder einem Vergehen (besteht), (d. h. zwar jedesmal nur) begrenzt, aber (auch) immer wieder etwas Verschiedenes ist; ]] jedoch bei [206b] den Größen [ergibt sich dies so, daß] bleibt das Genommene (jeweils) bestehen, während es bei der Zeit und den Menschen so vergeht, daß (die Folge) nicht ausgeht. Das hinsichtlich Hinzufügung (Unbegrenzte) ist in gewissem Sinne dasselbe wie auch das hinsichtlich Teilung; in dem hinsichtlich Hinzufügung Begrenzten entsteht nämlich (durch fortgesetzte Teilung wieder dasselbe) in umgekehrter Ordnung: Denn gerade wie man es ins Unbegrenzte geteilt werden sieht, auf diese Weise wird es durch das Hinzufügen (auch wieder) bis zur bestimmten (Größe) zum Vorschein kommen. Wenn man nämlich in der begrenzten Größe eine bestimmte (Teilgröße) nimmt und (dann immer) in derselben Proportion hinzunimmt, (also) nicht dieselbe (Teil-)Größe des Ganzen zusammenfaßt, wird man die (ursprüngliche) begrenzte (Größe) nicht durchlaufen; wenn man aber die Proportion so vergrößert, daß man immer dieselbe (Teil-)Größe zusammenfaßt, wird man (sie) durchlaufen, weil jede begrenzte (Größe) mit jeder beliebigen bestimmten (Teilgröße) aufgehoben (ausgeschöpft) wird. In anderem Sinne ist das Unbegrenzte also nicht, aber in diesem Sinne ist es, sowohl dem Vermögen nach als auch aufgrund der Verringerung - auch der Wirklichkeit nach ist es, (in dem Sinne) wie wir sagen, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 127 1.5 Das Unbegrenzte (Unendliche) der Tag sei und der Wettkampf -; und dem Vermögen nach ist es in dem Sinne wie der Stoff, und nicht an sich, wie das Begrenzte. Auch hinsichtlich Hinzufügung ist also in diesem Sinne ein Unbegrenztes dem Vermögen nach, von dem wir sagen, es sei auf gewisse Weise dasselbe wie das hinsichtlich Teilung (Unbegrenzte); man wird nämlich immer (noch) etwas außerhalb (seiner Befindliches dazu)nehmen können, indessen wird es nicht jede (beliebige) Größe gerade so übertreffen, wie es bei der Teilung jede bestimmte (Teilgröße) übertrifft und immer (noch) kleiner sein wird. Aber (daß etwas) unter der Bedingung (unbegrenzt ist), daß es jede (beliebige Größe) hinsichtlich der Hinzufügung übertrifft, kann nicht einmal dem Vermögen nach sein, außer wenn es denn akzidentell etwas der Wirklichkeit nach Unbegrenztes gibt, wie etwa die Naturphilosophen behaupten, der Körper außerhalb der Welt, dessen Substanz entweder Luft oder etwas anderes Derartiges sei, sei unbegrenzt. Wenn es jedoch keinen der Wirklichkeit nach unbegrenzten wahrnehmbaren Körper in diesem Sinne geben kann, so ist offensichtlich, daß es nicht einmal dem Vermögen nach (etwas) hinsichtlich Hinzufügung (Unbegrenztes) geben könnte, außer - gerade wie gesagt - in umgekehrter Entsprechung zur Teilung, da ja sogar Platon deswegen zwei Unbegrenzte eingeführt hat, weil es sowohl in Richtung der Vergrößerung als auch in Richtung der Verringerung zu übertreffen und ins Unbegrenzte zu gehen scheint. Indessen macht er, nachdem er zwei (Unbegrenzte) eingeführt hat, keinen Gebrauch (von ihnen): Bei (Platons Ideal-)Zahlen ist nämlich weder das in Richtung der Hinwegnahme Unbegrenzte vorhanden - die Einzahl ist ja das Kleinste - noch 〈 das 〉 in Richtung der Vergrößerung - er führt die Zahl ja (nur) bis zur Zehnzahl ein -. Es ergibt sich, daß das konträr Entgegengesetzte (von dem) unbegrenzt ist, was (die Leute) sagen; [207a] denn nicht das, außerhalb dessen nichts ist, sondern das, außerhalb dessen immer (noch) etwas ist, dies ist unbegrenzt. Ein Zeichen (dafür ist): (Die Leute) nennen auch die Ringe ‚unbegrenzt‘ (‚endlos‘), die keinen Stein haben, weil man (zu jedem ins Auge gefaßten Abschnitt) immer etwas außerhalb (dieses Abschnittes Liegendes dazu)nehmen kann, wobei sie sie einer gewissen Ähnlichkeit nach so nennen, indessen nicht im eigentlichen Sinne; (dafür) muß nämlich sowohl diese (Eigenschaft) vorhanden sein als auch nie dasselbe (wie zuvor) genommen werden; beim Kreis geschieht es aber nicht so, sondern (da) ist immer allein der nächstfolgende (Abschnitt von seinen Vor- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 128 II. Naturphilosophie gängern) verschieden. Unbegrenzt ist demnach das, von dem, wenn man es hinsichtlich des Wieviel (der Quantität) nimmt, immer (noch) etwas außerhalb genommen werden kann. Außerhalb dessen aber nichts ist, das ist vollständig und ganz; so definieren wir ja das Ganze als das, an dem nichts fehlt, wie z. B. ein ganzer Mensch oder ein (ganzes) Kästchen. Gerade wie das einzelne (Ganze), so (verhält sich) auch das im eigentlichen Sinne[, wie z. B. das] Ganze: (Es ist das,) außerhalb dessen nichts ist; dagegen ist das, außerhalb dessen es ein Fehlen(des) gibt, nicht alles, was auch immer fehlen mag. ‚Ganz‘ und ‚vollständig‘ sind entweder durchweg dasselbe oder ihrer Natur nach nahe beieinander. Vollständig (teleios) ist nichts, was nicht ein Ziel (telos) hat; das Ziel ist aber eine Grenze. Deshalb muß man glauben, daß Parmenides besser als Melissos gesprochen hat; der letztere behauptet nämlich, das Unbegrenzte sei ganz, der erstere dagegen, das Ganze sei begrenzt, „von der Mitte her gleichmäßig ausbalanciert“. Es heißt nämlich nicht, ‚Schnur an Schnur zu knüpfen‘, (wenn man) das Unbegrenzte mit dem (Welt-)All und Ganzen (in Verbindung bringt), denn von dorther nehmen (die Naturphilosophen) jene Erhabenheit für das Unbegrenzte (in Anspruch), alle Dinge zu umfassen und das (Welt-)All in sich selbst zu enthalten, weil es eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Ganzen hat. Denn das Unbegrenzte ist der Stoff der Vollständigkeit der Größe und das dem Vermögen nach, aber nicht der Wirklichkeit nach Ganze, und teilbar ist es sowohl in Richtung der Hinwegnahme als auch der Hinzufügung in umgekehrter Ordnung, aber ganz und begrenzt ist es nicht an sich, sondern in Hinsicht auf etwas anderes; und es umfaßt nicht, sondern wird umfaßt, insofern es unbegrenzt ist. Deshalb ist es auch unerkennbar, insofern es unbegrenzt ist; der (bloße) Stoff hat nämlich keine Form. Daher ist offensichtlich, daß das Unbegrenzte eher im Verhältnis eines Teiles als eines Ganzen steht; der Stoff ist nämlich ein Teil des Ganzen, wie etwa das Erz (ein Teil) des erzenen Standbildes, da, wenn (das Unbegrenzte) im (Bereich der) wahrnehmbaren Dinge (diese) umfaßt, auch im (Bereich der) denkbaren Dinge das Große und das Kleine (als Platons Gegenstück zum Unbegrenzten) die denkbaren Dinge umfassen müßte. Es ist aber absurd und unmöglich, daß das Unerkennbare und Unbestimmte (nicht Abgegrenzte) umfassen und bestimmen (abgrenzen) (sollte). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 129 1.5 Das Unbegrenzte (Unendliche) Vernünftigerweise ergibt sich auch, daß zwar das hinsichtlich Hinzufügung (Unbegrenzte) nicht in dem Sinne unbegrenzt zu sein scheint, daß es alles an Größe übertrifft, es aber in Richtung der Teilung (in diesem Sinne unbegrenzt) ist - der Stoff und (ebenso) [207b] das Unbegrenzte wird nämlich (als) innen (Befindliches) umfaßt, aber die Form umfaßt (etwas) -. Seinen guten Grund hat es auch, daß es bei der Zahl zwar in Richtung auf das Kleinste eine Grenze gibt, (die Zahl) aber in Richtung auf das Mehr immer jede (beliebige gegebene) Menge übertrifft, dagegen bei den Größen gerade entgegengesetzt (diese Größen) zwar in Richtung auf das Kleinere jede (beliebige gegebene) Größe übertreffen, es aber in Richtung auf das Größere keine unbegrenzte Größe gibt. Ursache (dafür) ist, daß das Eine unteilbar ist, was auch immer da eins sein mag - wie z. B. ein Mensch ein einziger Mensch ist und nicht viele -, aber die Zahl mehrere Eine und irgendeine Menge (von Einen) ist; daher muß man notwendig in Richtung auf das Unteilbare stehenbleiben - ,drei‘ und ,zwei‘ sind nämlich (nur) abgeleitete Namen, gleichermaßen auch eine jede der anderen Zahlen -, aber in Richtung auf das Mehr kann man immer (an eine noch größere Zahl) denken; die Zweiteilungen der Größe sind nämlich unbegrenzt (fortsetzbar). Daher ist (das Unbegrenzte bei den Zahlen) zwar dem Vermögen nach, der Wirksamkeit (Wirklichkeit) nach aber nicht; vielmehr übertrifft das Genommene immer jede (beliebig) bestimmte Menge. Diese Zahl ist jedoch nicht abtrennbar [von der (fortgesetzten) Zweiteilung], und ihre Unbegrenztheit bleibt auch nicht, sondern entsteht (immerfort), gerade wie auch die Zeit und die Zahl der Zeit. Bei den Größen dagegen verhält es sich gerade entgegengesetzt: Das Zusammenhängende wird nämlich in unbegrenzt (viele Teile) geteilt, aber in Richtung auf das Größere gibt es (bei den Größen) kein Unbegrenztes. Denn wie Großes (auch immer) dem Vermögen nach sein kann, so Großes kann auch der Wirklichkeit nach sein. Weil daher keine wahrnehmbare Größe unbegrenzt ist, kann es kein Übertreffen jeder (beliebig) bestimmten Größe geben; sonst könnte es nämlich etwas Größeres als das Himmelsgebäude geben. Das Unbegrenzte ist nicht dasselbe in Größe, Bewegung und Zeit, so wie eine einzige Natur, sondern das Spätere (Abgeleitetere) wird nach dem Früheren (Ursprünglicheren) so genannt, wie z. B. Bewegung (,unbegrenzt‘ genannt wird), weil die Größe, über welche hin sich (etwas) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 130 II. Naturphilosophie bewegt oder qualitativ verändert oder vergrößert, (unbegrenzt ist,) aber die Zeit wegen der Bewegung. Für jetzt gebrauchen wir also diese (Ausdrücke wie ‚unendliche Größe‘ etc. einfach so), aber später werden wir sowohl sagen, was jeder einzelne (von ihnen) heißt, als auch, warum jede Größe in Größen teilbar ist. Diese Argumentation nimmt auch den Mathematikern nicht ihre Betrachtung, indem sie (die Annahme) aufhebt, es gebe etwas Unbegrenztes in dem Sinne, daß es der Wirksamkeit nach in Richtung der Vergrößerung nicht zu durchlaufen wäre; denn sie haben auch jetzt nicht das Unbegrenzte nötig - sie gebrauchen es nämlich nicht -, sondern allein, daß es eine so lange begrenzte (Linie) gibt, wie sie (nur) wollen. Nach derselben Proportion wie die größte Größe kann aber (auch) eine beliebig große andere Größe geteilt werden. Daher wird es für jene mit Rücksicht auf das Beweisen keinen Unterschied machen, ob unter den Größen, die es gibt, (eine unbegrenzte) ist. Da aber die Ursachen vierfach eingeteilt sind, ist es offensichtlich, daß das Unbegrenzte im Sinne eines Stoffes Ursache ist, und daß [208a] zwar sein Sein eine Beraubung (von einer bestimmten Größe, Privation) ist, das (ihm) an sich Zugrundeliegende (Substrat) aber das Zusammenhängende und Wahrnehmbare. Offensichtlich behandeln auch alle anderen (Philosophen) das Unbegrenzte als Stoff; deshalb ist es auch absurd, es zum Umfassenden und nicht vielmehr zum Umfaßten zu machen. (Phys. III 6-7) 1.6 Der Ort (Platz) [208a27] Gleichermaßen notwendig ist es, daß der Naturforscher gerade wie auch in bezug auf das Unbegrenzte auch in bezug auf den Ort Kenntnis hat, ob es ihn gibt oder nicht, in welchem Sinne es ihn gibt und was er ist. Denn von den Dingen, die es gibt, nehmen alle an, sie seien irgendwo - das Nichtseiende sei nämlich nirgendwo; denn wo ist ein Bockhirsch oder eine Sphinx? -, und von der Bewegung ist die im höchsten Grade gemeinsame und eigentlichste (Art jene) hinsichtlich des Ortes, welche wir ,Fortbewegung (Ortsbewegung)‘ nennen. Es hat aber viele Schwierigkeiten an sich, was der Ort denn nun tatsächlich ist; er erscheint nämlich nicht als dasselbe, wenn man ihn von sämtlichen (ihm) zukommenden (Eigenschaften) her betrachtet. Ferner © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 131 1.6 Der Ort (Platz) besitzen wir auch nichts von den anderen (Philosophen), weder eine Vorarbeit zur Sammlung noch eine Vorarbeit zur Lösung von Schwierigkeiten in bezug [208b] auf ihn. […] (Phys. IV 1) [210b32] Was der Ort denn nun tatsächlich ist, dürfte folgendermaßen offensichtlich werden. Halten wir in bezug auf ihn alles fest, was ihm wahrhaft an sich zuzukommen scheint! Wir fordern also, daß der Ort das erste ist, was jenen (Gegenstand) [211a] umfaßt, dessen Ort er ist, und nichts von dem Gegenstand (selbst); ferner, daß der erste (Ort) weder kleiner noch größer ist (als jener Gegenstand selbst); ferner, daß er von einem jeden (sich bewegenden Gegenstand) zurückgelassen wird und (von diesem) abtrennbar ist; außerdem, daß jeder Ort das Oben und Unten besitzt, und daß sich jeder einzelne der Körper von Natur aus an die ihm eigentümlichen Plätze fortbewegt und (dort) bleibt, dies aber entweder oben oder unten macht. Nachdem diese (Aussagen) als Grundsätze feststehen, sind die übrigen (Fragen) zu betrachten. Man muß versuchen, die Untersuchung auf solche Weise zu führen, daß das ‚Was es ist‘ (des Ortes) dargelegt wird, damit sowohl die aufgeworfenen Schwierigkeiten gelöst werden als auch die dem Ort anscheinend zukommenden (Eigenschaften) ihm (tatsächlich) zukommen, sowie ferner die Ursache der Mißlichkeit und der Schwierigkeiten in bezug auf ihn (den Ort) offensichtlich wird; auf diese Weise dürfte nämlich eine jede Sache am besten demonstriert werden. Zuerst muß man also bemerken, daß der Ort gar nicht erforscht würde, wenn es keine Bewegung hinsichtlich des Ortes gäbe; v. a. deswegen glauben wir ja, daß sich sogar das Himmelsgebäude in einem Ort befindet, weil es immer in Bewegung ist. Von letzterer ist die eine (Art) Fortbewegung, die andere Vergrößerung und Abnahme; denn auch in Vergrößerung und Abnahme wandelt etwas (seinen Ort), und was sich früher dort befand, ist ein andermal in einem kleineren oder größeren (Ort) übergegangen. In Bewegung ist (etwas) teils an sich der Wirksamkeit (Wirklichkeit) nach, teils akzidentell; (das sich) akzidentell (Bewegende) aber kann sich teils (auch) an sich bewegen, wie z. B. die Teile des Körpers und der Nagel im (Holz des) Schiffes, teils kann es (das) nicht, sondern (bewegt sich) immer akzidentell, wie z. B. die Blässe und das wissenschaftliche Wissen; letztere wandeln ihren Ort © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 132 II. Naturphilosophie nämlich (nur) in dem Sinne, daß dasjenige, in dem sie vorhanden sind, wandelt. Da wir nun deshalb sagen, wir befänden uns ‚im Himmelsgebäude (in der Welt)‘ als in einem Ort, weil wir uns in der Luft befinden, diese sich aber im Himmelsgebäude befindet; und (da wir uns zwar) in der Luft, aber nicht in der ganzen (Luft befinden), sondern wir (nur) wegen ihres Randes, der auch (uns) umfaßt, behaupten, wir befänden uns in der Luft - wenn nämlich die ganze Luft (unser) Ort wäre, so wären der Ort jedes einzelnen und (dieses) einzelne (selbst) nicht gleich, sie scheinen aber doch gleich zu sein, und so ist der erste (Ort) beschaffen, in dem sich (ein jedes Ding jeweils) befindet -; demnach sagt man, sooft das Umfassende nicht abgeteilt, sondern (mit dem in ihm Enthaltenen) zusammenhängend ist, (dieses Enthaltene) befinde sich in jenem (Umfassenden) nicht als in einem Ort, sondern als Teil in einem Ganzen; sooft (das Umfassende) dagegen abgeteilt ist und (das Enthaltene nur) berührt, befindet sich (das Enthaltene) innerhalb des ersten (innersten) Randes des Umfassenden, welcher weder ein Teil des in ihm (Enthaltenen) noch größer als die Ausdehnung (des Enthaltenen) ist, sondern (letzterer) gleich; denn die Ränder der sich berührenden Dinge (fallen) in demselben (zusammen). Und ist (das Enthaltene) zusammenhängend, so bewegt es sich nicht in jenem (Umfassenden), sondern mit jenem; ist es dagegen abgeteilt, (so bewegt es sich) in jenem; und (beides) um nichts weniger, mag sich das Umfassende nun bewegen [211b] oder nicht. [[Ferner sagt man, sooft (das Enthaltene) nicht abgeteilt ist, (es befinde sich) als Teil in einem Ganzen, wie z. B. im Auge das Sehorgan oder am Körper die Hand; sooft es dagegen abgeteilt ist, (es befinde sich im Umfassenden) 〈 als in einem Ort, 〉 wie z. B. im Eimer das Wasser oder im Tongefäß der Wein; denn die Hand bewegt sich mit dem Körper, aber das Wasser in dem Eimer.]] Schon jetzt ist somit aus diesen (Überlegungen) offensichtlich, was der Ort ist. Es sind nämlich so ziemlich vier Dinge, von denen der Ort notwendig eines ist: nämlich entweder Gestalt oder Stoff oder eine Art Ausdehnung zwischen den Rändern (des Umfassenden) oder die Ränder (selbst), falls es keine Ausdehnung außer der Größe des hineinkommenden Körpers gibt. Daß von diesen aber die drei (ersten) nicht (der Ort) sein können, ist offensichtlich. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 133 1.6 Der Ort (Platz) Die Gestalt scheint allerdings (der Ort) zu sein, weil sie (etwas) umfaßt; die Ränder des Umfassenden und des Umfaßten (fallen) nämlich in demselben (zusammen). Nun sind gewiß beides Grenzen, jedoch nicht von demselben, sondern die Form von dem Gegenstand, der Ort dagegen von dem umfassenden Körper. Weil das umfaßte und abgeteilte Ding häufig (seinen Ort) wandelt, während das Umfassende (an demselben Ort) bleibt, wie z. B. (wenn) Wasser aus einem Gefäß (fließt), scheint der Zwischenraum eine Art Ausdehnung zu sein, als wäre er etwas (Reales) neben dem seine Position wechselnden Körper. Das ist aber nicht der Fall, vielmehr fällt der zufällig erstbeste Körper von denjenigen, die ihre Position wechseln und von Natur geeignet sind, (das Umfassende ganz ausfüllend) zu berühren, (in das Umfassende) hinein. Wenn es eine Art Ausdehnung gäbe, die von Natur 〈 an sich zu sein 〉 fähig und bleibend wäre, so gäbe es unbegrenzt viele Plätze in demselben (Ort) - denn wenn (im Beispiel) das Wasser und die Luft ihre Position wechseln, so werden alle Teile in dem Ganzen gerade dasselbe machen wie das gesamte Wasser im Gefäß -; zugleich wird (dann) auch der Ort ein wandelnder sein, so daß sowohl der Ort einen anderen Ort haben wird als auch viele Plätze zusammen (dekkungsgleich) sein werden. Der Ort des Teiles, in dem sich (der Teil zusammen mit dem Ganzen) bewegt, sooft das ganze Gefäß seine Position wechselt, ist aber kein anderer, sondern derselbe (Ort); denn (in dem Ort), in dem sie sich befinden, tauschen die Luft und das Wasser oder die Teile des Wassers gegenseitig ihre Position, jedoch nicht (in jenem) Ort, in den sie kommen, der ein Teil des Ortes ist, welcher Ort des gesamten Himmelsgebäudes ist. Auch der Stoff könnte der Ort zu sein scheinen, wenigstens wenn man seine Untersuchung an etwas Ruhendem und nicht Getrenntem, sondern Zusammenhängendem anstellt. Denn gerade wie es, wenn sich etwas qualitativ verändert, etwas gibt, das jetzt blaß ist, einst aber dunkel war, und jetzt hart, einst aber weich - deshalb behaupten wir (ja), der Stoff sei etwas (Reales) -, ebenso scheint es auch den Ort dank irgendeiner derartigen Vorstellung zu geben, ausgenommen, daß jenes (Fürwahrhalten der Wirklichkeit des Stoffes) deshalb stattfindet, weil dieses, was Luft war, jetzt Wasser ist, dagegen der Ort (für etwas Reales gehalten wird), weil dort, wo Luft war, jetzt Wasser ist. Der Stoff ist jedoch, [212a] gerade wie in den vorigen (Ausführungen) gesagt wurde, weder von dem © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 134 II. Naturphilosophie Gegenstand abtrennbar noch umfaßt er (den Gegenstand), während der Ort beides ist. Wenn der Ort somit keines von den dreien ist - weder die Form noch der Stoff noch eine Art Ausdehnung, welche immer als etwas Verschiedenes neben der (Ausdehnung) des seine Position wechselnden Gegenstandes vorhanden wäre -, so ist der Ort notwendig das von den vieren übrige: die Grenze des umfassenden Körpers, 〈 entlang deren er das Umfaßte berührt 〉 . Mit dem ‚Umfaßten‘ meine ich den gemäß der Fortbewegung beweglichen Körper. Der Ort scheint etwas Bedeutendes und schwer zu Erfassendes zu sein, sowohl weil der Stoff und die Gestalt nebenbei darin erscheinen als auch, weil der Positionswechsel des sich fortbewegenden Dings innerhalb eines ruhenden Umfassenden geschieht; (deshalb) erscheint es nämlich möglich, daß es eine Ausdehnung dazwischen gibt, die etwas anderes ist als die sich bewegenden Größen. Auch die Luft trägt etwas (zu diesem Eindruck) bei, weil sie unkörperlich zu sein scheint; denn nicht allein die Grenzen des Gefäßes scheinen der Ort zu sein, sondern auch ihr Zwischenraum, (weil man annimmt,) 〈 er sei 〉 leer. Gerade wie das Gefäß ein versetzbarer Ort ist, so ist auch der Ort ein unverrückbares Gefäß. Sooft das Innere in etwas sich Bewegendem sich bewegt und wandelt, wie z. B. ein Schiff auf einem Fluß, hat es das Umfassende daher eher zum Gefäß als zum Ort. Der Ort will dagegen unbewegt sein; deshalb ist eher der ganze Fluß ein Ort, weil er als Ganzer unbewegt ist. Die erste unbewegte Grenze des Umfassenden, dies ist daher der Ort. Und deswegen scheinen die Mitte des Himmelsgebäudes (d. h. die Erde als Mitte der Welt) und der uns zugewandte Rand der Kreisbewegung (des Firmaments) allen am meisten im eigentlichen Sinne das eine oben, das andere unten zu sein, weil das eine immer ruhig bleibt, aber der Rand des (sich) im Kreis (bewegenden) anderen sich fortwährend auf die gleiche Weise verhält. Daher ist, weil das Leichte das sich von Natur aus nach oben Fortbewegende ist, das Schwere dagegen das (sich) nach unten (Fortbewegende), die zur Mitte (der Welt) hin umfassende Grenze unten, und (ebenso) die Mitte selbst, dagegen die (Grenze) zum Rand (des Himmelsgebäudes) hin oben, und (ebenso) der Rand selbst; und deswegen scheint der Ort eine Art Fläche zu sein und wie ein Gefäß und Umfassendes. Ferner ist der Ort zusammen mit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 135 1.7 Die Zeit dem Gegenstand; die Grenzen sind nämlich zusammen mit dem Begrenzten. (Phys. IV 4) 1.7 Die Zeit [217b29] An das Gesagte schließt es sich an, (die Untersuchung) über die Zeit in Angriff zu nehmen. Als erstes ist es aber ratsam, auch mittels der populären Argumente die Schwierigkeiten in bezug auf sie herauszustellen, ob sie zu den seienden Dingen gehört oder zu den nichtseienden, und zweitens (zu untersuchen), was ihre Natur ist. Daß sie nun entweder überhaupt nicht ist oder kaum und (nur) undeutlich, könnte man aufgrund folgender (Überlegungen) argwöhnen. Der eine (Teil) von ihr ist gewesen und ist nicht (mehr), der andere steht (erst) bevor und ist noch nicht. [218a] Aus diesen ist sowohl die unbegrenzte als auch die jedesmal (heraus)gegriffene Zeit zusammengesetzt. Es dürfte aber unmöglich zu sein scheinen, daß das aus nichtseienden (Teilen) Zusammengesetzte an einer Substanz (am Sein) teilhat. Außerdem sind von jeder teilbaren Sache, wenn sie überhaupt ist, notwendig entweder alle Teile oder doch wenigstens einige, während sie (selbst) ist; von der Zeit aber sind die einen (Teile schon) gewesen, die anderen stehen (erst) bevor, keiner aber ist (gerade), obwohl sie teilbar ist. Das Jetzt aber ist kein Teil (der Zeit); ein Teil mißt nämlich (das Ganze) und das Ganze muß aus den Teilen zusammengesetzt sein, die Zeit scheint aber nicht aus den Jetzten zusammengesetzt zu sein. Ferner ist nicht leicht zu sehen, ob das Jetzt, welches das Vergangene und das Bevorstehende (Zukünftige) abzugrenzen scheint, immer als ein und dasselbe fortdauert oder immer etwas anderes ist. Wenn es nämlich immer wieder etwas Verschiedenes ist, aber von den Dingen in der Zeit kein (Teil, der) immer ein anderer Teil (ist,) zugleich (mit einem anderen Teil) ist - (sofern) nicht (der eine) umfaßt, der andere umfaßt wird, gerade wie die kürzere Zeit von der längeren -, aber das nicht (mehr) seiende, doch früher gewesene Jetzt notwendig irgendwann einmal vergangen ist, dann werden auch die Jetzte nicht zugleich miteinander sein, sondern notwendig ist immer das frühere (Jetzt) vergangen. In sich selbst kann es gewiß nicht vergangen sein, weil es damals (ja gerade) war; in einem anderen Jetzt kann das frühere Jetzt aber (auch) nicht vergangen sein. Es möge nämlich unmöglich sein, daß sich die Jetzte (zusammenhängend) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 136 II. Naturphilosophie aneinander anschließen, gerade wie Punkt zu Punkt (ebenfalls keine zusammenhängende Linie bildet). Wenn es also tatsächlich nicht in dem nächstfolgenden (Jetzt) vergangen ist, sondern in einem anderen, so würde es in den Jetzten dazwischen zugleich sein, die unbegrenzt (viele) sind; dies ist aber unmöglich. - Gleichwohl ist es auch nicht möglich, daß immer dasselbe (Jetzt) fortdauert. Denn von keinem teilbaren Begrenzten gibt es (nur) eine einzige Grenze, weder wenn es (nur) in einer einzigen Richtung zusammenhängend ist noch wenn in mehreren; das Jetzt ist dagegen eine Grenze, und es ist möglich, eine begrenzte Zeit (heraus)zugreifen. Ferner, wenn hinsichtlich der Zeit zugleich und weder früher noch später zu sein heißt, in demselben und einen Jetzt zu sein, dann wären, wenn sowohl die früher als auch die später (geschehenden Dinge) in diesem gegenwärtigen Jetzt sind, die Geschehnisse vor zehntausend Jahren zugleich mit den heutigen Geschehnissen, und nichts wäre weder früher noch später als etwas anderes. In bezug auf die ihr (der Zeit) zukommenden (Eigenschaften) mögen also so viele Schwierigkeiten herausgestellt sein. Was aber die Zeit ist und was ihre Natur, ist gleichermaßen sowohl von seiten der überlieferten (Ansichten früherer Denker) unklar als auch (von seiten der Schwierigkeiten), die wir zuvor (wie) zufällig durchgegangen sind. Die einen (Philosophen) behaupten nämlich, sie sei die Bewegung [218b] des (Welt-) Ganzen, die anderen, (sie sei) die (Himmels-)Kugel selbst. Indessen ist von der Umdrehung (des Himmels) sogar der (einzelne) Teil irgendeine Zeit, aber nicht (selbst wieder) eine Umdrehung; das (Heraus)gegriffene ist nämlich ein Teil einer Umdrehung, jedoch keine Umdrehung. Ferner, wenn es mehrere Himmelsgebäude gäbe, wäre die Zeit gleichermaßen die Bewegung jedes beliebigen von ihnen, so daß es viele Zeiten zugleich gäbe. Die Kugel des (Welt-)Ganzen dagegen schien jenen, welche (dies) sagten, die Zeit zu sein, weil alle Dinge sowohl in der Zeit sind als auch in der Kugel des (Welt-)Ganzen; das Gesagte ist aber zu einfältig, als daß man in bezug darauf die unmöglichen (Konsequenzen) untersuchen (müßte). Da die Zeit in erster Linie eine Art Bewegung und Wandel zu sein scheint, dürfte dies zu untersuchen sein. Nun ist der Wandel und die Bewegung jedes einzelnen allein in dem sich Wandelnden selbst oder dort, wo sich das sich Bewegende und sich Wandelnde gerade zufällig befindet; die Zeit dagegen ist gleichermaßen sowohl überall als auch bei © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 137 1.7 Die Zeit allen Dingen. Ferner ist Wandel schneller und langsamer, Zeit aber ist es nicht; ‚langsam‘ und ‚schnell‘ sind nämlich durch Zeit bestimmt - schnell ist das sich in kurzer (Zeit) viel, langsam aber das sich in langer (Zeit) wenig Bewegende -, die Zeit dagegen ist nicht durch Zeit definiert, weder dadurch, daß sie eine irgendwie lange, noch dadurch, daß sie (eine) irgendwie beschaffene (Zeit) ist. Daß (die Zeit) somit nicht Bewegung ist, ist offensichtlich; es möge für uns aber im gegenwärtigen Augenblick keinen Unterschied machen, ‚Bewegung‘ oder ‚Wandel‘ zu sagen. Gleichwohl (ist die Zeit) auch nicht ohne Wandel; sooft wir selbst nämlich unsere Verstandestätigkeit in nichts wandeln oder nicht bemerken, wie (wir sie) wandeln, scheint uns keine Zeit vergangen zu sein, ganz so wie auch denen nicht, von welchen in der Sage erzählt wird, sie schliefen auf Sardinien im (Heiligtum der) Heroen, sobald sie einmal erwacht sind; sie verknüpfen nämlich mit dem früheren Jetzt das spätere Jetzt und machen sie zu einem, indem sie das Dazwischen(liegende) wegen ihrer Empfindungslosigkeit herausnehmen. Gerade wie es also, wenn das Jetzt nicht verschieden, sondern dasselbe und eines wäre, keine Zeit gäbe, so scheint auch (in diesem Fall), weil sein Verschiedensein verborgen bleibt, das Dazwischen(liegende) keine Zeit zu sein. Wenn es uns daher dann widerfährt, daß wir nicht glauben, es sei Zeit (verstrichen), sooft wir keinerlei Wandel abgrenzen, sondern unsere Seele in einem und unteilbaren (Zustand) zu bleiben scheint, wir dagegen dann, sooft wir (einen Wandel) wahrnehmen und abgrenzen, behaupten, es sei Zeit vergangen, so ist offensichtlich, daß es ohne Bewegung und Wandel keine [219a] Zeit gibt. Daß die Zeit demnach weder Bewegung noch ohne Bewegung ist, ist offensichtlich; es gilt aber, da wir danach forschen, was die Zeit ist, von hier ausgehend zu erfassen, welcher (Aspekt) der Bewegung sie ist. Wir nehmen Bewegung und Zeit nämlich zusammen wahr; denn sogar wenn Finsternis herrscht und wir durch den Körper keinerlei (sinnliche Einwirkungen) erleiden, es aber irgendeine Bewegung in der Seele gibt, scheint ohne weiteres zusammen (mit dieser Bewegung) auch eine gewisse Zeit vergangen zu sein. Überdies scheint auch, sooft eine gewisse Zeit vergangen zu sein scheint, zusammen (mit ihr) auch eine gewisse Bewegung geschehen zu sein. Daher ist die Zeit entweder Bewegung oder wenigstens irgendein (Aspekt) der Bewegung. Da sie nun nicht die Be- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 138 II. Naturphilosophie wegung (selbst) ist, ist sie notwendigerweise irgendein (Aspekt) der Bewegung. Da das sich Bewegende sich aus etwas in etwas bewegt und jede Größe zusammenhängend (kontinuierlich) ist, folgt die Bewegung der Größe; denn weil die Größe zusammenhängend ist, ist auch die Bewegung zusammenhängend, wegen der Bewegung aber die Zeit; denn wie lange die Bewegung (dauerte), so lange Zeit scheint immer auch vergangen zu sein. Das Früher und Später (Davor und Danach) gilt offenbar zuerst (primär) im Ort. Dort (gilt es) offenbar der Lage nach; da es das Früher und Später aber in der Größe gibt, gibt es das Früher und Später notwendig auch in einer Bewegung, entsprechend den dortigen. Gleichwohl gibt es auch in der Zeit das Früher und Später, weil das eine immer dem anderen von ihnen folgt. Das Früher und Später in der Bewegung ist zwar als das, was immer da (früher und später) ist (d. h. als Subjekt dieser Prädikation), Bewegung; sein Sein ist indessen (davon) verschieden und nicht Bewegung. Nun kennen wir aber auch die Zeit, sooft wir die Bewegung abgrenzen, indem wir (sie) mit dem Früher und Später abgrenzen; und wir behaupten immer dann, Zeit sei vergangen, wenn wir eine Wahrnehmung des Früher und Später in der Bewegung erfassen. Wir grenzen (die Bewegung) dadurch ab, daß wir sie (Früher und Später) als immer etwas anderes auffassen und dazwischen (noch) etwas von ihnen Verschiedenes; sooft wir nämlich die Extreme als von der Mitte verschieden denken und die Seele sagt, daß die Jetzte zwei sind, das eine früher, das andere später, dann und davon behaupten wir, es sei Zeit; das durch das Jetzt Abgegrenzte scheint nämlich Zeit zu sein, und (dies) möge auch als Grundsatz angenommen sein. Sooft wir also das Jetzt als eines wahrnehmen und nicht entweder als früher und später in der Bewegung oder wenigstens zwar als dasselbe, aber von irgendeinem Früheren und Späteren, so scheint keinerlei Zeit vergangen zu sein, weil auch keine Bewegung (erfolgt zu sein scheint). Sooft (wir) dagegen das Früher [219b] und Später (wahrnehmen), dann sprechen wir von Zeit; dies ist nämlich die Zeit: Zahl einer Bewegung hinsichtlich des Früher und Später. Die Zeit ist folglich nicht Bewegung, sondern (der Aspekt), insofern die Bewegung eine Zahl hat. Ein Zeichen (dafür ist): Das Mehr und Weniger beurteilen wir ja mit der Zahl, mehr und weniger Bewegung © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 139 1.7 Die Zeit aber mit der Zeit; folglich ist die Zeit eine Art Zahl. Da die Zahl jedoch in zweierlei Sinn ist - wir nennen nämlich sowohl das Gezählte und das Zählbare ‚Zahl‘ als auch das, womit wir zählen -, ist die Zeit offenbar das Gezählte und nicht das, womit wir zählen. Das, womit wir zählen, und das Gezählte sind ja Verschiedenes. Und gerade wie die Bewegung immer wieder eine andere ist, so auch die Zeit; allerdings ist die gesamte gleichzeitige Zeit dieselbe: Das Jetzt ist nämlich dasselbe, was immer da jeweils (jetzt) sein mag - sein Sein aber ist verschieden -, das Jetzt trennt aber die Zeit, insofern (letztere) früher und später ist. Das Jetzt ist in einem Sinne (immer) dasselbe, in einem anderen ist es nicht dasselbe; insofern es nämlich immer in einem anderen (Moment) ist, ist es verschieden - (eben) dies hieß ja das Jetzt 〈 sein 〉 für es -, aber was immer da das Jetzt ist, ist dasselbe. Denn es folgt, wie gesagt wurde, der Größe die Bewegung, letzterer aber die Zeit, wie wir behaupten; und gleichermaßen (entspricht) offenbar dem Punkt das sich Fortbewegende, durch das wir die Bewegung kennen und das Früher und das Später in ihr. Dieses (sich Fortbewegende) ist zwar als das, was immer da (in Fortbewegung begriffen) ist, dasselbe - der Punkt ist nämlich entweder ein Stein oder irgend etwas anderes Derartiges -, aber der Definitionsformel nach (die man davon jeweils geben kann) etwas anderes, wie etwa die Sophisten ‚Koriskos im Lykeion‘ und ‚Koriskos auf dem Marktplatz‘ zu sein als verschieden nehmen. Auch dieses (sich Fortbewegende) ist nun dadurch, daß es sich immer wieder anderswo befindet, verschieden; dem sich Fortbewegenden folgt aber das Jetzt, gerade wie die Zeit der Bewegung - durch das sich Fortbewegende kennen wir nämlich das Früher und Später in einer Bewegung; insofern aber das Früher und Später zählbar ist, gibt es das Jetzt -; daher ist auch hierbei das Jetzt als das, was immer da (jetzt) ist, dasselbe - es ist nämlich das Früher und Später in der Bewegung -, sein Sein dagegen ist verschieden - insofern nämlich das Früher und Später zählbar ist, gibt es das Jetzt -. Dieses (sich Fortbewegende) ist auch am besten bekannt, denn sowohl die Bewegung ist durch das sich Bewegende als auch die Fortbewegung durch das sich Fortbewegende (bekannt); das sich Fortbewegende ist nämlich ein Dieses, die Bewegung aber nicht. Das Jetzt ist also in einem Sinne immer dasselbe, in einem anderen aber nicht dasselbe; denn (so verhält sich) auch das sich Fortbewegende. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 140 II. Naturphilosophie Offensichtlich ist auch, daß es sowohl, wenn es keine Zeit gäbe, kein Jetzt [220a] gäbe, als auch, wenn es kein Jetzt gäbe, keine Zeit gäbe; denn gerade wie das sich Fortbewegende und die Fortbewegung, so (gehören) auch die Zahl des sich Fortbewegenden und die der Fortbewegung zusammen. Zeit ist nämlich die Zahl der Fortbewegung, das Jetzt aber (verhält sich) wie das sich Fortbewegende, (es ist) gleichsam eine Einheit der Zahl. Und die Zeit ist offenbar sowohl zusammenhängend durch das Jetzt als auch geteilt in Hinsicht auf das Jetzt; auch diese (Abhängigkeit der Zeit vom Jetzt) folgt nämlich der Fortbewegung und dem sich Fortbewegenden. Denn auch die Bewegung und die Fortbewegung sind (jeweils) eins durch das sich Fortbewegende, weil (letzteres) eines ist - und zwar (eines) nicht als das, was immer da (in Fortbewegung begriffen) ist, denn es könnte auch einmal (mit der Fortbewegung) aussetzen, sondern dem Begriff (des sich Fortbewegenden) nach -, und dieses (sich Fortbewegende) grenzt die Bewegung als früher und später ab. Auch dieses folgt in gewissem Sinne dem Punkt: Auch der Punkt läßt nämlich die Länge zusammenhängen und grenzt sie auch ab; er ist nämlich Anfang der einen, Ende der anderen (Länge). Sooft man ihn jedoch auf diese Weise nimmt, indem man den einen (Punkt) als zwei behandelt, dann bleibt man notwendig stehen, wenn derselbe Punkt Anfang und Ende sein soll; das Jetzt dagegen ist, weil das sich Fortbewegende sich bewegt, immer verschieden. Daher ist die Zeit eine Zahl nicht im Sinne (einer Zahl) desselben Punktes, weil (letzterer) Anfang und Ende wäre, sondern vielmehr so wie die äußersten Enden der Linie (deren Zahl bilden), und nicht so wie die Teile (der Linie eine Zahl bilden), sowohl wegen des Gesagten - man wird nämlich den mittleren Punkt als zwei behandeln, so daß ein Ruhen eintreten wird - als auch ferner, (weil) es offensichtlich ist, daß das Jetzt kein Teil der Zeit ist und auch die Teilung nicht (Teil) der Bewegung, gerade wie auch der Punkt nicht (Teil) der Linie ist; vielmehr sind die zwei Linien die Teile der einen (Linie). Insofern das Jetzt demnach eine Grenze ist, ist es nicht Zeit, außer es kommt ihm akzidentell zu, aber insofern es zählt[, eine Zahl]; die Grenzen gehören nämlich allein zu jenem, dessen Grenzen sie sind, dagegen (gilt z. B.) die Zahl dieser Pferde, die Zehnzahl, auch anderswo. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 141 1.8 Das Zusammenhängende (Kontinuierliche); Kritik an Zenon Daß somit die Zeit Zahl einer Bewegung hinsichtlich des Früher und Später ist sowie zusammenhängend - sie ist nämlich (Zahl) von etwas Zusammenhängendem -, ist offensichtlich. (Phys. IV 10-11) […] [223a16] Einer Untersuchung wert ist auch, wie sich die Zeit denn zur Seele verhält und warum die Zeit in allen Dingen zu sein scheint, sowohl auf dem Land als auch im Meer und am Himmel. (Ist es so,) weil sie entweder eine Art Eigenschaft oder ein Zustand der Bewegung ist, da sie (deren) Zahl ist, diese Dinge aber alle beweglich sind - sie befinden sich ja alle in einem Ort -, die Zeit und die Bewegung aber sowohl dem Vermögen nach als auch der Wirksamkeit (Wirklichkeit) nach (jeweils) zusammen(gehören)? Ob es aber, wenn es keine Seele gäbe, die Zeit gäbe oder nicht, könnte einen in Schwierigkeiten bringen. Wenn es nämlich unmöglich ist, daß es das gibt, was zählen wird, so ist es auch unmöglich, daß es etwas Zählbares gibt, so daß es klarerweise auch keine Zahl gibt; Zahl ist nämlich entweder das (bereits) Gezählte oder das Zählbare. Wenn aber nichts anderes von Natur zum Zählen beschaffen ist als die Seele und von der Seele (genauer gesagt) die Vernunft, so kann es unmöglich Zeit geben, wenn es keine Seele gibt, sondern (höchstens) die Zeit als das, was immer da (Zeit) ist, wie z. B. (die Bewegung), falls es Bewegung ohne Seele geben kann. Das Früher und Später ist in der Bewegung, Zeit sind diese aber (erst), insofern sie zählbar sind. […] (Phys. IV 14) 1.8 Das Zusammenhängende (Kontinuierliche); Kritik an Zenon [231a21] Wenn sich (die Begriffe) ‚zusammenhängend‘, ‚sich berührend‘ und ‚nächstfolgend‘ so verhalten, wie zuvor definiert worden ist - zusammenhängend sind Dinge, deren Ränder eins sind, sich berührend jene, deren (Ränder) zusammensind, aber nächstfolgend jene, zwischen denen sich nichts Gleichartiges befindet -, so kann unmöglich irgend etwas Zusammenhängendes aus unteilbaren (Bestandteilen) bestehen, wie z. B. eine Linie aus Punkten, wenn die Linie tatsächlich etwas Zusammenhängendes, aber der Punkt etwas Unteilbares ist. Denn weder sind die Ränder der Punkte eins - von dem Unteilbaren (kann) nämlich nicht das eine ein Rand, das andere irgendein anderer Teil sein - noch sind die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 142 II. Naturphilosophie Ränder zusammen - von dem Teillosen gibt es nämlich keinen Rand: der Rand und das, dessen Rand (er ist), sind ja Verschiedenes -. Ferner wären (dann) notwendig die Punkte entweder zusammenhängend oder wenigstens miteinander in Berührung, aus denen das Zusammenhängende bestünde; dasselbe Argument gilt auch bei allen (anderen) unteil[231b]baren Dingen. Zusammenhängend dürften sie nun wegen des genannten Argumentes nicht sein; berühren aber (kann) alles (nur) entweder als Ganzes ein Ganzes oder als Teil einen Teil oder ein Ganzes als Teil. Da das Unteilbare aber teillos ist, berührt es notwendig als Ganzes ein Ganzes. Wenn es aber als Ganzes ein Ganzes berührt, wird es nicht zusammenhängend sein. Das Zusammenhängende enthält nämlich das eine als einen, das andere als anderen Teil, und wird in in diesem Sinne verschiedene und räumlich getrennte (Teile) geteilt. Überdies wird (dann) nicht einmal nächstfolgend ein Punkt zu einem Punkt oder das Jetzt zum Jetzt sein, so daß aus diesen die Länge oder die Zeit bestehen (könnte); nächstfolgend sind ja Dinge, zwischen denen sich nichts Gleichartiges befindet, zwischen Punkten befindet sich aber immer eine Linie und (zwischen) den Jetzten eine Zeit. Ferner würde (dann) jedes dieser beiden (Linie und Zeit) in unteilbare (Bestandteile) geteilt, wenn es tatsächlich in das geteilt wird, woraus es besteht; (nach unserer Feststellung) war jedoch keines der zusammenhängenden Dinge in teillose (Bestandteile) teilbar. (Auch etwas aus) einer anderen Gattung kann sich nicht dazwischen [zwischen den Punkten und den Jetzten] befinden. Denn [wenn es so etwas geben wird, wäre klar: ] entweder wird es unteilbar sein oder teilbar, und wenn es teilbar sein wird, dann entweder in unteilbare (Bestandteile) oder in immer wieder teilbare; letzteres ist aber (ja gerade das) Zusammenhängende. Offensichtlich ist auch, daß alles Zusammenhängende in immer wieder teilbare (Bestandteile) teilbar ist; wenn es nämlich in unteilbare (Bestandteile teilbar wäre), wird etwas Unteilbares etwas (anderes) Unteilbares berühren; der Rand der (miteinander) zusammenhängenden Dinge ist nämlich eins und berührt sich. (Sache) desselben Argumentes ist es, (zu zeigen,) daß (entweder) Größe, Zeit und Bewegung aus unteilbaren (Bestandteilen) zusammengesetzt sind und in unteilbare (Bestandteile) geteilt werden, oder keines (von ihnen). (Dies wird) aus folgendem klar. Wenn nämlich die Größe aus unteilbaren (Bestandteilen) zusammengesetzt ist, wird auch die Be- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 143 1.8 Das Zusammenhängende (Kontinuierliche); Kritik an Zenon wegung entlang dieser (Größe) aus gleichen unteilbaren Bewegungen bestehen, wie z. B., wenn die (Größe) ABC aus den unteilbaren (Größen) A, B, C besteht, die Bewegung DEF, welche der (Körper) Z über ABC hin vollführt, jeden einzelnen Teil als unteilbaren (Bestandteil) hat. Wenn sich nun notwendig beim Stattfinden einer Bewegung irgend etwas bewegt und, wenn sich irgend etwas bewegt, eine Bewegung stattfindet, dann wird auch das Sichbewegen aus unteilbaren (Teilbewegungen) bestehen. Nun bewegte sich der (Körper) Z über die (Größe) A, indem er die Bewegung D vollführte, aber über die (Größe) B, (indem er) E (vollführte), und ebenso über C, (indem er) F (vollführte). Wenn sich nun das sich von irgendwoher irgendwohin Bewegende dorthin, wohin es sich bewegte, (und) dann, als es sich bewegte, notwendigerweise nicht zugleich (gerade) bewegt und die Bewegung (schon) abgeschlossen hat - wie z. B., wenn etwas nach Theben wandert, es unmöglich zugleich (gerade) nach Theben wandern und die Wanderung nach Theben [232a] (schon) abgeschlossen haben kann -, sich aber (wie gesagt) der (Körper) Z über die teillose (Strecke) A bewegte, insofern die Bewegung D stattfand, dann dürfte einerseits, wenn (Z die Strecke A) erst später (ganz) durchlaufen hat, nachdem er sie durchlief, (die Bewegung) teilbar sein - während (der Körper Z ) nämlich (A) durchlief, ruhte er weder noch hatte er (A schon ganz) durchlaufen, sondern befand sich dazwischen -; andererseits wird, wenn (der Körper Z die Strecke A) zugleich (gerade) durchläuft und (schon ganz) durchlaufen hat, das Wandernde dann, während es (gerade) wandert, seine Wanderung (schon) abgeschlossen haben (und schon) dort sein, d. h., seine Bewegung (dorthin schon) abgeschlossen haben, wohin es sich (gerade) bewegt. Wenn aber etwas die ganze (Strecke) ABC durchläuft und die Bewegung, welche es vollführt, die (durch die Buchstaben) D, E, F (bezeichnete) ist, es sich aber über die teillose (Strecke) A überhaupt nicht bewegt, sondern (diese) Bewegung (schon) abgeschlossen hat, dann bestünde die Bewegung nicht aus (Teil-)Bewegungen, sondern aus Erschütterungen (Sprüngen) und deshalb, weil etwas seine Bewegung (schon) abgeschlossen hätte, ohne (jemals gerade) in Bewegung zu sein; es hat ja A (schon ganz) durchlaufen, ohne (es je) zu durchlaufen. Daher wird es möglich sein, daß etwas seine Wanderung (schon) abgeschlossen hat, ohne jemals zu wandern; denn es hat seine Wanderung über diese (bestimmte Strecke schon) abgeschlossen, ohne diese (Strecke jemals) zu wandern. Wenn also alles notwendig © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 144 II. Naturphilosophie entweder ruht oder sich bewegt, ruht (der Körper Z ) in jeder der (Größen) A, B, C, so daß es etwas zugleich zusammenhängend Ruhendes und sich Bewegendes geben wird. Denn (Z ) bewegte sich ja über die ganze (Strecke) ABC und ruhte in jedem beliebigen Teil (dieser Größe), so daß er auch über die ganze (Größe hin ruhen wird). Und wenn die unteilbaren (Bestandteile) der (Bewegung) DEF Bewegungen sind, dann wäre es trotz des Stattfindens einer Bewegung (eines Körpers) möglich, daß sich (dieser Körper) nicht bewegt, sondern ruht; wenn sie dagegen keine Bewegungen sind, (so wäre es möglich,) daß die Bewegung nicht aus Bewegungen besteht. Ebenso(sehr bzw. -wenig) wie bei der Länge und der Bewegung ist es notwendig, daß (auch) die Zeit unteilbar ist und sich aus den unteilbaren Jetzten zusammensetzt; denn wenn jede (Bewegung) teilbar ist, das Gleichschnelle aber in kürzerer (Zeit) eine kürzere (Größe) durchläuft, wird auch die Zeit teilbar sein. Wenn aber die Zeit teilbar ist, in der sich etwas entlang der (Strecke) A fortbewegt, wird auch die (Strecke) A teilbar sein. (Phys. VI 1) […] [233a21] Deshalb nimmt auch das Argument Zenons eine Täuschung an, (wenn es voraussetzt,) es sei nicht möglich, in begrenzter Zeit die unbegrenzt vielen (Wegabschnitte) zu durchlaufen oder die unbegrenzt vielen (Punkte) einzeln zu berühren. In zweierlei Sinn nämlich wird sowohl die Länge als auch die Zeit ‚unbegrenzt‘ genannt, und überhaupt alles Zusammenhängende: entweder hinsichtlich der Teilung oder hinsichtlich der äußersten Enden. Nun ist es zwar nicht möglich, die hinsichtlich des Wieviel unbegrenzten Dinge in begrenzter Zeit zu berühren, aber bei den hinsichtlich der Teilung (unbegrenzten Dingen) ist es möglich; auch die Zeit selbst ist nämlich in diesem Sinne unbegrenzt. Daher ergibt es sich in unbegrenzter und nicht in begrenzter (Zeit), daß man das Unbegrenzte durchlaufen wird und daß man die unbegrenzt vielen (Punkte) in den unbegrenzt vielen (Jetzten) berührt, nicht in den begrenzt vielen. Also kann man weder das Unbegrenzte in begrenzter Zeit durchlaufen noch in unbegrenzter das Begrenzte; sondern wenn die Zeit unbegrenzt ist, dann wird auch die Größe unbegrenzt sein, und wenn die Größe, dann auch die Zeit. […] (Phys. VI 2) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 145 1.8 Das Zusammenhängende (Kontinuierliche); Kritik an Zenon [239b5] Zenon begeht einen Trugschluß; er behauptet nämlich, wenn alles immer dann ruhe [oder sich bewege], sooft es sich an dem (ihm selbst) gleichen (Ort) befinde, aber das sich Fortbewegende sich immer im Jetzt befinde, dann sei ‚die‘ (! ) sich fortbewegende Pfeil unbewegt. Das ist aber eine Täuschung; die Zeit ist nämlich nicht aus den unteilbaren Jetzten zusammengesetzt, gerade wie auch durchaus keine andere Größe. Vier sind die Argumente Zenons in bezug auf die Bewegung, welche denjenigen, die (die damit verbundenen Schwierigkeiten) lösen (wollen), diese Mißlichkeiten bereiten; das erste ist das darüber, daß sich nichts bewege, weil das sich Fortbewegende früher bis zur Hälfte gelangen müsse als an das Ziel, worüber wir (schon) in den vorigen Ausführungen Bestimmungen getroffen haben. Das zweite (Argument) ist der sogenannte ‚Achilleus‘; es ist dieses, daß das Langsamste im Lauf niemals vom Schnellsten eingeholt werden werde; vorher müsse nämlich das Verfolgende notwendig (immer erst an den Punkt) kommen, von dem aus das Fliehende (gerade) losgelaufen sei, so daß das Langsamere notwendig immer irgendeinen Vorsprung habe. Aber auch dieses ist dasselbe Argument wie (jenes, das auf ) dem Halbieren (einer Strecke beruht), es unterscheidet sich (nur) darin, daß es die (sukzessive) hinzugenommene Größe nicht in zwei (gleiche) Hälften teilt. Daß nun das Langsamere nicht eingeholt werde, ergibt sich aus dem Argument, aber es beruht auf demselben wie die Halbierung - in beiden (Argumenten) ergibt es sich nämlich, daß etwas nicht an die Grenze (das Ziel) gelangt, weil die Größe irgendwie geteilt wird; allerdings kommt in diesem (Argument) noch dazu, daß nicht einmal das von der Tragödie gefeierte schnellste (Wesen) beim Verfolgen das langsamste (einholen werde) -, so daß notwendig auch die Auflösung dieselbe ist. Zu fordern, daß das, was einen Vorsprung hat, nicht eingeholt werde, ist eine Täuschung; denn es wird (zwar) nicht eingeholt, während es einen Vorsprung hat, es wird aber dennoch eingeholt, wenn man denn nur zugibt, daß (Fliehendes und Verfolgendes) die begrenzte (Größe vollständig) durchlaufen werden. Dies sind also die zwei (ersten) Argumente, aber das dritte ist das soeben genannte, daß ‚die‘ (! ) sich fortbewegende Pfeil stillstehe. Es ergibt sich aus der Annahme, die Zeit sei aus den Jetzten zusammengesetzt; wenn nämlich dies nicht zugegeben wird, wird die Schlußfolgerung nicht gelten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 146 II. Naturphilosophie Das vierte (Argument) ist das in bezug auf die im Stadion aus entgegengesetzter Richtung (kommenden, einander) gleichen (und) vorbei an gleichen sich bewegenden Massen, die einen vom Ziel des Stadions her, die anderen von der Mitte her, mit gleicher Geschwindigkeit, in welchem (Argument) sich ergibt, [240a] wie (Zenon) glaubt, daß die halbe Zeit gleich der doppelten sei. Der Trugschluß besteht darin, zu fordern, daß sich einerseits vorbei an einer sich bewegenden, andererseits vorbei an einer ruhenden (Größe) die gleiche Größe mit der gleichen Geschwindigkeit in der gleichen Zeit fortbewegt; dies ist aber eine Täuschung. Es ergibt sich offenbar, daß sich das erste B zugleich beim letzten (C ) befindet wie das erste C (beim letzten B), wenn sie sich aneinander vorbeibewegen. Es ergibt sich aber (auch), daß das (erste) C an allen [[B]] vorbeigekommen ist, das (erste) B aber (nur) an der Hälfte (aller A), so daß die Zeit die halbe (Zeit) ist; jede der beiden (ersten Massen) befindet sich nämlich für die gleiche (Zeit) neben jeder einzelnen (Masse der anderen Reihe). Zugleich ergibt sich aber, daß das erste B an allen C vorbeigekommen ist; denn das erste C und das erste B werden sich zugleich bei den entgegengesetzten äußersten Enden befinden, [[indem (das erste C ), wie (Zenon) behauptet, für dieselbe Zeit zu jedem einzelnen der B wie (zu jedem einzelnen) der A hinkommt,]] weil beide für die gleiche Zeit zu den A hinkommen. Das Argument ist also dieses, es ergibt aber wegen der genannten Täuschung. Auch hinsichtlich des Wandels im kontradiktorischen Widerspruch wird nun für uns nichts unmöglich (zu erklären) sein, wie z. B. daß, Wie z. B., es seien die stillstehenden gleichen Massen mit AA (bezeichnet); die mit BB (bezeichneten seien jene Massen,) die von der Mitte (des Stadions) her anfangen, sie seien ersteren an Zahl und Größe gleich; die mit CC (bezeichneten kommen) vom äußersten Ende (des Stadions) her, sie seien ersteren an Zahl und Größe gleich und gleich schnell wie die B. A A A A B4 B3 B2 B1 C1 C2 C3 C4 Anfang Ende √ √ A A A A B4 B3 B2 B1 C1 C2 C3 C4 Anfang Ende √ √ Ausgangszustand (240 a 4 ff.) Zweiter Zustand (240 a 10-12) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 147 1.8 Das Zusammenhängende (Kontinuierliche); Kritik an Zenon wenn sich etwas aus dem Nicht-Blassen in das Blasse wandle und sich in keinem der beiden (Zustände) befinde, es folglich weder blaß noch nicht blaß sein werde; es ist nämlich nicht so, daß es, wenn es sich nicht ganz in welchem von beiden (Zuständen) auch immer befindet, nicht ‚blaß‘ oder ‚nicht blaß‘ genannt werden (könnte); ‚blaß‘ oder ‚nicht blaß‘ nennen wir es nämlich nicht (nur) darum, weil es ganz so beschaffen ist, sondern darum, weil seine meisten oder seine wichtigsten Teile (so beschaffen sind); es ist ja nicht dasselbe, sich nicht in diesem (bestimmten Zustand) zu befinden und sich nicht ganz in diesem zu befinden. Gleichermaßen (steht es) auch beim Seienden und beim Nichtseienden und den anderen in einem kontradiktorischen Widerspruch (stehenden Zustandspaaren): Etwas wird sich nämlich zwar aus Notwendigkeit in einem der beiden entgegengesetzten (Zustände) befinden, aber in keinem von beiden immer als Ganzes. Wiederum (keine Schwierigkeit wird uns der Einwand) beim Kreis und bei der Kugel und überhaupt den sich in sich selbst bewegenden (rotierenden) Dingen (bereiten), es werde sich ergeben, daß sie ruhen; sowohl sie selbst als auch ihre Teile würden sich nämlich eine gewisse Zeit lang in demselben Ort befinden, so daß sie zugleich ruhen und sich bewegen würden. Erstens befinden sich nämlich die Teile gar keine Zeit lang in [240b] demselben (Ort), und zweitens wandelt auch das Ganze ständig (seinen Ort) in einen verschiedenen; denn (z. B.) ist der von A und der von B und C und jedem der anderen Punkte (auf einem Kreis) aus (ab)genommene (Kreis-)Umfang nicht derselbe, außer (in dem Sinne) wie der gebildete Mensch und ein Mensch (dasselbe sein können), weil es (letzterem) akzidentell zukommt, (gebildet zu sein). Daher wandelt sich immer der eine (Kreisumfang) in den anderen, und (der rotierende Kreis) wird niemals ruhen. Auf dieselbe Weise (verhält es sich) auch bei der Kugel und bei den anderen sich in sich selbst bewegenden Dingen. (Phys. VI 9) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 148 II. Naturphilosophie 2. Kosmologie ( Über den Himmel ) 2.1 Der erste Körper („Äther“) [268b14] Wir sagen, daß alle natürlichen Körper und Größen an sich hinsichtlich des Ortes beweglich sind, da wir meinen, daß die Natur das Prinzip ihrer Bewegung ist. Nun ist jegliche räumliche Bewegung - wir nennen sie „Ortsbewegung“ - entweder geradlinig oder kreisförmig, oder aber aus diesen beiden zusammengesetzt: Denn allein diese beiden Arten der Bewegung sind einfach. Ursache dafür ist, daß allein diese Größen, nämlich die gerade und die kreisförmige Linie, einfache sind. Kreisförmig ist eine Bewegung, die um einen Mittelpunkt geht, gerade hingegen jene nach oben und nach unten. Mit „nach oben“ meine ich eine Bewegung, die sich vom Mittelpunkt entfernt, mit „nach unten“ hingegen eine solche, die auf ihn zustrebt. Daraus folgt notwendigerweise, daß jede einfache Ortsbewegung von der Mitte weg, auf die Mitte zu oder um diese herum verläuft. (...) [269a2] Wenn es nun also eine einfache Bewegung gibt und die Kreisbewegung einfach ist, und wenn die Bewegung eines einfachen Körpers einfach ist und die einfache Bewegung einem einfachen Körper eigen ist (...) [269a5], so muß es zwingend einen einfachen Körper geben, der von Natur aus so beschaffen ist, daß er eine Kreisbewegung ausführt. (…) [269a18] Überdies muß diese Art der Ortsbewegung (d. h., die kreisförmige) notwendig auch die ursprünglichste sein. Denn das Vollkommene geht von Natur aus dem Unvollkommenen voraus, und der Kreis gehört zu den vollkommenen Dingen, anders als irgendeine gerade Linie: weder die unendliche Gerade - diese hätte dann nämlich Grenze und Ende - noch eine unter denen, die begrenzt sind - denn bei allen diesen gibt es etwas, was außerhalb ihrer liegt, da es möglich ist, jede beliebige von ihnen zu verlängern. Wenn also einerseits die ursprünglichere Bewegung einem Körper zukommt, der von Natur aus ursprünglicher ist, und andererseits die kreisförmige Bewegung ursprünglicher ist als die geradlinige, letztere aber den einfachen Körpern eigen ist (so bewegt sich das Feuer geradlinig nach oben, die erdigen Körper hingegen nach unten auf die Mitte zu), so muß notwendigerweise auch die kreisförmige Bewegung irgendei- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 149 2.1 Der erste Körper („Äther“) nem einfachen Körper zugehören. (...) [269a30] Aufgrund dieser Überlegung ist es offenbar, daß es eine körperliche Substanz gibt, die sich von den Gebilden unterscheidet, welche hier existieren: eine, die göttlicher und ursprünglicher als alle diese ist. [269b26] Jeder Körper, der sich nach oben oder unten bewegt, muß notwendigerweise entweder Leichte oder Schwere besitzen, oder aber beides, dies jedoch nicht im Verhältnis zu ein und demselben Ding (...) [269b29]. Der Körper jedoch, welcher sich im Kreise bewegt, kann nicht Schwere oder Leichte besitzen, da es ihm weder gemäß noch entgegen seiner Natur möglich ist, sich auf den Mittelpunkt zu- oder von diesem wegzubewegen. (...) [270a3] Da das Ganze und der einzelne Teil sich naturgemäß auf denselben Punkt zubewegen, wie es etwa bei der gesamten Erde und einer kleinen Scholle der Fall ist, so folgt daraus erstens, daß dieser Körper überhaupt keine Leichte oder Schwere besitzt - dann wäre er nämlich in der Lage, sich gemäß seiner eigenen Natur entweder auf die Mitte zu- oder von der Mitte wegzubewegen; ferner, daß er keine räumliche Bewegung ausführen kann, weder nach oben, noch indem er nach unten gezogen wird. Es ist nicht möglich, daß er, sei es gemäß oder entgegen seiner Natur, eine andere Bewegung als die ihm eigene ausführe, weder er selbst (in seiner Gesamtheit) noch einer seiner Teile: Denn dieselbe Überlegung gilt für das Ganze wie auch für den Teil. Ebenso ist es vernünftig anzunehmen, daß dieser Körper unentstanden und unvergänglich ist, daß er weder Vergrößerung noch qualitative Veränderung erfährt. Denn alles, was entsteht, entsteht aus einem Gegensatz und unter Vorhandensein eines Substrats, und in gleicher Weise vergeht es auch, indem es, unter Vorhandensein eines Substrats, unter der Einwirkung eines Gegensatzes in einen Gegensatz übergeht, wie es auch in den ersten Untersuchungen gesagt worden ist. Doch bei entgegegesetzten Körpern sind auch die Ortsbewegungen einander entgegengesetzt. Wenn es also zu diesem Körper keinen Gegensatz geben kann, da es ja wohl auch keine Bewegung gibt, die der kreisförmigen entgegengesetzt wäre, dann scheint die Natur recht daran getan zu haben, daß sie das, was unentstanden und unvergänglich sein sollte, dem Bereich der Gegen- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 150 II. Naturphilosophie sätze enthoben hat. Denn Entstehen und Vergehen ereignen sich zwischen Gegensätzen. Überdies aber vergrößert sich all das, was sich vergrößert durch die Einwirkung von etwas Artverwandtem, das sich mit ihm verbindet und sich in seine Materie auflöst; doch es gibt nichts, woraus der betreffende Körper entstanden wäre. Wenn er jedoch weder Vergrößerung noch Zerfall erfährt, so führt dieselbe Überlegung zu der Annahme, daß er auch keiner Veränderung unterliegt. Denn die Veränderung ist eine qualitative Bewegung, und im qualitativen Bereich entstehen die dauerhaften und die vorübergehenden Zustände nicht ohne die Veränderungen der passiven Eigenschaften, wie Gesundheit und Krankheit. Alle natürlichen Körper aber, die sich hinsichtlich ihrer passiven Eigenschaften verändern, erfahren, wie wir sehen, Vergrößerung und Abnehmen: z. B. die Körper der Tiere und ihre Teile sowie die der Pflanzen, in gleicher Weise aber auch die der Elemente. Wenn nun also der Körper, der sich kreisförmig bewegt, weder ein Zunoch ein Abnehmen erfahren kann, so ist folgerichtig, daß er auch unveränderlich ist. Daß somit der erste Körper ewig und weder Zunoch Abnahme unterworfen ist, sondern frei von Alterung und Veränderung und auch von äußeren Einflüssen nicht betroffen ist, geht - wenn man unsere Grundannahmen akzeptiert - aus dem bislang Gesagten klar hervor. (…) [270b16] Ja, es scheint gar sein Name aus der Zeit der Alten bis in die Gegenwart überliefert worden zu sein: Diese stellten ihn sich so vor, wie auch wir ihn beschreiben; denn man muß es sich so denken, daß dieselben Ansichten nicht ein- oder zweimal, sondern unzählige Male auf uns kommen. Daher nannten sie, in der Überzeugung, daß der erste Körper etwas anderes sei als Erde, Feuer, Luft und Wasser, den höchsten Ort „Äther“ (aither), indem sie den Namen, den sie ihm beilegten, vom Umstand herleiteten, daß er ewige Zeit hindurch stets läuft (apo tou thein aei). (Cael. I 2-3) 2.2 Der Kosmos [271b17] Es ist nun notwendig so, daß jeder Körper entweder zu den einfachen oder den zusammengesetzten zählt, und folglich muß auch der unbegrenzte Körper einfach oder zusammengesetzt sein. Aller- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 151 2.2 Der Kosmos dings ist auch klar, daß, wenn die einfachen Körper begrenzt sind, auch der zusammengesetzte Körper begrenzt sein muß. Denn was aus Teilen zusammengesetzt ist, die sowohl der Zahl als auch der Größe nach begrenzt sind, ist seinerseits der Zahl und der Größe nach begrenzt: Seine Größe entspricht nämlich derjenigen der Teile, aus denen es zusammengesetzt ist. Somit bleibt also zu prüfen, ob es sein kann, daß irgendeiner der einfachen Körper an Größe unbegrenzt sei, oder ob dies unmöglich ist. Nachdem wir zunächst den ersten Körper behandelt haben, wollen wir dann auch die übrigen untersuchen. (…) [271b26] Daß der Körper, der sich kreisförmig bewegt, in seinem Gesamtumfang begrenzt sein muß, wird aus folgenden Überlegungen klar. Wenn nämlich der Körper, der sich im Kreise bewegt, unbegrenzt ist, dann werden auch die Linien unbegrenzt sein, die vom Mittelpunkt seiner Kreisbahn ausgehen. Doch zwischen unbegrenzten Linien besteht ein unbegrenzter Zwischenraum (unter dem „Zwischenraum“ zweier Linien verstehe ich den Raum, außerhalb dessen sich keine Größe annehmen läßt, welche die betreffenden Linien tangiert). Dieser Zwischenraum muß also unbegrenzt sein, da er bei begrenzten Linien stets selbst begrenzt ist. Außerdem ist es immer [272a] möglich, sich einen Zwischenraum vorzustellen, der größer ist als der jeweils gegebene. Wie wir also von der Unendlichkeit der Zahl sprechen, weil es keine größte gibt, so gilt diese Überlegung auch für den Zwischenraum. Wenn man also einerseits das Unbegrenzte nicht durchqueren kann, und andererseits aus der Unbegrenztheit eines Körpers auch notwendig ein unbegrenzter Zwischenraum folgt, dann kann ein unbegrenzter Körper sich nicht im Kreise bewegen. Allerdings sehen wir, daß der Himmel einen Kreisumlauf beschreibt, und wir haben durch vernunftgemäße Überlegung festgesetzt, daß die kreisförmige Bewegung irgendeinem Körper eigen ist. (...) [272b28] Außerdem: Wenn der Himmel unbegrenzt ist und sich kreisförmig bewegt, so wird er das Unendliche in einem begrenzten Zeitraum durchquert haben. Denn nehmen wir an, daß der eine Himmel, der ruht, unbegrenzt sei und (ein zweiter Himmel), der sich innerhalb des ersten bewegt, die gleiche Ausdehnung besitze. Wenn also letzterer, der ja unbegrenzt ist, einen kreisförmigen Umlauf ausgeführt hat, dann hat er in einer begrenzten [273a] Zeit einen unbegrenzten Raum durchquert, der seiner eigenen Ausdehnung gleich © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 152 II. Naturphilosophie ist. Doch dies ist, wie wir gesehen haben, unmöglich. Man kann dies auch umgekehrt formulieren: Wenn der Zeitraum, in dem der Umlauf ausgeführt wurde, begrenzt ist, so muß notwendigerweise auch die Größe des durchquerten Raumes begrenzt sein. Der Himmel hat aber einen Raum durchquert, der ihm selbst gleich ist: Also ist auch er selbst begrenzt. Somit ist klar, daß das, was sich im Kreis bewegt, weder endlos noch unbegrenzt ist, sondern ein Ende hat. Und doch wird auch weder das, was sich auf den Mittelpunkt zu, noch das, was sich von diesem fortbewegt, unbegrenzt sein. Denn die Ortsbewegung nach oben und die nach unten sind einander entgegengesetzt, und einander entgegengesetzte Ortsbewegungen führen zu entgegengesetzten Orten. Wenn aber von den Gegensätzen der eine bestimmt ist, dann wird dies auch der andere sein. Der Mittelpunkt ist nun bestimmt: Denn der Körper, der die tiefste Stelle einnimmt, kann, von woher er sich auch nach unten bewegt, nicht den Mittelpunkt überschreiten. Wenn aber der Mittelpunkt bestimmt ist, dann muß dies auch der Ort von oben sein. Und wenn die Orte bestimmt und begrenzt sind, dann werden dies auch die Körper sein. Wenn ferner das Oben und das Unten bestimmt sind, so muß dies auch für das Dazwischenliegende gelten: Ist dieses nämlich nicht bestimmt, dann müßte die Bewegung unbegrenzt sein, was allerdings, wie wir zuvor nachgewiesen haben, unmöglich ist. Der Mittelpunkt ist also bestimmt, und infolgedessen gilt gleiches für den Körper, der sich dort befindet oder dorthin gelangen kann. Freilich kann der Körper, der sich nach oben, und jener, der sich nach unten bewegt, dorthin gelangen, denn von Natur aus bewegt sich der eine vom Mittelpunkt weg und der andere auf diesen zu. Aufgrund dieser Überlegungen kann es offensichtlich keinen unbegrenzten Körper geben. (Cael. I 5-6) [277b12] Daß der Himmel (des Kosmos) notwendig ein einziger sein muß, wird klar, wenn man das Problem wie folgt betrachtet. Da die körperlichen Elemente nämlich drei an der Zahl sind, werden auch die Orte dieser Elemente drei sein. Einer wird der desjenigen Körpers sein, der nach unten sinkt - nämlich der, welcher sich um den Mittelpunkt herum befindet; ein anderer der des Körpers, der sich kreis- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 153 2.2 Der Kosmos förmig bewegt - dieser ist der äußerste Rand - und der dritte, der sich dazwischen befindet, der des mittleren Körpers. Denn was sich (über die anderen Körper) erhebt, muß sich an letzterem Orte befinden; andernfalls müßte es nämlich außerhalb des Himmels sein, doch dies ist unmöglich. Denn das eine besitzt keine Schwere, das andere hingegen schon, und der Ort des Körpers, der Schwere besitzt, liegt weiter unten, wenn denn der Ort, der sich beim Mittelpunkt befindet, der des Schweren ist. Und auch naturwidrig kann es sich nicht dort (d. h., außerhalb des Himmels) befinden. Dann nämlich wird dieser Ort für einen anderen Körper naturgemäß sein, und wie wir gesehen haben, gibt es keinen anderen Körper. Also muß es sich notwendig am mittleren Orte befinden. (Cael. I 8) [279b17] Nun ist die Behauptung, (die Welt) sei entstanden und gleichwohl ewig, unmöglich. Denn nur das kann man vernünftigerweise annehmen, was unserer Beobachtung zufolge in vielen oder in allen Fällen gegeben ist, während in unserem Fall das Gegenteil zutrifft. Es ist ja offenbar, daß alles, was entsteht, auch vergeht. Außerdem kann sich das, dessen gegenwärtiger Zustand keinen Anfang hat und das sich während der gesamten Dauer seiner früheren Existenz niemals in einem anderen Zustand hat befinden können, auch unmöglich verändern. Denn in diesem Falle wird es eine Ursache dafür geben, und wenn diese bereits zuvor bestanden hätte, dann hätte das, was sich unmöglich in einem anderen Zustand befinden kann, sich in einem anderen Zustand befinden können. Wenn aber die Welt aus der Zusammensetzung von Teilen entstanden ist, die zuvor in einem anderen Zustand waren, so wäre sie, falls diese Teile stets in diesem Zustand waren und sich unmöglich in einem anderen Zustand befinden konnten, gar nicht erst entstanden. Wenn sie nun aber entstanden ist, so folgt daraus mit offenkundiger Notwendigkeit, daß diese Teile in der Lage sein müssen, sich in einem anderen Zustand zu befinden, und nicht stets im selben Zustand zu verharren. Folglich werden sich die Teile, nachdem sie zusammengetreten sind, auflösen und waren auch früher getrennt, als sie zusammentraten, und dies ist unbegrenzt oft der Fall gewesen oder hat es zumindest sein können. Trifft dies aber zu, so kann die Welt wohl nicht unvergänglich sein, gleich ob sie sich © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 154 II. Naturphilosophie jemals tatsächlich in einem anderen Zustand befunden hat oder nur die Möglichkeit dazu hatte. (Cael. I 10) [281a28] Wenn einige Dinge die Möglichkeit haben, zu sein und auch nicht zu sein, so muß notwendigerweise ein zeitliches Höchstmaß für ihr Sein und ihr Nichtsein festgesetzt sein; ich meine damit die Zeit, für die das Ding sein, und diejenige, für die es nicht sein kann, und zwar hinsichtlich jeder beliebigen Kategorie, also beispielsweise ein Mensch, oder weiß, oder drei Ellen lang, oder irgendeine andere derartige Bestimmung. Wenn die Zeit nicht eine bestimmte ist, sondern diese stets größer ist als die gegebene Zeit, und es keine Zeit gibt, im Vergleich zu der sie geringer wäre, so wird es dem Ding möglich sein, für unbegrenzte [281b] Zeit zu existieren und für eine andere ebenfalls unbegrenzte Zeit nicht zu existieren. Dies aber ist unmöglich. (...) [281b18] Wenn aber etwas für eine unbegrenzte Zeit die Fähigkeit zu mehreren Zuständen hat, so ist dies nicht zu verschiedenen Zeiten der Fall, sondern gleichzeitig. Wenn folglich etwas, das für eine unbegrenzte Zeit existiert, vergänglich ist, so muß es das Vermögen besitzen, nicht zu existieren. Ist nun die Zeit, von der wir sprechen, unbegrenzt, so nehmen wir an, daß das, wozu es fähig ist, sich verwirklicht. Es wird also in Wirklichkeit zugleich existieren und nicht existieren. Es folgt also ein falscher Schluß, da eine falsche Annahme zugrunde gelegt wurde. Doch wäre letztere nicht unmöglich, dann wäre es auch der Schluß nicht, der daraus folgt. Somit ist alles, was immer existiert, schlechthin unvergänglich. In gleicher Weise ist es auch unentstanden. Ist es nämlich entstanden, so wird es das Vermögen besitzen, für eine bestimmte Zeit nicht zu existieren - denn vergänglich ist das, was zuvor existiert hat, nun aber nicht mehr existiert oder die Möglichkeit besitzt, zu einer späteren Zeit nicht mehr zu existieren; entstanden aber ist das, was die Möglichkeit hat, früher nicht existiert zu haben - doch es gibt keine Zeit, in der es möglich ist, daß das, was immer existiert, nicht existiert, weder eine unbegrenzte noch eine begrenzte. Denn es vermag für eine begrenzte Zeit zu existieren, wenn es dies denn auch für unbegrenzte Zeit vermag. So ist es also unmöglich, daß ein und dasselbe Ding immer existieren und immer nicht existieren könnte. Aber auch die Negation dessen ist nicht möglich, womit ich meine, daß es bei- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 155 2.2 Der Kosmos spielsweise nicht immer existiert. Demnach ist es unmöglich, daß etwas immer existiert, dabei aber vergänglich [282a] ist. Und es ist ebenso unmöglich, daß es entstanden ist. Denn wenn von zwei Bestimmungen die letztere ohne die erstere nicht bestehen kann, es aber unmöglich ist, daß die erstere besteht, so ist dies auch für die letztere unmöglich. Daraus folgt, daß, wenn das stets Existierende unmöglich einmal auch nicht existieren kann, dieses unmöglich entstanden sein kann. (Cael. I 12) [283b26] Daß also der Himmel in seiner Gesamtheit weder entstanden ist noch vergehen kann, wie es einige behaupten, sondern einzig und ewig, daß seine gesamte Existenzdauer keinen Anfang und kein Ende hat, sondern daß er die unbegrenzte Zeit in sich einschließt und umfaßt, darüber kann man aus unseren bisherigen Ausführungen Gewißheit erlangen. (…) [284a2] Es ist richtig, sich davon zu überzeugen, daß die Lehren der Alten und insbesondere unserer Vorfahren der Wahrheit entsprechen, daß es nämlich etwas Unsterbliches und Göttliches gibt unter den Dingen, die eine Bewegung haben, und zwar eine solche, die keine Grenze besitzt, sondern vielmehr die Grenze der anderen bildet. Die Grenze gehört nämlich zu den umfassenden Dingen, und diese Bewegung umfaßt in ihrer Vollkommenheit diejenigen, die unvollkommen und begrenzt sind und zur Ruhe kommen, während sie selbst weder Anfang noch Ende besitzt, sondern unaufhörlich durch die unbegrenzte Zeit existiert. Für die anderen Bewegungen ist sie einesteils Ursache ihres Anfangs, andernteils nimmt sie deren Aufhören in sich auf. Den Himmel und den oberen Ort haben die Alten den Göttern zugewiesen, und zwar in der Meinung, daß nur er unsterblich sei. Die vorliegende Abhandlung bezeugt nun, daß er unvergänglich und unentstanden und zudem keiner sterblichen Widrigkeit ausgesetzt ist, und daß er außerdem keine Mühsal erleidet, weil er keiner gewaltsamen Notwendigkeit bedarf, die ihn zurückhielte und an einer anderen Bewegung hinderte, die seiner natürlichen Veranlagung entsprechen würde. Denn solches alles erleidet Mühsal, umso größere, je mehr es ewig ist, und hat keinen Anteil am besten Zustand. Deshalb darf man nicht annehmen, daß es sich mit dem Himmel so verhalte, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 156 II. Naturphilosophie wie es der Mythos der Alten besagt, die ja behaupten, daß er zu seinem Erhalt einen gewissen Atlas benötige. Es scheint, daß die Leute, die sich diese Geschichte ausgedacht haben, dieselbe Vorstellung vertraten wie die Späteren: Denn als wären alle Körper dort oben schwer und erdig, haben sie ihm in mythischer Denkweise zur Stütze eine beseelte Notwendigkeit untergeschoben. (...) [284a27] Es ist aber auch nicht vernünftig zu behaupten, daß er durch die Einwirkung einer ihn zwingenden Seele ewig Bestand habe. Denn es ist nicht möglich, daß für die Seele ein derartiges Leben frei von Beschwernis und glückselig sei, weil die Bewegung, die mit Gewalt verbunden ist - wenn sie denn den ersten Körper bewegt, dem von Natur aus eine andere Bewegung eigen ist, und dies beständig tut - ruhelos sein muß. Und sie muß jeder geistigen Erholung ledig sein, wenn ihr, anders als der Seele der sterblichen Lebewesen, keine durch den Schlaf bedingte Entspannung des Körpers Ruhe verschafft, sondern zwangsläufig wird das Schicksal eines Ixion sie ewig und unabwendbar umfangen halten. Wenn es nun also, wie ge[284b]sagt, möglich ist, die erste Ortsbewegung in der genannten Weise zu erklären, so können wir uns nicht nur die Ewigkeit des Himmels auf angemessenere Art vorstellen, sondern können allein auf diesem Wege Lehren darlegen, welche nach allgemeiner Auffassung mit der Intuition über das Göttliche im Einklang stehen. (Cael. II 1) [286b10] Der Himmel muß eine kugelförmige Gestalt haben: Denn diese ist seiner Substanz am eigentümlichsten und von Natur aus die erste. Doch wir wollen von den Figuren im allgemeinen sprechen, davon, welche die erste ist, und zwar sowohl bei den Flächen wie auch bei den festen Körpern. Jede flache Figur ist entweder geradlinig oder kurvenlinig; und zwar ist die geradlinige von mehreren Linien umschlossen, die kurvenlinige von einer einzigen. Da in jeder Gattung das Eine ursprünglicher ist als das Viele und das Einfache ursprünglicher als das Zusammengesetzte, ist der Kreis wohl die erste der flachen Figuren. Wenn ferner gemäß unserer vorangegangenen Bestimmung dasjenige vollkommen ist, außerhalb dessen keiner der ihm eigenen Teile gefunden werden kann, und wenn es stets möglich ist, der geraden Linie etwas hinzuzufügen, der kreisförmigen hingegen niemals, so wird eindeutig die Linie, die den Kreis umschließt, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 157 2.2 Der Kosmos vollkommen sein; wenn also das Vollkommene ursprünglicher ist als das Unvollkommene, so dürfte der Kreis auch aus diesem Grunde die erste der Figuren sein. Ebenso ist auch die Kugel der erste der festen Körper. Denn sie allein wird von einer einzigen Fläche umfaßt, die geradlinigen Körper hingegen von mehreren. Was also der Kreis unter den Flächen ist, ist die Kugel unter den festen Körpern. (...) [287a2] Da die erste Figur dem ersten Körper eigen ist und der erste Körper derjenige ist, der sich in der äußersten Umdrehung befindet, so ist wohl der Körper, der sich in kreisförmiger Umlaufbahn bewegt, kugelförmig. So verhält es sich auch mit dem Körper, der an ihn angrenzt, denn was an das Kugelförmige angrenzt, ist selbst kugelförmig. Das gleiche gilt für die Körper, die sich innerhalb der genannten befinden, da die Körper, die vom Kugelförmigen umschlossen sind und dieses überall berühren, notwendigerweise allesamt kugelförmig sind; die Körper aber, die sich unterhalb der Sphäre der Planeten befinden, berühren die obere Sphäre. Demnach dürfte dieses Gebiet insgesamt kugelförmig sein, da alle Körper, die es enthält, die Sphären berühren und an diese angrenzen. Da ferner, wie man sehen kann und wir auch angenommen haben, das All sich in kreisförmigem Umlauf dreht und wir andererseits bewiesen haben, daß außerhalb der äußersten Umdrehung weder Leere noch irgendein Ort existiert, so muß der Himmel auch aus diesem Grunde kugelförmig sein. Wäre er nämlich geradlinig, dann folgte daraus, daß außerhalb von ihm auch Ort, Körper und Leere existierten. Denn der geradlinige Körper, der sich kreisförmig bewegt, nimmt nie denselben Raum ein, sondern wo vorher ein Körper war, wird jetzt keiner mehr sein, und wo jetzt keiner ist, wird später wieder einer sein, und zwar aufgrund der Lageveränderung der Winkel. Ebenso verhielte es sich, wenn der Himmel eine andere Gestalt hätte, bei der die Linien, die von seiner Mitte ausgehen, nicht gleich lang wären, wenn er etwa linsenförmig oder eiförmig wäre. Bei allen diesen Figuren wird man zu dem Schluß kommen, daß außerhalb der Bewegung ein Ort und eine Leere existieren, da das Ganze nicht stets denselben Raum einnähme. Wenn ferner die Ortsbewegung des Himmels deshalb das Maß der anderen Bewegungen ist, weil sie allein kontinuierlich, gleichmäßig und ewig ist, und wenn in allem die kleinste Einheit das Maß dar- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 158 II. Naturphilosophie stellt, die schnellste Bewegung aber die kleinste ist, dann ist offensichtlich die Bewegung des Himmels die schnellste von allen. Nun ist aber von allen Linien, die von einem Punkt ausgehen und zu diesem zurückkehren, die Kreislinie die kürzeste, und entlang der kürzesten Linie ist die Bewegung am schnellsten. Daraus folgt, daß der Himmel, wenn er sich im Kreis und schnellstmöglichst bewegt, kugelförmig sein muß. (…) [287a32] Wenn das Wasser die Erde umgibt, die Luft das Wasser und das Feuer die Luft, und auch die oberen Körper in gleicher Weise (verteilt sind) - denn sie sind mit den ersteren zwar nicht kontinuierlich, berühren sie [287b] jedoch - und wenn die Wasseroberfläche kugelförmig ist, dann muß das, was mit dem Kugelförmigen kontinuierlich ist oder das Kugelförmige umgibt, auch selbst notwendig von solcher Gestalt sein. Demzufolge dürfte auch aus diesem Grunde offensichtlich sein, daß der Himmel kugelförmig ist. Daß aber die Wasseroberfläche die genannte Gestalt besitzt, ist klar, wenn wir davon ausgehen, daß das Wasser von Natur aus immer an den tiefer gelegenen Ort fließt; tiefer gelegen ist aber der Ort, der dem Zentrum näher ist. Ziehen wir also vom Zentrum aus die Linien AB und AC und verbinden wir sie mit der Linie BC. Die Linie AD, die auf die Basis hin gezogen ist, ist also kürzer als die Linien, die vom Zentrum ausgehen. Demnach ist dieser Ort tiefer gelegen; das Wasser wird demzufolge dorthin fließen, bis es einen Ausgleich geschaffen hat. Nun ist die Linie AE ebenso lang wie die Radien, woraus notwendig folgt, daß das Wasser die Höhe der Radien erreicht, denn dann wird es zum Stillstand kommen. Doch die Linie, die (das obere Ende) der Radien berührt, ist kreisförmig, somit ist die Wasseroberfläche BEC kugelförmig. (Cael. II 4) 2.3 Die Erde [296a25] Die einen Denker machen (die Erde) zu einem der Gestirne, während die anderen sie in der Mitte (des Alls) lokalisieren und behaupten, daß sie sich um die mittlere Achse drehe und bewege. Daß dies unmöglich ist, wird dann klar, wenn man von folgender Überlegung ausgeht. Wenn die Erde, gleich ob sie sich außerhalb der Mitte oder in der Mitte befindet, sich bewegt, dann muß sie diese © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 159 2.3 Die Erde Bewegung notwendig aufgrund einer Gewalteinwirkung ausführen, da sie der Erde nicht eigen ist. In diesem Falle nämlich müßte jeder ihrer Teile über diese Ortsbewegung verfügen, in Wirklichkeit aber bewegen sich diese allesamt in gerader Linie zum Zentrum hin. Und eben deshalb kann diese Bewegung nicht ewig sein, ist sie doch gewaltsam und wider die Natur; die Ordnung des Alls ist aber ewig. (...) [296b6] Ferner ist die naturgemäße Ortsbewegung der einzelnen Teile wie auch der Erde selbst in ihrer Gesamtheit auf die Mitte des Alls hin gerichtet, und deshalb befindet sie sich jetzt in der Mitte. Da die Mitte für beide dieselbe ist, könnte man das Problem aufwerfen, welches die Mitte sei, zu der sich die schweren Körper und die Teile der Erde naturgemäß hin bewegen: Tun sie dies deshalb, weil die Mitte die des Alls oder weil sie die der Erde ist? Notwendigerweise streben sie der Mitte des Alls zu, weil die leichten Körper und das Feuer, die sich in der Richtung bewegen, die derjenigen der schweren Körper entgegengesetzt ist, sich zum äußersten Rand des Raumes bewegen, der die Mitte umschließt. Es trifft sich aber, daß die Mitte der Erde mit der des Alls identisch ist, und so bewegen sich (die fraglichen Körper) auch auf den Mittelpunkt der Erde zu, tun dies jedoch nur akzidentiell, deshalb nämlich, weil die Erde ihre Mitte im Mittelpunkt des Alls hat. Daß sie sich auch auf die Mitte der Erde zubewegen, darauf deutet die Tatsache, daß die schweren Körper, welche sich zur Erde hin bewegen, diese Bewegung nicht in parallelen Linien ausführen, sondern in gleichen Winkeln, woraus folgt, daß sie sich auf einen einzigen Mittelpunkt zubewegen, der auch derjenige der Erde ist. So ist also offensichtlich, daß die Erde sich notwendig im Mittelpunkt befinden und unbewegt sein muß, sowohl aus den genannten Gründen als auch deshalb, weil die schweren Körper, die man gewaltsam senkrecht nach oben wirft, wieder an denselben Ort zurückfallen, selbst wenn die Kraft sie in unendliche Weite schleuderte. (…) [297a8] Daß (die Erde) eine kugelförmige Gestalt besitzt, ist notwendig der Fall. Denn jeder ihrer Teile besitzt so lange ein Gewicht, bis er zum Mittelpunkt gelangt, und der kleinere wird vom größeren angestoßen und kann sich nicht nach Art einer Welle erheben, sondern wird vielmehr zusammengedrückt, und so trifft ein Teil auf den anderen, bis sie das Zentrum erreichen. (…) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 160 II. Naturphilosophie [297b17] Nach dieser Argumentation ist die Gestalt (der Erde) also notwendigerweise kugelförmig, und ebenso auch deshalb, weil alle schweren Körper beim Fallen gleiche Winkel bilden, anstatt parallele Linien zu beschreiben. Dies ist aber die naturgemäße Art der Ortsbewegung zu einem von Natur aus kugelförmigen Körper. Demnach ist die Erde kugelförmig, oder es liegt wenigstens in ihrer Natur, kugelförmig zu sein. Man sollte jedes Ding als das bezeichnen, was es von Natur aus zu sein und als welches es zu existieren strebt, und nicht als das, was es aufgrund von Gewalteinwirkung oder wider seine Natur ist. Ferner (läßt sich die Kugelgestalt der Erde) auch aus den wahrnehmbaren Phänomenen (begründen). Andernfalls hätten die Mondfinsternisse keine solchen Trennlinien. Denn in der Tat weist der Mond bei seinen Formveränderungen im Laufe des Monats alle Arten von Teilungsformen auf (er wird nämlich geradlinig abgeschnitten, auf beiden Seiten gekrümmt und sichelförmig), doch während der Finsternisse hat er stets eine gekrümmte Trennlinie, und wenn er durch das Dazwischentreten der Erde verfinstert wird, dann ist es folglich das kugelförmige Profil der Erde, welches für die Form der Trennlinie verantwortlich ist. Außerdem wird aus dem Anblick der Gestirne nicht nur klar, daß die Erde kugelförmig ist, sondern auch, daß ihre Größe nicht bedeutend ist. Denn wenn wir unseren Standpunkt ein wenig nach Süden oder Norden hin verlagern, dann ändert sich der Horizont merklich, so daß sich die [298a] Sterne, die sich über unserem Kopf befinden, deutlich verändern und wir nicht dieselben Sterne sehen, wenn wir uns nach Norden oder Süden begeben. Einige Gestirne lassen sich nämlich in Ägypten und auf Zypern beobachten, in den nördlichen Regionen hingegen nicht, und diejenigen Sterne, die im Norden durchgängig sichtbar sind, gehen in den genannten Ländern unter. Aus diesen Beobachtungen folgt offensichtlich nicht nur, daß die Gestalt der Erde die einer Kugel ist, sondern auch, daß es sich um eine nicht sehr große Kugel handelt; denn sonst würden die Folgen einer derart kleinen Ortsverlagerung nicht so schnell sichtbar. Deshalb scheinen die Leute, nach deren Annahme das Gebiet um die Säulen des Herakles an die Gegend um Indien grenzt und es auf diese Weise ein einziges Meer gibt, keine allzu unglaubliche Vermutung anzustel- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 161 3.1 Die Elementarqualitäten; das Blut len. Sie führen zur Bekräftigung ihrer Behauptung auch die Elefanten an, deren Gattung in den beiden Randgebieten vorkommt, und sind der Meinung, daß die beiden Randgegenden diese Eigenschaft gemeinsam hätten, weil sie aneinander grenzten. Und die Mathematiker, welche versuchen, die Länge des Erdumfanges zu berechnen, sagen, daß diese ungefähr vierhunderttausend Stadien betrage. Auf der Grundlage dieser Beweise ergibt sich nicht nur, daß die Masse der Erde notwendig kugelförmig sein muß, sondern auch, daß ihr Umfang im Vergleich zu den anderen Gestirnen nicht groß ist. (Cael. II 14) 3. Zoologie 3.1 Die Elementarqualitäten; das Blut [647b10] Von den homogenen Teilen in den Lebewesen sind die einen weich und feucht, die anderen trocken und fest, und zwar feucht entweder immer oder, solange sie in dem natürlichen Verbund sind, wie Blut, Serum, Schmalz, Talg, Mark, Samen, Galle, Milch - soweit sie vorkommt - Fleisch und das diesen Analoge. Denn nicht alle Lebewesen sind mit diesen Teilen versehen, sondern einige nur mit dem, was einigen von diesen (Teilen) analog ist. Andere homogene Teile sind trocken und fest, z. B. Knochen, Gräten, Sehnen, Adern. Und auch bei den (einzelnen) homogenen Teilen (selbst) ergibt sich bei der Einteilung ein Unterschied. Manchmal nämlich trägt bei einigen der Teil den gleichen Namen wie das Ganze, z. B. ein Stück Ader heißt Ader, manchmal aber nicht den gleichen Namen. Dagegen heißt ein Stück des Gesichts auf keinen Fall Gesicht. Zunächst nun gilt, daß sowohl die feuchten als auch die trockenen (homogenen) Teile auf vielerlei Art Ursache sind. Zum Teil sind sie nämlich gewissermaßen Material der inhomogenen Teile; aus ihnen besteht nämlich jeder der organischen Teile, also aus Knochen, Sehnen und Fleisch und anderem Derartigem, wobei sie teils zur Existenz, teils zur Funktion dieser (inhomogenen) Teile beitragen, ein anderer Teil von den feuchten (homogenen Teilen) dient deren Ernährung (alles verdankt ja dem Feuchten sein Wachstum), bei anderen homogenen Teilen ergibt es sich, daß sie Überreste von diesen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 162 II. Naturphilosophie sind, z. B. der Rückstand der trockenen Nahrung und bei denen, die eine Blase haben, der Rückstand der feuchten Nahrung. Die Unterschiede, die eben diese (homogenen Teile) untereinander aufweisen, sind um des Besseren willen, wie unter anderem die Unterschiede des einen Blutes von einem anderen Blut. Das eine ist nämlich dünner, das andere dicker und das eine ist reiner und das andere trüber, ferner ist das eine kälter und das andere wärmer, und zwar gilt dies (1) für das Blut in den Teilen eines einzigen Lebewesens (das Blut in den oberen Teilen unterscheidet sich im Verhältnis zu dem in den unteren Teilen durch eben diese Unterschiede) als auch (2) für das Blut des einen Lebewesens im Verhältnis zum Blut eines anderen. Und (3) allgemein gesehen [648a] sind die einen Lebewesen Bluttiere, die anderen haben statt des Blutes einen anderen ähnlichen Bestandteil. Mehr Kraft produzierend ist das dickere Blut und das wärmere, zur Wahrnehmung und zum Denken geeigneter ist das dünnere und kältere. Denselben Unterschied besitzen aber auch einige Flüssigkeiten, die analog zum Blut vorhanden sind; deshalb sind auch Bienen und andere derartige Lebewesen ihrer Natur nach verständiger als viele Bluttiere, und von den Bluttieren sind diejenigen, die kaltes und dünnes Blut haben, verständiger als die ihnen entgegengesetzten. Am besten aber sind diejenigen, die warmes, dünnes und reines Blut haben; denn solche Lebewesen sind sowohl im Hinblick auf Tapferkeit als auch im Hinblick auf Verständigkeit in gutem Zustand. Deshalb haben auch die oberen Teile im Verhältnis zu den unteren diesen Unterschied, und im Verhältnis zum weiblichen wiederum das männliche Geschlecht, und die rechte Seite im Verhältnis zur linken. Man muß aber vermuten, daß in gleicher Weise auch hinsichtlich der übrigen Teile, und zwar sowohl der homogenen als auch der inhomogenen, dieser Unterschied besteht, teils im Hinblick auf die Funktionen und das Wesen eines jeden Lebewesens, teils zum besseren oder Schlechteren, wie zum Beispiel von zwei Arten von Lebewesen, die Augen besitzen, die einen Augen von harter Beschaffenheit, die anderen solche von feuchter Beschaffenheit haben und die einen keine Augenlider besitzen, die anderen aber solche besitzen, damit die Sehkraft genauer ist. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 163 3.1 Die Elementarqualitäten; das Blut Daß es aber notwendig ist, entweder Blut zu haben oder etwas, das dieselbe Beschaffenheit wie dieses hat, und welches die Natur des Blutes ist, davon können wir die Ursachen betrachten, nachdem wir zunächst vom Warmen und Kalten gehandelt haben. Denn das Wesen vieler (Faktoren) wird auf diese Prinzipien zurückgeführt, und viele streiten sich darüber, welche Lebewesen oder Teile warm sind und welche kalt. Einige nämlich behaupten, daß die Wassertiere wärmer sind als die Landtiere, indem sie sagen, daß die Wärme, die ihre Natur besitzt, die Kälte des Ortes ausgleicht, und daß die Blutlosen wärmer als die Bluttiere und die weiblichen Wesen wärmer als die männlichen Wesen sind; z. B. sagen Parmenides und einige andere, daß die Frauen wärmer als die Männer sind, so als ob wegen der Wärme und weil die weiblichen Wesen blutreich sind, die Menstruation entsteht; Empedokles aber sagt das Gegenteil. Weiterhin sagen einige von Blut und Galle, daß eins von ihnen warm sei, und andere, daß es kalt sei. Wenn es aber eine solche Streiterei über das Warme und das Kalte gibt, was sollen wir von den anderen Qualitäten annehmen? Denn diese sind von den sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten für uns die deutlichsten. Dies scheint sich aber zu ergeben, weil der Ausdruck „das Wärmere“ auf vielfältige Weise gebraucht wird; [648b] denn jeder scheint etwas Richtiges zu sagen, auch wenn er das Entgegengesetzte formuliert. Deshalb muß man sich klar darüber sein, in welcher Weise man die von Natur aus bestehenden Dinge teils warm, teils kalt, teils trocken, teils feucht nennen soll, da ja offensichtlich gerade diese (Qualitäten) die Ursachen von Tod und Leben zu sein scheinen, ferner von Schlaf und Wachsein, von Reife und Alter und Krankheit und Gesundheit, nicht aber eine bestimmte Rauheit und Glätte und auch nicht eine bestimmte Schwere oder Leichtigkeit oder, um es kurz zusagen, irgend etwas anderes Derartiges. Dies ist auch ein ganz folgerichtiges Resultat; wie nämlich vorher an anderer Stelle gesagt worden ist, sind diese Qualitäten, nämlich warm, kalt, trocken und feucht, Prinzipien der natürlichen Elemente. Wird nun der Begriff „das Warme“ in einer einzigen Bedeutung gebraucht oder in mehrfacher Bedeutung? Man muß offenbar erfassen, was die Leistung des „Wärmeren“ ist, bzw. wieviele Leistungen es sind, wenn es mehrere sind. In einem Sinne (1) wird dasjenige wär- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 164 II. Naturphilosophie mer genannt, von dem das, was mit ihm in Kontakt ist, mehr erwärmt wird, in anderer Weise (2) das, das beim Berühren mehr Empfindung bewirkt, und zwar besonders, wenn sie mit Schmerz verbunden ist. Es ist dies offensichtlich aber manchmal falsch; manchmal ist nämlich das Allgemeinbefinden Ursache für die Schmerzempfindung. Weiterhin (3) wird das, welches das Schmelzbare stärker zum Schmelzen und das Brennbare starker zum Brennen bringt, wärmer genannt. Wenn ferner dieselbe Substanz teils in größerem, teils in geringerem Maße vorhanden ist, nennt man sie wärmer, wenn sie in größerem Maße, als wenn sie in geringerem Maße vorhanden ist (4). Außerdem wird von zwei Substanzen diejenige wärmer genannt, die nicht schnell abkühlt, sondern langsam (5); und wir sagen, daß das, was sich schneller erwärmt (6), von seiner Natur her wärmer ist als das, was sich langsam erwärmt, so als ob die letztgenannte Substanz (dem Warmen) entgegengesetzt ist, weil sie entfernter ist, die erstgenannte aber ihm ähnlich, weil sie ihm nahe ist. In so vielen Bedeutungen nun, wenn nicht in noch mehr, wird das eine wärmer als das andere genannt. Es ist aber unmöglich, daß alle diese Weisen (des Warmseins) ein und demselben Gegenstand zukommen. Zwar wärmt das kochende Wasser mehr als die Flamme, doch das Brennbare und Schmelzbare wird von der Flamme verbrannt, keineswegs aber vom Wasser. Ferner ist das kochende Wasser wärmer als ein kleines Feuer, das warme Wasser erkaltet aber auch schneller und intensiver als ein kleines Feuer; denn Feuer wird nicht kalt, Wasser aber wird es in jedem Fall. Ferner ist das kochende Wasser zwar bei der Berührung wärmer, es erkaltet aber schneller und gefriert schneller als das Öl. Ferner ist das Blut bei der Berührung wärmer als Wasser und Öl, es erstarrt aber schneller. Ferner erwärmen sich Steine und Eisen und derartiges langsamer als Wasser; wenn sie aber erwärmt sind, haben sie eine stärkere Verbrennungskraft. Außerdem haben von den genannten warmen Körpern die einen fremde Wärme, [649a] die anderen eigene Wärme. Es macht aber einen außerordentlichen Unterschied aus, ob etwas auf diese oder auf jene Weise warm ist. Denn das erstere läuft fast darauf hinaus, daß es nur zufällig warm ist, aber nicht an sich, so wie wenn jemand sagen wollte, daß, wenn der Fieberkranke zufällig Musiker ist, der Musiker wärmer ist als der (normal) warme Gesunde. Wenn nun etwas an sich © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 165 3.1 Die Elementarqualitäten; das Blut warm und etwas zufällig warm ist, erkaltet das an sich Warme langsamer, die stärkere Wärmeempfindung ruft aber oftmals das nur zufällig Warme hervor; und das an sich Warme hat wiederum die größere Verbrennungswirkung, zum Beispiel die Flamme gegenüber dem kochenden Wasser; es wärmt aber das Kochende bei der Berührung mehr, obwohl es nur zufällig warm ist. Daher ist deutlich, daß es nicht einfach ist, bei zwei Körpern zu beurteilen, welcher von beiden wärmer ist. Auf die eine Weise nämlich wäre der eine wärmer, auf die andere Weise der andere. In einigen dieser Fälle ist es überhaupt nicht möglich, schlechthin zu sagen, ob etwas warm oder nicht warm ist. So kann es etwa sein, daß das Substrat nicht warm ist, in Kombination (mit Wärme) aber warm, z. B. wenn warmes Wasser oder warmes Essen mit einem einzigen Ausdruck benannt würde. Auf diese Weise ist nämlich das Blut warm. Und dies macht deutlich, daß in solchen Fällen, in denen das Substrat aufgrund einer Affektion warm ist, das Kalte eine bestimmte Realität ist und kein bloßer Mangel (an Wärme). Vielleicht ist auch die Natur des Feuers, wenn es zutrifft, etwa von dieser Art. Vielleicht ist nämlich das Substrat entweder Rauch oder Kohle, von denen nur das eine immer warm ist (denn der Rauch ist Aufsteigen von Dampf ), während Kohle nach dem Löschen kalt ist. Und auch Öl und Fichten können kalt werden. Es besitzen aber auch fast alle verbrannten Dinge Wärme, wie z. B. Staub und Asche und die Exkremente der Lebewesen und von den Exkretionen die Galle, weil sie verbrannt worden sind und etwas Warmes in ihnen zurückgeblieben ist. In anderer Weise warm sind Fichtenholz und fettige Substanzen, nämlich dadurch, daß sie schnell in wirkliches Feuer übergehen. Offenbar kann das Warme sowohl verfestigen als auch schmelzen. Was jedoch nur aus Wasser ist, das wird vom Kalten verfestigt, was aus Erde ist, vom Feuer. Und vom Warmen wird dasjenige vom Kalten schnell verfestigt, das mehr aus Erde ist, und zwar unlöslich, löslich aber dasjenige, das mehr aus Wasser ist. Aber darüber, was verfestigt werden kann und aus welchen Gründen es sich verfestigt, ist an anderer Stelle genauer gehandelt worden. Da aber in mehrfachem Sinne davon gesprochen wird, was warm ist und inwiefern es wärmer ist, [649b] werden diese Begriffe nicht in ein und derselben Weise allem zukommen, sondern man muß zusätzlich unterscheiden, daß das eine an sich warm ist, das andere oftmals © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 166 II. Naturphilosophie nur zufällig warm, oder daß das eine potentiell, das andere aktuell warm ist, oder daß das eine in der Weise warm ist, daß es bei Berührung wärmt, und das andere dadurch, daß es eine Flamme produziert und etwas in Feuer setzt. Da der Begriff des „Warmen“ auf vielfältige Weise gebraucht wird, muß natürlich die Folge sein, daß auch der Begriff des „Kalten“ aus dem gleichen Grunde auf vielfältige Weise gebraucht wird. Über das „Warme“ und das „Kalte“ und das Wärmere und Kältere sei nun auf diese Weise gehandelt. Im Anschluß an das Gesagte ist nun über das Trockene und Feuchte zu handeln. Diese Begriffe werden in mehrfacher Weise benutzt; nämlich teils im Sinne von potentiell, teils im Sinne von aktuell. Eis nämlich und alles gefrorene Flüssige wird als aktuell und zufällig fest bezeichnet, während es potentiell und an sich flüssig ist, Erde aber und Asche und derartige Stolle sind, wenn sie mit Feuchtem gemischt sind, aktuell und zufällig feucht, an sich aber und potentiell trocken; wenn diese (miteinander verbundenen) Stolle aber getrennt werden, sind die Wasserteile flüssig und aktuell und potentiell feucht, die Bestandteile der Erde aber ganz trocken, und das eigentlich und absolut Trockene wird vor allem auf diese Weise bestimmt. Ebenso trägt auch das Umgekehrte, das Feuchte, in demselben Sinne die Bestimmung „eigentlich“ und „absolut“, wie dies beim Warmen und Kalten der Fall war. Nachdem diese Begriffe bestimmt sind, ist deutlich, daß das Blut soweit warm ist, wieweit es (nach unseren Feststellungen) sein Wesen ausmacht, Blut zu sein (es wird so genannt, wie wenn man kochendes Wasser so bezeichnen würde), das Substrat aber und das, was es stofflich ist, wenn es Blut ist, ist nicht warm; und an sich ist es in gewisser Weise warm, in gewisser Weise aber nicht. In der Definition muß nämlich seine Wärme enthalten sein, wie in der Definition des weißen Menschen das Weiße enthalten ist. Insofern das Blut aber nur aufgrund einer (äußeren) Affektion (warm) ist, ist es nicht an sich warm. In gleicher Weise aber verhält es sich auch mit dem Festen und Flüssigen. Deshalb sind auch einige (homogene Teile) innerhalb des Körpers warm und flüssig; wenn sie jedoch isoliert werden, werden © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 167 3.1 Die Elementarqualitäten; das Blut sie fest und erscheinen kalt, zum Beispiel das Blut. Andere (homogene Teile) sind warm und kompakt wie die Galle; wenn sie jedoch aus dem Körper derer, die sie besitzen, isoliert werden, nehmen sie die entgegengesetzten Eigenschaften an, denn sie werden kalt und flüssig. Das Blut wird eher trocken, während die gelbe Galle flüssig wird. Daß diese (homogenen Teile) mehr oder weniger an dem Entgegengesetzten Anteil haben, muß man ihnen als Eigenschaften zuschreiben. In welcher Weise das Blut nun [650a] warm ist und in welcher Weise flüssig, und in welcher Weise die Natur des Blutes an dem Gegensätzlichen Anteil hat, ist damit etwa gesagt. Da es notwendig ist, daß alles, was wächst, Nahrung aufnimmt, die Nahrung für alle Lebewesen aber aus Feuchtem und Trockenem besteht, und da die Kochung und die Umwandlung dieser Stoffe durch die Kraft der Wärme geschieht, müssen alle Lebewesen und Pflanzen, wenn nicht aus einem anderen Grunde, so doch aus diesem eine natürliche Wärmequelle besitzen, und zwar eine, die in mehreren Teilen mitenthalten ist, so wie die Nahrungsverarbeitung zu mehreren Teilen gehört. Denn die erste Leistung erfolgt bei den Lebewesen, deren Nahrung der Zerteilung bedarf, offensichtlich durch den Mund und die in diesem befindlichen Teile. Aber dies ist keineswegs die Ursache einer Kochung, sondern eher einer guten Durchführung der Kochung. Denn die Zerteilung der Nahrung ins Kleine macht für die Wärme die Verarbeitung leichter; die Arbeit der oberen und der unteren Körperhöhle bewirkt dann in Verbindung mit natürlicher Wärme die Kochung. Und wie der Mund ein Kanal für die unverarbeitete Nahrung ist und der an ihn anschließende Teil, den man Speiseröhre nennt, soweit die Lebewesen diesen Teil besitzen, bis zum Magen hin reicht, so muß es auch noch mehrere andere Kanäle geben, durch welche der ganze Körper aus dem Magen und dem Bereich der Därme wie aus einer Krippe die Nahrung bekommen kann. Während die Pflanzen nämlich die verarbeitete Nahrung mit den Wurzeln aus der Erde nehmen (deshalb gibt es auch keine Ausscheidung bei den Pflanzen, denn sie benutzen die Erde und die in ihr enthaltene Wärme wie einen Magen), haben so gut wie alle Lebewesen, aber deutlich diejenigen, die sich fortbewegen, gewissermaßen die Bauchhöhle als Erde in sich, aus der sie, wie jene mit den Wurzeln, mit irgendeinem Werkzeug die Nahrung zu sich nehmen müs- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 168 II. Naturphilosophie sen, bis sie das Ziel der sich anschließenden Kochung erreichen. Die Verarbeitung des Mundes übergibt sie dem Magen, und von diesem muß sie ein anderes Organ aufnehmen, was auch tatsächlich zutrifft. Denn die Adern erstrecken sich gänzlich durch das Gekröse, von unten angefangen bis zum Magen. Man muß dies anhand der „Sektionen“ und der „Naturgeschichte“ betrachten. Da es für jede Nahrung ein Aufnahmeorgan gibt und auch für die entstehenden Ausscheidungen, die Adern aber gewissermaßen Gefäße für Blut sind, ist klar, daß das Blut die letztliche Nahrung für die blutführenden Lebewesen ist und das dem Blut Analoge für die Blutlosen, und deshalb nimmt das Blut auch bei denen ab, die keine Nahrung zu sich nehmen, [650b] und vermehrt sich bei denen, die welche zu sich nehmen. Es ist gesund, wenn die Nahrung gut ist, und schlecht, wenn sie schlecht ist. Daß nun das Blut um der Ernährung willen bei den Bluttieren vorhanden ist, ist aus diesen und anderen ähnlichen Gegebenheiten deutlich. Deshalb bewirkt es nämlich, wenn es berührt wird, auch keine Empfindung, wie auch keine andere Ausscheidung, und die Nahrung verhält sich auch nicht wie Fleisch; dies bewirkt nämlich, wenn es berührt wird, eine Empfindung. Denn das Blut steht mit diesem nicht im Zusammenhang und ist mit diesem von Natur aus nicht verbunden, sondern ruht wie in einem Gefäß im Herzen und in den Adern. Über die Frage, auf welche Weise aus ihm die Teile Wachstum bekommen, und außerdem über die Nahrung im allgemeinen, ist es passender, in den Büchern „Über die Entstehung“ und an anderer Stelle zu handeln. Jetzt ist es nur erforderlich, soviel zu sagen, daß das Blut der Ernährung wegen, und zwar der Ernährung der Teile wegen, da ist. Was die Fasern genannten (Stoffe) betrifft, so besitzt sie das Blut einiger Tiere, während das Blut anderer Tiere sie nicht besitzt, zum Beispiel das der Hirsche und Rehe. Deshalb gerinnt dieses Blut auch nicht. Denn der wässerige Teil des Blutes ist kälter, weshalb er auch nicht fest wird, während der erdartige Teil fest wird, wenn das Feuchte verdampft; die Fasern aber sind aus Erde. Es trifft zu, daß einige dieser Tiere auch ein feineres Denken haben, nicht wegen der Kälte des Blutes, sondern mehr wegen seiner Dünnheit und weil es rein ist; denn das Erdhafte hat keine dieser beiden Qualitäten. Eine lebhafte- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 169 3.1 Die Elementarqualitäten; das Blut re Sinneswahrnehmung besitzen nämlich diejenigen Lebewesen, die eine dünnere und reinere Flüssigkeit besitzen. Deswegen haben auch einige blutlose Tiere eine verständigere Seele als einige Bluttiere, wie schon früher gesagt worden ist, z. B. die Bienen und die Gattung der Ameisen und wenn es sonst noch eine derartige Gattung gibt. Furchtsamer aber sind diejenigen Lebewesen, deren Blut allzu wässerig ist. Denn die Furcht kühlt ab. Die Lebewesen, die eine solche wässerige Mischung im Herzen haben, sind für diesen Affekt prädestiniert; denn Wasser wird durch Kälte fest. Deshalb sind auch, allgemein gesprochen, die anderen, blutlosen Tiere furchtsamer als die Bluttiere; sie werden unbeweglich, wenn sie erschreckt sind, und geben Ausscheidungen ab, und einige wechseln ihre Farbe. Diejenigen aber, die zu viele und zu dicke Fasern besitzen, sind von Natur aus erdartiger und heftig im Charakter und infolge des Zorns zu Ausbrüchen geneigt. Denn Zorn ist wärmeerzeugend, das Feste aber wärmt, wenn es erwärmt ist, mehr als das Feuchte; die Fasern sind aber etwas Festes [651a] und Erdartiges, so daß im Blut gewissermaßen (auf glühenden Kohlen) Dampfbäder entstehen und eine Kochung bei Zornanfällen hervorrufen. Deshalb sind Stiere und Eber zornig und leidenschaftlich; denn deren Blut ist am faserreichsten, und das Blut des Stieres zumindest gerinnt am schnellsten von allen. Wenn aber diese Fasern herausgenommen sind, gerinnt das Blut nicht. Wie nämlich das Wasser nicht fest wird, wenn jemand aus dem Schlamm das Erdhafte entfernt, so ist es auch mit dem Blut; denn die Fasern sind aus Erde. Wenn sie nicht herausgenommen werden, wird das Blut fest, wie feuchte Erde infolge von Kälte fest wird. Denn wenn die Wärme von der Kälte herausgedrückt wird, verdampft das Flüssige mit, wie schon früher gesagt worden ist, und die Flüssigkeit wird fest, indem sie nicht von der Wärme, sondern von der Kälte trocken wird. Im Körper ist das Blut wegen der in den Tieren vorhandenen Wärme flüssig. Die Beschaffenheit des Blutes wirkt sich in vielem auf den Charakter der Lebewesen und auf ihre Sinneswahrnehmungen aus, und zwar aus gutem Grunde; denn es ist das Material für den ganzen Körper; denn Material ist die Nahrung, und das Blut ist der Endzustand der Nahrung. Es macht also einen großen Unterschied aus, ob es warm ist oder kalt, dünn oder dick, trübe oder rein. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 170 II. Naturphilosophie Serum ist der Teil des Blutes, der wässerig ist, weil er entweder noch nicht gekocht ist oder weil er verdorben ist, so daß das Serum entweder aufgrund eines zwangsläufigen Prozesses oder um des Blutes willen existiert. (Part. an. II 2-4) 3.2 Die Seelen der Lebewesen; das Denkvermögen [736a24] Wenn bei denen, welche Samenflüssigkeit in das Weibchen ergießen, das Hineingekommene kein Teil des werdenden Keimes ist, wohin kommt das Stoffliche desselben, wofern es durch die ihm innewohnende Kraft wirkt. Ferner muß man bestimmen, ob das in dem Weibchen sich Bildende von dem Hineingekommenen einen Teil an sich nimmt oder nicht, und in Betreff der dem Tiere eigentümlichen Seele - Tier ist es aber in bezug auf den empfindenden Teil der Seele - ob sie in dem Samen und dem Keime vorhanden ist oder nicht, und woher sie kommt. Denn man kann den Keim nicht für etwas seelentotes, auf jede Weise des Lebens Beraubtes ansehen: Denn die Samen und Keime der Tiere leben eben so gut, wie diejenigen der Pflanzen und sind bis zu einer gewissen Zeit entwicklungsfähig. Daß sie nun die Ernährungsseele haben, ist klar; weshalb sie diese zuerst bekommen müssen, geht aus andern Untersuchungen über die Seele [736b] hervor; aber im weiteren Verlauf müssen sie auch die Empfindungsseele bekommen, kraft deren sie Tiere sind. Denn das Tierwerden und Menschwerden und das Tierwerden und Pferdwerden ist nicht beides gleichzeitig und ebenso bei allen andern Tieren; denn das Ziel und die Vollendung geschieht zuletzt und das Eigentümliche ist das Ziel der Entwicklung eines Jeden. Daher ist es eine sehr wichtige Frage, um deren Beantwortung man sich nach Kräften bemühen muß, wann, wie und woher das Denkvermögen diejenigen Geschöpfe erhalten, welche an dieser Kraft Teil haben. Offenbar nun muß man annehmen, daß die Samen und ungetrennten Keime die Ernährungsseele der Anlage nach besitzen, aber der Wirklichkeit nach nicht eher haben, als bis sie, wie die sich trennenden Keime Nahrung aufnehmen, und das Geschäft einer solchen Seele vollziehen. Denn anfänglich scheinen alle solche Tierföten eine Art Pflanzenleben zu führen; in der Folge erst ist bei ihnen von der Empfindungs- und der Denkseele zu sprechen. Denn sie müssen sie sämtlich der Anlage © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 171 3.2 Die Seelen der Lebewesen; das Denkvermögen nach vorher besitzen, ehe sie sie der Wirklichkeit nach haben. Nun ist notwendig, daß sie entweder vorher nicht waren und sämtlich hineinkamen, oder daß sie alle vorher vorhanden waren, oder daß die einen vorhanden waren, die andern aber nicht, und daß sie in den Stoff des Keimes kamen, ohne mit dem männlichen Samen hineingekommen zu sein, oder indem sie aus letzterem in jenen gelangten; und daß sie in das Männchen entweder sämtlich von außen hineingekommen sind, oder keiner derselben, oder nur die einen, die andern aber nicht. Daß es nun unmöglich ist, daß sie sämtlich vorher vorhanden sind, leuchtet aus Folgendem ein. Alle diejenigen Prinzipien, deren Wirksamkeit eine körperliche ist, können natürlich ohne Körper nicht vorhanden sein, z. B. das Gehen nicht ohne Füße. Daher können sie auch nicht von außen hineinkommen. Denn sie können weder für sich allein hineinkommen, da sie untrennbar sind, noch in einem Körper; denn der Samen ist eine Abscheidung der sich verwandelnden Nahrung. Es bleibt aber übrig, daß das Denkvermögen allein von außen hineinkomme, und allein göttlich sei. Denn seine Tätigkeit hat mit keiner körperlichen Tätigkeit Gemeinschaft. Alles Seelenvermögen nun scheint an einen andern Körper gebunden zu sein, der von höherer Natur ist, als die sogenannten Elemente. Wie sich aber die Seelen unter einander nach ihrem höheren und niederen Range unterscheiden, ebenso unterscheidet sich auch das Substrat derselben. In dem Samen aller nämlich befindet sich die sogenannte Wärme, welche bewirkt, daß aus den Samen etwas entstehen kann. Diese Wärme ist aber nicht Feuer oder eine dergleichen Kraft, sondern der in dem Samen und in dem schaumartigen Wesen desselben enthaltene und eingeschlossene Luftgeist, und die in diesem Luftgeist befindliche Naturkraft, welche dem Grundwesen [737a] der Gestirne entspricht. Daher erzeugt Feuer kein lebendiges Wesen, noch sieht man, daß sich in feuchten oder trockenen Stoffen unter Einwirkung des Feuers etwas bildet. Dagegen die Wärme der Sonne und die der Tiere nicht bloß die, welche mittelst des Samens wirkt, sondern auch die noch anderer natürlicher Ausscheidungen besitzt ebenfalls die Kraft, Leben zu erregen, in sich. Daß also die Wärme in den Tieren weder Feuer ist, noch aus Feuer ihren Ursprung hat, ist aus dem Gesagten offenbar. Der Körper aber der Samenflüssigkeit, in welchem das Prinzip Seele mit fortgeht, teils trennbar von © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 172 II. Naturphilosophie dem Körper bei denen, welche das Göttliche mit enthalten, - von dieser Art ist die sogenannte Denkseele - teils untrennbar, dieser Körper der Samenflüssigkeit löst sich auf und verwandelt sich in Luft, indem er eine feuchte und wässerige Natur hat. Daher darf man nicht danach suchen, daß er überall nach außen sich entferne, oder daß er ein Teil der sich bildenden Gestalt werde, wie es ja auch der Saft nicht ist, welcher die Milch gerinnen macht: denn auch dieser bewirkt eine Veränderung und ist doch kein Teil der gerinnenden Masse. Soweit ist nun dargetan, inwiefern die Keime und die Samenflüssigkeit Seele enthalten und inwiefern nicht, nämlich, daß sie dieselbe der Anlage nach enthalten, der Wirklichkeit nach aber nicht. Indem aber der Samen eine Ausscheidung ist und sich in derselben Bewegung befindet, kraft welcher das Wachstum des Körpers durch die Verteilung der letzten Nahrung geschieht, so formt er, wenn er in die Gebärmutter gelangt ist, und setzt die im weiblichen Körper vorhandene Ausscheidung in dieselbe Bewegung, in welcher er sich selbst befindet. Denn auch letzteres ist eine Ausscheidung und enthält alle Teile der Anlage nach, keines aber in Wirklichkeit, denn es enthält auch die Anlage zu solchen Teilen, durch welche sich das Weibchen vom Männchen unterscheidet. Denn so wie aus Verstümmelten bald Verstümmelte werden, bald nicht, ebenso werden aus den Weibchen bald Weibchen, bald nicht, sondern Männchen. Das Weibchen ist nämlich gleichsam ein verstümmeltes Männchen, und der Monatsfluß Samen, der aber nicht rein ist; denn es fehlt ihm nur noch eines, das Prinzip der Seele. Daher enthält bei denjenigen Tieren, welche Windeier haben, das sich bildende Ei die Teile beider, aber das Prinzip fehlt ihm, weshalb es nicht lebendig und beseelt wird, denn dieses bringt der Samen des Männchens hinzu; sobald aber die im Weiblichen vorhandene Ausscheidung ein solches Prinzip empfängt, wird es zum Keime. Um die flüssigen aber körperlichen Stoffe, wenn sie erwärmt werden, tritt ein trockener Überzug, wie bei gekochten Speisen, wenn sie erkalten. Alle [737b] Körper hält aber das Schlüpfrig-Zähe zusammen. Und im Verlaufe der Zeit und mit der Vergrößerung bemächtigt sich dessen die Bildung der Sehnen, welche die Teile der Tiere zusammenhält, bei den einen als Sehne, bei den andern als ein Entsprechendes. Gleiche Gestalt haben auch das Fell, die Adern, die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 173 3.3 Entwicklung des Kükens im Ei Haut und alles dergleichen. Denn diese Teile unterscheiden sich nur durch das Mehr oder Weniger, überhaupt durch Mangel oder Überfluß. (Gen. an. II 3) 3.3 Entwicklung des Kükens im Ei [561a4] Die Entwicklung des Jungen aus dem Ei geschieht bei allen Vögeln auf ein und dieselbe Weise, aber die Zeiträume, in welchen sie ihre Ausbildung erlangen, sind wie gesagt verschieden. Bei den Hühnern erscheint die erste Spur nach Verlauf von drei Tagen und Nächten, bei den größeren Vögeln aber in längerer, bei den kleineren in kürzerer Frist. In dieser Zeit kommt erstens das Gelbe nach oben und nähert sich dem spitzen Ende, wo das Prinzip des Eies ist, und das Junge auskriecht, zweitens zeigt sich in dem Weißen ein blutroter Punkt, das Herz. Dieser Punkt hüpft und bewegt sich, wodurch er sich als ein Belebtes zu erkennen gibt, und von ihm aus gehen im Verlaufe des Wachstums zwei mit Blut erfüllte, gewundene Adergänge nach einer jeden der beiden umhüllende Häute. Und bereits um diese Zeit geht eine Haut, welche blutige Fasern enthält, von den Adergängen aus um das Weiße herum. Etwas später sendet sich auch schon der Körper, der zuerst sehr klein und weiß ist, doch sind der Kopf und die stark aufgetriebenen Augen daran deutlich zu erkennen. Die Augen bleiben in diesem Zustande längere Zeit: erst spät werden sie klein und schrumpfen ein. Der untere Teil des Körpers erscheint anfänglich kaum als ein besonderer Teil, im Vergleich zum Oberkörper. Der eine von den aus dem Herzen entspringenden Gängen führt zu der rings umgebenden Hülle, der andere zu dem Gelben, eine Art Nabel darstellend. Das Junge nimmt seinen Ursprung aus dem Weißen, seine Nahrung aber durch den Nabel aus dem Gelben. Am zehnten Tage ist bereits das Junge und alle seine Teile deutlich erkennbar: noch aber ist der Kopf größer als der übrige Körper und die Augen sind größer als der Kopf, doch ohne Sehvermögen. Die Augen sind um diese Zeit, wenn sie herausgenommen werden, größer als Bohnen und schwarz, und wenn man ihre Haut entfernt, so findet man innen eine weiße und kalte, gegen das Licht stark glänzende Flüssigkeit, aber nichts Festes. So also sind der [561b] Kopf und die Augen beschaffen. Auch die Eingeweide sind in dieser Zeit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 174 II. Naturphilosophie schon deutlich, wie auch Magen und Darm und es bilden sich auch schon die Adern, welche sich von dem Herzen nach dem Nabel hin erstrecken. Vom Nabel aus erstrecken sich zwei Adern: die eine zu der Haut, welche das Gelbe umschließt, das zu dieser Zeit schon flüssig ist und eine größere Masse bildet als im Anfange, die andere in die allgemeine Haut, welche sowohl die Haut, in der sich das Junge befindet, als auch die Dotterhaut und die dazwischen befindliche Flüssigkeit umgibt. Mit dem Wachstum des Jungen nämlich kommt allmählich ein Teil des Dotters nach oben, der andere nach unten und das flüssige Weiße in die Mitte zu liegen. Unterhalb des unteren Dotterteiles aber befindet sich das Weißei, so wie es anfänglich vorhanden war. Ist das Junge zehn Tage alt, so liegt das Weiße am äußersten Rande, sehr verringert, zäh, dick und gelblich. Die einzelnen Teile haben nämlich folgende Anordnung: zuerst liegt unmittelbar an der Schale die Haut des Eies, nicht die der Schale, sondern unter der Schalenhaut. Innerhalb dieser ist eine weiße Flüssigkeit, alsdann kommt das Junge und um dasselbe eine Haut, die es von jener sondert, damit sich das Junge nicht in der Flüssigkeit befindet; unter dem Jungen liegt das Gelbe, in welches die eine der beiden Adern führt, während die andere in das ringsherum liegende Weiße geht. - Das Ganze also umgibt eine mit lymphähnlicher Flüssigkeit erfüllte Haut: alsdann kommt eine andere Haut, die wie gesagt das Embryon selbst umgibt und von der Flüssigkeit sondert; unter diesem das in eine besondere Haut eingeschlossene Gelbe, in welches sich der von dem Herzen und der großen Ader ausgehende Nabel erstreckt, so daß das Embryon sich in keiner der beiden Flüssigkeiten befindet. Um den zwanzigsten Tag gibt das Junge Töne von sich und bewegt sich innen, wenn man das Ei geöffnet hat und es schüttelt, und ist bereits befiedert, sobald das Aufpicken des Eies nach dem zwanzigsten Tage geschieht. Den Kopf hat es über dem rechten Schenkel auf der Weiche und den Flügel über dem Kopfe. Und in dieser Zeit wird die unter der äußersten Schalenhaut liegende chorionartige Haut deutlich [562a] erkennbar, in welche die eine Nabelader geht, und das Junge ist alsdann ganz von ihr umgeben, so wie die zweite ebenfalls chorionartige Haut, welche das Gelbe umgibt, in welches die zweite Nabelader geht: beide Nabel nehmen ihren Ursprung von dem Herzen mit der großen Ader. In dieser Zeit fällt die zu dem äußeren © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 175 3.4 Natürliche Entstehung Chorion gehende Nabelader zusammen und löst sich von dem Jungen ab, die in das Gelbe gehende Ader dagegen ist an dem dünnen Darm des Jungen befestigt und ein großer Teil des Gelben ist schon in den Leib des Jungen aufgenommen, in dessen Bauche sich ein Überrest des Gelben befindet. Auch gibt das Junge zu dieser Zeit nach dem äußeren Chorion hin Ausscheidung von sich und hat dergleichen auch in seinem Darm. Die Ausscheidung nach unten ist weiß, und auch im Innern zeigt sich eine solche weiße Substanz. Gegen das Ende wird das Gelbe immer kleiner, wird im weiteren Verlaufe ganz aufgezehrt und in das Junge aufgenommen, so daß, wenn man es zehn Tage nach dem Auskriechen öffnet, ein kleiner Rest des Gelben am Darme noch vorhanden ist, vom Nabel aber hat es sich gelöst und dazwischen ist alles aufgezehrt. In der vorher angegebenen Zeit schläft das Junge, wenn man es aber schüttelt, erwacht es, blickt auf und gibt einen Ton von sich; Herz und Nabel erheben sich als erstes Anzeichen des Atmens. Die Entwicklung des Jungen aus dem Ei geschieht also bei den Vögeln auf die beschriebene Weise. Manchmal legen die Vögel Eier, welche unfruchtbar bleiben, auch wenn sie in Folge einer Begattung entstanden sind, und aus denen sich beim Brüten kein Junges entwickelt: dies ist besonders bei den Tauben beobachtet worden. - Die Zwillingseier haben zwei Dotter. Entweder trennt eine dünne Schicht von Eiweiß die beiden Dotter, so daß sie nicht in einander fließen, oder eine solche Zwischenschicht fehlt, so daß sie sich unmittelbar berühren. Es gibt Hühner, welche immer nur Zwillingseier legen und bei diesen hat man jenes Verhältnis des Dotters beobachtet; denn aus achtzehn Eiern, die eine Henne gelegt hatte, schlüpften lauter Zwillinge aus, einige ausgenommen, welche jauchig wurden. Die andern Zwillingseier also sind fruchtbar, nur daß das eine von beiden größer [562b] und das andere kleiner ist, die mit ungetrennten Dottern aber geben Mißbildungen. (Hist. an. VI 3) 3.4 Natürliche Entstehung [1034a9] Man könnte fragen, wie es kommt, daß einiges sowohl durch Kunst wie auch von ungefähr entsteht, z. B. Gesundheit, anderes nicht, z. B. ein Haus. Der Grund liegt darin, daß die Materie, welche beim Hervorbringen und Entstehen dessen, was durch Kunst © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 176 II. Naturphilosophie entsteht, den Anfang des Entstehens bildet und in welcher ein Teil des Dinges selbst vorhanden ist, zum Teil so beschaffen ist, daß sie sich aus sich selbst bewegen kann, zum Teil nicht, und die erstere wieder zum Teil fähig ist, sich auf diese bestimmte Weise zu bewegen, zum Teil unfähig. Denn vieles ist zwar einer Bewegung durch sich selbst fähig, aber nicht dieser bestimmten, z. B. des Tanzens. Wo nun also die Materie diese Beschaffenheit hat, wie z. B. die Steine, da ist es nicht möglich, daß es auf diese bestimmte Weise bewegt werde, außer durch ein anderes; auf eine andere Weise aber ist es allerdings möglich, daß es durch sich selbst bewegt werde; ebenso verhält es sich mit dem Feuer. Deshalb kann das eine nicht entstehen ohne einen Künstler, das andere aber kann ohne ihn entstehen; denn es wird durch solches bewegt werden, was zwar die Kunst nicht besitzt, aber entweder selbst bewegt werden kann oder durch anderes, das ebenfalls die Kunst nicht besitzt, oder durch einen Teil. Aus dem Gesagten ist auch klar, daß alles gewissermaßen aus Gleichnamigem entsteht, wie das, was durch die Natur entsteht, wie z. B. das Haus aus einem Hause im Geiste des Künstlers (denn die Kunst ist die Form) oder aus einem gleichnamigen Teile oder aus etwas, das einen Teil enthält, falls es nicht akzidentell entsteht. Denn die Ursache der Erzeugung ist der erste wesentliche Teil. So ruft die in der Bewegung enthaltene Wärme Wärme im Körper hervor; diese aber ist entweder Gesundheit oder ein Teil von ihr, oder es folgt auf sie ein Teil der Gesundheit oder die Gesundheit selbst. Deshalb wird auch von der Wärme gesagt, sie erzeuge jene, wenn sie das erzeugt, worauf die Gesundheit folgt und wovon sie ein Akzidens ist. Es ist daher wie bei den Schlüssen das Prinzip von allem die Wesenheit; denn wie aus dem Was die Schlüsse abgeleitet werden, so hier die Entstehungen. Auf ähnliche Weise verhält es sich auch mit dem durch die Natur Entstehenden. Denn der Same bringt in der Weise hervor wie der Künstler das Kunstwerk. Er hat nämlich die [1034b] Form dem Vermögen nach in sich, und dasjenige, wovon der Same ausgeht, ist in gewisser Weise ein Gleichnamiges. Freilich darf man nicht verlangen, daß in allen Fällen etwas so entstehe, wie der Mensch aus dem Menschen (denn auch die Frau wird vom Manne erzeugt, und deshalb wird nicht der Maulesel vom Maulesel erzeugt), sondern dieser Akt der Erzeugung findet nur da statt, wo keine Abnormität ist. Wo nun aber etwas von ungefähr ent- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 177 4.1 Methodische Vorbemerkungen steht, da verhält es sich wie dort; es findet nämlich ein Entstehen von ungefähr bei dem statt, dessen Stoff auch aus sich selbst dieselbe Bewegung empfangen kann, in welche der Same ihn setzt; alles dagegen, bei dem dies nicht der Fall ist, kann unmöglich auf eine andere Weise entstehen als aus dem Erzeugenden. Aber nicht nur in betreff der Wesenheit beweisen diese Gründe, daß die Form nicht entsteht, sondern sie gelten ebenso von allem, was ein Erstes ist, z. B. vom Quantitativen, Qualitativen, und den übrigen Kategorien. Wie nämlich die eherne Kugel zwar entsteht, aber weder Kugel noch Erz, und ebenso beim Erz, wenn dies entsteht (immer nämlich muß der Stoff und die Form schon vorhanden sein), ebenso ist es beim Qualitativen und Quantitativen und in gleicher Weise bei den übrigen Kategorien. Denn es entsteht nicht das Qualitative, sondern Holz von solcher Qualität, und nicht das Quantitative, sondern Holz oder Tier von solcher Quantität. Als Eigentümlichkeit der Wesenheit muß man unter diesen herausheben, daß notwendig eine andere in Wirklichkeit existierende Wesenheit vorher vorhanden sein muß, welche sie hervorbringt; z. B. ein Tier, wenn ein Tier entsteht. Beim Qualitativen und Quantitativen ist nicht nötig, daß etwas in Wirklichkeit, sondern nur, daß es dem Vermögen nach vorher vorhanden sei. (Met. VII 9) 4. Psychologie (De anima) 4.1 Methodische Vorbemerkungen [402a1] Wenn wir das Wissen für etwas Schönes und Ehrwürdiges halten, und zwar das eine Wissen mehr als das andere, weil es entweder mehr Genauigkeit hat oder auf bessere und erstaunlichere Gegenstände geht, so dürften wir aus den beiden Gründen die Forschung über die Seele mit Recht an die erste Stelle setzen. Die Erkenntnis von ihr trägt, wie es scheint, auch für die der Wahrheit im ganzen viel bei, am meisten für die über die Natur; denn sie (die Seele) ist gleichsam Prinzip der Lebewesen. Wir suchen ihre Natur und ihr Wesen zu betrachten und zu erkennen, ferner alle Eigenschaften, die ihr zukommen. Von ihnen scheinen die einen der Seele spezifische Eigenschaften zu sein, die anderen dagegen durch sie auch den Lebewesen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 178 II. Naturphilosophie zuzukommen. In aller Hinsicht aber gehört es jedenfalls zum Schwierigsten, eine gewisse Glaubwürdigkeit der Erkenntnis über sie zu gewinnen. Und zwar aus folgendem Grund: Wenn nämlich die Untersuchung für viele verschiedene Gegenstände eine gemeinsame sein sollte - ich spreche von der über das Wesen und das Was der Gegenstände -, könnte man vielleicht meinen, daß es eine einzige Methode hinsichtlich aller Gegenstände gebe, von denen wir das Wesen erkennen wollen, wie es auch von den spezifischen Akzidenzien einen Beweis als einzige Methode gibt, so daß man diese Methode hinsichtlich des Wesens zu suchen hätte. Wenn es aber nicht eine einzige gemeinsame Methode über das Wesen gibt, dann wird es noch schwieriger, darüber zu handeln; denn man wird dann bei jedem Gegenstand (erst) überlegen müssen, welche die Weise der Untersuchung ist. Sollte aber feststehen, ob sie Beweis oder Einteilung von Begriffen oder eine andere Methode ist, so gibt es noch viele offene Fragen und Unsicherheiten darüber, von welchen Ausgangspunkten aus man die Untersuchung führen muß; denn von anderen Gegenständen sind die Prinzipien wieder andere, wie z. B. von Zahlen und Ebenen. Zuerst muß man wohl klären, in welcher von den (kategorialen) Gattungen sie (die Seele) auftritt und was sie ist, nämlich ob sie ein Dies-da und Wesen ist, oder etwas Qualitatives oder Quantitatives, oder auch eine andere von den unterschiedenen Kategorien, ferner ob sie zu dem in Möglichkeit Seienden gehört, oder ob sie eine Vollendung ist; denn dies macht keinen geringen Unterschied [402b] aus. Man muß auch prüfen, ob sie teilbar ist oder unteilbar, und ob jede Seele gleichartig ist oder nicht; wenn aber nicht gleichartig, ob sie (die Seelen) sich der Art oder Gattung nach unterscheiden. Gegenwärtig nämlich scheinen diejenigen, die über die Seele sprechen und forschen, nur die menschliche Seele zu untersuchen. Man muß sich aber vorsehen, daß nicht unbemerkt bleibe, ob der Wesensbegriff von der Seele einer ist, wie z. B. der vom Lebewesen, oder für jede Seele ein anderer, z. B. von Pferd, Hund, Mensch und Gott, während das allgemeine Lebewesen entweder nichts oder später ist als die spezifischen. Ebenso, wenn etwas anderes Gemeinsames ausgesagt würde. Ferner, wenn es nicht viele Seelen sind, sondern Teile einer Seele, so fragt sich, ob man die ganze Seele früher als die Teile untersuchen muß. Schwer ist es auch, die Teile zu bestimmen, welche von ihnen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 179 4.1 Methodische Vorbemerkungen natürlicherweise voneinander verschieden sind, und ob man die Teile früher als ihre Tätigkeiten untersuchen muß, z. B. die Vernunfttätigkeit früher als die Vernunft, und die Wahrnehmung früher als das Wahrnehmungsvermögen, und ebenso bei den anderen. Wenn aber die Tätigkeiten früher, so könnte man sich wieder fragen, ob man ihre Gegenstände früher als sie untersuchen müsse, z. B. das Wahrnehmbare früher als das Wahrnehmungsvermögen und das Intelligible früher als die Vernunft. Es scheint aber nicht nur nützlich zu sein, die Washeit (der Substanz) zu kennen, um die Ursachen der Akzidenzien an den Wesen zu betrachten - wie z. B. in den mathematischen Wissenschaften zu kennen, was das Gerade ist und das Gekrümmte, oder was Linie und Ebene, um zu sehen, wie vielen rechten Winkeln die Winkel des Dreieckes gleich sind -, sondern auch umgekehrt tragen die Akzidenzien viel bei, um die Washeit der Substanz zu verstehen; denn wenn wir über die Akzidenzien, gemäß der Vorstellung, eine Erklärung geben können, sei es über alle oder die meisten, dann werden wir uns auch am besten über das Wesen selbst erklären können; denn von jedem Beweis ist die Washeit Prinzip. Daher sind alle Definitionen, aus denen sich keine Erkenntnis der Ak[403a]zidenzien ergibt, so daß man über diese nicht einmal leicht eine Vermutung haben kann, offenbar nur auf dialektische und leere Weise ausgesprochen. Fragen stellen sich auch bei den Eigenschaften der Seele, ob sie alle der Seele und auch ihrem Träger gemeinsam sind, oder ob es auch eine der Seele selbst eigentümliche gibt; denn hierüber muß man zu einer Annahme kommen, doch ist es nicht leicht. Die meisten Affekte scheint sie nicht ohne den Körper zu erleiden, z. B. sich erzürnen, mutig sein, begehren, überhaupt wahrnehmen. Am meisten scheint der Seele das vernünftige Erkennen eigentümlich zu sein. Wenn aber auch dieses eine Art Vorstellung, oder nicht ohne Vorstellung ist, dann dürfte auch dieses sich nicht ohne den Körper vollziehen. Wenn es nun eine von den Leistungen oder Eigenschaften der Seele gibt, die ihr spezifisch zu eigen sind, dann könnte sie sich in dieser vom Körper abtrennen. Wenn ihr aber keine spezifisch zu eigen ist, dann dürfte sie nicht abtrennbar sein, sondern sich nur so verhalten, wie die Gerade, der als abstrakter Geraden vieles akzidentell zukommt, z. B. die eherne Kugel in einem Punkte zu berühren, die aber diese nicht © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 180 II. Naturphilosophie als wirklich abgetrennte so berühren wird. Sie ist nämlich als wirkliche nicht abtrennbar, wenn anders sie immer mit einem Körper verbunden ist. Wie es scheint, sind auch alle Affekte der Seele mit dem Körper verbunden: Mut, Sanftmut, Furcht, Mitleid, Wagemut, ferner Freude, Lieben und Hassen. Zugleich mit ihnen nämlich erleidet auch der Körper etwas. Ein Anzeichen hierfür ist dieses: daß bisweilen heftige und deutliche Affekte auftreten können, und man sich doch nicht erregt oder fürchtet, bisweilen man aber von geringen und schwachen Affekten bewegt wird, wenn der Körper in Wallung ist und sich so verhält, wie dann, wenn man sich erzürnt. Ferner, noch deutlicher ist dieses (Anzeichen): Auch wenn nichts Furchterregendes geschieht, geraten Menschen doch in Affekte dessen, der sich fürchtet. Wenn es sich so verhält, dann sind offenbar die Affekte begriffliche Verhältnisse an der Materie. Daher sind auch die Definitionen von der Art, daß sie dies anzeigen: z. B. daß das Sich-Erzürnen eine Bewegung des sobeschaffenen Körpers oder (Körper-)Teiles oder Vermögens ist, (verursacht) von diesem bestimmten Objekt und wegen dieses bestimmten Zweckes. Aus diesem Grunde ist es bereits Aufgabe des Physikers, theoretisch die Seele zu untersuchen, entweder jede oder eine solche affektbegabte Seele. Auf verschiedene Weise aber würden der Physiker und der Dialektiker über jeden der Affekte handeln, z. B. was der Zorn ist. Der eine würde ihn nämlich als Streben nach Wiedervergeltung des Schmerzes oder ähnlich definieren, der andere als Sieden des Blutes, das um das Herz fließt [403b] und warm ist. Der eine gibt von den Affekten die Materie wieder, der andere die Form und den Begriff; denn der Begriff ist der des Dinges und muß notwendig an einer Materie sein, wenn er wirklich sein soll. So wird es vom Haus einen Begriff geben wie diesen, daß es ein schützender Ort ist, der Schaden durch Wind, Regen und Hitze verhindert. Ein anderer Begriff wird Steine, Ziegel und Hölzer nennen, ein anderer wieder die Form an diesem Material zu einem bestimmten Zweck. Wer ist nun von diesen der Physiker? Derjenige, der sich mit der Materie befaßt, ohne den Begriff zu kennen, oder der sich nur mit dem Begriff befaßt? Oder vielmehr derjenige, der das aus beiden (Zusammengesetzte) betrachtet? Wer ist aber (dann) jeder der beiden zuerst Genannten? Oder gibt es keinen, der die Eigenschaften der Materie untersucht, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 181 4.2 Allgemeines über die Seele die nicht abtrennbar sind und sofern sie nicht abtrennbar sind? Vielmehr befaßt sich der Physiker mit allen Leistungen und Eigenschaften, die einem sobeschaffenen Körper und einer sobeschaffenen Materie zukommen. Mit den Eigenschaften aber, die nicht als solche untersucht werden, befaßt sich ein anderer, und zwar mit einigen gegebenenfalls der Kunstfertige, der Architekt oder der Arzt, dagegen mit den Eigenschaften, die zwar an sich nicht abtrennbar sind, aber als nicht einem solchen Körper zukommend und in Abstraktion betrachtet werden, der Mathematiker; sofern sie aber wirklich abgetrennt sind, der Erste Philosoph. Doch wir müssen zum Ausgangspunkt der Erörterung zurückkehren. Wir sagten, daß die Affekte der Seele in gewisser Weise von der natürlichen Materie der Lebewesen nicht abtrennbar sind, sofern sie als solche vorliegen, wie Mut und Furcht, und nicht wie Linie und Fläche. (An. I 1) 4.2 Allgemeines über die Seele [412a3] Das von den früheren Philosophen über die Seele Überlieferte sei nun soweit dargelegt. Wir wollen aber wieder gleichsam zu einem neuen Anfang zurückkehren und versuchen zu bestimmen, was die Seele ist, und was ihr gemeinsamster Begriff sein dürfte. Wir nennen nun eine Gattung des Seienden das Wesen, und von diesem das eine als Materie, das an sich nicht dieses bestimmte Ding da ist, ein anderes aber als Gestalt und Form, nach welcher etwas schon ein bestimmtes Ding ist, und drittens das aus diesen (beiden Zusammengesetzte). Die Materie ist Möglichkeit, die Form aber ist Vollendung, und dies in zweifachem Sinne, zum einen wie (z. B.) eine Wissenschaft, zum andern wie das Betrachten. Wesen scheinen am meisten die Körper zu sein, und von diesen die natürlichen; denn sie sind für das übrige Prinzipien. Von den natürlichen Körpern haben die einen Leben, die anderen haben es nicht. Leben nennen wir sowohl Ernährung, als auch Wachstum und Schwinden. Daher ist wohl jeder natürliche Körper, der am Leben teilhat, ein Wesen, und zwar im Sinne eines zusammengesetzten Wesens. Da er aber ein sogearteter Körper ist - denn er besitzt Leben -, dürfte der Körper nicht Seele sein; denn der Körper gehört nicht zu dem, was von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, sondern ist vielmehr Zugrundeliegendes und Materie © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 182 II. Naturphilosophie selbst. Notwendig also muß die Seele ein Wesen als Form(ursache) eines natürlichen Körpers sein, der in Möglichkeit Leben hat. Das Wesen aber ist Vollendung. Also ist sie Vollendung eines solchen Körpers. Diese aber wird in zweifacher Bedeutung verstanden, in der einen wie z. B. eine Wissenschaft, in der anderen wie das Betrachten. Offensichtlich ist sie nun Vollendung wie die Wissenschaft. Mit dem Dasein der Seele gibt es auch Schlaf und Wachen. Das Wachen ist analog dem Betrachten, der Schlaf dem Besitzen, ohne Betätigung. Früher aber, der Entstehung nach, ist bei demselben (Subjekt) die Wissenschaft. Deshalb ist die Seele die erste Vollendung der Seele eines natürlichen Körpers, der in Möglichkeit Leben hat, und zwar von der Art, wie es der organische [412b] ist. Organe sind auch die Teile der Pflanzen, aber ganz einfache, wie das Blatt als Schutz der Fruchtschale, und die Fruchtschale als Schutz der Frucht. Die Wurzeln sind analog dem Munde; denn beide nehmen die Nahrung auf. Wenn man nun etwas Gemeinsames von jeder Seele sagen soll, so ist sie wohl die erste Vollendung eines natürlichen, organischen Körpers. Daher darf man auch nicht fragen, ob die Seele und der Körper Eines sind, wie auch nicht, ob das Wachs und die Figur (Eines sind), und überhaupt nicht, ob die Materie und das, wovon sie Materie ist; denn da das Eine und das Sein in mehrfacher Bedeutung verstanden werden, ist die Vollendung das (Eine und Seiende) in entscheidender Bedeutung. Allgemein ist nun dargelegt, was die Seele ist; denn sie ist das Wesen dem Begriffe nach. Dies ist das wesensmäßige Sein für eine sobeschaffenen Körper, (vergleichsweise) wie wenn eines von den Werkzeugen ein natürlicher Körper wäre, z. B. ein Beil; denn das wesensmäßige Sein des Beiles wäre sein Wesen, und dies wäre die Seele. Wenn diese (von ihm) abgetrennt würde, wäre es kein Beil mehr, es sei denn nur dem Namen nach. Nun aber ist es ein Beil. Nicht von einem sobeschaffenen Körper ist ja die Seele das (wesensmäßige) Sosein und der Begriff, sondern von einem natürlichen, sobeschaffenen Körper, der das Prinzip der Bewegung und Ruhe in sich besitzt. Man muß das Gesagte auch bei den (Körper-)Teilen betrachten. Wenn nämlich das Auge ein Lebewesen wäre, so wäre seine Seele die Sehkraft; denn sie ist das Wesen des Auges dem Begriffe nach. Das Auge aber ist die Materie der Sehkraft. Wenn diese sich entfern- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 183 4.2 Allgemeines über die Seele te, wäre es kein Auge mehr, es sei denn nur im namensgleichen Sinne, wie das steinerne oder das gezeichnete (Auge). Die Verhältnisse am Teil muß man nun am ganzen lebenden Körper erfassen; denn wie sich der Teil zum Teil verhält, so verhält sich analog die ganze Wahrnehmungskraft zum ganzen wahrnehmungsfähigen Körper als solchem. Nicht der Körper, der die Seele verloren hat, sondern der sie besitzende ist der in Möglichkeit seiende Körper, so daß er leben kann. Der Same und die Frucht ist der in Möglichkeit sobeschaffene Körper. Wie nun das Spalten und die Sehkraft (in ihren Tätigkeiten), so ist auch das Wachen eine [413a] Vollendung, und wie die Sehkraft und das Vermögen des Organs, so die Seele. Der Körper ist das in Möglichkeit Seiende. Wie aber die Pupille und die Sehkraft das Auge bilden, so bilden dort die Seele und der Körper das Lebewesen. Daß also die Seele nicht abtrennbar vom Körper ist, oder ein gewisser Teil von ihr, wenn sie von Natur aus (in Vermögen) teilbar ist, erweist sich deutlich; denn von einigen ist die Vollendung die der Teile selbst. Indes bei einigen Teilen hindert nichts (daß sie abtrennbar sind), weil sie von keinem Körper mehr Vollendung sind. Ferner ist unklar, ob die Seele auf diese Art Vollendung für den Körper ist, wie der Schiffer für das Schiff. Im Umriß sei nun die Bestimmung über die Seele in dieser Weise gegeben und vorgezeichnet. Da aus dem, was an sich noch nicht sicher, aber für uns augenscheinlicher ist, das Sichere und dem Begriffe nach Bekanntere hervorgeht, so wollen wir wiederum auf folgende Weise an die Untersuchung über die Seele herangehen; denn der definitorische Ausdruck soll nicht nur das Daß darlegen, wie es die meisten Definitionen ausdrükken, sondern auch die Ursache enthalten und aufzeigen. Heute nämlich sind die Ausdrücke der Definitionen Schlußsätzen ähnlich. So steht z. B. auf die Frage, was ist die Quadratur, die Definition: das Auffinden eines gleichseitigen Rechteckes, das inhaltsgleich ist einem gegebenen ungleichseitigen. Eine solche Definition ist Ausdruck des Schlußsatzes. Wer aber sagt, daß die Quadratur die Auffindung der mittleren (Linie, zwischen der gleichseitigen und der ungleichseitigen) ist, nennt die Ursache des Sachverhaltes. Wir sagen nun, indem wir einen neuen Anfang der Untersuchung nehmen, daß das Beseelte gegenüber dem Unbeseelten durch das Leben bestimmt ist. Da aber © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 184 II. Naturphilosophie das Leben (eines Lebewesens) in mehrfacher Bedeutung verstanden wird, sagen wir, daß es lebe, wenn Leben auch nur in einer seiner Bedeutungen vorliegt: als Vernunft, Wahrnehmung, örtliche Bewegung und Stehen, ferner als Bewegung der Ernährung, dem Schwinden und dem Wachstum nach. Daher scheinen auch alle Dinge, die wachsen, zu leben; denn sie besitzen anscheinend in sich ein Vermögen und Prinzip von solcher Art, wodurch sie Wachstum und Schwinden nach entgegengesetzten Orten haben. Sie wachsen nämlich nicht nur nach oben und nach unten nicht, sondern gleichmäßig nach beiden und nach allen Richtungen und ernähren sich und leben bis zum Ende, solange sie Nahrung aufnehmen können. Dieses Vermögen kann von den anderen getrennt sein. Unmöglich aber können bei den sterblichen Wesen die anderen von jenem getrennt bestehen. Dies ist offenkundig bei den Dingen, die wachsen; denn ihnen kommt kein anderes Seelen-Vermögen [413b] zu. Das Leben kommt also durch dieses Prinzip dem Lebendigen zu, das Lebewesen aber ist primär durch die Sinneswahrnehmung bestimmt; denn auch die (Lebewesen), die sich nicht bewegen, noch den Ort wechseln, aber Wahrnehmung haben, nennen wir Lebewesen und sagen nicht nur, daß sie leben. Von der Wahrnehmung aber kommt zuerst allen Lebewesen der Tastsinn zu. Wie das Nährvermögen sich von dem Tastsinn und jeder Sinneswahrnehmung abtrennen kann, so der Tastsinn von den übrigen Wahrnehmungen. Nährvermögen nennen wir den sobeschaffenen Teil der Seele, an dem alle Wesen, die wachsen, teilhaben. Alle Lebewesen scheinen den Tastsinn zu haben. Aus welchem Grunde sich jedes von beidem ergibt, werden wir später sagen. Für jetzt sei nur soviel gesagt, daß die Seele Prinzip der genannten Phänomene ist und durch diese Vermögen bestimmt wird: Nähr-, Wahrnehmungs-, Denkvermögen und Bewegung. Ob jedes von diesen Seele ist oder ein Seelenteil, und wenn Teil, ob in dieser Weise, daß er nicht nur dem Begriffe, sondern auch dem Räume nach abtrennbar ist, dies läßt sich zwar bei einigen von ihnen unschwer sehen, einige aber bieten Schwierigkeit. Wie nämlich bei den Pflanzen anscheinend einige (Teile) geteilt und abgetrennt voneinander leben - wie wenn die Seele in ihnen der Vollendung nach in jeder Pflanze eine einzige ist, in Möglichkeit aber von mehreren ist -, so sehen wir dies auch hinsichtlich anderer Unterschiede der Seele geschehen bei © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 185 4.2 Allgemeines über die Seele den Insekten, wenn sie durchgeschnitten werden; denn jeder der beiden Teile behält seine Wahrnehmung und Ortsbewegung, wenn aber Wahrnehmung, dann auch Vorstellung und Streben. Wo nämlich Wahrnehmung vorliegt, da auch Schmerz und Lust, und wo diese, da auch notwendigerweise Begehren. Hinsichtlich der Vernunft und des betrachtenden Vermögens ist es noch nicht deutlich, sondern es scheint eine andere Seelengattung zu sein, und dieses allein kann sich abtrennen, wie das Ewige vom Vergänglichen. Hinsichtlich der übrigen Teile aber der Seele ist hieraus offensichtlich, daß sie nicht abtrennbar sind, wie einige behaupten. Daß sie jedoch dem Begriffe nach verschieden sind, ist klar; denn das Wesen des Wahrnehmungsfähigen und des Meinungsfähigen ist verschieden, wenn anders auch das Wahrnehmen und das Meinen verschieden sind. Dasselbe gilt auch von jedem anderen der genannten Vermögen. Ferner kommen einigen Lebewesen alle diese Vermögen zu, anderen aber nur einige von diesen, anderen wiederum nur eines. Dies wird den Unter[414a]schied der Lebewesen ausmachen. Aus welchem Grunde, wird später zu untersuchen sein. Ähnliches ergibt sich auch hinsichtlich der Wahrnehmungen: Die einen Lebewesen besitzen alle, die anderen nur einige, wieder andere nur eine, als die notwendigste, den Tastsinn. Das Prinzip, wodurch wir leben und wahrnehmen wird auf zweifache Weise benannt, wie auch das Prinzip, wodurch wir etwas wissenschaftlich verstehen: Wir nennen es einerseits die Wissenschaft, andererseits auch die Seele, denn durch jede von beiden, so sagen wir, verstehen wir wissenschaftlich. Gleicherweise nennen wir auch das Prinzip, wodurch wir gesund sind, auf zweifache Weise und sagen, daß wir einerseits durch die Gesundheit, andererseits durch einen gewissen Teil des Körpers oder auch durch den ganzen gesund sind. Von diesen (zweifach genannten Prinzipien) sind die Wissenschaft und die Gesundheit eine Gestalt und eine gewisse Form sowie der Begriff und die Wirklichkeit für das aufnahmefähige (Wesen), und zwar die eine für das wissensfähige, die andere für das gesundheitsfällige (Wesen); es scheint nämlich im erleidenden und disponierten Träger die Wirklichkeit der wirkfähigen Prinzipien vorzuliegen. Die Seele ist nun aber dieses (Prinzip), wodurch wir primär leben, wahrnehmen und denken. Daher ist sie wohl ein gewisser Begriff und eine © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 186 II. Naturphilosophie Form, nicht jedoch Materie und Zugrundeliegendes. Da nämlich das Wesen in dreifacher Weise verstanden wird, wie wir gesagt haben, wovon das eine die Form, das andere die Materie, und das dritte das aus beiden (Zusammengesetzte) ist, von diesen aber die Materie Vermögen, die Form hingegen Vollendung, und da das aus beiden (Zusammengesetzte) beseeltes (Lebewesen) ist, ist nicht der Körper die Vollendung einer Seele, sondern diese umgekehrt eines Körpers. Und deshalb haben diejenigen eine richtige Auffassung, die annehmen, daß die Seele weder ohne Körper ist, noch (selber) ein Körper; denn sie ist kein Körper, wohl aber etwas, das zum Körper gehört, und liegt daher im Körper vor, und zwar in einem sobeschaffenen Körper. Nicht so, wie die früheren Philosophen sie in einen Körper einfügten, ohne näher zu bestimmen, in welchem und wiebeschaffenem Körper sie vorliege, obwohl doch offensichtlich nicht das Beliebige etwas Beliebiges aufnimmt. So geschieht es aber auch mit Grund; denn die Vollendung jedes Dinges tritt natürlicherweise ein in das (Substrat), das in Möglichkeit vorliegt, und in die eigentümliche Materie. Daß die Seele eine Vollendung und ein Begriff von dem ist, welches die Möglichkeit hat so beschaffen zu sein, ist aus diesem (Gesagten) klar. Von den Vermögen der Seele kommen die genannten bei den einen (Lebewesen) alle vor, wie wir gesagt haben, bei den anderen einige von ihnen, bei einigen nur ein einziges. Als Vermögen nannten wir das nährende, strebende, wahrnehmende, örtlich bewegende und denkende. Den Pflanzen kommt nur das Nährvermögen zu, den anderen [414b] sowohl dieses, als auch das wahrnehmende. Wenn aber das Wahrnehmungsvermögen, dann auch das strebende. Das Streben ist nämlich Begierde, Mut und Wille, und die Lebewesen haben alle wenigstens einen Wahrnehmungssinn, den Tastsinn. Wem aber Wahrnehmung zukommt, dem kommen auch Lust und Schmerz, sowie das Lustvolle und Schmerzvolle zu. Den Lebewesen aber, denen dieses zukommt, auch die Begierde; denn diese ist ein Streben nach dem Lustvollen. Ferner haben sie eine Wahrnehmung der Nahrung; denn das Tasten ist die Wahrnehmung der Nahrung. Alles Lebendige nährt sich ja von Trocknem und Feuchtem, Warmem und Kaltem, und deren Wahrnehmung ist Tasten. Von dem übrigen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 187 4.2 Allgemeines über die Seele Wahrnehmbaren ist sie es (nur) akzidentell; denn zur Nahrung tragen Geräusch, Farbe oder Geruch nichts bei. Der (schmeckbare) Saft aber ist etwas Tastbares. Hunger und Durst sind eine Begierde, und zwar der Hunger nach Trocknem und Warmem, der Durst hingegen nach Kaltem und Feuchtem. Der schmeckbare Saft ist wie eine Versüßung von diesem. Mehr Klarheit hierüber ist später zu gewinnen. Für jetzt sei soviel gesagt, daß den Lebewesen, die Tastsinn haben, auch Streben zukommt. Ob auch Vorstellung, ist (noch) unklar und soll später untersucht werden. Einigen Lebewesen kommt zu diesen (Vermögen) auch das örtlich bewegende hinzu, wieder anderen auch das denkfähige und die Vernunft, wie den Menschen, und wenn es noch ein anderes derartiges Lebewesen gibt oder ein noch erhabeneres. Offenbar dürfte in derselben Weise der Begriff der Seele ein einziger sein wie der Begriff der (geometrischen) Figur: Weder nämlich gibt es im geometrischen Bereich eine Figur neben dem Dreieck und den anschließenden Figuren, noch auch im Bereich des Seelischen eine Seele neben den genannten. Es mag auch bei den Figuren einen allgemeinen Begriff geben, der auf alle paßt; er wird dann keiner (bestimmten) Figur eigentümlich sein. Ebenso bei den genannten Seelen(arten). Daher ist es lächerlich, bei diesen, wie auch bei anderen Dingen den gemeinsamen Begriff zu suchen, der von keinem der existierenden (Dinge) ein eigentümlicher Begriff sein soll, auch nicht von der betreffenden und unteilbaren Art, da man auf einen solchen (eigentümlichen Begriff ) verzichtet. Auf vergleichbare Weise verhält es sich im Bereich der Figuren und dem der Seele. Immer nämlich liegt der Möglichkeit nach das Frühere im Nachfolgenden vor, sowohl bei den Figuren, als auch beim Beseelten, wie z. B. im Viereck das Dreieck, und (ebenso) im Wahrnehmungsdas Nährvermögen. Daher ist im einzelnen zu fragen, welches die Seele eines jeden (Wesens) ist, wie z. B. welches die der Pflanze und welches die des Menschen oder Tieres. Weshalb sie in einem solchen abfolgenden [415a] Verhältnis stehen, muß untersucht werden; denn ohne das nährende Vermögen gibt es nicht das wahrnehmende. Vom wahrnehmenden Vermögen hingegen trennt sich das nährende in den Pflanzen ab. Ohne den Tastsinn wiederum ist keine der anderen Wahrnehmungen vorhanden, während der Tastsinn ohne die anderen Wahrnehmungsvermögen vorkommt; denn viele Lebewesen haben weder Gesicht, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 188 II. Naturphilosophie noch Gehör, noch Geruchswahrnehmung. Und von den wahrnehmungsbegabten Lebewesen haben die einen die Fähigkeit der Ortsbewegung, die anderen nicht. Schließlich haben auch sehr wenige Lebewesen Überlegung und Denken. Diejenigen sterblichen Wesen, denen überdies Denken zukommt, haben auch die übrigen Vermögen. Nicht alle aber, denen je eines von den anderen Vermögen zukommt, haben auch das Denken, vielmehr haben die einen nicht einmal das Vorstellungsvermögen, die anderen leben nur mit diesem. Über die theoretische Vernunft ist eine andere Abhandlung erforderlich. Doch ist deutlich, daß die Abhandlung über jedes dieser Vermögen die angemessenste auch über die Seele ist. (An. II 1-3) 4.3 Wahrnehmung [416b32] Nach den oben durchgeführten Bestimmungen wollen wir nun gemeinsam von aller Wahrnehmung sprechen. Die Wahrnehmung erfolgt im Bewegtwerden und Erleiden, wie gesagt; denn sie scheint eine (qualitative) Veränderung zu sein. Einige Denker behaupten, daß auch das Gleiche vom Gleichen etwas erleide. [417a] Auf welche Weise dies möglich oder unmöglich ist, haben wir in den allgemeinen Abhandlungen über das Tun und Leiden dargelegt. Es stellt sich aber eine Schwierigkeit, weshalb es von den Wahrnehmungen nicht (wieder) Wahrnehmung gibt, und warum sie ohne die Außendinge keine Wahrnehmung bewirken, obwohl in ihnen Feuer, Erde und jedes von den andern Elementen ist, und die Wahrnehmung auf diese an sich oder auf ihre Akzidenzien geht. Offenbar nun ist das Wahrnehmungsfähige (noch) nicht in Akt (tätig), sondern nur in Potenz: Wie ja daher (vergleichsweise) auch das Brennbare nicht (schon) an sich brennt ohne das, was das Brennen bewirkt; denn es würde sich selbst verbrennen und bedürfte nicht des Feuers, das in der Vollendung ist. Da wir vom Wahrnehmen in zweifachem Sinne sprechen - denn wir sagen sowohl vom in Möglichkeit Hörenden und Sehenden, daß es höre und sehe, wenn es gerade schläft, als auch vom schon tätigen -, dürfte ebenso das Wahrnehmungsvermögen in zweifacher Weise so heißen, teils in Möglichkeit und teils in Wirklichkeit. Gleicherweise auch das Wahrnehmen, das sowohl in Möglichkeit, als auch in Wirklichkeit ist. Zuerst nun wollen wir hierüber sprechen, wie © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 189 4.3 Wahrnehmung wenn das Erleiden, Bewegtwerden und Tätigsein dasselbe seien; denn es ist ja die Bewegung eine Art Tätigkeit, wenn auch eine unvollendete, wie in anderen (Schriften) gesagt worden ist. Alles (Leidensfähige) aber erleidet und wird bewegt von dem Wirkfähigen und in Akt Befindlichen. Daher erleidet es einerseits von dem Gleichen, andererseits von dem Ungleichen, wie wir gesagt haben. Es erleidet nämlich das Ungleiche, nach dem Erleiden aber ist es ein Gleiches. Man muß auch bei der Möglichkeit und der Vollendung einen Unterschied machen; denn jetzt sprechen wir in einfacher Weise über sie. Es gibt nämlich z. B. ein solches wissenschaftliches Verstehen, wie wir einen Menschen deshalb wissenschaftlich nennen, weil der Mensch zu den wissenschaftsfähigen Wesen gehört und zu denen, die Wissenschaft haben. Wir können aber Wissenschaftler (auch) denjenigen nennen, der (z. B.) schon die Grammatik(-Wissenschaft) besitzt. Jeder von beiden ist nicht auf dieselbe Weise der Wissenschaft fähig, sondern der eine ist es, weil die Gattung (Lebewesen) und Materie von solcher Art ist, der andere aber, weil er, wenn er will, zur (wissenschaftlichen) Betrachtung übergehen kann, sofern von den äußeren Umständen nichts hindert. Wieder ein anderer ist derjenige, der schon betrachtet, der sich in der Vollendung befindet und in eigentlichem Sinne etwas, z. B. dieses A, wissenschaftlich versteht. Die beiden ersten sind also zwar dem Vermögen nach Wissenschaftler, aber der eine ist es dadurch, daß er durch Lernen sich verändert hat und vielmals in eine entgegengesetzte Haltung übergewechselt ist, der andere hingegen dadurch, daß er die Wahrnehmung [417b] oder z. B. die Grammatik besitzt, aber in einer anderen Weise nicht tätig ist, hin zur Betätigung der erlernten Grammatik. Auch das Erleiden ist nicht von einfacher Bedeutung, sondern in der einen Bedeutung ist es der Untergang durch das Entgegengesetzte, in der anderen ist es eher die Bewahrung des in Möglichkeit Seienden durch das, was in der Vollendung ist und sich ebenso verhält, wie die Möglichkeit zur Vollendung; denn das, was z. B. die Wissenschaft besitzt, wird ein Betrachtendes, was entweder keine Veränderung ist - der Zuwachs erfolgt ja zu ihm selbst hin und zur Vollendung -, oder eine andere Gattung von Veränderung. Daher kann man nicht gut sagen, daß das, was besonnen denkt, sich verändere, wenn es denkt, wie auch der Baumeister sich nicht verändert, wenn er baut. Was also beim vernünftig Erkennenden und be- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 190 II. Naturphilosophie sonnen Denkenden aus dem in Möglichkeit Seienden in die Vollendung führt, ist nicht Belehrung, sondern hat mit Recht eine andere Benennung. Was hingegen aus dem Zustand des in Möglichkeit Seienden lernt und eine Wissenschaft erwirbt von dem, was in der Vollendung steht und zur Lehre befähigt ist, das darf man (wie gesagt) entweder nicht mehr Erleiden nennen, oder man muß zwei Arten von Veränderung benennen, die eine als Wechsel zu (entgegengesetzten) privativen Verfassungen und die andere zu den Haltungen und zur eigentümlichen Natur. Beim Wahrnehmungsfähigen erfolgt der erste Wechsel vom Erzeuger her. Wenn es aber geboren wird, dann verhält sich das Wahrnehmen ebenso, wie vergleichsweise die schon erlernte Wissenschaft. Und das wirkliche Wahrnehmen wird ähnlich ausgesagt wie das wirkliche wissenschaftliche Betrachten. Es besteht aber ein Unterschied zwischen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis, weil von der ersteren das, was (ihre) wirkliche Tätigkeit bewirkt, außerhalb liegt, nämlich das Sichtbare und Hörbare, und ebenso die übrigen wahrnehmbaren Objekte. Der Grund davon ist der, daß die wirkliche Wahrnehmung auf das Einzelne geht, die Wissenschaft dagegen auf das Allgemeine. Dieses aber ist in gewisser Weise in der Seele. Daher liegt das vernünftige Erfassen beim Subjekt selbst, während das Wahrnehmen nicht bei ihm liegt; denn es ist notwendig, daß das Wahrnehmbare vorliegt. Ebenso verhält es sich auch bei den Wissenschaften von den wahrnehmbaren Dingen, und aus demselben Grund, weil das Wahrnehmbare zu den einzelnen Dingen gehört und außerhalb des Subjekts liegt. Aber hierüber sich genauer zu erklären wird ein andermal Gelegenheit sein. Jetzt sei soviel festgestellt: Da das, was Mögliches genannt wird, nicht von einfacher Bedeutung ist, sondern das eine von der Art, wie wir sagen, daß der Knabe ein Feldherr zu sein vermöge, das andere von der Art, wie der Erwachsene in Möglichkeit Feldherr ist, so verhält es sich auch mit dem Wahrnehmungsfähigen. Weil für den Unterschied beider Bedeutungen [418a] die Benennung fehlt, hierüber aber festgelegt worden ist, daß sie verschieden sind, und auf welche Weise, muß man die Begriffe des Erleidens und der Veränderung verwenden, als wären sie die eigentlichen. Das Wahrnehmungsfähige ist in Möglichkeit von der Art, wie das Wahrnehmbare es © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 191 4.3 Wahrnehmung schon wirklich in seiner Vollendung ist, wie gesagt. Es erleidet als mit dem Objekt noch nicht gleiches, nach dem Erleiden aber ist es angeglichen und wie jenes. Man muß bei jedem Wahrnehmungssinn zuerst über die wahrnehmbaren Objekte sprechen. Das Wahrnehmbare wird in drei Bedeutungen so genannt; in zwei von ihnen sagen wir, daß es an sich wahrgenommen werde, in einer aber akzidentell. Von den zwei ersten ist das eine jedem Wahrnehmungssinn eigentümlich, das andere allen gemeinsam. Das eigentümliche nenne ich das, was durch keinen anderen Sinn wahrgenommen werden kann, und worüber keine Täuschung möglich ist, wie der Gesichtssinn von der Farbe, das Gehör vom Schall und der Geschmack vom Saft. Der Tastsinn hat allerdings mehrere Unterschiede. Aber jeder Sinn urteilt über die ihm eigenen Objekte und täuscht sich hierüber nicht, daß es z. B. Farbe oder Ton ist, sondern nur darüber, was der Träger der Farbe ist oder wo, oder was das Klingende ist oder wo. Solche Objekte heißen also dem Sinn eigentümliche, gemeinsame aber sind Bewegung, Ruhe, Zahl, Gestalt, Größe. Solche Objekte sind nämlich keinem einzelnen Sinn eigentümlich, sondern allen gemeinsam; denn eine Bewegung ist sowohl durch den Tastsinn, als auch durch das Gesicht wahrnehmbar. Von akzidentell Wahrnehmbaren aber spricht man, wenn z. B. das Weiße der Sohn des Diares wäre; denn dieses wird akzidentell wahrgenommen, weil dem Weißen akzidentell das zukommt, was wahrgenommen wird. Daher erleidet auch (der Sinn) als solcher nichts vom Wahrnehmbaren (dieser Art). Von dem an sich Wahrnehmbaren hingegen sind hauptsächlich die eigentümlichen Objekte Wahrnehmbares und das, worauf sich von Natur das Wesen jedes Wahrnehmungssinnes richtet. (An. II 5-6) [424a17] Man muß aber allgemein von jeder Wahrnehmung das folgende erfassen: Die Wahrnehmung ist das Aufnahmefähige für die wahrnehmbaren Formen ohne die Materie, wie das Wachs vom Ring das Zeichen aufnimmt ohne das Eisen oder das Gold. Es nimmt das goldene oder eherne Zeichen auf, aber nicht sofern es Gold oder Erz ist. Ebenso erleidet die Wahrnehmung von jedem Objekt, das Farbe, Geschmack oder Ton hat, aber nicht, sofern es jedes einzelne von © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 192 II. Naturphilosophie ihnen ist, sondern sofern es von solcher Art und gemäß dem Begriff ist. Erstes (eigentliches) Sinnesorgan ist das, worin sich ein solches Sinnesvermögen befindet. Wahrnehmungssinn und Organ machen dasselbe aus, doch ist ihr Sein verschieden; denn sonst wäre das Wahrnehmende eine ausgedehnte Größe. Das eigentliche Sein des Wahrnehmungsfähigen wie auch der Wahrnehmung ist jedoch nicht Größe, sondern ein gewisser Begriff und Vermögen jenes (Organs). Daraus wird auch offenbar, warum die Übermaße der wahrnehmbaren Eigenschaften die Wahrnehmungsorgane zerstören; denn wenn die Bewegung stärker als das Organ war, so löst sich das begriffliche Verhältnis auf - dieses war aber die Wahrnehmung -, wie auch vergleichsweise Zusammenklang und Ton sich auflösen, wenn die Saiten eines Instruments zu stark angeschlagen werden; und warum die Pflanzen nicht wahrnehmen, obwohl sie doch einen Seelen-Teil haben und von dem Tastbaren selbst etwas erleiden; denn sie werden kalt [424b] und warm. Der Grund davon ist nämlich der, daß sie keine (wahrnehmungsfähige) Mitte und kein derartiges Prinzip haben, das die Formen des Wahrnehmbaren aufzunehmen vermag, sondern sie erleiden mit der Materie. Es könnte sich aber jemand fragen, ob das, was nicht zu riechen fähig ist, vom Geruch etwas erleide, oder von Farbe das, was nicht zu sehen vermag, und ebenso bei den übrigen Sinnen. Wenn das Riechbare Geruch ist, so bewirkt, wenn er überhaupt etwas bewirkt, der Geruch das Riechen, so daß kein Lebewesen, das nicht zu riechen fähig ist, von dem Geruch etwas erleiden kann - dieselbe Überlegung gilt auch von den anderen Sinnen -, und eines, das zur Wahrnehmung fähig ist, auch nur, insofern es jeweils wahrnehmungsfähig ist. Dies wird zugleich auch aus folgendem klar: Weder Helle und Dunkelheit nämlich, noch Ton und Geruch bewirken etwas in bezug auf die Körper, sondern ihre Träger, an denen sie sich finden: z. B. die Luft in Verbindung mit dem Donner spaltet das Holz. Aber die tastbaren Gegenstände und die schmeckbaren Säfte bewirken etwas; denn wovon sollten andernfalls die unbeseelten Dinge etwas erleiden und sich verändern? Werden nun auch jene Gegenstände (der anderen Sinne) einwirken? Oder es ist nicht jeder Körper seitens des Geruches und Tones, und die Dinge, die etwas erleiden, sind unbestimmt und unbeständig, wie die Luft; denn sie riecht, wie wenn sie © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 193 4.4 Passiver und aktiver Intellekt (eine Einwirkung) erlitten hätte. Was ist nun das Riechen anderes als das Erleiden von etwas (durch Einwirkung eines Geruches)? Oder das Riechen ist Wahrnehmen, und die Luft wird sogleich nach dem Erleiden (einer Einwirkung) wahrgenommen. (An. II 12) 4.4 Passiver und aktiver Intellekt [429a10] Hinsichtlich des Seelenteiles, mit dem die Seele erkennt und verständig ist, sei er nun abtrennbar oder auch räumlich nicht abtrennbar, sondern nur dem Begriffe nach, muß man untersuchen, welches unterscheidende Merkmal er hat, und wie sich denn das vernünftige Erfassen vollzieht. Wie das Wahrnehmen dürfte es entweder ein Erleiden sein von seiten des intelligiblen Gegenstandes oder etwas anderes dergleichen. Also muß es leidensunfähig sein und doch aufnahmefähig für die (intelligible) Form und in Möglichkeit ein solches sein (wie das Objekt der Form nach), aber nicht dieses (konkrete Objekt selbst), und ähnlich, wie das Wahrnehmungsfähige sich zum Wahrnehmbaren verhält, so muß sich die Vernunft zum Intelligiblen verhalten. Folglich muß sie, da sie alles erfaßt, unvermischt sein, wie Anaxagoras sagt, um zu herrschen, das heißt um zu erkennen; denn das Fremde, das dazwischen erscheint, hindert und versperrt. Daher besitzt sie auch keine andere Natur als diese, daß sie vermögend (zum Erkennen) ist. Die sogenannte Vernunft der Seele also - ich nenne Vernunft das, womit die Seele nachdenkt und Annahmen macht - ist nichts (identischerweise) von dem Seienden in Wirklichkeit, bevor sie erkennt. Daher hat es auch seinen guten Grund, daß sie nicht mit dem Körper vermischt ist; denn dann nähme sie eine bestimmte Beschaffenheit an, würde kalt oder warm, und hätte ein (körperliches) Organ, wie das Wahrnehmungsvermögen. Nun kommt ihr aber nichts (derartiges) zu. Und treffend äußern sich diejenigen, die sagen, die Seele sei der Ort der Formen, nur daß dies nicht die ganze, sondern die vernünftige Seele ist, und daß sie die Formen nicht in Wirklichkeit, sondern in Möglichkeit ist. Daß aber die Leidensunfähigkeit des Wahrnehmungsfähigen und des Vernunftvermögens nicht dieselbe ist, wird deutlich bei den Sinnesorganen und der Sinneswahrnehmung; denn das Wahrnehmungsvermögen vermag aus [429b] zu starken, wahrnehmbaren Eindrücken nicht wahrzunehmen, z. B. ei- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 194 II. Naturphilosophie nen Ton aus starken Tönen. Auch bei starken Färb- und Geruchseindrücken vermag es weder zu sehen noch zu riechen. Wenn aber die Vernunft sich auf ein übermächtiges intelligibles Objekt richtet, so erfaßt sie das minder intelligible nicht weniger, sondern mehr; denn das Wahrnehmungsvermögen besteht nicht ohne Körper, die Vernunft hingegen ist abtrennbar (vom Körper). Wenn sie aber so zu jedem wird, wie man es vom Wissenschaftler der Wirklichkeit nach sagt - dies ist der Fall, wenn er von sich aus wirklich tätig sein kann (in der erlernten Wissenschaft) -, so befindet sie sich auch dann noch gewissermaßen in Möglichkeit (gegenüber der wirklichen Betätigung der Wissenschaft), jedoch nicht mehr in gleicher Weise wie früher, bevor sie (die Wissenschaft) lernte und entdeckte. Und dann vermag sie auch sich selbst zu erkennen. Da z. B. die Größe verschieden ist von dem der Größe eigentümlichen Sosein (Wesen), und das Wasser vom Sosein des Wassers - und so bei vielen anderen Dingen, aber nicht bei allen; denn bei einigen ist es dasselbe -, unterscheidet die Vernunft das Sosein des Fleisches und das Fleisch entweder mit einem anderen Vermögen oder mit dem selben sich auf andere Weise verhaltenden (Vermögen); denn das Fleisch ist nicht ohne die Materie, sondern wie z. B. das Stumpfnasige ein Bestimmtes an einem Bestimmten. Nun unterscheidet sie mit dem Wahrnehmungsvermögen das Warme und das Kalte und das, wovon das Fleisch ein Verhältnis ist. Mit einem anderen Vermögen aber, das entweder abtrennbar ist oder sich (zum ersten) so verhält, wie die geknickte Linie zu sich selbst als gestreckter, unterscheidet sie das Sosein des Fleisches. Beim abstrakten (mathematischen) Seienden wiederum entspricht z. B. das Gerade dem Stumpfnasigen; denn es ist mit dem Kontinuum. Das Sosein des Geraden, wenn es doch vom Geraden verschieden ist, ist etwas anderes. Es soll Zweiheit sein. Also unterscheidet die Vernunft dies mit einem anderen Vermögen oder mit dem selben sich anders verhaltenden. Und überhaupt gilt also: wie die Dinge von der Materie abtrennbar sind, so verhält sich auch das, was die Vernunft betrifft. Man könnte sich aber fragen, wenn die Vernunft einfach ist und leidensunfähig und mit nichts etwas Gemeinsames hat, nach Anaxagoras’ Behauptung, wie sie denn etwas erkennen wird, wo doch das Erkennen ein Erleiden ist; denn sofern zwischen beiden (dem Objekt © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 195 4.4 Passiver und aktiver Intellekt und dem Erkenntnisvermögen) etwas Gemeinsames da ist, scheint das eine zu wirken und das andere zu erleiden. Ferner stellt sich die Frage: ob sie auch selbst intelligibel ist; denn entweder wird den anderen Dingen Vernunft zukommen - wenn sie nicht auf andere Weise intelligibel ist, und das Intelligible der Art nach Eines ist -, oder die Vernunft wird etwas (ihr) Beigemischtes haben, das bewirkt, daß sie erkennbar wie die anderen Dinge ist. Oder die Lösung ist die: hinsichtlich des Erleidens aufgrund von etwas Gemeinsamem ist früher unterschieden worden, daß die Vernunft das Intelligible gewissermaßen in Möglichkeit ist, aber nicht in Wirklichkeit, bevor sie es erfaßt. Es muß sich so verhalten wie [430a] bei einer Schreibtafel, auf der noch nichts in Wirklichkeit geschrieben steht, was bei der Vernunft zutrifft. Und sie selbst ist intelligibel wie die intelligiblen Objekte. Bei dem, was ohne Materie besteht, ist das vernünftig Erkennende und das Erkannte dasselbe; denn die theoretische Wissenschaft und das so Gewußte sind dasselbe. Daß sie aber nicht immer erkennend tätig ist, dafür muß man die Ursache untersuchen. Bei den Objekten hingegen, die Materie haben, ist ein jedes Intelligible nur der Möglichkeit nach da. Daher wird in jenen Dingen nicht Vernunft vorliegen - denn die Vernunft ist ohne die Materie das (erkennende) Vermögen für solche Dinge -, jener aber (der Vernunft) wird das Intelligibelsein zukommen. Da es aber, wie in der ganzen Natur, einerseits Materie gibt für jede Gattung - sie ist das, was alles jenes (zur Gattung Gehörige) in Möglichkeit ist - andererseits das Ursächliche und Wirkende, dadurch daß es alles wirkt, wie die Kunst sich zu ihrem Material verhält, müssen auch in der Seele diese Unterschiede vorliegen, und es gibt eine Vernunft von solcher Art, daß sie alles (Intelligible) wird, und eine von solcher, daß sie alles (Intelligible) wirkt, als eine Haltung, wie das Licht; denn in gewisser Weise macht auch das Licht die Farben, die in Möglichkeit sind, zu Farben in Wirklichkeit. Und diese Vernunft ist abtrennbar, leidensunfähig und unvermischt und ist ihrem Wesen nach in Wirklichkeit. Immer nämlich ist das Wirkende ehrwürdiger im Vergleich zum Leidenden, und das Prinzip zur Materie. Dasselbe aber ist die Wissenschaft in Wirklichkeit mit dem Gegenstand. Die Wissenschaft in Möglichkeit ist im Einzelnen der Zeit nach früher, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 196 II. Naturphilosophie im ganzen aber auch nicht der Zeit nach, sondern die Vernunft ist nicht bald tätig, bald nicht tätig (d. h. sie ist immer tätig). Abgetrennt nur ist sie das, was sie (ihrem Wesen nach) ist, und nur dieses (Prinzip) ist unsterblich und ewig. Wir haben (dann) aber keine Erinnerung, weil dieses leidensunfähig ist, die leidensfähige Vernunft hingegen vergänglich ist, und ohne diese jenes nichts (von dem Erinnerbaren) erkennt. (An. III 4-5) [431b20] Jetzt wollen wir die Ausführungen über die Seele zusammenfassen und wiederholen, daß die Seele in gewisser Weise das Seiende ist; denn alles Seiende ist entweder sinnlich wahrnehmbar oder intelligibel, und die Wissenschaft ist gewissermaßen das Wißbare, die Wahrnehmung aber das Wahrnehmbare. Wie dies zu verstehen ist, muß untersucht werden. Die Wissenschaft und die Wahrnehmung verteilen sich auf die Dinge, die in Möglichkeit (tätigen) auf die Möglichkeiten (der Objekte), die in Wirklichkeit (tätigen) auf die Wirklichkeiten. Das wahrnehmende und das wissenschaftliche Vermögen der Seele sind dasselbe (wie die Objekte), dieses das wissenschaftliche Objekt, jenes das Sinnesobjekt. Das Vermögen muß aber entweder die Objekte selbst sein, oder ihre (erkennbaren) Formen. Sie selbst doch nicht; denn nicht befindet sich der Stein in der Seele, sondern die [432a] Form. So ist die Seele wie die Hand; denn auch die Hand ist das Organ der Organe, und so ist die Vernunft die Form der (intelligiblen) Formen, und die Wahrnehmung die Form der wahrnehmbaren (Formen). Da es aber auch kein Ding, wie es scheint, abgetrennt neben den sinnlich wahrnehmbaren Größen gibt, so sind in den wahrnehmbaren Formen die intelligiblen (enthalten), sowohl die sogenannten abstrakten, als auch alles, was Verhältnisse und Eigenschaften der Sinnesdinge sind. Und deshalb könnte jemand ohne Wahrnehmung nichts lernen, noch auch begreifen. Und wenn man etwas betrachtet, dann muß man es zugleich mit einem Vorstellungsbild betrachten. Die Vorstellungsbilder sind nämlich wie die Wahrnehmungsobjekte, nur ohne die Materie. Die Vorstellung ist verschieden von Bejahung und Verneinung (im Urteil). Das Wahre und das Falsche ist eine Verknüpfung von Begriffen (Vernunftinhalten). Aber welchen Unterschied sollte es geben, daß die ersten Begriffe nicht Vorstellungsbilder sind? Oder es sind auch (diese wie) die übri- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 197 4.5 Streben gen (Begriffe) keine Vorstellungen, aber nicht ohne Vorstellungen. (An. III 8) 4.5 Streben [433a9] Es scheinen aber doch diese beiden die Bewegung zu bewirken: Streben oder Vernunft, wenn man die Vorstellung als eine Art Vernunfterkenntnis annehmen möchte; denn viele folgen neben der Wissenschaft den Vorstellungen, und in den anderen Lebewesen gibt es keine Vernunfterkenntnis und Überlegung, sondern (nur) Vorstellung. Diese beiden also sind dem Orte nach bewegende Vermögen, Vernunft und Streben, und zwar die zweckvoll denkende und praktische Vernunft. Sie unterscheidet sich von der theoretischen durch den Zweck. Auch jedes Streben ist um eines Zweckes willen. Worauf sich das Streben richtet, dies ist Prinzip der praktischen Vernunft. Der Endpunkt (des praktischen Denkens) ist der Anfang der Handlung. Daher erscheinen diese beiden mit gutem Grund die bewegenden Vermögen zu sein, Streben und praktisches Denken; denn das erstrebbare Objekt bewegt, und deshalb bewegt auch das Denken, weil ihr Prinzip das erstrebbare Objekt ist. Aber auch, wenn die Vorstellung bewegt, bewegt sie nicht ohne das Streben. Eines ist ja, was das Strebevermögen bewegt. Wenn nämlich zwei (Prinzipien) bewegten, Vernunft und Streben, so würden sie gemäß einer gemeinsamen Art bewegen. Nun aber scheint die Vernunft nicht ohne Streben zu bewegen; denn der Wille ist ein Streben. Wenn man sich durch die Überlegung bewegt, bewegt man sich auch durch den Willen. Das Streben bewegt (auch) gegen das begründende Denken; denn die Begierde ist eine Art Streben. Alle Vernunft(einsicht) aber ist richtig. Streben und Vorstellung hingegen sind richtig und nicht richtig. Deshalb bewegt das erstrebbare Objekt immer, aber dieses ist entweder das Gute oder das scheinbare Gute. Jedoch nicht jedes, sondern nur das praktische Gute. Praktisch aber ist das Gute, das sich auch anders verhalten kann. Daß nun ein solches Vermögen der Seele bewegt, das Streben [433b] genannt wird, ist offenkundig. Für diejenigen, welche die Teile der Seele unterscheiden, ergeben sich, wenn sie diese nach den Vermögen einteilen und scheiden, sehr viele: das nährende, das wahr- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 198 II. Naturphilosophie nehmende, das vernünftige, das beratschlagende Vermögen, ferner das strebende. Diese sind voneinander stärker verschieden als das begehrende und das mutvolle Vermögen. Da nun einander entgegengesetzte Strebungen auftreten, und dies dann geschieht, wenn der Verstand und die Begierden (einander) entgegengesetzt sind, und da dies bei den Wesen vorkommt, die den Zeitsinn haben - die Vernunft befiehlt, wegen des Zukünftigen, nach der einen Richtung zu ziehen, die Begierde wegen des Gegenwärtigen (nach der anderen Richtung); denn das schon Gegenwärtige erscheint als lustvoll, und zwar als schlechthin Lustvolles und schlechthin Gutes, weil das Zukünftige nicht mehr im Blick ist -, so gibt es der Art nach ein einziges Bewegendes, das Strebende als Strebendes, als allererstes aber das erstrebbare Objekt - denn dieses bewegt, ohne bewegt zu werden, dadurch, daß es vernünftig erfaßt oder vorgestellt wird -, der Zahl nach aber gibt es mehrere bewegende Prinzipien. Da dreierlei gegeben ist, eines als das Bewegende, zweitens das, womit es bewegt, ferner drittens das Bewegte, und da das Bewegende ein zweifaches ist, das eine unbewegt, das andere bewegend und bewegt, ergibt sich folgendes: Das unbewegte ist das praktische Gute, hingegen das bewegende und bewegte das Strebevermögen; denn insofern es strebt, wird das Strebende bewegt, und das Streben ist eine gewisse Bewegung als Verwirklichung, das Lebewesen aber ist das Bewegte. Das Organ, mit dem das Streben bewegt, ist schon körperlich. Deshalb ist bei den dem Körper und der Seele gemeinsamen Tätigkeiten darüber zu handeln. Um es jetzt aber zusammenfassend zu sagen, tritt das organisch Bewegende dort auf, wo Anfang und Ende dasselbe sind, wie die Türangel; denn hier sind die Wölbung und die Höhlung das Ende und der Anfang. Daher ruht das eine, während das andere bewegt wird, und dem Begriffe nach sind sie verschieden, der Größe nach aber untrennbar; denn alles wird durch Druck und Zug bewegt. Deshalb muß wie in einem Kreis etwas stillstehen, und von da aus die Bewegung ihren Anfang nehmen. Im ganzen also gilt, wie gesagt: In der Weise, wie ein Lebewesen ein Strebevermögen hat, ist es fähig, sich selbst zu bewegen. Strebensfähig ist es jedoch nicht ohne Vorstellung, jede Vorstellung aber ist entweder mit Überlegung oder mit Sinneswahrnehmung verbunden. An dieser (letzteren) haben auch die übrigen Lebewesen teil. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 199 4.5 Streben Man muß weiter untersuchen, was bei den unvollendeten Lebewesen, bei denen nur der Tastsinn als Wahrnehmungsvermögen vorhanden ist, [434a] das Bewegende ist, ob bei ihnen Vorstellung vorhanden sein kann und Begierde oder nicht; denn es scheint (ihnen) Schmerz und Lust innezuwohnen. Wenn aber dieses, dann auch notwendig Begierde. Wie aber dürfte Vorstellung (in ihnen) sein? Oder (in dieser Weise: ) wie sie sich unbestimmt bewegen, so sind auch Begierde und Vorstellung zwar vorhanden, aber nur unbestimmt vorhanden. Die mit sinnlicher Wahrnehmung verbundene Vorstellung findet sich nun, wie gesagt, auch in den übrigen Lebewesen, die mit Beratschlagung verbundene hingegen in den der Überlegung fähigen Lebewesen; denn ob dies oder das getan werden soll, ist die Leistung der Überlegung. Und jene Lebewesen müssen mit einem einheitlichen Maßstab messen; denn sie gehen dem Größeren nach. Daher können sie aus mehreren Vorstellungen Eines machen. Und dies ist der Grund dafür, daß sie keine Meinung zu haben scheinen, weil sie die aus einem Schluß hervorgehende Vorstellung nicht haben, diese aber besitzt jene (Meinung). Deshalb ist (bei ihnen) das Streben nicht mit Beratung verbunden. Dieses Streben siegt zuweilen und bewegt den Willen, bisweilen aber jener (Wille) das Streben, wie eine Kugel eine andere wegstößt, so das eine Streben das andere im Falle der Unbeherrschtheit. Von Natur aber ist immer das höhere Vermögen das gebietendere und bewegt. So vollzieht sich das Streben (im ganzen gesehen) nunmehr in drei Bewegungsabläufen. Das Vermögen wissenschaftlicher Erkenntnis aber bewegt sich nicht, sondern ruht. Da die eine Annahme und Überlegung allgemein ist, die andere auf das Einzelne geht - denn die eine sagt aus, daß ein solcher Mensch solches tun muß, die andere aber, daß dieses hier von solcher Art ist, und ich ein solcher Mensch bin -, so bewegt nunmehr diese zweite Meinung, nicht die allgemeine; oder beide, aber die eine ruht mehr in sich, die andere nicht. (An. III 10-11) [700b4] Was nun die Seele betrifft, ob sie bewegt wird oder ob sie nicht bewegt wird, und wenn sie bewegt wird, wie sie bewegt wird, darüber ist früher in den Büchern gesprochen worden, die sich speziell mit ihr befassen. Da aber alle leblosen Dinge von etwas anderem bewegt werden und (da) in bezug auf das, was als erstes bewegt wird © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 200 II. Naturphilosophie und immer bewegt wird, früher in den Büchern über die erste Philosophie festgelegt worden ist, auf welche Weise es bewegt wird und wie der erste Beweger bewegt, bleibt (noch) zu untersuchen, wie die Seele den Körper bewegt und welches der Ursprung der Bewegung des Lebewesens ist. Denn abgesehen von der Bewegung des Alls, sind die belebten Wesen Ursache für die Bewegung der anderen Dinge, soweit diese sich nicht gegenseitig bewegen, weil eins gegen das andere stößt. Deshalb haben auch alle ihre Bewegungen eine Grenze; denn auch die der belebten Wesen (haben eine Grenze). Alle Lebewesen führen nämlich die aktiven und passiven Bewegungen um eines Zweckes willen aus, so daß dies für sie die Grenze jeder Bewegung ist, nämlich der Zweck. Wir sehen aber, daß das, was das Lebewesen bewegt, eine Überlegung, eine Vorstellung, eine Entscheidung, ein Wunsch und eine Begierde sind. Sie alle lassen sich aber auf Vernunft und Streben zurückführen. Die Vorstellungskraft und das Wahrnehmungsvermögen gehören nämlich demselben Bereich an wie die Vernunft; denn sie alle sind dazu geeignet, ein Urteil zu bilden, sie unterscheiden sich aber in den Punkten, die an anderer Stelle abgehandelt worden sind. Aber Wunsch, Trieb und Begierde fallen unter das Streben, die Entscheidung dagegen ist etwas, was der Überlegung und dem Streben gemeinsam ist; deswegen setzt das, was Gegenstand des Strebens und der Überlegung ist, zuerst in Bewegung. Aber nicht jeder Gegenstand der Überlegung, sondern (nur) das Endziel im Bereich des Handelns. Deshalb ist dasjenige unter den Gütern, das eine solche Beschaffenheit hat, das Bewegende, aber nicht jedes Gute, denn (nur) insofern seinetwegen etwas anderes da ist und insofern es Endziel für die Dinge ist, die um eines anderen willen vorhanden sind, auf diese Weise setzt es in Bewegung. Man muß aber den Fall setzen, daß sowohl das scheinbar Gute die Stelle des (wirklich) Guten innehat als auch das Angenehme; denn es ist ein scheinbares Gut. Daher ist es klar, daß das, was von dem ewigen Beweger immer bewegt wird, in gewisser Weise ebenso bewegt wird wie jedes einzelne Lebewesen, in gewisser Weise aber anders, weshalb auch jene Dinge immer bewegt werden, die Bewegung der Lebewesen dagegen eine Grenze hat. Aber das ewig Schöne und das wahrhaft und primär Gute, das heißt das, was nicht einmal gut und ein anderes Mal nicht gut ist, ist zu göttlich und erhaben, als daß es zu etwas anderem in Beziehung stehen könnte. Das © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 201 4.5 Streben erste Glied (der Bewegungskette) bewegt nun, ohne bewegt zu sein, das [701a] Streben und das Strebevermögen bewegen aber, während sie bewegt werden. Das letzte von dem, was bewegt wird, braucht aber nicht mit Notwendigkeit etwas zu bewegen. Daraus wird aber auch deutlich, daß die Ortsveränderung mit gutem Grund die letzte der Bewegungen bei den Dingen ist, die entstehen, denn das Lebewesen bewegt sich und nimmt eine Ortsveränderung vor auf Grund eines Strebens oder einer Entscheidung, nachdem entsprechend der Wahrnehmung oder der Vorstellung eine Veränderung eingetreten ist. Wie aber (ist es zu erklären, daß) man, wenn man denkt, bisweilen handelt, bisweilen dagegen nicht und sich bewegt, sich bisweilen aber nicht bewegt? Eine ähnliche Situation scheint auch gegeben zu sein, wenn man im Hinblick auf die Dinge, die keine Bewegung haben, Überlegungen anstellt und logische Schlüsse zieht. Aber hier ist das Endergebnis ein wissenschaftlicher Satz - denn wenn man die zwei Prämissen denkt, dann denkt man auch die Schlußfolgerung und setzt sie zusammen -, dort aber ist die Schlußfolgerung aus den zwei Prämissen eine Handlung; zum Beispiel: Wenn man die Überlegung anstellt, daß jeder Mensch gehen muß, man selbst aber ein Mensch ist, geht man sofort, wenn (man) aber (die Überlegung anstellt,) daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Mensch gehen darf, man selbst aber ein Mensch ist, verharrt man sofort im Zustand der Ruhe; und in diesen beiden Fällen handelt man, wenn nicht irgend etwas (daran) hindert oder (dazu) zwingt. (Weitere Beispiele für derartige Überlegungen: ) Ich muß ein Gut schaffen, ein Haus ist aber ein Gut; sofort baut man ein Haus. Ich bedarf einer Umhüllung, ein Mantel ist aber eine Umhüllung; ich bedarf eines Mantels. Wessen ich bedarf, das muß ich anfertigen; ich bedarf eines Mantels; ein Mantel ist anzufertigen. Das heißt, die Schlußfolgerung „ein Mantel ist anzufertigen“ äußert sich in einer Handlung. Man handelt aber von Anfang an. Wenn es einen Mantel geben soll, muß zunächst die eine Voraussetzung gegeben sein, und wenn sie (gegeben ist), eine andere; und indem man diese schafft, handelt man sofort. Daß nun die Handlung die Schlußfolgerung darstellt, ist klar; die Prämissen, die zu einer © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 202 II. Naturphilosophie Handlung führen, entstehen aber auf zwei Arten, sowohl durch das Gute als auch durch das Mögliche. Wie aber einige von denen, die (nach der dialektischen Methode) Fragen stellen, so hält auch die Überlegung in keiner Weise die zweite, einleuchtende Prämisse an und betrachtet sie; zum Beispiel: wenn (man die Überlegung anstellt,) daß das Gehen für den Menschen ein Gut ist, so verweilt man nicht (dabei), daß man selbst ein Mensch ist. Deshalb führen wir auch alle Handlungen, die wir ausführen, ohne darüber nachzudenken, schnell aus. Wenn man nämlich die Wahrnehmung, die Vorstellung oder das Denken in Richtung auf das Ziel betätigt, so tut man das, wonach man strebt, sofort; denn die Tätigkeit des Strebens tritt an die Stelle des Fragens oder der Überlegung. Ich muß trinken, sagt (mir) die Begierde; dies hier ist ein Trank, sagen das Wahrnehmungsvermögen, die Vorstellungskraft oder die Vernunft; sofort trinkt man. So setzen nun die Lebewesen zur Bewegung und zum Handeln an, wobei die letzte Ursache der Bewegung das Streben ist und dieses durch eine Wahrnehmung, durch eine Vorstellung oder eine Überlegung zustande kommt. Von denjenigen, die danach streben zu handeln, schaffen bzw. handeln die einen auf Grund von Begierde oder Trieb, die anderen aber [701b] auf Grund [eines Strebens oder] eines Wunsches. Wie sich aber die Automaten bewegen, wenn eine (nur) kleine Bewegung stattfindet, (nämlich) wenn die Schnüre gelöst werden und gegeneinander schlagen, und (wie) sich der Spielzeugwagen, den ebendas Kind, das damit fährt, in gerader Richtung bewegt, dadurch, daß er ungleiche Räder hat, doch wieder im Kreise bewegt - denn das kleinere (Rad) stellt gewissermaßen einen Mittelpunkt dar, wie bei den (als Kinderspielzeug verwendeten) Zylindern -, so bewegen sich auch die Lebewesen. Denn sie haben als entsprechende Organe das natürliche Gerüst der Sehnen und das der Knochen, die einen vergleichbar mit den Hölzern und dem Eisen dort, die Sehnen aber mit den Schnüren; wenn diese gelöst und gelockert werden, bewegen sie sich. Bei den Automaten und den Spielzeugwagen findet nun keine Veränderung statt, da sich derselbe Gegenstand wohl auch dann, wenn die inneren Räder kleiner und wieder größer würden, im Kreis bewegen dürfte; im Lebewesen dagegen kann dasselbe Organ sowohl größer als auch kleiner werden und sich in seinen Formen verändern, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 203 4.5 Streben da die Körperteile durch Hitze an Größe zunehmen und sich wiederum durch Kälte zusammenziehen und sich verändern. Veränderungen rufen aber die Vorstellungen, die Sinneswahrnehmungen und die Gedanken hervor. Denn die Sinneswahrnehmungen sind von Anfang an gewissermaßen Veränderungen, die Vorstellung und die Überlegung dagegen verfügen über die Kraft der realen Dinge; denn in gewisser Weise ist die (nur) gedachte Form des Warmen, Kalten, Angenehmen oder Schrecklichen von der gleichen Art wie jedes einzelne von den Dingen, weshalb man erschaudert und in Furcht gerät, wenn man nur (daran) denkt. Alle diese Vorgänge sind aber Affektionen und Veränderungen. Wenn aber im Körper Veränderungen stattfinden, sind die einen bedeutsamer, andere aber geringfügiger. Daß aber eine kleine Veränderung, die in dem Ausgangspunkt (der Bewegung) stattfindet, viele beachtliche Modifizierungen in der Ferne verursacht, ist nicht verborgen: Wenn zum Beispiel das Steuerruder (nur) ein wenig seine Richtung ändert, ist die Veränderung in der Lage des Bugs (schon) beachtlich. Weiterhin aber, wenn auf Grund von Wärme oder Kälte oder auf Grund einer anderen derartigen Affektion eine Veränderung im Bereich des Herzens stattfindet, selbst wenn es in ihm in einem im Hinblick auf seine Größe nicht (mehr) wahrnehmbaren Teil geschieht, so verursacht sie in Form von Erröten und Erblassen sowie von Erschaudern, Zittern und den Zuständen, die diesen entgegengesetzt sind, eine beachtliche Modifizierung des Körpers. (Mot. an. 6-7) [703a29] Mit welchem (Körper)teil, während er (selbst) bewegt wird, die Seele bewegt und aus welchem Grunde (dies geschieht), ist nunmehr dargelegt worden. Man hat aber anzunehmen, daß das Lebewesen gleichsam wie eine gut regierte Stadt eingerichtet ist. Denn auf der einen Seite bedarf man, wenn in der Stadt einmal die Ordnung hergestellt ist, in keiner Weise (mehr) eines besonderen Alleinherrschers, der bei jedem einzelnen Geschehnis zugegen sein muß, sondern jeder einzelne (Bürger) erfüllt seine Aufgaben, wie es angeordnet worden ist, und das eine geschieht nach dem anderen, entsprechend der Gepflogenheit; auf der anderen Seite geschieht in den Lebewesen genau dasselbe durch die Natur, und zwar dadurch, daß jeder einzelne (Teil), nachdem die Dinge so eingerichtet sind, von Natur aus © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 204 II. Naturphilosophie imstande ist, seine Aufgabe zu erfüllen, so daß es nicht notwendig ist, daß in jedem einzelnen (Teil) Seele vorhanden ist, die übrigen Teile vielmehr, da sich die Seele im Zentrum des Körpers befindet, [703b] durch ihre natürliche Verbindung (mit ihr) leben und ihre (jeweilige) Aufgabe von Natur aus erfüllen. Wie nun die Lebewesen die willkürlichen Bewegungen ausführen und aus welchen Gründen sie (dies tun), ist dargelegt worden; manche Teile führen aber in bestimmten Fällen auch unwillkürliche (Bewegungen) aus, in den meisten Fällen aber nicht willkürliche. Unter unwillkürlichen (Bewegungen) verstehe ich aber zum Beispiel sowohl die des Herzens als auch die des Geschlechtsgliedes - sie bewegen sich nämlich häufig beim Anblick eines Gegenstandes, nicht jedoch auf Geheiß der Vernunft -, unter nicht willkürlichen dagegen zum Beispiel Schlaf, Erwachen, Atmung und alle anderen derartigen Bewegungen - denn weder die Vorstellung noch das Streben ist schlechthin Herr über einen von diesen Vorgängen. Da aber die Notwendigkeit besteht, daß die Lebewesen natürliche Veränderungen erfahren und daß die Körperteile, wenn sie sich verändern, teils an Größe zunehmen, teils aber abnehmen, so daß sie bereits Bewegungen ausführen und Veränderungen durchmachen, die sich von Natur aus aneinander anschließen - die jeweilige Ursache für die Bewegungen sind aber Wärme und Kälte, sowohl die Wärme und Kälte, die von außen kommt, als auch die natürliche im Inneren (des Körpers) -, entstehen auch die Bewegungen der genannten (Körperteile), die wider die vernünftige Überlegung stattfinden, wenn eine Veränderung eingetreten ist. Denn die Überlegung und die Vorstellung liefern, wie zuvor gesagt worden ist, die Gegenstände, welche die Affektionen hervorrufen; sie liefern nämlich die Formen von den Gegenständen, die (die Affektionen) hervorrufen. Vornehmlich aber sind es diese Körperteile, die (diese Bewegung) deutlich ausführen, weil jeder der beiden gleichsam ein gesondertes Lebewesen ist. [Ursache hierfür ist aber, daß sie eine lebenspendende feuchte Substanz enthalten.] Was nun das Herz betrifft, so ist es klar, aus welchem Grunde (dies so ist): es enthält nämlich den jeweiligen Ausgangspunkt für die Sinneswahrnehmungen; daß aber das Zeugungsorgan eine solche Beschaffenheit hat, dafür gibt es einen Beweis: denn aus ihm tritt gleichsam als eine © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 205 4.5 Streben Art Lebewesen die Kraft des Samens heraus. Mit gutem Grund verlaufen aber die Bewegungen sowohl von den Teilen zum Ausgangspunkt als auch vom Ausgangspunkt zu den Teilen und gelangen so zueinander. Man muß sich nämlich den Punkt A als Anfangspunkt denken. Die Bewegungen im Bereich jedes einzelnen von den eingetragenen Buchstaben gelangen nun zum Anfangspunkt, und von dem Anfangspunkt (gelangt), wenn er sich bewegt und verändert, da er potentiell aus mehreren Teilen besteht, die (Bewegung) von Punkt B zu Punkt B, die von Punkt C zu Punkt C und die beider (Punkte) zu beiden. Von Punkt B zu Punkt C (gelangt die Bewegung) aber dadurch, daß sie von Punkt B zu Punkt A wie zu einem Anfangspunkt, von Punkt A zu Punkt C dagegen wie von einem Anfangspunkt verläuft. Daß aber, wenn wir dieselben Überlegungen anstellen, die Bewegung, die wider die vernünftige Überlegung erfolgt, bisweilen in den Körperteilen stattfindet, bisweilen dagegen nicht, (dafür) ist der Umstand verantwortlich, daß [704a] der Stoff, der für Einwirkungen empfänglich ist, bisweilen in ihnen vorhanden ist, bisweilen aber nicht in der geforderten Quantität oder Qualität. Was nun die Teile jedes einzelnen Lebewesens und was die Seele, ferner, was die Sinneswahrnehmung, den Schlaf, das Gedächtnis und die Bewegung im allgemeinen betrifft, so haben wir die Ursachen für diese Erscheinungen dargelegt; es bleibt aber (noch) über die Entstehung zu sprechen. (Mot. an. 10-11) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. III. Erste Philosophie: Metaphysik Einleitung Aristoteles kennt eine Hierarchie der Wissensformen und Wissenschaften. Sie beginnt, heißt es schon am Ende der Zweiten Analytiken, mit der Wahrnehmung und führt über die Erinnerung und Erfahrung, dem Wissen von Sachverhalten, zur Kunstfertigkeit und Wissenschaft und schließlich zur Weisheit, dem Wissen um Ursachen und Prinzipien. An der Spitze dieser Wissenshierarchie steht eine Disziplin, die für viele Jahrhunderte als Königin der Wissenschaften gelten wird, in der Neuzeit aber mehr und mehr abgelehnt, schließlich sogar verachtet wird: die Metaphysik. Der Ausdruck stammt nicht von Aristoteles selbst, sondern vom Herausgeber seiner Werke, Andronikos von Rhodos. Er bezeichnet die nach bzw. jenseits (meta) der Naturdinge (physika) folgenden Überlegungen. Trotzdem ist der Titel weit mehr als eine bloß editorische Bezeichnung. Denn als epistemisch höchste Wissenschaft hat sie gemäß dem „Erkenntnisweg für uns“ ihren sachlichen Ort nach der Naturphilosophie, während sie im „Erkenntnisweg an sich“ die Spitze, also den ersten Rang einnimmt. Kant hat daher Recht, wenn er in einer Vorlesung über Metaphysik erklärt (Akad. Ausg. XXVIII 1, 174), der Name sei nicht „von ohngefähr entstanden, weil er so genau mit der Wissenschaft selber paßt“. Aristoteles nennt die für die Metaphysik zuständige intellektuelle Kompetenz Weisheit (sophia: Met. I 1-2), die Ausübung der Fähigkeit theoria (EN X 8; Met. XII 7, 1072b22ff.), und die zugehörige Disziplin, sofern sie noch der näheren Bestimmung bedarf, heißt zêtoumenê epistêmê (gesuchte Wissenschaft), nach Aufgabe und Rang aber prôtê philosophia (Erste Philosophie) (Met. VI, 1026a16; XI 4, 1061b19; Phys. I 9, 192a36f.; II 2, 194b14f.; Cael. I 8, 277b10; vgl. An. I 1, 403b16). Die Fähigkeit, die man mit Weisheit zu übersetzen pflegt, bedeutet im Griechischen keine ehrwürdige Lebenserfahrung, verbunden mit einer besonderen Urteilskraft, sondern ein außergewöhnliches, bis zur © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 208 III. Erste Philosophie: Metaphysik Meisterschaft entwickeltes Können. Weisheit zeichnet einen so überragenden Steinmetzen wie Pheidias und einen ebenso überragenden Bildhauer wie Polyklet aus (EN VI 7, 1141a9-12). In den beiden Einleitungskapiteln der Metaphysik geht Aristoteles vom alltagssprachlichen Begriff aus und überträgt ihn auf den Bereich des Erkennens. Dabei wird die sophia zu einer Meisterschaft im Wissen überhaupt, zu jenem epistemischen Superlativ, der soweit es möglich ist, alles weiß, ohne eine Wissenschaft vom Besonderen zu haben. Das „ohne“ erhält dabei eine doppelte, sowohl positive als auch negative Bedeutung. Positiv gesehen braucht man das Einzelne nicht zu kennen und hat trotzdem eine dafür erhebliche Kompetenz. Da man das Einzelne nicht kennt, ist man jedoch, so die negative Seite, dem dafür zuständigen Wissen unterlegen. Wegen der Verbindung beider Bedeutungen kommt es der Weisheit auf die schlechthin höchsten Ursachen oder Gründe an, auf die für alle Wissenschaften zuständigen Prinzipien, ohne die Einzelwissenschaften und ohne das Wissen der Einzelfälle zu ersetzen oder irgendwie überflüssig zu machen. Darin deutet sich eine Kritik an Platon an, jene Überschätzung des Allgemeinen zulasten des Besonderen, die einseitig nur dem Gedachten einen hohen Wert beimißt, statt auch das Wahrnehmbare zu schätzen. Nach der Ethik (VI 7) besteht die Sophia im Zusammenspiel von zwei intellektuellen Fähigkeiten, dem für die Prinzipien verantwortlichen Geist (nous) und der für Argumente zuständigen Wissenschaft (epistêmê). Die Erste Philosophie ist jedenfalls ihrer Aufgabe nach die Grundwissenschaft oder die Fundamentalphilosophie. Während die Bezeichnung „Metaphysik“ ein homogenes Werk erwarten läßt, liegt tatsächlich eine Sammlung von relativ selbständigen Einzelabhandlungen vor, die überdies zu verschiedenen Zeiten entstanden sein dürften. Die genaue Chronologie ist bis heute strittig. Man pflegt die 14 Bücher nach dem griechischen Alphabet durchzuzählen, beginnt also mit Alpha (Buch A bzw. I) und Klein- Alpha (Alpha elatton: Buch α bzw. II) und kommt über Beta (Buch B bzw. III), Gamma (Buch Γ bzw. IV), Delta (Buch ∆ bzw. V), über Epsilon ( Ε : VI) Zêta ( Ζ : VII) Êta ( Η : VIII) und Thêta ( Θ : IX) zu Jota ( Ι : X), Kappa ( Κ : XI), Lambda ( Λ : XII), schließlich zu My ( Μ : XIII) und Ny ( Ν : XIV). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 209 Einleitung Einen breiten Raum nehmen Vorerörterungen ein, die den Titel „gesuchte Wissenschaft“ bekräftigen. Im Anschluß an den Gedanken eines schlechthin höchsten Wissens (Met. I 1-2) stellt Aristoteles seine Vier-Ursachen-Lehre vor und diskutiert die unter seinen Vorgängern (wie Thales und Anaxagoras, wie Heraklit, Parmenides und die Pythogaroreer bis Platon) vertretenen Ansichten (z.B. I 3-10). Buch III (Beta), das sogenannte Aporienbuch (vgl. auch XI 1-2), entwikkelt 15 Schwierigkeiten (Aporien), die zugleich Kernaufgaben einer Ersten Philosophie bedeuten. Die erste Frage und Schwierigkeit lautet: Sind für die Untersuchung der verschiedenen Ursachen eine oder mehrere Wissenschaften zuständig? Eine weitere Frage, bei Aristoteles Nr. 4: Gibt es nichtsinnliche Wesenheiten (Substanzen)? Eine dritte Frage, Nr. 10: Haben das Vergängliche und das Unvergängliche dieselben Prinzipien? Buch II (Klein Alpha), ein Einschub, führt in das Studium der Philosophie ein und Buch IV (Gamma) behandelt unter anderem die allgemeinsten Denkprinzipien. Buch V (Delta), das älteste überlieferte Philosophielexikon, breitet die mehrfache Bedeutung philosophischer Grundbegriffe wie Prinzip, Ursache und Natur, wie notwendig, Seiendes, Wesen und Gegensatz aus. Auch Buch VI (Epsilon) enthält in gewisser Hinsicht Vorerörterungen, hier zur Ersten Philosophie als Frage nach dem höchsten Seienden. Daran schließen sich die sogenannten Substanzbücher an, die drei untereinander nicht ganz homogenen Bücher VII, VIII und IX (Zêta, Êta, Thêta). Sie handeln über die sinnlich wahrnehmbare Wesenheit, die Substanz (ousia), samt deren Prinzipien. Buch X (Jota) erörtert das Eine (hen) und mit ihm verwandte Begriffe wie Identität, Ähnlichkeit und Gegenteil. Buch XI (Kappa) enthält Überschneidungen mit oder aber Zusammenfassungen aus den Büchern III, IV und VI und aus Teilen der Physik. Buch XII (Lambda) beginnt als ein Abriß der Naturphilosophie, aus dem heraus sich Aristoteles’ berühmte Theologie entwikkelt. Die Schlußbücher XIII (My) und XIV (Ny) ergänzen die in Buch I 3-10 skizzierte „kritische Geschichte der Voraristoteliker“. Die Bücher V und XII dürften ursprünglich selbständig gewesen sein. Eine selbständige Einheit bilden auch die drei Substanzbücher VII, VIII und IX, während die Selbständigkeit der Bücher IV, X, XIII 1-9 und XIII 10-XIV umstritten bleibt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 210 III. Erste Philosophie: Metaphysik In der Gesamtheit dieser 14 Bücher werden die fundamentalphilosophischen Fragen nicht bloß unter verschiedenen Gesichtspunkten, sondern auch nach unterschiedlichen Programmen entfaltet. So belaufen sich die Texte auch in systematischer Hinsicht nicht auf eine einzige homogene Disziplin. Sie deuten vielmehr die verschlungenen Wege an, auf denen Aristoteles den Gedanken einer Ersten Philosophie zunächst näher zu bestimmen und danach im einzelnen auszuarbeiten sucht. Insgesamt erhält die Erste Philosophie eine dreifache Aufgabe, wobei sich auf den ersten Blick die zweite und die dritte Aufgabe zu widersprechen scheinen: Gemäß der Bestimmung der Philosophie als Wissenschaft von den ersten Ursachen und Gründen (Met. I 2, auch XI 4) ist sie erstens eine Untersuchung jener allgemeinsten Denkprinzipien, die wie der Widerspruchssatz und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten in der Zweiten Analytik vorausgesetzt, aber nicht in ihrer Gültigkeit aufgewiesen werden. Der Aufweis erfolgt in Buch IV 3-8, auch in XI 5-6. Nach dem Programm der Philosophie als Wissenschaft vom Seienden als solchen (on hê on: IV 1, VII 1, XI 3) ist die Erste Philosophie zweitens eine allgemeine Gegenstandstheorie bzw. Seinswissenschaft. Als universale Ontologie untersucht sie im Unterschied zu den einzelnen Fachwissenschaften keine besonderen Gegenstände, sondern die gemeinsamen Strukturen und Prinzipien des Seienden im ganzen und allgemeinen. Dies geschieht schon in der Kategorien-Schrift, die Aristoteles’ frühe Ontologie enthalten dürfte, ferner in einigen Teilen der Physik, besonders aber in den Büchern VI-VIII und XI der Metaphysik. Gemäß der Bestimmung der Philosophie als Wissenschaft vom Ranghöchsten (Met. VI 1): dem Ewigen (aei), Unbewegten (akinêton) und Selbständigen (choriston), ist die Erste Philosophie schließlich die Wissenschaft vom Göttlichen. Als Theorie eines besonderen Seienden scheint sie dem zweiten Programm, dem einer nachdrücklich nicht speziellen Wissenschaft, zu widersprechen. Später wird man dort, bei der Ontologie, von einer allgemeinen Metaphysik (metaphysica generalis) sprechen, hier aber, bei der philosophischen bzw. natürlichen, weil von jeder Offenbarung unabhängigen Theologie, von einer besonderen Metaphysik (metaphysica specialis). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 211 Einleitung In diesem dreifachen Programm der Metaphysik fehlen erstaunlicherweise die zwei Grundbegriffe des Praktischen, der Begriff des Zwecks (telos) und der des Guten (agathon). Sie kommen in der Metaphysik zwar vor (z.B. I 1-3, 982b10, 983a38; II 2, 994b 9-10; XI 1, 1059a36), aber nur beiläufig, nicht als Gegenstand einer näheren Erörterung. Von ihrer Aufgabe als schlechthin Erste Philosophie wäre die Fundamentalphilosophie aber für eine gründliche Untersuchung zuständig, also für eine Erste Philosophie bzw. Fundamentalphilosophie des Praktischen. Das in den Einleitungskapiteln der Metaphysik entworfene Programm eines unüberbietbar höchsten Wissens wird also mit den genannten drei Aufgaben nicht vollständig eingelöst. Der Sache nach bleibt die Fundamentalphilosophie für eine vierte Aufgabe zuständig, die die als Metaphysik überlieferte Sammlung aber nicht wahrnimmt. Dieses Defizit hat die paradoxe, zudem in der Regel übersehene Folge, daß die Metaphysik nicht Aristoteles’ gesamte Metaphysik, nämlich nicht seine gesamte Erste oder Fundamentalphilosophie enthält. Da Aristoteles die vierte Aufgabe unausgesprochen der Ethik überläßt, gehört diese zu Aristoteles’ Fundamentalphilosophie unverzichtbar hinzu. Allerdings kommt der fundamentalphilosophische Charakter nicht der ganzen Ethik, sondern allein dem einschlägigen Anteil zu, den grundlegenden Überlegungen zu den Begriffen des Guten, des Zieles und der Eudaimonie (EN I 1-6, bes. 4-5, und X 6-9) (s. Teil IV). Fundamentalphilosophie 1: Allgemeinste Denkprinzipien (Axiome) Sätze, die jedem sinnvollen Zweifel enthoben sind, heißen in der antiken Disputationskunst Axiome (von axioun: für würdig befinden). Gegenüber diesem noch relativ weiten Begriff nimmt Aristoteles eine Einschränkung vor. Er schiebt jede Thema-Relativierung beiseite und meint ausschließlich Voraussetzungen, die in jeder Debatte, sogar bei jedem Handeln gemacht werden. Wie in der modernen Mathematik sind auch Aristotelische Axiome nicht weiter ableitbare Aussagen. Im Unterschied zur Moderne kann man sie aber weder frei festlegen, noch sind sie lediglich für eine besondere Wissenschaft zuständig, das Parallelenaxiom etwa für die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 212 III. Erste Philosophie: Metaphysik Euklidische Geometrie. Im Gegenteil gibt es zu den Axiomen im Aristotelischen Sinn keine Alternativen. Als Prinzipien, auf die weder ein Wissen noch ein Handeln verzichten kann, sind sie zwar nicht „für uns“, wohl aber „an sich“, der Sache nach, die sichersten und am besten erkennbaren Prinzipien: Sie haben den Rang eines absoluten Apriori. Und wegen ihrer universalen Geltung sind sie Gegenstand keiner Einzelwissenschaft, sondern der Philosophie. Nach dem sachlich ersten Axiom, dem Satz vom Widerspruch, kann etwas, zum Beispiel die Bezeichnung „Mensch“, unmöglich gleichzeitig und in derselben Beziehung derselben Sache zukommen und nicht zukommen. Nach dem zweiten Axiom, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, gibt es bei widersprechenden Behauptungen kein Mittleres, vielmehr ist eines von einem entweder zu behaupten oder aber zu bestreiten. Aristoteles bezieht hier das Axiom nur auf jene kontradiktorischen Aussagenpaare, bei denen die Unbestimmtheit ausgeschlossen ist. Die schwierige Frage, ob diese Voraussetzung auch auf kontingente Zukunftsaussagen zutrifft, erörtert er in De Interpretatione, Kap. 9 (s. o. Teil I, Abschn. 2). Obwohl sich Axiome nicht beweisen lassen, wird ihre Gültigkeit von Aristoteles nicht einfachhin behauptet. Statt die Axiome für schlicht evident zu erklären, inszeniert er ein dialogisches Beweisspiel in Form einer Widerlegung (elenchos): Wer den Widerspruchssatz bestreiten will, wird zu einer minimalen epistemischen Leistung, etwa einem Bezeichnen („Das ist A“), aufgefordert und dann darüber belehrt, daß er den Widerspruchssatz dabei schon voraussetzt: „Das Bezeichnete ist A und nicht B“. Oder: „Jemand zeigt auf dieses hier und weder auf jenes dort, noch läßt er das Zeigen unterbleiben.“ Aristoteles geht noch weiter und behauptet, der Widerspruchssatz werde sogar im alltäglichen, vortheoretischen Leben in Anspruch genommen. Wenn der Gegner des Satzes beispielsweise glaubt, irgendwohin gehen zu sollen, tut er es auch, statt stehen zu bleiben; er läßt sich also auf etwas Bestimmtes ein. Sofern man unter der theoretischen Vernunft die Fähigkeit zu epistemischen Leistungen und unter der praktischen Vernunft die Fähigkeit zu Eigenbestimmung versteht, erweist sich der Widerspruchssatz als die Bedingung der Möglichkeit sowohl aller theoretischen als auch aller praktischen Vernunft. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 213 Einleitung Fundamentalphilosophie 2: Ontologie Weit ausführlicher als mit den allgemeinen Denkprinzipien befaßt sich Aristoteles mit den gemeinsamen Strukturen von Realität überhaupt. Ein erster Zugang findet sich in der chronologisch frühen Kategorien-Schrift, die reife Ausarbeitung geschieht in den subtilen Überlegungen der Substanzbücher der Metaphysik. Gegenüber den Kategorien enthalten diese eine zweifellos erweiterte, teilweise auch überarbeitete Konzeption. Unter Kategorien versteht man heute ziemlich allgemeine Begriffe. Im Griechischen stammt der Ausdruck aus der Gerichtssprache und bezeichnet die Anklage (vgl. Rhet. I 10, 1368b1). Aristoteles selbst spricht genauer von Gattungen oder Formen der Kategorien. Im Ausgang von einem individuellen Gegenstand, zum Beispiel Sokrates, fragt er, welche Formen von sinnvollen Aussagen über ihn gemacht werden können: Er ist ein Mensch, so und so lang, gebildet, älter als Platon usw. Die Kategorienformen, kurz: Kategorien, bezeichnen jene höchsten Klassen von Aussagen, die sich weder aufeinander noch auf eine weitere, noch höhere Klasse zurückführen lassen. Aristoteles gewinnt sie aus einer Abstraktion des beobachtbaren Sprachverhaltens, wobei die Kategorien eine sprachlogische und eine ontologische Bedeutung erhalten. Sie bezeichnen für ihn sowohl einen jeweils verschiedenen Sinn von Aussagen als auch des Ausgesagten, des Seienden, selbst. Dabei scheint er von der genauen Zahl der Kategorien, nämlich zehn, überzeugt zu sein: Wesen/ Substanz (ousia), Quantität, Qualität, Relation, Wo, Wann, Lage, Haben, Wirken und Leiden (Cat. 4). Je nach dem Diskussionszusammenhang begnügt er sich aber auch mit kürzeren Listen. Das Begriffslexikon, Buch V der Metaphysik, beispielsweise erläutert nur die Kategorien Substanz, Quantität, Qualität, Relation und Haben. Entscheidend an den Kategorienlisten ist zweierlei, zum einen die Mehrzahl, die sich gegen die Ansicht einiger Platoniker richtet, es gebe einen einzigen Fragetyp, zum anderen der Rangunterschied, der zwischen der ersten Kategorie und allen anderen besteht. Von Wesen bzw. Substanzen wie „Mensch“ und „Pferd“ kann man direkte Aussagen machen, von Eigenschaften bzw. Akzidentien wie „weiß“, „läuft“ oder „schwergewichtig“ nur in bezug auf Substanzen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 214 III. Erste Philosophie: Metaphysik Innerhalb der ersten Kategorie unterscheidet Aristoteles eine erste und eine zweite Substanz. Dort geht es um ein bestimmtes Individuum, zum Beispiel einen Menschen oder ein Pferd, hier um die dazugehörenden Arten und Gattungen. Das für Aristoteles entscheidende Kriterium für Substanz bzw. Wesen, die volle Selbständigkeit, das Sein im Sinne uneingeschränkter Gegenwart, kommt aber nur den Einzeldingen zu; sie allein haben den Rang eines ersten Wesens bzw. einer ersten Substanz. Infolgedessen kann man innerhalb der Kategorien drei Gruppen unterscheiden: (1) Individuen als erste Substanzen, (2) die Arten und Gattungen als zweite Substanzen und (3) deren Eigenschaften, die Akzidentien. Der Kategorienlehre liegt eine Beobachtung zugrunde, die Aristoteles mehrfach wiederholt (Met. IV 2, 1003a33; VI 2, 1026a33f. und 1026b2; VII 1, 1028a10): daß man vom Seienden in vielfacher Bedeutung spricht. Die vielfache Bedeutung wirft die Frage nach der Einheit des Gegenstandes und der für ihn zuständigen Wissenschaft auf. Im Mittelpunkt steht der genannte Begriff der ousia, den man mit „Wesen“, „Wesenheit“ und „Substanz“ wiedergeben kann. In den Substanzbüchern bestimmt Aristoteles die ousia als das Zugrundeliegende (hypokeimenon), als das Substrat, dann als „das Wesenswas“ (to ti ên einai: das, was es heißt, dieses zu sein) und als Form (eidos), ferner als (Wesens-)Begrenzung (horismos: Definition). Weitere Bestimmungen der ousia erfolgen über die parallelen Begriffspaare Stoff-Form (hylê-morphê) und Möglichkeit-Wirklichkeit (dynamisenergeia). Eine gewisse Einheit der verschiedenen Bedeutungen des Seienden ergibt sich aus dem Bezug auf ein bevorzugtes, erstes Seiendes, auf Eines (pros hen) (IV 2; VII 4, 1030a34; IX 1, 1045b27f.). Auf die Frage, worin das Eine besteht, auf das hin alles andere als seiend gilt, gibt Aristoteles in seiner reifen Ontologie eine dreifache Antwort. Daß die ersten zwei Antworten schon in den Kategorien gegeben werde, zeigt eine wichtige Kontinuität in Aristoteles’ Ontologie an: Erstens wird das Wesen bzw. die Substanz (ousia) als primär seiend angesprochen (Cat. 5; Met. VII 1). Denn während das Wesen selbständig existiert bzw. ausgesagt wird, setzt eine Eigenschaft für seine Existenz und Aussage das Wesen voraus; sie hat nur ein abgeleitetes, das Wesen hat aber ein ursprüngliches Sein. Zweitens unter- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 215 Einleitung scheidet Aristoteles zwei Weisen ontologischer Selbständigkeit, wodurch das Wesen eine doppelte Bedeutung erhält. Es meint das konkrete Individuum, das Einzelding, aber auch die Arten und Gattungen (zweites Wesen). Die volle Selbstständigkeit kommt aber, wie gesagt, nur den Einzeldingen zu, die allein den Rang eines ersten Wesens bzw. einer ersten Substanz haben. Drittens gibt es bei den Einzeldingen noch Rangdifferenzen; der Begriff des Seienden wird zu einem komparativen Begriff. Von ihm aus läßt sich der angebliche Widerspruch zwischen Aristoteles’ zweiter und dritter Bestimmung von Fundamentalphilosophie als nur scheinbar auflösen: Nach Maßgabe der Begriffe von Potenz und Aktualität (Met. IX 1-9) gilt das aktual Seiende als ranghöher denn das potential Seiende. Eine erste Folge: Der Mensch gilt zwar aufgrund seiner Intelligenz als den Pflanzen und Tieren überlegen. Da jedoch sein Sein veränderlich ist, das der Fixsterne dagegen unveränderlich, es folglich in einem höheren Maß aktual ist, steht der Mensch im Seinsrang unter den Fixsternen. Die weitere Folge: Am ranghöchsten ist das Seiende reiner Aktualität, der unbewegte Beweger, die Gottheit. Insofern gipfelt nicht nur die Naturphilosophie des Aristoteles, sondern auch seine allgemeine Gegenstandstheorie, die Ontologie, in der Theorie eines herausragenden Gegenstandes, in der philosophischen Theologie (vgl. Met. VI 1, 1026a19). Schon hier, im ontologischen Programm, und nicht erst im dritten, theologischen Programm, gehen Ontologie und Theologie eine Einheit ein; sie werden zur Onto-Theologie. Zugleich zeigt sich eine grundlegende Übereinstimmung mit Platon: Auch bei Aristoteles hat das geistige Sein einen absoluten Vorrang vor dem sinnlichen. Die wahrnehmbare Welt ist eine abgeleitete Welt, da sie für ihre Einheit und beständige Wirklichkeit von einer Realität abhängt, die selbst nicht wahrnehmbar, sondern rein intelligibel ist. Infolgedessen ist das Intelligible der Proto-Typ des Seienden. Nach Aristoteles steht das Seiende von vornherein in Bezug auf den Logos, der gleichermaßen die Vernunft, ihre Artikulation, die Sprache, und deren Sinn, die Erhellung der Grundstrukturen der Wirklichkeit, meint, nicht zuletzt das die Wirklichkeit erhellende Argument. Der Logos hat ganz allgemein die Aufgabe, das Seiende als das anzusprechen, was es ist und warum es ist. Er dient der Wahrheit, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 216 III. Erste Philosophie: Metaphysik hier verstanden als das sachgerechte Zur-Erscheinung-Bringen des Seienden und seiner Gründe (Met. VI 4; vgl. alêtheuein: EN VI 3, 1139b15). Nur aus diesem Zusammenhang und nicht als naiven Realismus kann man jene Passage richtig verstehen, auf die die spätere Korrespondenztheorie der Wahrheit zurückgeht, derzufolge die Wahrheit die Übereinstimmung von Denken und Sache sei (Met. IV 7, 1011b26ff.): Wegen der Entsprechung von Wirklichkeit und Sprache ist es möglich, aus der Beobachtung unseres Sprechens von den Dingen einen Aufschluß über deren wirkliche Struktur zu erlangen. Nach Metaphysik VI 4 (1027b25-27) liegen das Wahre und Falsche nicht in den Dingen (pragmata), sondern im Denken (dianoia). Fundamentalphilosophie 3: Philosophische Theologie Das Buch XII der Metaphysik, Buch Lambda, ist eine in sich geschlossene Abhandlung über das Wesen bzw. die Substanz. Da sie mit einer Analyse des wahrnehmbar Seienden (to aisthêton) beginnt, dann zum intelligiblen Seienden (to noêton) fortschreitet und schließlich im Gedanken eines als Gottheit gedeuteten unbewegten Bewegers gipfelt, verwirklicht sie Aristoteles’ fundmentalphilosophisches Programm besonders deutlich. Gemäß den Bedingungen von Met. I 2 und VI handelt Buch Lambda sowohl vom ranghöchsten Gegenstand, dem Ewigen (aei on), Unbewegten (akinêton) und Selbständigen (chôriston), als auch vom Göttlichen und von dem, was die Gottheit tut. Nach den ersten Bedingungen erweist sich, was später „Metaphysik“ heißt, als ein Kapitel der metaphysica generalis, der Ontologie, nach den letzten zwei Bedingungen als Teil der metaphysica specialis, als philosophische Theologie. Da sich die Ontologie mit der Theologie verbindet, wird die Aufspaltung der Metaphysik in eine allgemeine (Ontologie) und eine besondere (philosophische Theologie) aufgehoben: Die Metaphysik wird erneut zur Onto-Theologie. Nun gelangt Aristoteles nur im Ausgang von der Natur, also der Physik (Met. XII 1-2), zu einem Jenseits der Physik, womit Buch Lambda beide Disziplinen enthält, zunächst eine Physik und danach eine Meta-Physik im wörtlichen Sinn. Dabei etabliert sich die Metaphysik nicht als eine wissenschaftlich autarke Disziplin, sondern als © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 217 Einleitung Grundlagenüberlegung einer radikal, bis zu ihren Wurzeln geführten Physik und einer im selben Sinn radikalen Ontologie. Nur wenig zugespitzt ist die in Buch Lambda enthaltene Metaphysik keine genuine Theologie, sondern eine Verbindung von Ontologie, Naturphilosophie und Kosmologie. Deren höchster Begriff, der unbewegte Beweger, wird aber als Gottheit angesprochen: Aristoteles führt die „uns bekannten“ wahrnehmbaren Wesen auf das in der Welt des Erkennens, insofern „an sich“ erste Wesen zurück. Diese Reduktion erfolgt in vier Argumentationsschritten. Innerhalb von drei Arten von Wesen setzt sie bei den wahrnehmbaren Wesen an und führt zunächst die Vielfalt von Bewegungen auf die ewige Kreisbewegung zurück. Der zweite Schritt zeigt, daß es keine ewige Bewegung geben kann, es sei denn, es existiert ein ewiges bewegtes Wesen, der erste Himmel. Da das ewig bewegte Wesen ihrerseits verursacht sein muß, führt der dritte Argumentationsschritt auf den unbewegten Beweger (akinêton kinoun) zurück. Wegen seiner Unbewegtheit ist er ohne Stoff und hat den Charakter reiner Aktualität. Der unbewegte Beweger wirkt nicht mechanisch, weder in Form von magnetischen Kräften noch durch eine Art von Gravitation, da von einem schlechthin unbewegten Wesen keinerlei Impulse ausgehen. Aus demselben Grund ist er zwar Geist und doch nicht eine Art Weltgehirn oder kosmisches Steuerungszentrum. Er bewegt teleologisch, genauer „erotisch“: Als das höchste Ziel allen Begehrens (XII 7, 1072b26-29) übt er seine Anziehungskraft wie ein Vorbild aus, das in abnehmender Stärke die gesamte Natur bestimmt: Die Fixsterne ahmen den Beweger insofern nach, als sie für ihre Raumbewegung seine Vollkommenheit übernehmen und eine Kreisbewegung vollziehen. Und die Wesen der sublunaren Natur, die Lebewesen, streben insofern zur Gottheit hin, als sie sich als Arten ewig fortpflanzen (Gen. an. II 1, 731b31-732a1), insofern auch ein Moment von Ewigkeit in sich tragen. Im vierten und letzten Argumentationsschritt wird das streng intelligible Sein mit der Gottheit (ho theos) gleichgesetzt, also mit deren Singular, was den volkstümlichen Aberglauben samt seiner Unzahl von Göttern, Halbgöttern und Dämonen kritisiert. Aristoteles vertritt einen Monotheismus, der aber im Unterschied zu den Offenbarungsreligionen rein theoretischer, näherhin kosmologischer Natur © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 218 III. Erste Philosophie: Metaphysik ist. Die Aristotelische Gottheit ist kein persönliches Wesen; weder hat sie die Welt geschaffen noch greift sie in den Weltlauf ein oder spricht durch eine Offenbarung. Trotz dieser gravierenden Unterschiede zu Judentum, Christentum und Islam werden Aristoteles’ theologische Aussagen für die Geistesgeschichte des Abendlandes, aber auch des vorderen Orients eine kaum abschätzbare Bedeutung gewinnen. Die über das göttliche Sein abgegebenen Bestimmungen: die Lebendigkeit und die reine Aktualität, die zugleich reine und glückselige Geistigkeit ist, sowie das Sichselbstdenken des Geistes (noêsis noêseôs), üben auf das theologische Denken des Mittelalters einen starken Einfluß aus, und geben zugleich zu heftigen Auseinandersetzungen Anlaß. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 219 1. Frühe Ontologie 1. Frühe Ontologie [1a1] Homonym heißen Dinge, wenn sie nur einen Namen gemeinsam haben, aber die dem Namen entsprechende Definition des Seins verschieden ist. So wird zum Beispiel der Name „Lebewesen“ sowohl in bezug auf den Menschen als auch in bezug auf das Bild gebraucht. Diese haben nur einen Namen gemeinsam, aber die dem Namen entsprechende Definition des Seins ist verschieden. Denn wenn man angeben soll, worin für jedes von beiden das Lebewesensein besteht, so wird man für jedes von beiden eine eigene Definition angeben. Synonym aber heißen Dinge, wenn sie den Namen gemeinsam haben und die dem Namen entsprechende Definition des Seins dieselbe ist. So wird zum Beispiel der Name „Lebewesen“ sowohl in bezug auf den Menschen als auch in bezug auf das Rind gebraucht. Beide werden mit einem gemeinsamen Namen, „Lebewesen“, bezeichnet, und die Definition des Seins ist auch dieselbe. Denn wenn man die Definition von jedem von beiden angeben soll, worin für jedes von ihnen das Lebewesensein besteht, so wird man dieselbe Definition angeben. Paronym aber heißen Dinge, die ihre Bezeichnung von etwas anderem her, mit einem Unterschied in der Endung, erhalten. So wird zum Beispiel der Grammatiker nach der Grammatik und der Tapfere nach der Tapferkeit benannt. Die sprachlichen Ausdrücke werden teils in Verbindung, teils ohne Verbindung geäußert. Beispiele für solche in Verbindung sind „Mensch läuft“, „Mensch siegt“; für solche ohne Verbindung „Mensch“, „Rind“, „läuft“, „siegt“. Die Dinge werden teils von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, ohne in einem Zugrundeliegenden zu sein. Zum Beispiel wird Mensch von dem individuellen Menschen als dem Zugrundeliegenden ausgesagt, ohne in einem Zugrundeliegenden zu sein. Teils sind sie in einem Zugrundeliegenden, ohne von einem Zugrundeliegenden ausgesagt zu werden. (Mit „in einem Zugrundeliegenden“ meine ich, was in etwas ist, nicht als ein Teil, und nicht getrennt von dem existieren kann, worin es ist.) Zum Beispiel ist das individuelle gram- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 220 III. Erste Philosophie: Metaphysik matische Wissen in einem Zugrundeliegenden, der Seele, aber es wird nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, und das individuelle Weiß ist in einem Zugrundeliegenden, dem Körper (denn jede Farbe ist an einem Körper), aber es wird nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt. Teils aber werden die Dinge von einem Zugrundeliegenden [1b] ausgesagt und sind in einem Zugrundeliegenden. Zum Beispiel ist Wissen in einem Zugrundeliegenden, der Seele, aber wird von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, dem grammatischen Wissen. Teils aber sind sie weder in einem Zugrundeliegenden, noch werden sie von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, zum Beispiel der individuelle Mensch oder das individuelle Pferd - denn nichts Derartiges ist in einem Zugrundeliegenden, noch wird es von einem Zugrundeliegenden ausgesagt. Dinge aber, die unteilbar und der Zahl nach eins sind, werden schlechthin von keinem Zugrundeliegenden ausgesagt, doch hindert nichts, daß einige in einem Zugrundeliegenden sind. Das individuelle grammatische Wissen ist eines der Dinge, die in einem Zugrundeliegenden sind. Wenn das eine von dem anderen als von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, wird alles, was von dem Ausgesagten gilt, auch von dem Zugrundeliegenden gelten. Zum Beispiel wird Mensch von einem individuellen Menschen und das Lebewesen vom Menschen ausgesagt. Mithin wird auch von einem individuellen Menschen das Lebewesen ausgesagt werden; denn der individuelle Mensch ist ein Mensch und auch ein Lebewesen. Die Differenzen von Gattungen, die verschieden und nicht einander untergeordnet sind, sind selbst der Art nach verschieden. Zum Beispiel die von Lebewesen und Wissenschaft: auf dem Lande lebend, geflügelt, im Wasser lebend, zweifüßig sind Differenzen von Lebewesen, aber keine von diesen ist eine Differenz von Wissenschaft; denn eine Wissenschaft unterscheidet sich nicht dadurch von der anderen, daß sie zwei Füße hat. Aber nichts hindert, daß einander untergeordnete Gattungen dieselben Differenzen haben. Denn die höheren Gattungen werden von den Gattungen darunter prädiziert, so daß alle Differenzen der prädizierten Gattung auch Differenzen der zugrunde liegenden Gattung sein werden. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 221 1. Frühe Ontologie Von dem, was ohne Verbindung geäußert wird, bezeichnet jedes entweder eine Substanz oder ein Quantitatives oder ein Qualitatives oder ein Relatives oder ein Wo oder ein Wann oder ein Liegen oder ein Haben oder ein Tun oder ein Erleiden. Um es im Umriß zu sagen, Beispiele für Substanz sind Mensch, Pferd; für Quantitatives: zwei Ellen lang, drei Ellen lang; für Qualitatives: weiß, des Lesens und Schreibens kundig; für Relatives: [2a] doppelt, halb, größer; für Wo: im Lyzeum, auf dem Marktplatz; für Wann: gestern, voriges Jahr; für Lage: es ist aufgestellt, sitzt; für Haben: hat Schuhe an, ist bewaffnet; für Tun: schneiden, brennen; für Erleiden: geschnitten werden, gebrannt werden. Nichts von dem Genannten wird für sich in einer Aussage gesagt, sondern durch die Verbindung von diesem untereinander entsteht eine Aussage. Denn jede Aussage scheint entweder wahr oder falsch zu sein, von dem aber, was ohne Verbindung geäußert wird, ist nichts entweder wahr oder falsch, wie „Mensch“, „weiß“, „läuft“, „siegt“. Substanz aber ist die hauptsächlich und an erster Stelle und vorzüglich genannte, die weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden ist, zum Beispiel der individuelle Mensch oder das individuelle Pferd. Zweite Substanzen heißen die Arten, in denen die an erster Stelle Substanzen genannten sind, diese und deren Gattungen. Zum Beispiel gehört der individuelle Mensch zu einer Art, Mensch; Gattung aber der Art ist Lebewesen. Zweite Substanzen werden diese also genannt, Mensch zum Beispiel und Lebewesen. Aufgrund des Gesagten ist klar, daß bei dem, was von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, sowohl der Name als auch die Definition von dem Zugrundeliegenden prädiziert werden müssen. Zum Beispiel wird Mensch von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, dem individuellen Menschen, und prädiziert wird der Name (denn man wird Mensch von dem individuellen Menschen prädizieren), und auch die Definition des Menschen wird von dem individuellen Menschen prädiziert werden (denn der individuelle Mensch ist auch ein Mensch). So wird von dem Zugrundeliegenden sowohl der Name als auch die Definition prädiziert werden. Bei dem aber, was in einem Zugrundeliegenden ist, wird meistens weder der Name noch die De- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 222 III. Erste Philosophie: Metaphysik finition von dem Zugrundeliegenden prädiziert. Bei einigem hindert aber nichts, daß der Name zwar von dem Zugrundeliegenden prädiziert wird, unmöglich aber die Definition. Zum Beispiel wird das Weiße, das in einem Zugrundeliegenden, dem Körper, ist, von dem Zugrundeliegenden prädiziert (denn ein Körper wird weiß genannt), die Definition des Weißen aber wird niemals von dem Körper prädiziert werden. Alles andere aber wird entweder von den ersten Substanzen als dem Zugrundeliegenden ausgesagt oder ist in ihnen als dem Zugrundeliegenden. Das ist klar aufgrund der Prüfung von Einzelnem. Zum Beispiel wird Lebewesen prädiziert von Mensch, folglich auch von dem individuellen Menschen; denn wenn es von kei[2b]nem der individuellen Menschen prädiziert wird, dann auch nicht von Mensch überhaupt. Wiederum, Farbe ist am Körper, folglich auch an einem individuellen Körper; denn wenn sie nicht an irgendeinem einzelnen Körper ist, dann auch nicht an Körper überhaupt. Somit wird alles andere entweder von den ersten Substanzen als dem Zugrundeliegenden ausgesagt oder ist in ihnen als dem Zugrundeliegenden. Wenn also die ersten Substanzen nicht existieren, ist es unmöglich, daß etwas von dem anderen existiert. Von den zweiten Substanzen ist die Art mehr Substanz als die Gattung, denn sie ist der ersten Substanz näher. Denn wenn man angeben soll, was die erste Substanz ist, so wird es erhellender und passender sein, die Art anzugeben als die Gattung. Zum Beispiel würde es in bezug auf den individuellen Menschen erhellender sein, zu sagen, daß er ein Mensch ist, als, daß er ein Lebewesen ist (denn dieses ist dem individuellen Menschen in höherem Grade eigentümlich, jenes ist allgemeiner); und erhellender, von dem individuellen Baum zu sagen, daß er ein Baum ist, als, daß er eine Pflanze ist. Überdies werden die ersten Substanzen deswegen vorzüglich Substanzen genannt, weil sie allem anderen zugrunde liegen und alles andere von ihnen ausgesagt wird oder in ihnen ist. Wie sich aber nun die ersten Substanzen zu dem anderen verhalten, so verhält sich auch die Art zu der Gattung. Denn die Art liegt der Gattung zugrunde; denn die Gattungen werden von den Arten prädiziert, aber die Arten werden nicht umgekehrt von den Gattungen prädiziert. Daher ist auch aus diesem Grunde die Art mehr Substanz als die Gattung. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 223 1. Frühe Ontologie Von den Arten selbst aber, soweit sie keine Gattungen sind, ist die eine nicht mehr Substanz als die andere; denn man sagt, wenn man den individuellen Menschen als Menschen bezeichnet, nichts Passenderes, als wenn man das individuelle Pferd als Pferd bezeichnet. Und ebenso ist bei den ersten Substanzen das eine nicht mehr Substanz als das andere. Der individuelle Mensch ist um nichts mehr Substanz als das individuelle Rind. Es hat seinen Grund, daß, nach den ersten Substanzen, die Arten und Gattungen die einzigen anderen Dinge sind, die zweite Substanzen genannt werden. Denn von dem, was prädiziert wird, sind nur sie es, die die erste Substanz erkennbar machen. Denn wenn man von dem individuellen Menschen angeben soll, was er ist, so wird man passenderweise die Art oder die Gattung angeben (und zwar wird man es erhellender tun, wenn man Mensch angibt, als wenn man Lebewesen angibt); von dem anderen aber irgend etwas anzugeben würde unpassend sein, zum Beispiel zu sagen „weiß“ oder „läuft“ oder etwas Derartiges. Somit hat es seinen Grund, daß diese die einzigen anderen Dinge sind, die Substanzen genannt werden. Überdies werden die ersten Substanzen deswegen hauptsächlich Substanzen genannt, weil sie allem anderen zugrunde liegen. [3a] Wie sich aber nun die ersten Substanzen zu allem anderen verhalten, so verhalten sich die Arten und die Gattungen der ersten Substanzen zu allem übrigen: von ihnen wird alles übrige prädiziert. Denn wenn man den individuellen Menschen als des Lesens und Schreibens kundig bezeichnen wird, folgt, daß man sowohl einen Menschen als auch ein Lebewesen als des Lesens und Schreibens kundig bezeichnen wird, und ebenso in anderen Fällen. Es ist ein gemeinsames Kennzeichen jeder Substanz, daß sie nicht in einem Zugrundeliegenden ist. Die erste Substanz wird weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, noch ist sie in einem Zugrundeliegenden. Bei den zweiten Substanzen ist es ohne weiteres klar, daß sie nicht in einem Zugrundeliegenden sind. Denn Mensch wird von dem individuellen Menschen als dem Zugrundeliegenden ausgesagt, aber ist nicht in einem Zugrundeliegenden: Mensch ist ja nicht in dem individuellen Menschen. Ebenso wird auch Lebewesen von dem individuellen Menschen als dem Zugrundeliegenden ausgesagt, aber Lebewesen ist nicht in dem individuellen Menschen. Ferner hin- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 224 III. Erste Philosophie: Metaphysik dert nichts, daß der Name dessen, was in einem Zugrundeliegenden ist, manchmal von dem Zugrundeliegenden prädiziert wird, unmöglich aber die Definition. Aber die Definition der zweiten Substanzen und auch der Name werden von dem Zugrundeliegenden prädiziert: man wird die Definition des Menschen von dem individuellen Menschen prädizieren und ebenso die Definition des Lebewesens. Somit kann die Substanz nicht zu den Dingen gehören, die in einem Zugrundeliegenden sind. Das ist aber nicht der Substanz eigentümlich; auch die Differenz gehört zu den Dingen, die nicht in einem Zugrundeliegenden sind. Denn zu Lande lebend und zweifüßig werden vom Menschen als Zugrundeliegendem ausgesagt, aber sind nicht in einem Zugrundeliegenden; weder zweifüßig noch zu Lande lebend ist ja in dem Menschen. Es wird aber auch die Definition der Differenz von dem prädiziert, wovon die Differenz ausgesagt wird. Zum Beispiel, wenn vom Menschen zu Lande lebend ausgesagt wird, wird auch die Definition davon vom Menschen prädiziert werden; denn der Mensch ist zu Lande lebend. Es brauchen uns aber die Teile von den Substanzen nicht zu beunruhigen, insofern sie in dem Ganzen als dem Zugrundeliegenden sind; anderenfalls könnten wir uns gezwungen sehen zu sagen, daß sie nicht Substanzen sind. Denn wir sprachen nicht so von den Dingen, die in einem Zugrundeliegenden sind, nämlich als von Teilen, die in etwas wären. Es kommt aber den Substanzen und den Differenzen zu, daß alles von ihnen Abgeleitete synonym ausgesagt wird. Denn alle von ihnen abgeleiteten Prädikate werden entweder von den Individuen oder von den Arten prädiziert. Von der ersten Substanz ist kein Prädikat abgeleitet, denn sie wird von keinem Zugrundeliegenden ausgesagt. Bei den zweiten Substanzen aber wird die Art von dem Individuum prädiziert und die Gattung sowohl von der Art als auch von dem Individuum. [3b] Ebenso werden auch die Differenzen sowohl von den Arten wie von den Individuen prädiziert. Und die ersten Substanzen lassen die Definition der Arten und der Gattungen zu, und die Art läßt die der Gattung zu; denn alles, was von dem Prädizierten ausgesagt wird, wird auch von dem Zugrundeliegenden ausgesagt werden. Ebenso lassen auch die Arten und die Individuen die Defini- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 225 1. Frühe Ontologie tion der Differenzen zu. Synonyme Dinge aber waren genau solche, bei denen sowohl der Name gemeinsam wie die Definition dieselbe ist. Somit wird alles von den Substanzen und von den Differenzen Abgeleitete synonym ausgesagt. Jede Substanz scheint ein bestimmtes „Dieses“ zu bezeichnen. Bezüglich der ersten Substanzen ist es zweifellos und wahr, daß jede ein bestimmtes „Dieses“ bezeichnet; denn das angezeigte Ding ist individuell und der Zahl nach eins. Bezüglich der zweiten Substanzen jedoch hat es zwar durch die Form der Benennung den Anschein, daß, wenn man von Mensch oder Lebewesen spricht, eine zweite Substanz in gleicher Weise ein „Dieses“ bezeichnet, aber es ist nicht wahr, eher bezeichnet sie etwas Qualitatives; denn das Zugrundeliegende ist nicht, wie die erste Substanz, eins, sondern Mensch und Lebewesen werden von vielem ausgesagt. Sie bezeichnet aber nicht schlechthin etwas Qualitatives, wie es das Weiße tut. Weiß bezeichnet nichts anderes als ein Qualitatives, die Art und die Gattung dagegen bestimmen das Qualitative in bezug auf die Substanz: sie bezeichnen die Substanz nämlich als so und so beschaffen. Man macht aber eine weitergreifende Bestimmung mit der Gattung als mit der Art; denn wenn man von Lebewesen spricht, umfaßt man mehr, als wenn man von Mensch spricht. Es kommt den Substanzen aber auch zu, daß ihnen nichts konträr ist. Denn was könnte der ersten Substanz konträr sein? Zum Beispiel gibt es nichts, das dem individuellen Menschen konträr ist, noch gibt es etwas, das dem Menschen oder dem Lebewesen konträr ist. Das ist aber der Substanz nicht eigentümlich, sondern kommt auch bei vielen anderen Dingen vor, zum Beispiel beim Quantitativen: dem zwei Ellen Langen ist nichts konträr, noch der Zehn, noch sonst etwas Derartigem, es sei denn, daß jemand sagen wollte, daß das Viel dem Wenig konträr ist oder das Groß dem Klein; aber es gibt nichts, das einer bestimmten Quantität konträr ist. Die Substanz scheint kein Mehr oder Weniger zuzulassen. Ich meine aber nicht, daß eine Substanz nicht mehr Substanz ist als eine andere (denn wir haben dies gesagt, daß das der Fall ist), sondern daß jede Substanz nicht mehr oder weniger das genannt wird, was sie ihrem Wesen nach ist. Zum Beispiel, wenn diese Substanz ein Mensch ist, so wird er nicht mehr oder weniger ein Mensch sein, weder als er © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 226 III. Erste Philosophie: Metaphysik selbst noch als ein anderer Mensch. Denn ein Mensch ist nicht mehr ein Mensch als ein anderer, so wie [4a] ein weißes Ding weißer ist als ein anderes und ein schönes Ding schöner als ein anderes; und ein Ding wird etwas mehr oder weniger genannt als es selbst, zum Beispiel wird der weiße Körper jetzt weißer genannt als vorher, und der warme Körper wird mehr oder weniger warm genannt. Von der Substanz aber wird nicht in dieser Weise gesprochen. Denn ein Mensch wird nicht jetzt mehr ein Mensch genannt als vorher, noch geschieht das mit irgend etwas anderem, das Substanz ist. Die Substanz läßt also kein Mehr oder Weniger zu. Am meisten aber scheint es der Substanz eigentümlich zu sein, daß das, was der Zahl nach eins und dasselbe ist, für Konträres empfänglich ist. In keinem anderen Fall könnte man etwas aufweisen, das, der Zahl nach eins, für Konträres empfänglich ist. Zum Beispiel wird eine Farbe, die der Zahl nach eins und dasselbe ist, nicht weiß und schwarz sein, noch wird der Zahl nach eine und dieselbe Handlung schlecht und gut sein; und ebenso bei allem anderen, das nicht Substanz ist. Eine Substanz jedoch, der Zahl nach eins und dasselbe, ist für Konträres empfänglich. Zum Beispiel wird ein individueller Mensch, einer und derselbe, zu einer Zeit weiß und zu einer anderen Zeit dunkel, und warm und kalt, schlecht und gut. Bei nichts anderem zeigt sich derartiges, man müßte denn den Einwand machen und sagen, daß die Aussage und die Meinung so etwas seien. Denn dieselbe Aussage scheint beides zu sein: wahr und falsch. Zum Beispiel, wenn die Aussage, daß jemand sitzt, wahr ist, so muß dieselbe Aussage, wenn er aufgestanden ist, falsch werden. Ebenso ist es mit der Meinung: wenn man wahrheitsgemäß meint, daß jemand sitzt, so muß man es, wenn er aufgestanden ist, fälschlich meinen, wenn man bei derselben Meinung über ihn geblieben ist. Jedoch, wenn man das auch gelten läßt, so ist doch ein Unterschied in der Weise. Denn im Falle der Substanzen ist es so, daß sie in der Weise für Konträres empfänglich sind, daß sie sich selbst verwandeln. Denn was an Stelle von warm kalt geworden ist oder dunkel an Stelle von weiß, oder gut an Stelle von schlecht, hat sich verwandelt (denn es hat sich ja verändert); ebenso ist es auch in anderen Fällen so, daß jedes Ding dadurch für Konträres empfänglich ist, daß es selbst einen Wechsel vollzieht. Die Aussage und die Meinung dagegen bleiben selbst in © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 227 2. Wissenschaft der ersten Ursachen jeder Beziehung gänzlich unbewegt; aber weil das Ding sich bewegt, kommen sie in die Nähe des Konträren. Denn die Aussage, daß jemand sitzt, bleibt dieselbe, aber [4b] wegen der Bewegung des Dinges wird sie bald wahr, bald falsch. Ebenso verhält es sich mit der Meinung. Also wäre es wenigstens der Weise nach eine Eigentümlichkeit der Substanz, daß sie aufgrund eines Wechsels ihrer selbst für Konträres empfänglich ist - sogar wenn man auch dieses einräumen wollte, daß die Meinung und die Aussage für Konträres empfänglich sind. Aber das ist nicht wahr. Denn die Aussage und die Meinung werden nicht deshalb für Konträres empfänglich genannt, weil sie selbst ein Konträres aufnehmen, sondern deshalb, weil in bezug auf etwas anderes diese Wirkung entstanden ist. Denn wegen des Seins oder Nichtseins des Dinges wird gesagt, die Aussage sei wahr oder falsch, nicht deshalb, weil sie selbst für Konträres empfänglich wäre. Denn weder die Aussage noch die Meinung werden überhaupt von irgend etwas bewegt, somit sind sie, da nichts an ihnen vor sich geht, für kein Konträres empfänglich. Die Substanz dagegen gilt als empfänglich für Konträres, weil sie selbst Konträres aufnimmt. Denn sie nimmt Krankheit und Gesundheit, Weiße und Schwärze auf, und weil sie selbst jedes Derartige aufnimmt, gilt von ihr, daß sie für Konträres empfänglich ist. Es dürfte mithin der Substanz eigentümlich sein, daß das, was der Zahl nach eins und dasselbe ist, für Konträres empfänglich ist. Über die Substanz nun sei soviel gesagt. (Cat. 1-5) 2. Wissenschaft der ersten Ursachen [980a21] Alle Menschen streben von Natur nach Wissen; dies beweist die Freude an den Sinneswahrnehmungen, denn diese erfreuen an sich, auch abgesehen von dem Nutzen, und vor allen andern die Wahrnehmungen mittels der Augen. Denn nicht nur zu praktischen Zwecken, sondern auch wenn wir keine Handlung beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allem andern vor, und dies deshalb, weil dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede offenbart. Von Natur nun haben die Tiere sinnliche Wahrnehmung, aus der sinnlichen Wahrnehmung entsteht bei einigen Erinnerung, bei ande- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 228 III. Erste Philosophie: Metaphysik ren nicht, [980b21] und darum sind jene verständiger und gelehriger als die, welche sich nicht erinnern können. Verständig ohne zu lernen sind alle diejenigen, welche den Schall nicht hören können, z. B. die Biene und was etwa noch sonst für Tiere der Art sind; dagegen lernen alle diejenigen, welche außer der Erinnerung auch diesen Sinn besitzen. Die anderen Tiere nun leben in ihren Vorstellungen und Erinnerungen und haben nur geringen Anteil an Erfahrung, das Geschlecht der Menschen dagegen lebt auch in Kunst und Überlegung. Aus der Erinnerung nämlich entsteht für die Menschen Erfahrung; denn die Vielheit der Erinnerungen an denselben Gegen[981a]stand erlangt die Bedeutung einer einzigen Erfahrung, und es scheint die Erfahrung beinahe der Wissenschaft und der Kunst sich anzunähern, Wissenschaft aber und Kunst gehen für die Menschen aus der Erfahrung hervor; denn ,Erfahrung schuf die Kunst‘, sagt Polos mit Recht, ,Unerfahrenheit den Zufall. Die Kunst entsteht dann, wenn sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet. Denn die Annahme, daß dem Kallias, indem er an dieser bestimmten Krankheit litt, dieses bestimmte Heilmittel half, und ebenso dem Sokrates und so vielen einzelnen, ist eine Sache der Erfahrung; daß es dagegen allen von solcher und solcher Beschaffenheit (indem man sie in einen Artbegriff einschließt), allen, die an dieser Krankheit litten, zuträglich war, z. B. den schleimichten oder gallichten oder fieberkranken, diese Annahme gehört der Kunst an. Zum Zweck des Handelns steht die Erfahrung der Kunst an Wert nicht nach, vielmehr sehen wir, daß die Erfahrenen mehr das Richtige treffen als diejenigen, die ohne Erfahrung nur den allgemeinen Begriff besitzen. Die Ursache davon liegt darin, daß die Erfahrung Erkenntnis des Einzelnen ist, die Kunst des Allgemeinen, alles Handeln und Geschehen aber am Einzelnen vorgeht. Denn nicht einen Menschen überhaupt heilt der Arzt, außer in akzidentellem Sinne, sondern den Kallias oder den Sokrates oder irgendeinen anderen Einzelnen, für welchen es ein Akzidens ist, daß er auch Mensch ist. Wenn nun jemand den Begriff besitzt ohne Erfahrung und das Allgemeine weiß, das darin enthaltene Einzelne aber nicht kennt, so wird er das rechte Heilverfahren oft verfehlen; denn Gegenstand des Heilens ist vielmehr das Einzelne. Dennoch aber schreiben wir Wissen und Ver- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 229 2. Wissenschaft der ersten Ursachen stehen mehr der Kunst zu als der Erfahrung und sehen die Künstler für weiser an als die Erfahrenen, indem Weisheit einem jeden vielmehr nach dem Maßstabe des Wissens zuzuschreiben sei. Und dies deshalb, weil die einen die Ursache kennen, die anderen nicht. Denn die Erfahrenen kennen nur das Daß, aber nicht das Warum; jene aber kennen das Warum und die Ursache. Deshalb stehen auch die leitenden Künstler in jedem einzelnen Gebiete bei uns in höherer Achtung, und wir meinen, daß sie mehr wissen [981b] und weiser sind als die Handwerker, weil sie die Ursachen dessen, was hervorgebracht wird, wissen, während die Handwerker manchen leblosen Dingen gleichen, welche zwar etwas hervorbringen, z. B. das Feuer Wärme, aber ohne das zu wissen, was es hervorbringt; wie jene leblosen Dinge nach einem natürlichen Vermögen das hervorbringen, was sie hervorbringen, so die Handwerker durch Gewöhnung. Nicht nach der größeren Geschicklichkeit zum Handeln schätzen wir dabei die Weisheit ab, sondern darum bezeichnen wir die leitenden Künstler als weiser, weil sie im Besitz des Begriffes sind und die Ursachen kennen. Überhaupt ist es ein Zeichen des Wissens, daß man den Gegenstand lehren kann, und darum sehen wir die Kunst mehr für Wissenschaft an als die Erfahrung; denn die Künstler können lehren, die Erfahrenen aber nicht. Ferner meinen wir, daß von den Sinneswahrnehmungen keine Weisheit gewähre, und doch geben sie die bestimmteste Kenntnis des Einzelnen; aber das Warum geben sie von keinem Dinge an, z. B. von dem Feuer geben sie nur an, daß es brennt, nicht warum es brennt. Wer daher zuerst neben den allgemeinen Sinneswahrnehmungen eine Kunst erfand, der fand natürlich Bewunderung bei den Menschen, nicht nur wegen der Nützlichkeit seiner Erfindung, sondern wegen der Weisheit, die ihn vor den andern auszeichnete. Bei weiterem Fortschritte in der Erfindung von Künsten, teils für die notwendigen Bedürfnisse, teils für den Genuß des Lebens, halten wir die letzteren immer für weiser als die ersteren, weil ihr Wissen nicht auf den Nutzen gerichtet ist. Als daher schon alles Derartige geordnet war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf die notwendigen Bedürfnisse noch auf das Vergnügen des Lebens beziehen, und zwar zuerst in den Gegenden, wo man Muße hatte. Daher bildeten sich in Ägypten zuerst die mathematischen Künste, weil dort dem Stande der Priester Muße gelassen war. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 230 III. Erste Philosophie: Metaphysik Welcher Unterschied nun zwischen Kunst und Wissenschaft und dem übrigen Gleichartigen besteht, ist in der Ethik erklärt; der Zweck der gegenwärtigen Erörterung aber ist, zu zeigen, daß alle als Gegenstand der sogenannten Weisheit die ersten Ursachen und Prinzipien ansehen; darum wie gesagt, gilt der Erfahrene für weiser als der, welcher irgendeine Sinneswahrnehmung besitzt, der Künstler für weiser als der Erfahrene, und wieder der leitende Künstler vor dem [982a] Handwerker, die betrachtenden Wissenschaften vor denen, die sich auf ein Hervorbringen beziehn, die theoretischen Künste vor den praktischen. Daß also die Weisheit eine Wissenschaft von gewissen Ursachen und Prinzipien ist, das ist hieraus klar. Da wir nun diese Wissenschaft suchen, so müssen wir danach fragen, von welcherlei Ursachen und Prinzipien die Wissenschaft handelt, welche Weisheit ist. Nimmt man nun die gewöhnlichen Annahmen, welche wir über den Weisen haben, so dürfte vielleicht die Sache daraus eher deutlich werden. Es ist nun erstens unsere gewöhnliche Annahme, daß der Weise soviel möglich alles wisse, ohne dabei die Wissenschaft des Einzelnen zu besitzen, ferner, daß der, welcher das Schwierige und für den Menschen nicht leicht Erkennbare zu erkennen vermag, weise sei (denn Sinneswahrnehmung ist allen gemeinsam und darum leicht und nichts Weises); ferner, daß in jeder Wissenschaft der Genauere und die Ursachen zu lehren Fähigere der Weisere sei; und daß unter den Wissenschaften die, welche um ihrer selbst und um des Wissens willen gesucht wird, in vollerem Sinne Weisheit sei als die um anderweitiger Ergebnisse willen gesuchte, und ebenso die mehr gebietende im Vergleich mit der dienenden; denn der Weise dürfe sich nicht befehlen lassen, sondern müsse befehlen, nicht er müsse einem anderen, sondern ihm müsse der weniger Weise gehorchen. Dies sind im ganzen die Annahmen, welche wir über die Weisheit und die Weisen haben. Hierunter muß das Merkmal, alles zu wissen, dem zukommen, dessen Wissenschaft am meisten das Allgemeine zum Gegenstand hat; denn dieser weiß gewissermaßen alles Untergeordnete. Dies aber, das Allgemeinste, ist auch für den Menschen gerade am schwersten zu erkennen; denn es liegt am weitesten von den sinnlichen Wahrnehmungen entfernt. Am genauesten aber sind un- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 231 2. Wissenschaft der ersten Ursachen ter den Wissenschaften die, welche am meisten auf das Erste sich beziehen; denn auf eine geringere Zahl von Prinzipien bezogene Wissenschaften sind genauer als diejenigen, bei denen noch bestimmende Zusätze hinzukommen, z. B. die Arithmetik ist genauer als die Geometrie. Aber auch zu lehren fähiger ist diejenige Wissenschaft, welche die Ursachen betrachtet; denn in jeder Wissenschaft lehrt derjenige, der die Ursachen angibt. Wissen aber und Erkennen um ihrer selbst willen kommt am meisten der Wissenschaft des im höchsten Sinne Wißbaren zu. Denn wer das Wissen um seiner selbst willen wählt, der wird die höchste [982b] Wissenschaft am meisten wählen, dies ist aber die Wissenschaft des im höchsten Sinne Wißbaren, im höchsten Sinne wißbar aber sind die ersten Prinzipien und die Ursachen; denn durch diese und aus diesen wird das andere erkannt, aber nicht dies aus dem Untergeordneten. Am gebietendsten unter den Wissenschaften, gebietender als die dienende, ist die, welche den Zweck erkennt, weshalb jedes zu tun ist; dieser ist aber das Gute in jedem einzelnen Falle und überhaupt das Beste in der ganzen Natur. Nach allem eben Gesagten kommt also der fragliche Name derselben Wissenschaft zu; denn sie muß die ersten Prinzipien und Ursachen untersuchen, da ja auch das Gute und das Weswegen eine der Ursachen ist. Daß sie aber nicht auf ein Hervorbringen geht, beweisen schon die ältesten Philosophen. Denn Verwunderung veranlagte zuerst wie noch jetzt die Menschen zum Philosophieren, indem man anfangs über die unmittelbar sich darbietenden unerklärlichen Erscheinungen sich verwunderte, dann allmählich fortschritt und auch über Größeres sich in Zweifel einließ, z. B. über die Erscheinungen an dem Monde und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des All. Wer aber in Zweifel und Verwunderung über eine Sache ist, der glaubt sie nicht zu kennen. Darum ist der Freund der Sagen auch in gewisser Weise ein Philosoph; denn die Sage besteht aus Wunderbarem. Wenn sie also philosophierten, um der Unwissenheit zu entgehen, so suchten sie die Wissenschaft offenbar des Erkennens wegen, nicht um irgendeines Nutzens willen. Das bestätigt auch den Verlauf der Sache; denn als so ziemlich alles zur Bequemlichkeit und zum Genuß des Lebens Nötige vorhanden war, da begann man diese Art der Einsicht zu suchen. Daraus erhellt also, daß wir sie nicht © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 232 III. Erste Philosophie: Metaphysik um irgendeines anderweitigen Nutzens willen suchen, sondern, wie wir den Menschen frei nennen, der um seiner selbst, nicht um eines andern willen ist, so ist auch diese Wissenschaft allein unter allen frei; denn sie allein ist um ihrer selbst willen. Darum möchte man auch mit Recht ihre Erwerbung für übermenschlich halten; denn in vielen Dingen ist die menschliche Natur eine Sklavin, und es möchte also wohl nach Simonides’ Spruche ,nur ein Gott dieses Vorrecht besitzen‘, für den Menschen aber unziemlich sein, nicht die ihm angemessene Wissenschaft zu suchen. Wenn also die Dichter recht haben und Neid [983a] im göttlichen Wesen liegt, so ist anzunehmen, daß dies hierauf am meisten trifft und alle unglückselig sind, die zu weit streben. Aber weder ist Neid im göttlichen Wesen denkbar, sondern, wie es schon im Sprichwort heißt, ,viel lügen die Dichter‘, noch darf man eine andere Wissenschaft für ehrwürdiger halten als diese. Denn die göttlichste ist zugleich die ehrwürdigste. Göttlich aber kann sie nur in zwiefachem Sinne sein; denn einmal ist die Wissenschaft göttlich, welche der Gott am meisten haben mag, und dann die, welche das Göttliche zum Gegenstande hat. Bei dieser Wissenschaft allein trifft beides zugleich ein; denn Gott gilt allen für eine Ursache und ein Prinzip, und diese Wissenschaft möchte wohl allein oder doch am meisten Gott besitzen. Notwendiger als diese sind alle andern, besser aber keine. Ihr Besitz jedoch muß für uns gewissermaßen in das Gegenteil der anfänglichen Forschung umschlagen. Denn es beginnen, wie gesagt, alle mit der Verwunderung darüber, ob sich etwas wirklich so verhält, wie etwa über die automatischen Kunstwerke oder die Wendungen der Sonne oder die Irrationalität der Diagonalen; denn wunderbar erscheint es einem jeden, der den Grund noch nicht erforscht hat, wenn etwas durch das kleinste Maß nicht soll meßbar sein. Es muß sich aber dann am Ende zum Gegenteil und ,zum Besseren‘ umkehren nach dem Sprichwort, wie es auch in diesen Gegenständen der Fall ist, nachdem man sie erkannt hat; denn über nichts würde sich ein der Geometrie Kundiger mehr verwundern, als wenn die Diagonale kommensurabel sein sollte. Worin also das Wesen der gesuchten Wissenschaft besteht, welches das Ziel ist, das die Forschung und die ganze Untersuchung erreichen muß, ist hiermit ausgesprochen. (Met. I 1-2) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 233 3. Aufzählung von Aporien 3. Aufzählung von Aporien [995a24] Zum Behufe der gesuchten Wissenschaft ist es nötig, zunächst die Gegenstände in Betracht zu ziehen, welche zunächst Zweifel erwecken müssen. Dies sind teils die abweichenden Ansichten, welche manche hierüber aufgestellt haben, teils anderes, was etwa bisher unbeachtet geblieben ist. Denn für die richtige Einsicht ist gründlicher Zweifel förderlich, indem die später sich ergebende Einsicht die Lösung der früheren Zweifel ist, und man nicht lösen kann, wenn man den Knoten nicht kennt. Der Zweifel aber im Denken zeigt diesen Knoten in der Sache an; denn im Zweifel gleicht man den Gebundenen, jenen wie diesen ist es unmöglich vorwärts zu schreiten. Man muß deshalb vorher alle Schwierigkeit in Betracht gezogen haben, sowohl aus dem bereits ausgesprochenen Grunde, als auch weil man bei einer Forschung ohne vorausgegangenen Zweifel den Wanderern gleicht, welche nicht wissen, wohin sie zu gehen haben, und deshalb dann nicht einmal erkennen, ob sie das gesuchte [995b] Ziel erreicht haben oder nicht. Denn das Ziel ist ihnen ja nicht bekannt, wohl aber ist es dem bekannt, der vorher gezweifelt hat. Überdies muß notwendig der zur Entscheidung befähigter sein, der die gegeneinander streitenden Gründe, wie ein Richter die streitenden Parteien, angehört hat. Der erste Zweifel betrifft den Gegenstand, den wir in der Einleitung besprochen haben, nämlich ob die Betrachtung der Ursachen Gegenstand einer oder mehrerer Wissenschaften ist, und ob es der Wissenschaft nur zukommt, die ersten Prinzipien der Wesenheit in Betracht zu ziehen oder auch die allgemeinen Prinzipien der Beweisführung, z. B. ob es möglich ist ein und dasselbe zugleich zu bejahen und zu verneinen oder nicht, und anderes der Art. Und wenn die Wissenschaft nur auf die Wesenheit geht, so fragt sich, ob alle Wesenheiten einer oder mehreren Wissenschaften angehören, und wenn mehreren, ob diese alle verwandt sind oder einige von ihnen als Weisheit zu bezeichnen sind, andere nicht. Auch dies muß ferner erforscht werden, ob man nur den sinnlichen Wesenheiten Sein zuzuschreiben hat oder noch anderen neben diesen, und ob dann einer oder mehreren Gattungen von Wesenheiten, wie dies von denen geschieht, wel- 234 III. Erste Philosophie: Metaphysik che die Ideen und das Mathematische, als Mittleres zwischen den Ideen und den sinnlichen Dingen, aufstellen. Diese Fragen also müssen zur Erwägung kommen, und ferner, ob die wissenschaftliche Untersuchung nur auf die Wesenheiten gerichtet ist oder auch auf die Akzidenzien, die den Wesenheiten an sich zukommen. Ferner in Beziehung auf Identisches und Verschiedenes, Ähnliches und Unähnliches, Einerleiheit und Gegensatz, über Früheres und Späteres und alles diesen ähnliche, welches die Dialektik nur nach Wahrscheinlichkeitsgründen zu betrachten versucht, muß man fragen, welcher Wissenschaft die Untersuchung derselben zukommt; ebenso auch über die Akzidenzien, die diesen Dingen an sich zukommen, und nicht bloß darüber, was ein jedes derselben ist, sondern auch, ob ein jedes nur einen konträren Gegensatz hat. Ferner, ob Prinzip und Element die Gattungen sind oder die immanenten Bestandteile, in welche jedes Ding zerlegt wird; und wenn die Gattungen, ob die von den Individuen zunächst ausgesagten oder die ersten und höchsten, z. B. ob Tier oder Mensch Prinzip ist, und welches von beiden neben dem Einzelnen mehr Realität hat. Am meisten aber muß man danach forschen und sich damit beschäftigen, ob es neben der Materie noch eine Ursache an-sich gibt oder nicht, und ob diese selbständig abtrennbar ist oder nicht, ob sie der Zahl nach eine ist oder es mehrere sind, und ob es etwas neben den konkreten Dingen Existierendes gibt oder nicht (konkrete Dinge nämlich nenne ich diejenigen, in welchen die Materie durch ein Prädikat bestimmt ist), oder ob dies bei einigen der Fall ist, bei andern nicht, und bei welcherlei Dingen. [996a] Ferner fragt sich, ob die Prinzipien der Zahl oder der Art nach bestimmt sind, ebensowohl die in den Begriffen wie die im Substrate enthaltenen, ob für Vergängliches und für Unvergängliches dieselben Prinzipien sind oder verschiedene, und ob alle unvergänglich sind oder die des Vergänglichen vergänglich. Die schwierigste und verwikkeltste Frage ist ferner, ob das Eins und das Seiende, wie die Pythagoreer und Platon lehrten, nicht Prädikat für irgendein Anderes, sondern Wesenheit des Seienden ist, oder ob dies nicht der Fall ist, sondern ein davon verschiedenes Substrat zugrunde liegt, wie etwa in Empedokles’ Lehre die Freundschaft, oder bei einem andern das Feuer oder das Wasser oder die Luft. Ferner fragt sich, ob die Prinzipien allgemein sind oder wie die Einzeldinge, ob sie der Möglichkeit nach 235 4. Wissenschaft vom Seienden als Seiendem oder in Wirklichkeit sind, und überdies, ob noch in einer andern Weise als für die Bewegung; denn auch diese Frage kann viel Schwierigkeit machen. Überdies ist noch zu untersuchen, ob die Zahlen, Linien, Figuren und Punkte Wesenheiten sind oder nicht, und wenn sie Wesenheiten sind, ob abgetrennt von den sinnlichen oder immanent in denselben. In allen diesen Punkten ist nicht nur die Auffindung der Wahrheit schwer, sondern selbst ein gründliches Durchdenken des Zweifels nicht leicht. (Met. III 1) 4. Wissenschaft vom Seienden als Seiendem [1003a21] Es gibt eine Wissenschaft, welche das Seiende als solches untersucht und das demselben an sich Zukommende. Diese Wissenschaft ist mit keiner der einzelnen Wissenschaften identisch; denn keine der übrigen Wissenschaften handelt allgemein von dem Seienden als solchem, sondern sie scheiden sich einen Teil des Seienden aus und untersuchen die für diesen sich ergebenden Bestimmungen, wie z. B. die mathematischen Wissenschaften. Indem wir nun die Prinzipien und die letzten Ursachen erforschen, ist offenbar, daß diese notwendig Ursachen einer Wesenheit an sich sein müssen. Wenn nun auch diejenigen, welche die Elemente des Seienden suchten, diese Prinzipien suchten, so müssen auch die Elemente des Seienden dies nicht in akzidentellem Sinne sein, sondern insofern sie sind. Auch wir also haben die ersten Ursachen des Seienden als solchen aufzufassen. Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung gebraucht, aber immer in Beziehung auf eines und auf eine einzige Wesenheit und nicht nach bloßer Namensgleichheit; sondern wie alles, was gesund genannt wird, sich auf Gesundheit bezieht, indem es dieselbe nämlich erhält oder hervorbringt, oder ein Zeichen derselben oder [1003b] sie aufzunehmen fähig ist; wie etwas ärztlich heißt in Beziehung auf die Arzneikunde, entweder weil es die Arzneikunde besitzt oder zu ihr wohl befähigt oder ein Werk derselben ist; und wie wir dasselbe beim Gebrauch der übrigen Wörter finden werden: ebenso wird auch das 236 III. Erste Philosophie: Metaphysik Seiende zwar in vielfachen Bedeutungen ausgesagt, aber doch alles in Beziehung auf ein Prinzip. Denn einiges wird als seiend bezeichnet, weil es Wesenheit, anderes, weil es Affektion der Wesenheit, anderes, weil es der Weg zur Wesenheit oder Untergang oder Beraubung oder Qualität oder das Schaffende und Erzeugende ist für die Wesenheit oder für etwas in Beziehung zu derselben Stehendes, oder Negation von etwas unter diesen oder von der Wesenheit (deshalb sagen wir ja auch, das Nichtseiende sei nicht-seiend). Wie nun alles Gesunde einer Wissenschaft angehört, so verhält es sich gleicherweise auch bei den übrigen. Denn nicht nur die Untersuchung dessen, was nach einem bestimmt oder einem untergeordnet ist, sondern auch dessen, was in Beziehung auf eins ausgesagt wird, ist Gegenstand einer einzigen Wissenschaft; denn in gewisssem Sinne ist auch dies nach einem bestimmt. Also gehört offenbar auch das Seiende als solches einer einzigen Wissenschaft an. Überall geht aber die Wissenschaft vornehmlich und zunächst auf das Erste, von dem das übrige abhängt und wonach es benannt ist. Ist dies nun die Wesenheit, so muß der Philosoph die Prinzipien und die Ursachen der Wesenheit innehaben. Nun gibt es von jeder Gattung wie nur eine Sinneswahrnehmung, so nur eine Wissenschaft; die Grammatik z. B. als eine einzige Wissenschaft handelt von allen Lauten. Daher gehören auch alle Arten des Seienden einer der Gattung nach einzigen Wissenschaft an, die Arten des Seienden aber den Arten der Wissenschaft. Nun sind das Eins und das Seiende identisch und eine Wesenheit, insofern als jedes von beiden das Prädikat des andern ist wie Prinzip und Ursache, nicht insofern als sie durch einen Begriff bestimmt würden. (Doch macht es nichts aus, wenn wir das letztere annehmen, vielmehr ist es für die Untersuchung noch mehr förderlich.) Denn dasselbe ist ein Mensch und seiender Mensch und Mensch, und die Verdoppelung im Ausdruck ,er ist ein Mensch‘ oder ,er ist Mensch‘ bringt keine Veränderung des Sinnes hervor; offenbar wird es auch beim Entstehen und beim Vergehen nicht getrennt, und dasselbe gilt von dem Eins; der Zusatz bezeichnet also hier nur dasselbige, und das Eins ist nicht etwas Verschiedenes außer dem Seienden. Auch ist jede Wesenheit Eins, nicht bloß in akzidentellem Sinne, und ebenso ist sie seiend an sich. Soviel es also Arten des Eins gibt, soviel gibt es auch Arten des Seienden, deren Was zu untersuchen die Aufgabe einer der 237 4. Wissenschaft vom Seienden als Seiendem Gattung nach einzigen Wissenschaft ist, ich meine z. B. die Untersuchungen über das Identische, das Ähnliche und anderes dergleichen; so gut wie [1004a] alle Gegensätze aber werden auf dies Prinzip zurückgeführt. Hierüber mag das genügen, was wir in der Auswahl der Gegensätze untersucht haben. Und Teile der Philosophie gibt es so viele, wie es verschiedene Wesenheiten gibt, so daß notwendig eine darunter die erste, eine andere die folgende sein muß; denn das Eins und das Seiende hat von vornherein Arten, denen also wieder Arten der Wissenschaft entsprechen werden. Denn es verhält sich mit dem Namen des Philosophen wie mit dem des Mathematikers; denn auch die Mathematik hat Teile, und es gibt in ihr eine erste und zweite Wissenschaft und so andere der Reihe nach. Da nun die Untersuchung des Entgegengesetzten einer Wissenschaft angehört, dem Eins aber die Menge entgegensteht und die Privation ebensogut wie die Negation zu untersuchen derselben einen Wissenschaft zukommt, weil in diesen beiden das Eine, dessen Negation oder Privation etwas ist, betrachtet wird (entweder nämlich sagen wir schlechthin, daß jenes nicht vorhanden sei, oder wir beschränken seine Abwesenheit auf eine bestimmte Gattung; in jenem Falle kommt zu dem Negierten nur die den Unterschied bestimmende Negation, indem die Negation eben Abwesenheit des Negierten ist, bei der Privation dagegen liegt auch eine bestimmte Wesenheit zugrunde von welcher die Privation ausgesagt wird); da also dem Eins die Menge entgegengesetzt ist, so ist auch die Erkenntnis dessen, was den erwähnten Gegenständen entgegengesetzt ist, des Anderen, des Verschiedenen, des Ungleichen und was noch sonst nach diesen oder nach der Menge und dem Eins genannt wird, Aufgabe der genannten Wissenschaft. Hierzu gehört auch der Gegensatz; denn der Gegensatz ist ein Unterschied, der Unterschied eine Verschiedenheit. Da nun also das Eins in mehreren Bedeutungen gebraucht wird, so werden auch diese Gegenstände in verschiedenen Bedeutungen ausgesagt werden, aber die Erkenntnis aller wird doch einer Wissenschaft zufallen; denn wegen der Mehrheit der Bedeutungen gehört ein Gegenstand erst dann verschiedenen Wissenschaften an, wenn die Begriffe weder nach Einem bestimmt noch auf die Beziehung zu Einem zurückgeführt werden. Da aber alles auf das Erste zurückgeführt wird, 238 III. Erste Philosophie: Metaphysik z. B. alles, was Eins heißt, auf das erste Eins, und es sich ebenso auch bei dem Identischen und dem Anderen und den Gegensätzen verhalten muß: so muß man unterscheiden, in wie vielen Bedeutungen jedes ausgesagt wird, und dann in Beziehung aur das Erste in jeder Kategorie angeben, wie es sich zu diesem verhält; denn einiges wird nach dem Ersten in derselben Kategorie genannt werden, weil es dasselbe hat, anderes, weil es dasselbe hervorbringt, anderes auf andere ähnliche Weisen. Hieraus ist nun offenbar, was unter den Zweifeln erwähnt wurde, daß es einer Wissenschaft zukommt, dies ebenso wie die Wesenheit zu erörtern; dies war aber eine von den besprochenen Fragen. Auch kommt es ja dem Philosophen zu, alle [1004b] Gegenstände untersuchen zu können. Denn wenn nicht dem Philosophen, wem soll es denn zukommen zu erforschen, ob Sokrates und der sitzende Sokrates dasselbe ist, oder ob immer Eins zu Einem der Gegensatz ist, oder was der Gegensatz ist, oder in wie vielen Bedeutungen er ausgesagt wird, und ebenso in betreff des übrigen ähnlichen. Da dies nun Affektionen an sich sind des Eins, insofern es Eins, und des Seienden, insofern es Seiendes, nicht insofern es Zahl oder Linie oder Feuer ist, so hat offenbar jene Wissenschaft sowohl das Was als auch ihre Akzidenzien zu erkennen. Und nicht insofern fehlen die, welche hierüber Untersuchungen anstellen, als dies der Philosophie nicht angehöre, sondern als sie von der Wesenheit selbst, die doch das Frühere ist, nichts wissen. Denn wie die Zahl als Zahl eigentümliche Affektionen hat, z. B. Ungeradheit und Geradheit, Verhältnis und Gleichheit, Übermaß und Mangel, was den Zahlen sowohl an sich als in Beziehung auf einander zukommt; und ebenso das Solidum, das Unbewegte und das Bewegte, das Schwerelose und das Schwere andere Eigenschaften hat: ebenso hat auch das Seiende als solches gewisse eigentümliche Eigenschaften, und sie sind es, in betreff deren der Philosoph die Wahrheit zu erforschen hat. Ein Beweis dafür ist auch folgendes: die Dialektiker und die Sophisten wollen ebenfalls für Philosophen gelten (denn die Sophistik ist nur eine Scheinweisheit), und auch die Dialektiker diskutieren alles, gemeinsam aber ist allem das Seiende. Sie diskutieren es aber offenbar deshalb, weil es der Philosophie angehört. Denn die Sophistik und die Dialektik beschäftigen sich mit derselben Gattung wie die Philosophie, nur unterscheidet 239 4. Wissenschaft vom Seienden als Seiendem sich diese von der einen durch die Art und Weise ihres Vermögens, von der andern durch ihren Lebenszweck. Denn die Dialektik versucht sich nur an dem, was die Philosophie erkennt, und die Sophistik scheint nur Weisheit zu sein, ist es aber nicht. Ferner ist die eine Reihe der Gegensätze Privation, und alles wird auf das Seiende und Nicht-seiende und auf das Eins und die Vielheit zurückgeführt, z. B. Ruhe auf das Eins, Bewegung auf die Vielheit. Das Seiende und die Wesenheit lassen so gut wie alle in übereinstimmender Ansicht aus Gegensätzen zusammengesetzt werden, indem ja alle als Prinzipien Gegensätze annehmen, einige das Ungerade und das Gerade, andere das Warme und das Kalte, andere Grenze und Unbegrenztes, andere Freundschaft und Streit. Und auch alles übrige wird offenbar auf das Eins und die Vielheit zurückgeführt; die Art der Zurückführung [1005a] wollen wir jetzt voraussetzen. Und vollends die von den anderen gesetzten Prinzipien fallen unter diese als ihre allgemeinen Gattungen. Also auch hieraus erhellt, daß die Untersuchung des Seienden als solchen einer Wissenschaft angehört; denn alles ist entweder Gegensatz oder aus Gegensätzen, Prinzipien aber der Gegensätze sind das Eins und die Vielheit. Diese aber gehören einer Wissenschaft an, mögen sie nun nach Einem genannt sein oder nicht, wie denn das letztere wohl in Wahrheit der Fall ist. Indessen wenn auch das Eins in mehrfacher Bedeutung ausgesagt wird, so wird doch das übrige in Beziehung auf das erste Eins ausgesagt werden, und dasselbe gilt von dem Entgegengesetzten. Auch schon deshalb, wenn auch das Seiende und das Eins nicht ein Allgemeines und dasselbe für alles oder selbständig abtrennbar ist, wie dies wohl nicht der Fall ist, sondern teils durch seine Beziehungen auf das Eins, teils durch Reihenfolge eins ist, auch schon deshalb also kommt es nicht dem Geometer zu, zu untersuchen, was das Konträre oder das Vollkommene oder das Seiende oder das Eins oder das Identische oder das Verschiedene ist, ausgenommen voraussetzungsweise. Hiernach ist denn klar, daß es einer Wissenschaft zukommt, das Seiende als solches und das dem Seienden als solchem Zukommende zu untersuchen, und daß dieselbe Wissenschaft nicht nur die Wesenheiten, sondern auch das den Wesenheiten Zukommende untersucht, sowohl das bisher genannte, als auch das Früher und Später, Geschlecht und Art, Ganzes und Teil und das übrige dieser Art. (Met. IV 1-2) 240 III. Erste Philosophie: Metaphysik [1017a7] Das Sein wird teils in akzidentellem Sinne ausgesagt, teils an sich. In akzidentellem Sinne sagen wir z. B. „der Gerechte ist gebildet“, und „der Mensch ist gebildet“, und „ein Gebildeter ist ein Mensch“ in ähnlicher Weise, wie wenn wir sagen „der Gebildete baut“, weil es für den Baumeister ein Akzidens ist, gebildet, oder für den Gebildeten, Baumeister zu sein; denn „dies ist dies“ bedeutet „dies ist ein Akzidens von diesem“. Ebenso verhält es sich in den angeführten Fällen; denn wenn wir sagen „der Mensch ist gebildet“ und „der Gebildete ist ein Mensch“, oder „der Weiße ist gebildet“ oder „der Gebildete ist weiß“, so geschieht dies in dem einen Falle, weil beides Akzidenzien desselben sind, in dem anderen, weil das eine, das Prädikat, an dem anderen als seiendem Akzidens ist; im dritten Falle aber „der Gebildete ist ein Mensch“, weil an diesem „gebildet“ ein Akzidens ist; so sagt man auch, das Nichtweiße sei, weil jenes ist, wovon dies ein Akzidens ist. Wem also in akzidentellem Sinne Sein zugeschrieben wird, bei dem geschieht es entweder, weil beides demselben Seienden zukommt, oder weil es jenem als Seiendem zukommt, oder weil es selbst das Substrat ist für das, wovon es ausgesagt wird. Sein an sich sagt man in so vielen Bedeutungen, wie es Formen der Kategorien gibt; denn so vielfach diese ausgesagt werden, so viele Bedeutungen des Seins bezeichnen sie. Da nun die Kategorien teils ein Was bezeichnen, teils eine Qualität, teils eine Quantitat, teils eine Relation, teils ein Tun oder Leiden, teils ein Wo, teils ein Wenn, so hat mit jeder derselben das Sein gleiche Bedeutung; denn es ist kein Unterschied, ob man sagt „der Mensch ist lebend“ oder „der Mensch lebt“, „der Mensch ist gehend oder schneidend“ oder „der Mensch geht oder schneidet“, und in ähnlicher Weise auch bei den übrigen. Ferner bezeichnet Sein und Ist, daß etwas wahr ist, Nicht-sein aber, daß etwas nicht wahr ist, sondern falsch, gleicherweise bei der Bejahung wie bei der Verneinung; z. B. „Sokrates ist gebildet“ bedeutet, daß dies wahr ist, oder „Sokrates ist nichtweiß“ ebenfalls, daß dies wahr ist; dagegen „es ist nicht die Diagonale rational“ bezeichnet, daß dies falsch ist. Ferner bezeichnet Sein [1017b] und Seiendes in diesen angeführten Fällen teils das Vermögen, teils die Wirklichkeit. Denn „es ist sehend“ sagen wir sowohl von dem dem Vermögen, als von dem der 241 5. Der Satz vom Widerspruch Wirklichkeit nach Sehenden; ebenso schreiben wir Wissen sowohl dem zu, der sich der Wissenschaft bedienen kann, wie dem, der sich ihrer bedient; und ruhend nennen wir sowohl das, was schon Ruhe ist, als auch was ruhen kann. In gleicher Weise auch bei den Wesenheiten; denn wir sagen ja, der Hermes sei in dem Steine und die Hälfte der Linie in der Linie, und nennen Weizen auch den noch nicht reifen. Wann aber etwas möglich ist, und wann noch nicht, das muß anderswo bestimmt werden. (Met. V 7) 5. Der Satz vom Widerspruch [1005b35] Nun gibt es aber, wie gesagt, einige, welche es für möglich [1006a] erklären, daß dasselbe sei und nicht sei und daß man dies so annehme, und auch viele von den Physikern bedienen sich dieses Satzes; wir dagegen haben angenommen, es sei unmöglich, daß etwas zugleich sei und nicht sei, und haben hieraus erwiesen, daß dies das sicherste unter allen Prinzipien ist. Manche verlangen nun aus Mangel an Bildung, man solle auch dies beweisen; denn Mangel an Bildung ist es, wenn man nicht weiß, wofür ein Beweis zu suchen ist und wofür nicht. Denn daß es überhaupt für alles einen Beweis gebe, ist unmöglich, sonst würde ja ein Fortschritt ins Unendliche eintreten und auch so kein Beweis stattfinden. Wenn aber für manches kein Beweis gesucht werden darf, so möchten sie wohl nicht angeben können, was sie denn mit mehr Recht für ein solches Prinzip halten wollten. Doch ein widerlegender Beweis für die Unmöglichkeit der Behauptung läßt sich führen, sobald der dagegen Streitende nur überhaupt redet; wo aber nicht, so wäre es ja lächerlich, gegen den reden zu wollen, der über nichts Rede steht, gerade insofern er nicht Rede steht; denn ein solcher ist als solcher einer Pflanze gleich. Den widerlegenden Beweis aber unterscheide ich von dem eigentlichen direkten Beweis; wollte man diesen führen, so würde man das zu Erweisende vorauszusetzen scheinen; ist aber der andere, streitende schuld daran, so ergibt sich eine Widerlegung, aber nicht ein eigentlicher Beweis. Der Ausgangspunkt bei allen derartigen Diskussionen ist nicht, daß man vom Gegner verlangt, er solle erklären, daß etwas sei oder nicht sei, denn dies würde man schon für eine Annahme des 242 III. Erste Philosophie: Metaphysik zu Beweisenden ansehen, sondern daß er im Reden etwas bezeichne für sich wie für einen anderen; denn das ist ja notwendig, sofern er überhaupt etwas reden will. Wo nicht, so hätte ja ein solcher gar keine Rede, weder zu sich selbst noch zu einem andern. Gibt jemand einmal dies zu, so läßt sich ihm auch die Wahrheit des Axioms erweisen; denn es ist dann schon etwas fest bestimmt. Die Grundlage zum Beweise aber gibt nicht der Beweisende, sondern der, welcher Rede steht; denn er steht Rede, obgleich er doch die Rede aufhebt. [Und ferner hat der, der dies zugab, zugleich zugegeben, daß etwas wahr sei ohne Beweis, so daß sich also nicht alles zugleich so und auch nicht so verhalten würde.] Zuerst nun also ist eben dies selbst wahr, daß das Wort ,sein‘ und das Wort ,nicht-sein‘ etwas Bestimmtes bezeichnet, so daß unmöglich sich alles zugleich so und auch nicht so verhalten kann. Ferner, wenn das Wort ,Mensch‘ ein Bestimmtes bezeichnet, so mag dies z. B. sein ,zweifüßiges Tier‘. Daß es Eins bezeichne, meine ich so: wenn ,Mensch‘ dies bedeutet (nämlich zweifüßiges Tier), so wird, falls etwas ein Mensch ist, sein Wesen, Mensch zu sein, hierin enthalten sein. Doch macht es keinen Unterschied, wenn jemand behauptete, das Wort Mensch bezeichne Mehreres, [1006b] aber nur bestimmt Begrenztes; denn dann würde für jeden Begriff ein anderer Name gesetzt werden. Ich meine z. B., wenn jemand behauptete, das Wort Mensch bezeichne nicht nur Eines, sondern Vieles, unter denen das eine den Begriff habe zweifüßiges Tier, aber es wären auch noch mehrere davon verschiedene, jedoch der Zahl nach begrenzte Begriffe vorhanden; denn dann ließe sich für jeden der Begriffe ein besonderer Name setzen. Könnte dies aber nicht geschehen, sondern behauptete vielmehr jemand, das Wort bezeichne unendlich vieles, so wäre offenbar gar keine Rede möglich, denn nicht ein Bestimmtes bezeichnen ist dasselbe wie nichts bezeichnen; bezeichnen aber die Worte nichts, so ist die Möglichkeit der Unterredung mit andern aufgehoben, in Wahrheit auch die Möglichkeit der Unterredung mit sich selbst. Denn man kann gar nichts denken, wenn man nicht Eins denkt; ist dies aber der Fall, so würde man auch für diese Sache einen Namen setzen können. So mag es denn bei dem zu Anfang ausgesprochenen Satze verbleiben, daß das Wort etwas bezeichne, und zwar Eins bezeichne. (…) 243 5. Der Satz vom Widerspruch [1008b2] Ferner, ist denn der im Irrtum, welcher annimmt, es verhalte sich etwas so, oder es verhalte sich nicht so, der dagegen in der Wahrheit, der beides zugleich annimmt? Ist der letztere in der Wahrheit, was ist denn dann damit gemeint, wenn man sagt, die Natur des Seienden sei so beschaffen? Ist er aber nicht in der Wahrheit, sondern vielmehr der, welcher jenes annimmt, so verhielte sich ja doch das Seiende schon auf eine bestimmte Weise, und dies wäre wahr und nicht auch zugleich nicht wahr. Wenn aber alle auf gleiche Weise irren und die Wahrheit sagen, so kann, wer dieser Ansicht ist, überhaupt gar nichts aussprechen oder sagen; denn zugleich sagt er ja dies und auch nicht dies. Nimmt er aber überhaupt gar nichts an, sondern meint eben nur und meint auch ebensogut nicht, wie unterschiede er sich denn dann von den Pflanzen? Hieraus erhellt am deutlichsten, daß niemand wirklich dieser Ansicht ist, selbst nicht unter denen, welche diese Lehre bekennen. Denn warum geht denn der Anhänger dieser Lehre nach Megara und bleibt nicht lieber in Ruhe, während er meint zu gehen? Warum stürzt er sich nicht gleich frühmorgens in einen Brunnen oder in einen Abgrund, wenn es sich eben trifft, sondern nimmt sich offenbar in acht, indem er also das Hineinstürzen nicht in gleicher Weise für nicht gut und für gut hält? Offenbar also hält er das eine für besser, das andere nicht. Wo aber dies, so muß er notwendig auch annehmen, dies sei ein Mensch, jenes nicht, dies sei süß, jenes nicht. Denn er sucht ja nicht alles auf gleiche Weise und hält nicht alles für gleich, wenn er in der Meinung, es sei gut, Wasser zu trinken oder einen Menschen zu sehen dann dies sucht, und doch müßte er alles gleich setzen, wenn dasselbe gleicherweise Mensch wäre und auch nicht Mensch. Aber, wie gesagt, es gibt niemanden, der sich nicht offenbar vor einigem hütete, vor anderem nicht. Also scheint es, alle nehmen an, daß sich etwas schlechthin so verhalte, wenn nicht in allen Dingen, so doch bei der Frage nach besser und schlechter. Tun sie dies aber nicht nach Wissen, sondern nach bloßem Meinen, so müssen sie um so mehr um Erreichung der Wahrheit bemüht sein, wie sich ja auch der Kranke um die Gesundheit mehr bemüht als der Gesunde; denn im Vergleich mit dem Wissenden steht der Meinende nicht in gesundem Verhältnis zur Wahrheit. 244 III. Erste Philosophie: Metaphysik Ferner, wenn sich auch durchaus alles so und auch nicht so verhält, so findet sich doch wenigstens das mehr und weniger in der Natur des Seienden; denn nicht in gleicher Weise würden wir die Zwei ungerade nennen und die Drei, und nicht in gleichem Irrtum befindet sich, wer vier für fünf hält, und wer tausend dafür ansieht. Irren also diese nicht gleich sehr, so irrt der eine weniger und hat daher mehr Wahrheit. Ist nun das [1009a] Mehr näher, so muß es auch Wahres geben, dem das mehr Wahre sich mehr nähert. Und selbst wenn dies nicht, so muß es doch schon etwas Sichereres und Wahreres geben, und wir sind damit von der Lehre befreit, welche keinen Unterschied zugibt und nichts im Denken fest zu begrenzen erlaubt. (Met. IV 4) 6. Wissenschaft von der Substanz [1028a10] Das Seiende wird in mehreren Bedeutungen gebraucht, welche wir früher im Abschnitt über die mehrfachen Bedeutungen unterschieden haben. Denn es bezeichnet teils ein Was und einzelnes Etwas, teils daß etwas ein Qualitatives oder Quantitatives ist oder einer andern dieser Kategorien angehört. Indem nun in so vielen Bedeutungen das Seiende gebraucht wird, so ist offenbar darunter die erste, in welcher man unter dem Seienden das Was versteht, welches die Wesenheit bezeichnet. Denn wenn wir aussprechen, wie beschaffen dieses Ding sei, so sagen wir, es sei gut oder böse, aber nicht, es sei drei Ellen lang oder es sei ein Mensch; wenn wir aber angeben, was es ist, so nennen wir es nicht weiß oder warm oder drei Ellen lang, sondern einen Menschen oder einen Gott. Das andere aber wird seiend genannt, insofern es an dem in diesem Sinne Seienden entweder eine Quantität oder eine Qualität oder eine Affektion oder etwas anderes der Art ist. Darum könnte man auch bei dem Gehen, dem Gesundsein und dem Sitzen in Zweifel sein, ob ein jedes derselben ein Seiendes ist oder ein Nichtseiendes, und ebenso bei allem anderen dieser Art. Denn keines von diesen besteht an sich oder ist einer Abtrennung von der Wesenheit fähig, sondern, wofern überhaupt, so gehört vielmehr das Gehende, das Sitzende und das Gesunde zu dem Seienden. Dieses zeigt sich aber mehr als seiend, weil sein Substrat etwas 245 6. Wissenschaft von der Substanz Bestimmtes ist, nämlich die Wesenheit und das Einzelne, welches sich als in einem solchen Prädikate enthalten zeigt. Denn das Gute oder das Sitzende wird ohne dieses nicht ausgesagt. Es erhellt also, daß durch diese, die Wesenheit, auch ein jedes von jenem ist, und daß demnach Seiendes im ersten Sinne, welches nicht ein Etwas, sondern schlechthin Seiendes ist, die Wesenheit sein würde. Nun gebraucht man zwar das Wort Erstes in verschiedenen Bedeutungen, indes in jeder Bedeutung des Wortes ist die Wesenheit Erstes sowohl dem Begriff wie der Erkenntnis und der Zeit nach. Denn von den übrigen Prädikaten ist keines selbständig abtrennbar, sondern dieses allein. Und auch dem Begriff nach ist sie Erstes. Denn in dem Begriff eines jeden Dinges muß der Begriff der Wesenheit enthalten sein. Und zu wissen glauben wir ein jedes am meisten dann, wenn wir erkannt haben, was der Mensch ist oder das Feuer, mehr als wenn wir die Qualität oder die [1028b] Quantität oder das Wo erkannt haben; denn auch von diesen selbst kennen wir ein jedes dann, wenn wir erkannt haben, was die Quantität oder die Qualität ist. Und die Frage, welche vor alters so gut wie jetzt und immer aufgeworfen und Gegenstand des Zweifels ist, die Frage, was das Seiende ist, bedeutet nichts anderes als, was die Wesenheit ist. Denn von dem Seienden sagen einige, es sei eins, andere, mehr als eins, einige, es sei begrenzt, andere, es sei unbegrenzt. Darum müssen auch wir hauptsächlich und zuerst und so gut wie einzig darauf unsere Betrachtung richten, was denn das in diesem Sinne Seiende ist. Es scheint nun die Wesenheit am offenbarsten in den Körpern vorhanden zu sein. Darum sagen wir von den Tieren und Pflanzen und deren Teilen, daß sie Wesenheiten sind, und von den natürlichen Körpern, wie Feuer, Wasser, Erde und einem jeden dieser Art, und von allem, was Teil hiervon ist oder aus diesem, sei es einigem, sei es allem, als seinen Teilen besteht, wie z. B. der Himmel und seine Teile, Gestirne, Mond und Sonne. Ob aber diese allein Wesenheiten sind oder auch andere, oder von diesen nichts, sondern andere Wesenheiten sind, das ist zu untersuchen. Manche sind der Ansicht, daß die Grenzen des Körpers, wie Fläche, Linie, Punkt und Einheit, Wesenheiten seien, und zwar mehr als der Körper und das Solide. Ferner meinen einige, daß außer dem 246 III. Erste Philosophie: Metaphysik Seienden nichts der Art existiere, andere nehmen mehreres, das mehr wenig sei, an, wie Platon die Ideen und die mathematischen Begriffe als zwei Wesenheiten und als dritte die Wesenheit der sinnlichen Körper. Speusippos aber setzt, von dem Eins ausgehend, noch mehr Wesenheiten und verschiedene Prinzipien für jede Wesenheit, eine für die Zahlen, eine andere für die Größen, eine andere ferner für die Seele, und auf diese Weise erweitert er das Gebiet der Wesenheiten. Einige ferner behaupten, daß die Ideen und die Zahlen dieselbe Natur hätten, das andere aber demnächst der Reihe nach folge, Linien und Flächen, bis zur Wesenheit des Himmels und den sinnlichen Dingen. Welche nun von diesen Ansichten richtig ist, welche falsch, und welche Wesenheiten es gibt, und ob gewisse Wesenheiten außer den sinnlichen existieren oder nicht und wie diese existieren, und ob es außer den sinnlichen eine vollständig abtrennbare Wesenheit gibt und warum und wie, oder ob es keine gibt - dies müssen wir untersuchen, indem wir zuerst den Grundzügen nach bestimmen, was die Wesenheit ist. Wesenheit wird, wenn nicht in mehr, doch in vier Hauptbedeutungen gebraucht. Denn das Wesenswas und das Allgemeine und das Geschlecht wird für die Wesenheit eines jeden gehalten, und dazu viertens das Substrat. Substrat aber ist dasjenige, von dem das übrige ausgesagt wird, ohne daß es selbst wieder von einem andern ausgesagt würde. Darum müssen wir zuerst über die[1029a]ses Bestimmungen treffen, da das erste Substrat am meisten Wesenheit zu sein scheint. Als Substrat nun wird in gewisser Weise die Materie bezeichnet, in anderer Weise die Form, und drittens das aus beiden Hervorgehende. Ich verstehe aber unter Materie z. B. das Erz, unter Form die Gestalt seines Bildes, unter dem aus beiden Hervorgehenden die Bildsäule als konkretes Ganzes. Wenn nun die Form früher und mehr seiend ist als die Materie, so muß sie auch aus demselben Grunde früher sein als das aus beiden Hervorgehende. Für jetzt ist nun also in den allgemeinsten Umrissen bezeichnet, was etwa die Wesenheit ist, daß sie nämlich das ist, was selbst nicht von einem Substrat, sondern wovon vielmehr das andere ausgesagt wird; indes darf man nicht hierbei allein stehenbleiben, weil es noch nicht genügt. 247 6. Wissenschaft von der Substanz Denn diese Bestimmung selbst ist unklar, und es würde danach auch die Materie zur Wesenheit werden; denn wenn diese nicht Wesenheit ist, so entgeht uns, was sonst Wesenheit sein sollte. Denn wenn das Übrige hinweggenommen wird, so bleibt offenbar nichts zurück. Denn das andere besteht in Affektionen oder Erzeugnissen oder Vermögen der Körper; die Länge und Breite und Tiefe sind gewisse Quantitäten, aber nicht Wesenheiten, da nicht das Quantum, sondern vielmehr dasjenige Wesenheit ist, an dem als erstem das Quantum sich findet. Wenn wir aber Länge und Tiefe und Breite hinwegnehmen, so sehen wir nichts übrigbleiben als dasjenige, was es auch irgend sein mag, das durch diese bestimmt ist; so daß, wenn man die Sache so betrachtet, notwendig die Materie als einzige Wesenheit erscheinen muß. Ich nenne aber Materie das, was an sich weder als etwas noch als ein irgendwie großes noch durch irgendein anderes der Prädikate bezeichnet wird, durch welche das Seiende bestimmt ist. Es gibt nämlich etwas, von dem ein jedes dieser Prädikate ausgesagt wird und dessen Sein verschieden ist von dem eines jeden der Prädikate. Denn die anderen Prädikate werden von der Wesenheit ausgesagt, diese aber von der Materie. Daher denn das Letzte an sich weder ein bestimmtes Was, noch ein Quantum noch sonst irgend etwas ist. Aber auch die Verneinungen davon sind nicht dieses Letzte, da auch diese ihm nur in akzidentellem Sinne zukommen können. Wenn man also von diesem Gesichtspunkt aus die Sache betrachtet, so ergibt sich, daß die Materie Wesenheit ist. Das ist aber unmöglich. Denn selbständige Trennbarkeit und individuelle Bestimmtheit wird am meisten der Wesenheit zugeschrieben. Demnach würde man der Ansicht sein, daß die Form und das aus beiden Hervorgehende mehr Wesenheit sei als die Materie. Die aus beiden hervorgehende Wesenheit nun, ich meine die aus der Materie und der Form bestehende, müssen wir beiseite setzen, da sie später und deutlich ist. Auch die Materie ist gewissermaßen deutlich offenbar. Über die dritte aber müssen wir Untersuchung anstellen, denn sie ist die schwierigste. Es wird nun aber allgemein anerkannt, daß es gewisse Wesenheiten der sinnlichen Dinge gibt; auf diese Wesenheiten müssen wir daher zuerst die Forschung richten. [1029b] Denn es ist förderlich, zu dem Erkennbareren überzugehen. Denn das Lernen geht bei allen so vor sich, daß sie durch das 248 III. Erste Philosophie: Metaphysik seiner Natur nach weniger Erkennbare zu dem mehr Erkennbaren fortschreiten; und wie es beim Handeln darauf ankommt, von dem für den Einzelnen Guten ausgehend zu bewirken, daß das schlechthin Gute dem Einzelnen gut sei, so muß man beim Lernen von dem für den Einzelnen Erkennbaren ausgehend bewirken, daß das der Natur nach Erkennbare für den Einzelnen erkennbar werde. Freilich ist das, was für den Einzelnen erkennbar und erstes ist, oft an sich sehr wenig erkennbar und enthält wenig oder nichts vom Seienden; aber dennoch muß man versuchen, von dem an sich zwar wenig Erkennbaren, für den Einzelnen aber Erkennbaren das allgemein Erkennbare zu erkennen, indem man, wie gesagt, durch jenes selbst zu diesem übergeht. [Da wir im Anfang unterschieden, auf wie viele Weisen wir die Wesenheit bestimmen, und für eine darunter das Wesenswas galt, so müssen wir dieses betrachten.] Zuerst nun wollen wir darüber einiges im allgemeinen sagen, nämlich daß das Wesenswas für ein jedes Ding das ist, als welches es an sich bezeichnet wird. Denn das Du-sein ist nicht dasselbe mit dem Gebildetsein; denn nicht insofern du du bist, bist du gebildet; was du also an dir und für dich bist, das ist dein Wesenswas. Aber auch nicht dieses alles. Denn das ist nicht Wesenswas, was etwas in der Weise an sich ist, wie die Fläche ein Weißes ist; denn Fläche-sein ist nicht Weißes-sein. Aber auch nicht das aus beiden Bestehende, das weiße-Fläche-sein, ist das Wesenswas. Warum? Weil das zu Bestimmende selbst mit darin enthalten ist. Der Begriff also ist für ein jedes Ding Begriff des Wesenswas, in welchem es nicht selbst mit enthalten ist, während er es doch bezeichnet. Wenn daher weiße-Fläche-sein dasselbe sein wollte mit ebene-Fläche-sein, so müßte weiß-sein und eben-sein eins und dasselbe sein. Da es aber auch nach den anderen Kategorien Zusammengesetztes gibt - denn ein Substrat gibt es für ein jedes, wie für das Qualitative, das Quantitative, das Wann, das Wo und die Bewegung -, so ist zu fragen, ob es für ein jedes derselben einen Begriff des Wesenswas gibt und ob auch für sie ein Wesenswas vorhanden ist, z. B. ob für weißer Mensch ein Wesenswas, weißer-Mensch-sein, vorhanden ist. Man setze dafür den Namen Kleid. Was ist nun das Kleid-sein? Aber dies gehört ja gar nicht zu dem, was an sich ausgesagt wird. Indessen das ,nicht an sich‘ 249 6. Wissenschaft von der Substanz wird in zweierlei Bedeutungen gebraucht, einmal so, daß es eine Hinzufügung bezeichnet, einmal so, daß es sie nicht bezeichnet. Denn einerseits wird einiges als ,nicht an sich‘ bezeichnet darum, weil es selbst an einem anderen, welches definiert wird, haftet, z. B. wenn jemand, das Weiß-sein definierend, den Begriff von weißer Mensch angäbe; andererseits deshalb, weil ein anderes, welches definiert wird, ihm anhaftet, z. B. wenn Kleid bedeutete weißer Mensch, und man definierte Kleid als ein weißes; [1030a] aber weißer Mensch ist zwar ein Weißes, aber doch nicht das Weiß-sein. Gibt es nun aber für das Kleid-sein überhaupt ein Wesenswas oder nicht? Denn das Wesenswas ist ein einzelnes Etwas; wenn aber etwas nur von einem anderen ausgesagt wird, so ist es nicht ein einzelnes Etwas; z. B. der weiße Mensch ist nicht ein einzelnes Etwas, da ja ein einzelnes Etwas zu sein nur den Wesenheiten zukommt. Ein Wesenswas gibt es also von allen denjenigen, deren Begriff Wesensbestimmung ist. Eine Wesensbestimmung aber gibt es nicht überall da, wo überhaupt ein Name mit einem Begriff dasselbe bezeichnet (sonst würden ja alle Begriffe Wesensbestimmungen sein; denn es würde für jeden beliebigen Begriff einen gleichbedeutenden Namen geben, so daß auch die Ilias eine Wesensbestimmung würde), sondern wo er Begriff eines Ersten ist; der Art aber ist alles, was nicht dadurch bezeichnet wird, daß es von einem von ihm selbst verschiedenen Substrate ausgesagt wird. Es gibt also ein Wesenswas für nichts, was nicht Art eines Geschlechtes ist, sondern nur für diese Arten allein; denn diese werden ja nicht bezeichnet als der Teilnahme nach seiend und als Affektion noch als Akzidens. Einen Begriff nun, der die Bedeutung angibt, eine Nominaldefinition, wird es auch von jedem der übrigen geben, wenn es einen Namen gibt, nämlich die Angabe, daß dieses diesen beigelegt wird, oder statt der einfachen Angabe eine genauere; eine Wesensbestimmung aber wird es dafür nicht geben, noch ein Wesenswas. Doch es wird wohl Wesensbegriff wie auch das Was in mehreren Bedeutungen gebraucht. Denn das Was bezeichnet in der einen Bedeutung die Wesenheit und das individuelle Etwas, in einer anderen ein jedes der Prädikate, Quantitatives, Qualitatives und was sonst der Art ist. Wie nämlich das Sein allen zukommt, aber nicht auf gleiche Weise, sondern den einen in ursprünglicher, den anderen in abgeleiteter Weise, so kommt auch das Was schlechthin der Wesenheit zu, in 250 III. Erste Philosophie: Metaphysik gewissem Sinne aber auch dem anderen. Denn auch bei dem Qualitativen würden wir fragen, was es ist, so daß auch das Qualitative ein Was ist, aber nicht ein Was schlechthin; sondern wie vom Nichtseienden einige in begrifflich allgemeiner Weise sagen, es sei, nicht schlechthin, sondern eben nichtseiendes, ebenso verhält es sich bei dem Qualitativen. Man muß nun zwar auch untersuchen, wie man sich über jede Sache auszudrücken hat, indessen doch nicht so sehr, als wie es sich mit der Sache verhält. So wird denn also, da deutlich ist, was wir meinen, das Wesenswas im ersten und absoluten Sinne der Wesenheit zukommen, dann auch dem übrigen, in ähnlicher Weise wie das Was, nämlich nicht schlechthin als Wesenswas, sondern als qualitatives oder quantitatives Wesenswas. Denn entweder muß man sagen, dies sei nur dem gleichen Namen nach Seiendes, oder durch Hinzufügung und Weglassung, wie auch das Nichterkennbare erkennbar. Das Wahre freilich ist, daß es weder bloß gleichnamig noch identisch ist, sondern so, wie man vieles ärztlich nennt, weil es sich auf ein [1030b] und dasselbe bezieht, ohne ein und dasselbe zu sein, aber doch auch nicht nach bloßer Namensgleichheit. Denn ärztlich nennt man einen Körper, ein Werk, ein Gerät nicht nach bloßer Namensgleichheit, auch nicht nach Wesenheit, sondern nach der Beziehung auf eines. Doch auf welche von beiden Weisen sich auch jemand hierüber aussprechen mag, ist gleichgültig; das aber ist offenbar, daß die Wesensbestimmung im ersten und absoluten Sinne und das Wesenswas den Wesenheiten angehört; indes auf ähnliche Weise kommt es auch den übrigen Dingen zu, nur nicht im ersten und eigentlichen Sinne. Denn es ist nicht notwendig, wenn wir dieses Ding setzen, daß dasjenige Wesensbestimmung desselben sei, was dem Begriff nach dasselbe bezeichnet, sondern einem bestimmten Begriff nach. Dies findet aber dann statt, wenn es der Begriff ist von etwas, das eins ist, nicht dem bloßen Zusammenhange nach wie die Ilias, noch durch Verbindung, sondern in allen Bedeutungen, in welchen das Eins gebraucht wird. Das Eins aber wird gebraucht wie das Seiende. Das Seiende aber bezeichnet teils ein bestimmtes Etwas, teils ein Quantitatives, teils ein Qualitatives. Darum wird es auch von ,weißer Mensch‘ einen Begriff und eine Wesensbestimmung geben, aber in anderer Weise von dem Weißen und von der Wesenheit. 251 6. Wissenschaft von der Substanz Wenn man den durch Hinzufügung von Merkmalen entstehenden Begriff nicht für Wesensbestimmung anerkennen will, so entsteht die schwierige Frage, für welche unter den nicht einfachen, sondern durch Verbindung entstehenden Dingen eine Wesensbestimmung stattfinden solle. Denn durch Hinzufügung von Merkmalen muß man notwendig den Begriff derselben erklären. Ich meine z. B., es existiert Auge und Schiefheit, und Scheelheit als das aus beiden Zusammengesetzte, indem das eine an dem anderen ist. Und zwar ist nicht in akzidenteller Weise die Schiefheit oder die Scheelheit Affektion des Auges, sondern an sich, auch nicht so, wie das Weiße am Kallias oder am Menschen, weil Kallias weiß ist, dessen Akzidens es ist, ein Mensch zu sein, sondern wie das Männliche am Tier und das Gleiche an der Quantität und alles, von dem man sagt, daß es einem anderen an sich zukomme. Darunter versteht man nämlich alles dasjenige, in welchem der Begriff oder der Name dessen, an welchem es eine Affektion ist, enthalten ist, und was man nicht abgetrennt davon erklären kann, wie man wohl das Weiße erklären kann ohne den Menschen, aber nicht das Weibliche ohne das Tier. Von diesen hat also entweder keins ein Wesenswas und eine Wesensbestimmung, oder es hat dieselben auf andere Weise, wie wir erörtert haben. In Beziehung hierauf entsteht auch noch eine andere Schwierigkeit. Wenn nämlich scheeles Auge und schiefes Auge ein und dasselbe ist, so müßte ja auch scheel und schief einerlei sein. Ist dies aber nicht der Fall, weil man ja scheel unmöglich denken kann, ohne das hinzuzudenken, dessen Affektion an sich es ist (denn das Scheele ist Schiefheit am Auge), so darf man ,scheeles Auge‘ entweder gar nicht sagen, oder es ist darin zweimal dasselbe gesagt, nämlich ,schiefes Auge Auge‘. Denn ,scheeles Auge‘ ist soviel wie ,schiefes Auge Auge‘. Darum ist es unstatthaft, daß es von dergleichen ein Wesenswas geben sollte, weil ein Fortschritt ins Unendliche eintreten würde; denn in dem scheelen Auge Auge würde wieder etwas [1031a] anderes enthalten sein. Es erhellt also, daß nur von der Wesenheit eine Wesensbestimmung existiert. Denn soll auch für die übrigen Kategorien eine Wesensbestimmung sein, so müßte man dieselbe durch Hinzufügung erklären, z. B. für das Qualitative und das Ungerade; denn dies läßt sich ebensowenig ohne die Zahl denken wie das Weibliche ohne das Tier. Mit dem Ausdruck aber ,durch Hinzufügung‘ meine ich solche 252 III. Erste Philosophie: Metaphysik Fälle, in welchen man zweimal dasselbe sagen muß, wie in den genannten. Ist dies aber wahr, so wird es auch für die Verbindung, z. B. ungerade Zahl, kein Wesenswas geben, sondern es verbirgt sich hier, daß die Begriffe nicht genau ausgesprochen werden. Gibt es aber auch hiervon Begriffe, so sind sie es entweder in anderer Weise, oder man muß, wie gesagt, erklären, daß Wesensbestimmung und Wesenswas in mehreren Bedeutungen gebraucht werden; wonach es dann in der einen Bedeutung nur von den Wesenheiten ein Wesenswas und eine Wesensbestimmung geben würde, in einer anderen Bedeutung aber auch von den andern Kategorien. Hieraus ist also klar, daß die Wesensbestimmung der Begriff des Wesenswas ist, und das Wesenswas entweder allein oder vorzugsweise und zuerst und schlechthin für die Wesenheiten gegeben ist. Ob aber jedes einzelne Ding mit seinem Wesenswas identisch ist oder verschieden, muß untersucht werden, weil dies für die Untersuchung der Wesenheit förderlich ist; denn jedes einzelne Ding gilt für nichts anderes als für seine eigene Wesenheit, und das Wesenswas wird eben als die Wesenheit jedes einzelnen bezeichnet. Bei dem nun, was nur akzidentelle Geltung hat, würde man Ding und Wesenswas für verschieden halten, z. B. weißer Mensch für verschieden von weißer-Mensch-sein. Denn wäre dies dasselbe, so würde auch Mensch-sein und weißer-Mensch-sein dasselbe sein; denn Mensch und weißer Mensch ist ja, wie man sagt, dasselbe, also würde auch weißer-Mensch-sein und Mensch-sein dasselbe sein. Aber es folgt nicht mit Notwendigkeit, daß Ding und Wesenswas bei Akzidenzien dasselbe sei, denn in den Prämissen ist nicht auf gleiche Weise das Prädikat mit dem Subjekt identisch. Vielleicht würde man aber dafürhalten, es ergebe sich, daß die Prädikate identisch seien, wenn sie beide in den Prämissen ein Akzidens des Subjektes sind, z. B. weiß-sein und gebildet-sein; aber das glaubt niemand. Ist aber bei demjenigen, was als an sich seiend bezeichnet wird, notwendig das Ding und sein Wesenswas dasselbe? Z. B. wenn es gewisse Wesenheiten gibt, vor denen nicht andere Wesenheiten und Naturen als frühere bestehen, in welcher Weise manche den Ideen Sein zuschreiben? Denn wäre das Gute selbst und das Gut-sein, das Tier und das Tier-sein, das Seiende und das [1031b] Seiende-sein 253 6. Wissenschaft von der Substanz verschieden, so würden andere Wesenheiten und Naturen und Ideen außer den behaupteten vorhanden sein, und diese würden frühere Wesenheiten sein, sofern ja das Wesenswas Wesenheit ist. Sind diese nun getrennt voneinander, so würde es von dem einen keine Wissenschaft geben, und das andere würde nichts Seiendes sein (ich verstehe nämlich unter getrennt sein, wenn weder dem Guten selbst das Gutsein zukommt, noch diesem, daß es als Gutes existiert); denn Wissenschaft findet bei einem jeden Gegenstande dann statt, wenn wir sein Wesenswas erkannt haben. Wie es sich nun aber bei dem Guten verhält, so auf gleiche Weise bei allem anderen; wenn daher das Gut-sein nicht das Gute ist, so ist auch nicht das Seiende-sein das Seiende, noch das Eins-sein das Eins, und auf gleiche Weise wird überhaupt jedes Wesenswas sein oder keines, so daß, wenn das Seiend-sein nicht Seiendes ist, auch kein anderes Wesenswas seiend ist. Ferner, wem das Gut-sein nicht zukommt, das ist nicht gut. Also sind das Gute und Gut-sein, das Schöne und schön-sein notwendig ein und dasselbe und so alles, was nicht in Beziehung auf ein anderes ausgesagt wird, sondern an sich und unbedingt. Denn es genügt schon, wenn dies stattfindet, mag es auch keine Ideen geben; noch mehr aber wohl, wenn es Ideen gibt. Zugleich erhellt, daß sofern es Ideen gibt in der Weise, wie einige behaupten, das Substrat nicht Wesenheit ist; denn diese müssen Wesenheiten sein, aber nicht in Beziehung auf ein Substrat, weil sie sonst nur durch Teilnehmung an etwas anderem existieren würden. Wie nun aus diesen Gründen jedes einzelne Ding und sein Wesenswas eins und dasselbe ist, nicht bloß in akzidenteller Weise, so auch darum, weil ein Ding erkennen heißt sein Wesenswas erkennen. Also auch durch Induktion muß sich beides als identisch erweisen. Bei dem aber, was nur als Akzidens ausgesagt wird, z. B. gebildet oder weiß, ist es nicht wahr zu sagen, daß das Ding selbst und das Wesenswas dasselbe sei, darum weil das Akzidens eine zweifache Bedeutung hat; denn weiß heißt sowohl das, woran das Akzidens haftet, als auch dieses Akzidens selbst. Also sind hier das Wesenswas und das Ding selbst in einer Hinsicht dasselbe, in der andern Hinsicht nicht dasselbe. Denn Mensch-sein und weißer-Mensch-sein ist dem Wesenswas nach nicht dasselbe, sondern nur der Affektion nach ist es dasselbe. 254 III. Erste Philosophie: Metaphysik Unstatthafte Folgerungen würden sich auch ergeben, wenn man für jedes einzelne Wesenswas einen besonderen Namen setzen wollte. Denn dann würde noch außer diesem ein anderes Wesenswas sein, z. B. für das Wesenswas des Pferdes wieder ein anderes Wesenswas. Was hindert denn vielmehr, daß nicht unmittelbar und sogleich manches ein Wesenswas sei, da ja das Wesenswas Wesenheit ist? Ja sogar nicht nur eins ist es mit den an sich seienden Dingen, sondern auch [1032a] ihr Begriff ist derselbe, wie schon aus dem Gesagten erkennbar ist; denn nicht in der Weise des akzidentellen Seins sind Eins-sein und Eins identisch. Ferner, wäre es ein anderes, so würde ein Fortschritt ins Unendliche entstehn; denn das eine wäre dann das Wesenswas des Eins, das andere das Eins selbst, daher dann von jenem wieder dasselbe gelten würde. Daß nun bei demjenigen, was als ein Erstes und ein an sich Seiendes bezeichnet wird, die Wesenheit des Einzelnen mit dem Einzelnen selbst ein und dasselbe ist, das ist offenbar. Die sophistischen Gegengründe aber gegen diese Behauptung werden offenbar durch dieselbe Lösung gehoben, und so auch die Frage, ob Sokrates und Sokratessein dasselbe ist. Denn es macht keinen Unterschied, welche Beispiele jemand zu seiner Frage oder zu seiner Lösung wählt. Inwiefern also das Einzelne und sein Wesenswas dasselbe sind und inwiefern nicht, ist hiermit erklärt. Das Werdende wird teils durch Natur, teils durch Kunst, teils von ungefähr. Alles Werdende aber wird durch etwas und aus etwas und etwas. Etwas aber meine ich nach jeder Kategorie; denn es wird entweder ein bestimmtes dies oder irgendwie beschaffen oder irgendwie groß oder irgendwo. Das natürliche Werden nun ist dasjenige, welches aus der Natur hervorgeht; dasjenige, woraus etwas wird, ist nach unserem Ausdruck der Stoff, das, wodurch es wird, ist etwas von Natur Seiendes, dasjenige, was es wird, ist Mensch, Pflanze oder sonst etwas von dem, was wir im strengsten Sinne als Wesenheiten bezeichnen. Alles aber, was wird, sei es durch Natur, sei es durch Kunst, hat einen Stoff; denn ein jedes Werdende hat die Möglichkeit, sowohl zu sein als auch nicht zu sein, und das ist in einem jeden der Stoff. Überhaupt aber ist sowohl das, woraus etwas wird, wie das, wonach es wird, Natur (denn das 255 6. Wissenschaft von der Substanz Werdende, z. B. Pflanze oder Tier, hat Natur) und ebenso auch das, wodurch etwas wird, nämlich die als formgebend bezeichnete gleichartige Wesenheit; diese aber ist in einem anderen. Denn ein Mensch erzeugt einen Menschen. So also wird durch die Natur das Werdende. Die anderen Arten des Werdens heißen Werktätigkeiten. Alle Werktätigkeiten aber gehen entweder von der Kunst oder von dem Vermögen oder vom Denken aus. Manche darunter geschehen auf ähnliche Weise auch von ungefähr und durch Zufall, so wie es auch bei dem natürlich Werdenden vorkommt; denn auch da gibt es einiges, welches ebensowohl aus Samen wie ohne Samen entsteht. Dieses nun haben wir später zu untersuchen. Durch Kunst [1032b] aber entsteht dasjenige, dessen Form in der Seele vorhanden ist. Form nenne ich das Wesenswas eines jeden Dinges und seine erste Wesenheit. Auch das Entgegengesetzte nämlich fällt gewissermaßen unter dieselbe Form; denn der Privation Wesenheit ist die entgegengesetzte Wesenheit; z. B. Gesundheit ist Wesenheit der Krankheit, denn durch Abwesenheit derselben wird die Krankheit erklärt. Die Gesundheit aber ist der Begriff in der Seele und in der Wissenschaft. Es entsteht nun das Gesunde durch folgenden Gang des Denkens. Da das und das Gesundheit ist, so muß, wenn dieses gesund werden soll, dieses Bestimmte stattfinden, z. B. Gleichmaß. Soll aber dies stattfinden, so muß Wärme vorhanden sein. Und so schreitet man im Denken immer fort, bis man zuletzt zu dem hingeführt hat, was man selbst hervorbringen kann. Dann wird nun die von hier ausgehende und zum Gesundmachen fortschreitende Bewegung Werktätigkeit genannt. Es ergibt sich also, daß gewissermaßen die Gesundheit aus der Gesundheit hervorgeht, und das Haus aus dem Hause, nämlich das Stoffliche aus dem Nichtstofflichen; denn die Heilkunst und die Baukunst ist die Form der Gesundheit und des Hauses, Wesenheit ohne Stoff aber nenne ich das Wesenswas. Das Werden und die Bewegung heißen teils Denken, teils Werktätigkeit; nämlich die vom Prinzip und der Form ausgehende Bewegung Denken, dagegen diejenige, welche von dem ausgeht, was für das Denken das Letzte ist, heißt Werktätigkeit; dasselbe gilt auch von jedem anderen, das zwischen dem Anfangs- und Endpunkte liegt. Ich meine z. B. so: Wenn dieser gesund werden soll, so wird er in Gleichmaß kommen müssen. 256 III. Erste Philosophie: Metaphysik Was heißt nun in Gleichmaß kommen? Das und das. Dies wird aber stattfinden, wenn er in Wärme kommt. Was heißt nun aber dies? Das und das. Dies ist aber dem Vermögen nach vorhanden, und dies steht bereits in unserer Gewalt. Das Werktätige nun und das, wovon die Bewegung des Gesundmachens ausgeht, ist, wenn es durch Kunst geschieht, die Form in der Seele; geschieht es aber von ungefähr, so liegt der Ursprung der Bewegung in demjenigen, was bei dem der Kunst gemäß Werktätigen den Anfang der Tätigkeit ausmacht; wie man beim Heilen den Anfang etwa mit dem Erwärmen und dies durch Reibung hervorbringt. Die Wärme nun in dem Körper ist entweder ein Teil der Gesundheit, oder es folgt ihr selbst unmittelbar oder durch mehrere Mittelglieder etwas der Art, was ein Teil der Gesundheit ist. Dieses Werktätige ist das äußerste und ist selbst gewissermaßen ein Teil der Gesundheit; ebenso sind es beim Hause z. B. die Steine und so bei allem andern. Es ist also, wie man gewöhnlich sagt, unmöglich, daß etwas werde, wenn nicht schon etwas vorher vorhanden war. Daß also ein Teil notwendig vorhanden sein muß, ist erkennbar; denn der Stoff ist ein Teil, er ist in dem [1033a] Werdenden vorhanden und er wird. Aber auch von dem im Begriff Enthaltenen muß etwas vorher vorhanden sein. So geben wir bei den ehernen Kreisen auf beide Weisen an, was sie sind, sowohl indem wir den Stoff bezeichnen, daß es Erz ist, als auch die Form, daß es eine solche Figur ist, und dies ist die erste Gattung, in welcher es gesetzt wird. Der eherne Kreis enthält also in seinem Begriffe den Stoff. Einiges nun, was aus etwas als seinem Stoff wird, nennt man, wenn es geworden ist, nicht mit dem Namen des Stoffes selbst, sondern nur nach dem Namen desselben, z. B. die Bildsäule nicht Stein, sondern steinern. Hingegen der Mensch, der gesund wird, wird nicht als das bezeichnet, woraus er wird. Der Grund davon aber liegt darin, daß das Werdende sowohl aus der Privation wie aus dem Substrat wird, welches wir Stoff nennen; z. B. sowohl der Mensch wie der Kranke wird gesund. Indessen sagt man doch mehr, daß etwas aus der Privation wird, z. B. aus krank gesund, als aus Mensch. Darum nennt man nicht den Gesunden einen Kranken, wohl aber einen Menschen, und man nennt auch den Menschen gesund. Wo aber die Privation undeutlich und unbenannt ist, wie z. B. beim Erz der Mangel irgendeiner Gestalt oder bei Backsteinen 257 6. Wissenschaft von der Substanz und Holz der Mangel der Form des Hauses, da scheint das Werdende aus diesen hervorzugehn, wie dort der Gesunde aus dem Kranken. Wie also dort das Gewordene nicht den Namen dessen führt, woraus es geworden ist, so heißt auch hier die Bildsäule nicht Holz, sondern mit einer Umbildung des Wortes hölzern, und ehern, aber nicht Erz, steinern, aber nicht Stein, und das Haus backsteinern, nicht Backsteine. Denn wenn man die Sache genau ins Auge faßt, so würde man nicht einmal schlechthin sagen können, daß die Bildsäule aus Holz oder das Haus aus Backsteinen wird; denn das Werdende muß werden, indem sich dabei dasjenige, woraus es wird, verändert, aber nicht bleibt. Um deswillen drückt man sich so aus. (Met. VII 1-7) [1037b8] Nun wollen wir zunächst von der Wesensbestimmung handeln, insoweit dieser Gegenstand nicht schon in der Analytik erörtert ist. Die Frage nämlich, welche dort aufgestellt wurde, ist für die Untersuchung über die Wesenheit förderlich; ich meine die Frage, wodurch denn dasjenige eins ist, dessen Begriff wir als Wesensbestimmung setzen, z. B. beim Menschen zweifüßiges Tier - denn das mag sein Begriff sein -, wodurch also ist dieses eins und nicht vieles, nämlich Tier und Zweifüßiges? Denn in dem Falle, daß wir Mensch und weiß setzen, ist es vieles, sofern nicht eines an dem andern stattfindet, eines aber erst dann, wenn es stattfindet und das Substrat, Mensch, eine bestimmte Affektion erfährt; dann nämlich wird es eins und ist der weiße Mensch. In dem Falle aber, von dem wir handeln - zweifüßiges Tier -, nimmt nicht das eine teil am anderen; denn das Geschlecht nimmt ja nicht teil an seinen Unterschieden, sonst würde dasselbe zugleich an dem Entgegengesetzten teilnehmen, da die Unterschiede, durch welche das Geschlecht sich unterscheidet, entgegengesetzte sind. Doch selbst angenommen, es nehme teil, so ist der Fall derselbe, sobald der Unterschiede mehrere sind, z. B. befußt, zweifüßig, ungeflügelt. Denn wodurch sind diese denn eines und nicht vieles? Doch nicht dadurch, daß sie darin vorhanden sind; denn auf diese Weise würde aus allem eins werden. Eins aber muß alles sein, was in der Wesensbestimmung enthalten ist; denn die Wesensbestimmung ist ein einheitlicher Begriff und Begriff der Wesenheit, also muß sie der Begriff von einem sein. Denn es bezeichnet ja auch die Wesenheit, wie wir behaupten, ein Eines und ein individuelles Etwas. 258 III. Erste Philosophie: Metaphysik Wir müssen nun zuerst die aus Einteilungen hervorgehenden Wesensbestimmungen ins Auge fassen. Es findet sich nämlich in der Wesensbestimmung nichts weiter als das erste Geschlecht und die Unterschiede; die anderen Geschlechter bestehen aus dem ersten und den dazukommenden Unterschieden; z. B. das erste Geschlecht ist Tier, das nächste zweifüßiges Tier, und weiter zweifüßiges ungeflügeltes Tier, und auf die gleiche Weise [1038a] verhält es sich, wenn der Ausdruck noch mehrere Glieder enthält. Überhaupt ist es gleichgültig, ob er viele oder wenige enthält, also auch, ob wenige oder bloß zwei; von den zweien aber ist das eine der Unterschied, das andere das Geschlecht; z. B. bei zweifüßiges Tier ist Tier das Geschlecht, das andere der Unterschied. Wenn nun das Geschlecht schlechthin nicht außerhalb der Arten des Geschlechtes existiert oder, sofern es existiert, nur als Stoff (denn die Stimme ist das Geschlecht und der Stoff, die Unterschiede aber bringen aus ihr die Arten, die einzelnen Sprachelemente, hervor), so ist offenbar, daß die Wesensbestimmung der aus den Unterschieden hervorgehende Begriff ist. Aber man muß auch wirklich den Unterschied in seine Unterschiede teilen; z. B. vor Tier ist befußt ein Unterschied; man muß nun weiter den Unterschied des befußten Tieres scheiden, insofern es befußt ist. Also darf man, wenn man recht einteilen will, nicht sagen: Das Befußte ist teils beflügelt, teils unbeflügelt - diese Einteilung würde man nur aus Unfähigkeit anstellen - sondern vielmehr: Das eine hat gespaltene, das andere ungespaltene Füße; denn dies sind Unterschiede des Fußes, und gespaltene Füße zu haben ist eine besondere Art der Begabung mit Füßen. Und so wird man immer fortschreiten, bis man zu dem gelangt, was keine weitere Teilung in Unterschiede zuläßt. Dann werden sich so viele Arten von Fuß ergeben, wie Unterschiede vorhanden waren, und der befußten Tiere so viele Arten, wie Unterschiede waren. Wenn dem nun so ist, so erhellt, daß der letzte Unterschied die Wesenheit und die Wesensbestimmung der Sache sein muß, wofern man nicht in den Begriffen öfters dasselbe sagen soll, was ja überflüssig ist. Und doch würde sich eine solche Wiederholung ergeben; denn wenn man sagt: befußtes zweifüßiges Tier, so sagt man nichts anderes als ein Tier, welches Füße hat, und zwar zwei Füße, und teilt man hier wieder nach dem eigentümlichen Unterschied, so wird man öfter dasselbe sagen, so oftmal, als wie viele Unterschiede 259 6. Wissenschaft von der Substanz vorhanden sind. Wofern man also den Unterschied selbst in seinen Unterschied teilt, so wird der eine und letzte Unterschied die Formbestimmung und das Wesen sein; wofern man dagegen nach akzidentellen Unterschieden einteilt, z. B. wenn man einteilt: Das Befußte ist teils schwarz, teils weiß, so werden so viele Unterschiede sein, wie Einteilungen vorgenommen sind. Offenbar also ist die Wesensbestimmung der aus den Unterschieden gebildete Begriff, und zwar bei richtiger Einteilung, der aus dem letzten dieser Unterschiede. Dies würde sich deutlich zeigen, wenn jemand solche Wesensbestimmungen umstellen wollte, z. B. die von Mensch, und sagte ein zweifüßiges, befußtes Tier; denn das ,befußt‘ ist dann überflüssig, da schon zweifüßig angegeben ist. Eine Stellung aber und Ordnung findet in der Wesenheit nicht statt; denn wie sollte man denken, daß in ihr das eine früher, das andere später sei? Über die aus Einteilungen hervorgehenden Wesensbestimmungen und ihre Beschaffenheit mag zunächst soviel gesagt sein. (Met. VII 12) [1041a6] Als was aber und wie beschaffen man die Wesenheit zu bezeichnen habe, das wollen wir noch einmal sagen, indem wir dabei einen anderen Ausgangspunkt nehmen; denn vielleicht werden wir daraus auch Aufklärung über jene Wesenheit erhalten, welche von den sinnlichen Wesenheiten getrennt und selbständig ist. Da nun die Wesenheit ein Prinzip und eine Ursache ist, so müssen wir von hier ausgehen. Man untersucht aber das Warum immer so, daß man fragt, warum etwas einem andern zukommt; denn wenn man untersucht, weshalb der gebildete Mensch gebildeter Mensch ist, so heißt dies entweder das Ausgesprochene selbst untersuchen, weshalb der gebildete Mensch gebildeter Mensch ist, oder etwas anderes. Untersuchen nun, weshalb etwas es selbst ist, heißt nichts untersuchen. Denn das Daß und das Sein muß als bekannt und offenbar gegeben sein, ich meine z. B., daß der Mond sich verfinstert. Daß aber etwas es selbst ist, dafür gibt es in allen Fällen eine Erklärung und einen Grund, z. B. weshalb der Mensch Mensch und der gebildete gebildet ist. Es müßte denn jemand sagen: Weil jedes in Beziehung auf sich selbst unteilbar ist. Dies aber ist eben seine Einheit, und dies ist allen gemeinschaftlich und kurz anzugeben. Wohl aber würde man untersuchen, weshalb 260 III. Erste Philosophie: Metaphysik der Mensch ein so und so beschaffenes Tier ist. Dann ist aber offenbar, daß man nicht untersucht, warum der Mensch Mensch ist, vielmehr weshalb etwas einem andern zukommt. Daß es ihm aber zukommt, muß offenbar sein, wo nicht, so würde man gar nichts zu untersuchen haben. Z. B. weshalb donnert es? heißt: weshalb entsteht ein Schall in den Wolken? Also ist der Gegenstand der Untersuchung, weshalb etwas einem andern zukommt. Und ebenso: weshalb ist dies, z. B. Ziegel und Steine, ein Haus? Es ist also offenbar, daß man nach der Ursache fragt (dies ist, um es allgemein begrifflich auszudrücken, das Wesenswas), welche bei einigen der Zweck ist, z. B. etwa beim Haus oder Bett, bei anderen aber das erste Bewegende; denn auch dieses ist Ursache. Aber eine solche Ursache sucht man beim Entstehen und Vergehen, die andere auch beim Sein. Der Gegenstand der Untersuchung ist dann besonders dunkel, wenn die Frage nicht so ausgedrückt ist, daß etwas von einem andern ausgesagt wird. [1041b] Z. B. man fragt, warum der Mensch ist, darum, weil dies einfach und schlechthin ausgedrückt ist, aber man nicht näher unterscheidet, daß dieses Ding das und das ist. Man muß aber erst näher gliedern, ehe man die Untersuchung anstellt; wo nicht, so wird man zugleich gewissermaßen untersuchen, gewissermaßen auch nicht untersuchen. Indem aber das Sein gegeben und vorausgesetzt sein muß, so geht die Untersuchung offenbar darauf, weshalb der Stoff diese bestimmte Beschaffenheit hat. Z. B. weshalb ist dies ein Haus? Weil ihm das zukommt, worin die Wesenheit eines Hauses besteht. Warum ist dieser ein Mensch? oder worin hat dieser Körper diese bestimmte Beschaffenheit? Man sucht also die Ursache für den Stoff, diese ist die Formbestimmung, durch welche er etwas Bestimmtes ist, und das ist die Wesenheit. Daher ist denn offenbar, daß bei dem Einfachen keine Untersuchung und keine Lehre stattfindet, sondern eine andere Art der Erforschung. Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eins ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist noch etwas anderes außer den Elementen. Die Silbe nämlich ist nicht einerlei mit ihren Elementen, das ba nicht einerlei mit b und a, ebensowenig Fleisch mit Feuer und Erde; denn nach der Auflösung ist das eine nicht mehr, z. B. das Fleisch und die Silbe, die Sprachelemente aber sind noch, und ebenso das Feuer und die Erde. Also ist die Silbe etwas außer 261 6. Wissenschaft von der Substanz diesen, nicht bloß nämlich die Sprachelemente, Vokale und Konsonanten, sondern auch noch etwas anderes, und das Fleisch ist nicht nur Feuer und Erde oder Warmes und Kaltes, sondern auch etwas anderes. Ist es nun notwendig, daß jenes andere entweder Element sei oder aus Elementen bestehe, so wird, wenn man annimmt, es sei Element, sich derselbe Fall wiederholen; aus diesem Element nämlich und aus Feuer und Erde wird das Fleisch bestehen und noch aus etwas anderem, so daß es ins Unendliche fortgehen würde. Besteht es aber aus Elementen, so wird es offenbar nicht aus einem, sondern aus mehreren bestehen als jenes selbst, so daß wir hier wieder dasselbe zu sagen haben würden, wie bei dem Fleisch oder der Silbe. Man wird daher die Ansicht fassen, daß dies etwas Bestimmtes sei und nicht Element, und daß es Ursache davon sei, daß dies Silbe ist und dies Fleisch. Ähnlich verhält es sich auch bei den übrigen. Das aber nun ist die Wesenheit eines jeden, da es die erste Ursache des Seins ist. Manche Dinge nun freilich sind nicht Wesenheiten; bei allen aber, die naturgemäß oder durch die Natur als Wesenheiten bestehn, würde sich diese Natur als Wesenheit zeigen, die nicht Element ist, sondern Prinzip. Element aber ist das, worin etwas als in seinen stofflichen Inhalt zerlegt wird; z. B. Element der Silbe ist das a und das b. (Met. VII 17) [1045a7] Um aber auf die erwähnte Schwierigkeit in betreff der Wesensbestimmungen und der Zahlen zurückzukommen: was ist die Ursache, daß sie eines sind? Denn bei allem, was mehrere Teile hat und als Ganzes nicht wie eine bloße Anhäufung besteht, sondern wo das Ganze etwas außer den Teilen ist, gibt es eine Ursache der Einheit; wie ja auch bei den Körpern bald Berührung Ursache der Einheit ist, bald Klebrigkeit, bald irgendeine andere Affektion dieser Art. Die Wesensbestimmung aber ist einig, nicht durch Verbindung, wie etwa die Ilias, sondern dadurch, daß sie Wesensbestimmung eines Einigen ist. Was ist es nun also, was den Menschen zu einem einigen macht? Wodurch ist er Eines und nicht Vieles, z. B. lebendes Wesen und zweifüßiges, zumal wenn es, wie einige behaupten, ein lebendes- Wesen-an-sich und ein Zweifüßiges-an-sich gibt? Warum ist dann der Mensch nicht jenes beides selbst, nämlich lebendes Wesen und Zweifüßiges, wonach dann Menschen nicht durch Teilnahme am 262 III. Erste Philosophie: Metaphysik Menschen-an-sich, noch durch Teilnahme an Einem sein würden, sondern an den beiden, am lebenden Wesen und am Zweifüßigen? Überhaupt wäre dann der Mensch nicht Eines, sondern Mehreres, nämlich lebendes Wesen und Zweifüßiges. Wenn man nun den Gang einschlägt, den sie bei ihren Bestimmungen und Aussagen einzuschlagen pflegen, so ist es offenbar unmöglich, den Grund anzugeben und die Schwierigkeit zu lösen. Ist aber, wie wir behaupten, das eine Stoff, das andere Form, das eine dem Vermögen, das andere der Wirklichkeit nach, so scheint in der Frage gar keine Schwierigkeit mehr zu liegen. Denn die Frage ist dieselbe, wie wenn die Wesensbestimmung von Kleid wäre rundes Erz; denn dieser Name würde Zeichen des Begriffes sein, und der Gegenstand der Frage ist also, was denn die Ursache davon ist, daß das Erz und das Runde Eines ist. Diese Schwierigkeit aber verschwindet nun, da das eine Stoff, das andere Form ist. Dafür nun, daß das dem Vermögen nach Seiende der Wirklichkeit nach ist, ist da, wo ein Werden stattfindet, nichts anderes als das Hervorbringende Ursache. Denn dafür, daß die Kugel dem Vermögen nach Kugel in Wirklichkeit ist, gibt es keine andere Ursache, sondern dies war eben das Wesenswas für ein jedes von beiden. Der Stoff aber ist teils denkbar, teils sinnlich wahrnehmbar, und immer ist im Begriff das eine Stoff, das andere Wirklichkeit, z. B. der Kreis eine ebene Figur. Was aber keinen Stoff hat, weder denkbaren noch sinnlich wahrnehmbaren, das [1045b] ist unmittelbar ein Eines, so wie auch ein Seiendes, das bestimmte Etwas nämlich, das Qualitative, das Quantitative. Darum findet sich auch in den Wesensbestimmungen weder das Seiende noch das Eins, und das Wesenswas ist unmittelbar ein Eines so wie auch ein Seiendes. Darum gibt es auch für keines unter diesen eine andere Ursache, weshalb es ein Eines oder ein Seiendes ist; denn unmittelbar ist jedes ein Seiendes und ein Eines, nicht als ob sie im Seienden und im einen als den allgemeinen Gattungsbegriffen enthalten wären, noch auch als ob diese selbständig abtrennbar neben dem Einzelnen existierten. Wegen dieser Schwierigkeit sprechen einige von einer Teilnahme, aber was denn die Ursache dieser Teilnahme und was das Teilnehmen selbst bedeute, darüber sind sie in Verlegenheit; andere behaupten ein Zusammensein, wie Lykophron behauptet, die Wissenschaft sei ein 263 6. Wissenschaft von der Substanz Zusammensein des Wissens und der Seele; andere sehen das Leben als eine Zusammensetzung oder Verbindung der Seele mit dem Leibe an. Und doch ist in allen Fällen dasselbe Verhältnis. Das Gesundsein nämlich müßte ein Zusammensein oder eine Verknüpfung oder eine Verbindung sein der Seele und Gesundheit, und daß das Erz dreiekkig ist, eine Zusammensetzung von Erz und dreieckig, und daß etwas weiß ist, eine Zusammensetzung von Fläche und Weiße. Der Grund dieser Ansichten und Zweifel aber liegt darin, daß man für Vermögen und Wirklichkeit nach einem Einheit bringenden Begriff und einem Unterschied sucht. Es ist aber vielmehr, wie gesagt, der nächste Stoff und die Form dasselbe, nur das eine dem Vermögen, das andere der Wirklichkeit nach. Also verhält es sich mit jener Frage geradeso, wie wenn man bei dem Eins selbst nach dem Grund fragen wollte, weshalb es eines ist; denn ein jedes ist ein Eines, und das dem Vermögen nach Seiende ist mit dem in Wirklichkeit Seienden in gewisser Weise einerlei. Es gibt also weiter keine Ursache als die von dem Vermögen zur Wirklichkeit bewegende. Was aber keinen Stoff hat, das ist schlechthin ein Eines. (Met. VIII 6) [1045b27] Über das also, was im eigentlichen Sinne seiend ist und worauf alle andern Aussagen des Seins zurückgeführt werden, ist gehandelt worden, nämlich über die Wesenheit. Denn nach dem Begriff der Wesenheit wird alles übrige als seiend bezeichnet, das Quantitative, das Qualitative und das übrige in dieser Weise Ausgesagte; denn dies alles muß, wie wir in den obigen Erörterungen gesagt haben, den Begriff der Wesenheit enthalten. Da nun das Seiende einmal als ein Was oder ein Qualitatives oder ein Quantitatives bezeichnet, andererseits nach Vermögen und Wirklichkeit und nach dem Werk unterschieden wird, so wollen wir auch über Vermögen und Wirklichkeit genauere Bestimmungen geben. Und zwar zuerst über Vermögen in dem Sinne, der zwar der eigentlichste, aber für [1046a] unseren gegenwärtigen Zweck nicht dienlich ist. Denn Vermögen und Wirklichkeit erstreckt sich weiter als nur auf das in Bewegung Befindliche. Doch nachdem wir über Vermögen in diesem Sinne werden gesprochen haben, wollen wir bei den Bestimmungen über die Wirklichkeit auch über die übrigen uns erklären. 264 III. Erste Philosophie: Metaphysik Daß Vermögen und vermögend sein in mehreren Bedeutungen gebraucht wird, haben wir schon andern Ortes abgehandelt. Von diesen Bedeutungen mögen alle diejenigen übergangen werden, welche nach bloßer Namensgleichheit dazugehören; denn manches heißt nach einer bloßen Ähnlichkeit Vermögen, wie wir in der Geometrie etwas als vermögend oder als unvermögend bezeichnen, weil es auf gewisse Weise ist oder nicht ist. Diejenigen Vermögen aber, welche derselben Art angehören, sind alle gewisse Prinzipien und heißen so nach ihrer Beziehung auf ein erstes Vermögen, welches ein Prinzip ist der Veränderung in einem anderen oder insofern dies ein anderes ist. So gibt es nämlich ein Vermögen des Leidens als ein in dem Leidenden selbst wohnendes Prinzip des Leidens von einem anderen oder insofern dies ein anderes ist. Ein anderes dagegen ist ein Zustand der Unfähigkeit, zum Schlechteren bestimmt und von einem anderen oder insofern dies ein anderes ist als von einem Veränderungsprinzip vernichtet zu werden. Denn in allen diesen Begriffen findet sich der Begriff des ersten Vermögens. Ferner werden diese als Vermögen bezeichnet entweder bloß des Tuns oder Leidens oder des auf richtige Weise Tuns und Leidens; also auch in den Begriffen dieser Vermögen finden sich gewissermaßen die Begriffe der früheren Vermögen. Hieraus erhellt also, daß in gewissem Sinne das Vermögen des Tuns und des Leidens eines ist (denn vermögend ist etwas, sowohl weil es selbst das Vermögen hat zu leiden, wie weil ein anderes das Vermögen hat, von ihm zu leiden), in gewissem Sinne ein anderes ist. Denn das eine findet sich in dem Leidenden; denn darum, weil es ein gewisses Prinzip hat und weil der Stoff selbst ein gewisses Prinzip ist, leidet das Leidende und das eine vom anderen. Das Fette nämlich ist brennbar, das auf diese bestimmte Weise Nachgebende zerbrechbar, und in ähnlicher Weise auch bei dem übrigen. Das andere Vermögen dagegen ist in dem Tätigen, z. B. das Warme und die Baukunst, das eine in dem Wärmenden, das andere in dem Bauverständigen. Sofern daher beides von Natur vereinigt ist, leidet es nichts durch sich selbst; denn es ist dann nur Eins und nicht ein Anderes. Unvermögen und unvermögend ist die einem solchen Vermögen entgegengesetzte Privation; also hat jedesmal Vermögen und Unvermögen dasselbe Objekt auf dieselbe Weise. Von Privation aber spricht man in mehreren Bedeutungen; denn man schreibt sie sowohl dem 265 6. Wissenschaft von der Substanz zu, was etwas nicht hat, wie dem, was etwas nicht hat, obgleich es dazu von Natur geeignet ist, entweder wenn es überhaupt, oder wenn es zu der Zeit, wo es zu haben geeignet ist, dasselbe nicht hat, und entweder wenn es auf eine bestimmte Weise, z. B. ganz und gar, oder auch wenn es auf irgendeine beliebige Weise dasselbe nicht hat. In manchen Fällen schreiben wir Privation dem zu, das, von Natur geeignet etwas zu haben, durch erlittene Gewalt dasselbe nicht hat. (Met. IX 1) [1048a25] Nachdem nun von dem in Beziehung auf Bewegung ausgesagten Vermögen gehandelt ist, wollen wir über die wirkliche Tätigkeit bestimmen, was und wie beschaffen sie ist. Bei dieser Erörterung wird nämlich zugleich erhellen, daß wir vermögend nicht nur das nennen, was zu bewegen oder von einem bewegt zu werden fähig ist, sei es schlechthin oder auf eine bestimmte Weise, sondern möglich auch noch in einem anderen Sinne gebrauchen. Darum wollen wir in der Untersuchung auch dies durchgehen. Unter Wirklichkeit versteht man, daß die Sache existiert, nicht in dem Sinne, wie man sagt, sie sei dem Vermögen nach (nämlich dem Vermögen nach sagen wir z. B., es sei im Holze ein Hermes und in der ganzen Linie ihre Hälfte, weil sie von ihr genommen werden könnte, und einen Denker dem Vermögen nach nennen wir auch den, der eben nicht in Betrachtung begriffen ist, sofern er nur fähig ist dieselbe anzustellen), sondern der wirklichen Tätigkeit nach. Was wir meinen, wird beim Einzelnen durch Induktion deutlich werden, und man muß nicht für jedes eine Begriffsbestimmung suchen, sondern auch das Analoge in einem Blick vereinigen. Wie sich nämlich das Bauende [1048b] verhält zum Baukünstler, so verhält sich auch das Wachende zum Schlafenden, das Sehende zu dem, was die Augen verschließt, aber doch den Gesichtssinn hat, das aus dem Stoff Ausgeschiedene zum Stoff, das Bearbeitete zum Unbearbeiteten. In diesem Gegensatz soll durch das erste Glied die Wirklichkeit, durch das andere das Vermögen bezeichnet werden. Doch sagt man nicht von allem in gleichem Sinne, daß es der wirklichen Tätigkeit nach sei, ausgenommen der Analogie nach, indem so wie dies in diesem ist oder zu diesem sich verhält, so jenes in jenem ist oder sich zu jenem verhält; einiges nämlich verhält sich wie Bewegung zum Vermögen, 266 III. Erste Philosophie: Metaphysik anderes wie Wesenheit zu einem Stoff. In einem anderen Sinne spricht man auch beim Unendlichen und beim Leeren und bei anderen Dingen dieser Art von Vermögen und Wirklichkeit als bei den meisten Dingen, z. B. dem Sehenden, dem Gehenden und dem Gesehenen. Denn dies kann zuweilen auch schlechthin in Wahrheit ausgesagt werden; denn gesehen nennt man etwas teils, weil es wirklich gesehen wird, teils, weil es gesehen werden kann. Das Unendliche aber ist nicht in der Weise dem Vermögen nach, daß es einmal der Wirklichkeit nach selbständig abgetrennt existieren werde, sondern nur für die Erkenntnis. Denn daß die Teilung nie aufhört, dies ergibt die Bestimmung, daß diese Wirklichkeit nur dem Vermögen nach, aber nicht in selbständiger Abtrennung besteht. Von den Handlungen, die eine Grenze haben, enthält keine ein Ziel, sondern sie betreffen nur das zum Ziel Führende. So ist z. B. das Ziel des Abmagerns die Magerkeit, aber wenn sich das Abmagernde in einer solchen Bewegung befindet, ohne mit dem Ziel der Bewegung zusammenzufallen, so ist dieses keine Handlung oder wenigstens keine vollendete, denn sie enthält kein Ziel; jene dagegen, in welcher das Ziel enthalten ist, ist auch Handlung. So kann man wohl sagen: er sieht und hat zugleich gesehen, er überlegt und hat zugleich überlegt, er denkt und hat zugleich gedacht, aber man kann nicht sagen: er lernt und hat zugleich gelernt, er wird gesund und ist zugleich gesund geworden. Dagegen: er lebt gut und hat zugleich gut gelebt, er ist glücklich und ist zugleich glücklich gewesen. Wo nicht, so hätte er einmal damit aufhören müssen, wie wenn einer sich abmagert; nun ist dem aber nicht so, sondern er lebt und hat gelebt. Von diesen Dingen muß man also die einen als Bewegungen, die andern als wirkliche Tätigkeiten bezeichnen. Jede Bewegung ist unvollendet, z. B. Abmagerung, Lernen, Gehen, Bauen. Dieses sind Bewegungen, und zwar unvollendete; denn einer kann nicht zugleich gehen und gegangen sein, oder bauen und gebaut haben, oder werden und geworden sein, oder sowohl bewegen als auch bewegt haben, sondern ein anderes bewegt und ein anderes hat bewegt. Dagegen kann dasselbe Wesen zugleich sehen und gesehen haben, zugleich denken und gedacht haben. Einen Vorgang von dieser Art nenne ich wirkliche Tätigkeit, einen von jener Art Bewegung. Aus diesen und derartigen Betrachtungen möge sich uns deutlich erwie- 267 6. Wissenschaft von der Substanz sen haben, was und wie beschaffen das der wirklichen Tätigkeit nach Seiende ist. (Met. IX 6) [1049b4] Nach der oben gegebenen Bestimmung über die verschiedenen Bedeutungen von früher ist offenbar, daß die Wirklichkeit früher ist als das Vermögen; ich meine hierbei nicht nur als das vorher bestimmte Vermögen, welches als Prinzip bezeichnet wird der Veränderung in einem Anderen, insofern dies ein Anderes ist, sondern überhaupt als jedes Prinzip der Bewegung oder Ruhe. Denn auch die Natur gehört zu demselben Geschlecht wie das Vermögen, da sie ein bewegendes Prinzip ist, aber nicht in einen anderen, sondern in einem Ding selbst, insofern es es selbst ist. In Vergleich mit jedem solchen Vermögen ist die Wirklichkeit früher sowohl dem Begriff als der Wesenheit nach; der Zeit nach ist sie gewissermaßen früher, gewissermaßen auch nicht. Daß sie nun dem Begriff nach früher ist, ist offenbar. Denn das in vollem Sinne Vermögende heißt vermögend darum, weil es in wirkliche Tätigkeit treten kann; ich meine z. B.: baukundig ist das, was zu bauen vermag, sehfähig das, was zu sehen, sichtbar, was gesehen zu werden vermag. Dasselbe gilt auch bei dem übrigen, so daß notwendig der Begriff und die Erkenntnis der Wirklichkeit dem Begriff und der Erkenntnis des Vermögens vorausgehen muß. Der Zeit nach früher aber ist es auf diese Weise: das der Art nach Identische ist früher in wirklicher Tätigkeit, aber nicht das der Zahl nach Identische. Ich meine dies so: im Vergleich mit diesem bestimten Menschen, der schon in Wirklichkeit ist, und mit dem Getreide und dem Sehenden ist der Zeit nach früher der Stoff und der Same und das Sehfähige, welche zwar dem Vermögen nach Mensch und Getreide und sehend sind, aber noch nicht in Wirklichkeit. Aber der Zeit nach früher als dieses ist anderes in Wirklichkeit Seiendes, aus welchem dies wurde; denn was in Wirklichkeit ist, wird jedesmal aus dem dem Vermögen nach Seienden durch etwas, das in Wirklichkeit ist, z. B. der Mensch durch einen Menschen, der Gebildete durch einen Gebildeten, indem jedesmal etwas als erstes bewegt; das Bewegende aber ist schon in Wirklichkeit. Es ist aber in der Erörterung über die Wesenheit gesagt, daß das Werdende immer aus etwas etwas wird und durch etwas, und dieses der Art nach dasselbe ist. Darum 268 III. Erste Philosophie: Metaphysik gilt es auch für unmöglich, daß jemand ein Baukünstler sei, ohne etwas gebaut zu haben, oder ein Zitherspieler, ohne etwas auf der Zither gespielt zu haben; denn wer das Zitherspiel erlernt, der lernt es durch Spielen auf der Zither, und ebenso auch die anderen. Daher entstand denn der sophistische Beweis, daß jemand, ohne die Wissenschaft zu besitzen, doch das hervorbringen solle, worauf die Wissenschaft geht; denn wer etwas lernt, hat es noch nicht. Weil aber von dem, was wird, schon etwas geworden, von dem, was bewegt wird, schon etwas bewegt ist, wie dies in der Abhandlung über die Bewegung erwiesen [1050a] ist, so muß wohl notwendig der Lernende auch schon etwas von der Wissenschaft besitzen. Also auch insofern erhellt, daß auch so, dem Entstehen und der Zeit nach, die Wirklichkeit früher ist als das Vermögen. Aber auch der Wesenheit nach ist sie es. Erstens weil das, was der Entstehung nach später ist, der Form und der Wesenheit nach früher ist, z. B. der Mann früher als das Kind, der Mensch früher als der Same; denn das eine hat schon die Form, das andere aber nicht. Ferner darum, weil alles, was entsteht, auf ein Prinzip und ein Ziel hingeht; Prinzip nämlich ist das Weswegen, und um des Zieles willen ist das Werden. Ziele aber ist die Wirklichkeit, und um ihretwillen erhält man das Vermögen; denn nicht, um den Gesichtssinn zu haben, sehen die Tiere, sondern um zu sehen, haben sie den Gesichtssinn. Ebenso hat man die Baukunst, um zu bauen, die Denkkraft, um zu denken, aber man denkt nicht, um Denkkraft zu erlangen, es sei denn zur Übung. Dann aber denkt man nicht eigentlich, sondern tut es nur so zur Übung [oder weil man nichts zu denken braucht]. Ferner ist der Stoff dem Vermögen nach, weil er zur Form gelangen kann; sobald er aber in Wirklichkeit ist, dann ist er in der Form. Ebenso auch bei dem übrigen, auch bei dem, dessen Ziel Bewegung ist. Wie daher die Lehrer das Ziel erreicht zu haben glauben, wenn sie ihren Schüler in wirklicher Tätigkeit zeigen, ebenso ist es auch in der Natur. (Denn wäre es nicht so, so verfiele man in den Hermes des Pauson; denn es würde bei der Wissenschaft ebenso wie bei jenem Hermes unerkennbar sein, ob sie außen oder innen sei.) Denn das Werk ist Zweck, die Wirklichkeit aber ist das Werk. Daher ist auch der Name Wirklichkeit von Werk abgeleitet und zielt hin auf Vollendung. Indem nun in einigen Fällen das Letzte der Gebrauch ist, wie 269 6. Wissenschaft von der Substanz z. B. beim Gesichtssinn das Sehen, und außer diesem kein von dem Sehen unterschiedenes Werk entsteht, in anderen aber eines entsteht, z. B. durch die Baukunst außer dem Bauen selbst das Haus: so ist um nichts weniger die wirkliche Tätigkeit in dem einen Falle Zweck, in dem andern Falle mehr Zweck als das Vermögen. Denn das Bauen ist in dem, was gebaut wird, und wird und ist zugleich mit dem Gebäude. Bei demjenigen nun also, bei welchem das Entstehende etwas anderes neben und außer dem Gebrauch ist, bei diesem ist die wirkliche Tätigkeit in dem, was hervorgebracht wird, z. B. das Bauen in dem, was gebaut wird, das Weben in dem, was gewebt wird, und ebenso bei dem übrigen, überhaupt die Bewegung in dem, was bewegt wird; bei dem aber, bei welchem es nicht neben der wirklichen Tätigkeit ein Werk gibt, ist die wirkliche Tätigkeit in ihm selbst, z. B. das Sehen in dem Sehenden, das Denken in dem Denkenden, das [1050b] Leben in der Seele, und darum auch die Glückseligkeit, da diese ein Leben von einer bestimmten Beschaffenheit ist. Hieraus erhellt also, daß die Wesenheit und die Form wirkliche Tätigkeit ist. Aus diesem Grunde also ist offenbar der Wesenheit nach die wirkliche Tätigkeit früher als das Vermögen, und, wie gesagt, der Zeit nach geht immer eine wirkliche Tätigkeit vor der anderen voraus bis zu der Wirklichkeit des immerfort ursprünglich Bewegenden. Aber auch in strengerem Sinne kommt der Wirklichkeit Sein zu als dem Vermögen; denn das Ewige ist der Wesenheit nach früher als das Vergängliche, nichts Ewiges aber ist nur dem Vermögen nach. Der Grund ist dieser. Jedes Vermögen geht zugleich auf den Gegensatz; denn was nicht vermag zu sein, das kann sich auch nicht bei irgendeinem finden, aber jedes, das zu sein vermag, das kann auch nicht wirklich sein. Was also zu sein vermag, das kann sowohl sein als nicht sein, und hat also als eins und dasselbe das Vermögen sowohl zu sein als nicht zu sein. Was aber vermag nicht zu sein, bei dem ist möglich, daß es nicht sei. Was aber möglicherweise nicht sein kann, das ist vergänglich, entweder schlechthin oder eben in der Hinsicht, in welcher es von ihm heißt, es könne auch nicht sein, sei es dem Orte oder der Quantität oder Qualität nach; schlechthin aber vergänglich ist, was der Wesenheit nach auch nicht sein kann. Nichts also von dem schlechthin Unvergänglichen ist etwas schlechthin dem Vermögen nach Seiendes (in gewisser Beziehung, etwa der Qualität oder dem 270 III. Erste Philosophie: Metaphysik Orte nach, kann es dies allerdings sein); dies alles also ist in Wirklichkeit. Ebensowenig ist von dem notwendig Seienden etwas nur dem Vermögen nach, und dies ist doch das Erste, da, wenn dies nicht wäre, überhaupt nichts sein würde. Und ebenso ist die ewige Bewegung, wenn es eine solche gibt, nicht bloß dem Vermögen nach; und wenn es ein ewig Bewegtes gibt, so ist dies nicht bloß dem Vermögen nach bewegt, ausgenommen etwa in betreff der Richtung woher und wohin; denn hiervon kann es recht wohl einen Stoff geben. Darum sind die Sonne, die Gestirne und der ganze Himmel immer in wirklicher Tätigkeit, und es ist nicht zu fürchten, daß sie einmal stillstehen, wie dies die Naturphilosophen fürchten. Auch strengt es sie nicht an, dies zu tun, da bei ihnen die Bewegung nicht wie bei den vergänglichen Dingen mit dem Vermögen des Gegenteils verbunden ist, so daß deshalb die ununterbrochene Dauer der Bewegung für sie anstrengend wäre; denn die Ursache solcher Anstrengung ist die Wesenheit, welche nur Stoff und Vermögen, nicht wirkliche Tätigkeit ist. Dem Unvergänglichen nähert sich aber nachahmend auch das in Veränderung Begriffene, z. B. die Erde und das Feuer. Denn auch diese sind immer in wirklicher Tätigkeit, da sie an sich und in sich die Bewegung haben. Die anderen Vermögen aber gehen nach den gegebenen Bestimmungen alle auch auf das Gegenteil; denn was so zu bewegen vermag, das vermag auch nicht so zu bewegen. Dies gilt von den vernunftmäßigen Vermögen; die unvernünftigen aber gehen zugleich auf das Gegenteil insofern, als Tätiges und Leidendes anwesend ist oder nicht. Gibt es also solche Naturen und Wesenheiten, wie die Ideen von den Dialektikern aufgestellt werden, so würde etwas viel mehr wissend sein als die Wissenschaft an sich, [1051a] und viel mehr bewegt als die Bewegung. Denn diese, Wissendes, Bewegtes, sind wirkliche Tätigkeiten, jene aber, die Ideen, die Vermögen von diesen. Hieraus erhellt denn, daß die wirkliche Tätigkeit früher ist als das Vermögen und als jedes bewegende Prinzip. (Met. IX 8) 7. Das Seiende als Wahrheit [1027b17] Das akzidentelle Sein wollen wir nun beiseite setzen, denn es ist hinlänglich bestimmt. Was nun aber als seiend bezeichnet wird, 271 7. Das Seiende als Wahrheit weil es wahr, als nicht seiend, weil es falsch ist, das beruht auf Vereinigung und Trennung, beides zusammen auf Teilung des Widerspruchs. (Das Wahre nämlich spricht die Bejahung aus von dem Verbundenen, die Verneinung von dem Getrennten, das Falsche aber spricht das kontradiktorische Gegenteil dieser Teilung aus. Wie es angehe, daß man etwas zugleich oder getrennt denke, ist eine andere Frage; ich verstehe unter zugleich und getrennt, daß nicht bloß eine Reihenfolge, sondern eine Einheit entsteht.) Denn das Falsche und das Wahre liegt nicht in den Dingen, so daß etwa das Gute wahr und das Böse sogleich falsch wäre, sondern im Denken, bei den einfachen Dingen und dem Was aber nicht einmal im Denken. Was nun also über das in diesem Sinne Seiende und Nichtseiende zu untersuchen ist, das wollen wir später erwägen. Da nämlich die Verbindung und Trennung im Denken stattfindet und nicht in den Dingen, und was in dieser Bedeutung, als wahr, seiend ist, verschieden ist von dem im eigentlichen Sinne Seienden (denn ein Was oder eine Qualität oder eine Quantität oder sonst etwas der Art ist es, was das Denken verbindet oder trennt), so wollen wir das akzidentelle Seiende und das als wahr Seiende aufgeben. Denn des einen Ursache ist unbestimmt, des andern Ursache ist [1028a] eine gewisse Affektion des Denkens, und beide gehen auf die noch übrige Gattung des Seienden und zeigen nicht noch außerdem eine andere Wesenheit des Seienden. Also dies mag beiseite gesetzt sein, und wir haben vielmehr die Ursachen und Prinzipien des Seienden, insofern es Seiendes ist, zu untersuchen. Aus dem aber, was wir über die verschiedenen Bedeutungen jedes Wortes erörtert haben, ist offenbar, daß das Seiende in mehrfacher Bedeutung gebraucht wird. (Met. VI 4) [1051a34] Indem das Seiende und das Nichtseiende teils nach den Formen der Kategorien ausgesagt wird, teils nach Vermögen und Wirk[1051b]lichkeit derselben oder deren Gegenteil, teils endlich im eigentlichsten Sinne seiend das Wahre und Falsche ist, was bei den Dingen durch Zusammensetzung und Trennung stattfindet, so daß der die Wahrheit sagt, der vom Getrennten meint, es sei getrennt, von 272 III. Erste Philosophie: Metaphysik dem Zusammengesetzten, es sei zusammengesetzt, der dagegen im Irrtum ist, welcher anders denkt, als die Dinge sich verhalten: so fragt sich, wann denn das stattfindet, was wir Wahrheit oder Unwahrheit nennen. Denn wir müssen untersuchen, was wir damit meinen. Nicht darum nämlich, weil unsere Meinung, du seiest weiß, wahr ist, bist du weiß, sondern darum, weil du weiß bist, sagen wir die Wahrheit, indem wir dies behaupten. Wenn nun einiges immer zusammengesetzt ist und unmöglich getrennt werden kann, anderes immer getrennt ist und unmöglich verbunden werden kann, anderes Verbindung und Trennung zuläßt, und wenn Sein bedeutet verbunden sein und eins sein, Nicht-sein aber nicht verbunden und eine Mehrheit sein: so wird bei dem, was Verbindung und Trennung zuläßt, dieselbe Meinung und dieselbe Erklärung wahr und falsch, und man kann damit bald die Wahrheit sagen, bald die Unwahrheit; bei dem dagegen, was sich unmöglich anders verhalten kann, findet nicht bald Wahrheit statt, bald Unwahrheit, sondern dasselbe ist immer wahr oder falsch. Was bedeutet nun aber bei dem Unzusammengesetzten Sein und Nicht-sein, Wahr und Falsch? Denn dies ist ja nicht zusammengesetzt, so daß es also wäre, wenn es verbunden, nicht wäre, wenn es getrennt wäre, wie dies bei dem weißen Holz oder der inkommensurabeln Diagonale der Fall ist, und so wird auch Wahrheit und Unwahrheit hier nicht in dem Sinne stattfinden wie bei jenen. Oder es wird, so wie Wahrheit, auch das Sein für dieses nicht denselben Sinn haben wie für das Zusammengesetzte; nämlich das Erfassen und Aussagen ist Wahrheit (Aussage ist nämlich nicht dasselbe wie Aussage über etwas), das Nicht-erfassen aber ist Nicht-wissen; eine Täuschung ist bei dem Was nicht möglich außer in akzidentellem Sinne, und ebensowenig bei den nicht zusammengesetzten Wesenheiten; denn auch bei diesen findet keine Täuschung statt. Und alle diese sind der Wirklichkeit, nicht dem Vermögen nach; denn sonst würden sie entstehen und untergehen; nun kann aber das Seiende selbst weder entstehen noch untergehen, da es sonst aus etwas entstehen würde. Bei dem also, was ein Sein an sich und in Wirklichkeit ist, ist keine Täuschung möglich, sondern nur Denken oder Nichtdenken. Nur nach dem Was fragt man bei ihnen, nicht ob sie solcherlei sind oder nicht. 273 8. Wissenschaft vom Göttlichen Das Sein aber in der Bedeutung Wahrheit und das Nicht-sein in der Bedeutung Unwahrheit findet in der einen Weise so statt, daß bei der Verbindung Wahrheit, bei der Nichtverbindung Unwahrheit sich findet, und in dieser einen Weise dann, wenn auch das Seiende sich so verhält. [1052a] Wo dies nicht der Fall ist, da findet auch die Wahrheit nicht in dieser Weise statt, sondern die Wahrheit besteht darin, die Dinge zu denken; Irrtum und Täuschung gibt es in bezug auf dieselben nicht, sondern nur Unwissenheit; und zwar nicht eine Unwissenheit, die der Blindheit vergleichbar wäre; denn der Blindheit würde es vergleichbar sein, wenn jemand überhaupt die Denkkraft nicht hätte. Offenbar ist auch, daß bei dem Unbeweglichen, sofern man voraussetzt, daß es unbeweglich ist, eine Täuschung in betreff des Wann nicht möglich ist. Wenn man z. B. von dem Dreieck glaubt, daß es sich nicht verändert, so wird man nicht meinen, daß es bald eine Winkelsumme von zwei Rechten habe, bald nicht, denn da müßte es sich ja verändern. Sondern man kann nur meinen, daß etwas einigen zukomme, anderen nicht, z. B., daß keine gerade Zahl erste Zahl sei, oder daß einige es seien, andere nicht. Bei dem aber, was der Zahl nach Eins ist, wird nicht einmal dies stattfinden; denn man wird nicht mehr meinen können, daß etwas einigen darunter zukomme, anderen nicht, sondern man muß entweder die Wahrheit oder das Falsche aussagen, indem sich der Gegenstand immer auf diese gleiche Weise verhält. (Met. IX 10) 8. Wissenschaft vom Göttlichen [1069a18] Die Wesenheit ist der Gegenstand unserer Betrachtung; denn der Wesenheiten Prinzipien und Ursachen werden gesucht. Denn wenn man das All als ein Ganzes ansieht, so ist die Wesenheit sein erster Teil, und wenn man es als eine Reihe betrachtet, so ist auch in diesem Falle die Wesenheit das Erste, darauf folgt das Qualitative, dann das Quantitative. Auch ist ja das übrige nicht einmal eigentlich Seiendes schlechthin, sondern Qualität und Bewegung und nur in dem Sinne seiend, wie auch das Nicht-weiße und das Nicht-gerade; denn wir schreiben ja doch auch diesem Sein zu, z. B. es ist nicht weiß. Ferner ist 274 III. Erste Philosophie: Metaphysik nichts von dem übrigen selbständig abtrennbar. Auch legen die alten Denker durch die Tat Zeugnis dafür ab; denn sie suchten der Wesenheit Prinzipien und Elemente und Ursachen. Die jetzigen Philosophen nun setzen mehr das Allgemeine als Wesenheit; denn die Geschlechter sind etwas Allgemeines, und diese stellen sie darum mehr als Prinzip und Wesenheit auf, weil sie ihre Untersuchung in allgemeinen Begriffen führen; die alten Denker aber setzten das Einzelne als Wesenheit, z. B. Feuer und Erde, aber nicht das Allgemeine, Körper. Der Wesenheiten sind drei; erstens die sinnlich wahrnehmbare, welche alle anerkennen, und diese teils ewig, teils vergänglich, wie z. B. die Pflanzen und die Tiere; von ihr müssen die Elemente gefunden werden, mag es nun eines oder mögen deren mehrere sein. Zweitens die unbewegliche; dieser schreiben einige selbständige Existenz zu, und teils scheiden sie dieselben in zwei Gebiete, teils setzen sie die Ideen und die mathematischen Dinge als eine Wesenheit, teils nehmen sie auch unter diesen nur die mathematischen Dinge als unbewegliche Wesenheiten an. Jene Wesenheiten gehören der Physik an, denn sie sind der Bewegung unterworfen, diese aber einer andern Wissenschaft, da sie ja mit jenen kein gemeinsames Prinzip hat. Die sinnliche Wesenheit ist veränderlich. Wenn nun die Veränderung von dem Entgegengesetzten oder dem Mittleren ausgeht, aber nicht von jedem Entgegengesetzten (denn auch die Stimme ist etwas Nicht-weißes), sondern von Konträrem: so muß notwendig etwas zugrunde liegen, was in den Gegensatz übergeht, da das Konträre selbst nicht übergeht. (Met. XII 1) [1071b3] Da nun der Wesenheiten drei waren, nämlich zwei natürliche und eine unbewegliche, so wollen wir nun von dieser handeln und zeigen, daß es notwendig eine ewige unbewegte Wesenheit geben muß. Denn die Wesenheiten sind von dem Seienden das Erste, und wenn alle vergänglich sind, so ist alles vergänglich. Unmöglich aber kann die Bewegung entstehen oder vergehen; denn sie war immer. Ebensowenig die Zeit; denn das Früher und Später ist selbst nicht möglich, wenn es keine Zeit gibt. Die Bewegung ist also ebenso stetig wie die Zeit, da diese entweder dasselbe ist wie die Bewegung oder eine Affektion derselben. Stetige Bewegung aber ist einzig die Ortsveränderung, und zwar unter dieser die Kreisbewegung. 275 8. Wissenschaft vom Göttlichen Gäbe es aber nun ein Prinzip des Bewegens und Hervorbringens, aber ein solches, das nicht in wirklicher Tätigkeit wäre, so würde keine Bewegung stattfinden; denn was bloß das Vermögen hat, kann auch nicht in wirklicher Tätigkeit sein. Also würde es nicht nützen, wenn wir ewige Wesenheiten annehmen wollten, wie die Anhänger der Ideenlehre, sofern nicht in ihnen ein Prinzip enthalten wäre, welches das Vermögen der Veränderung hat. Aber auch dies würde nicht genügen, noch die Annahme irgendeiner anderen Wesenheit neben den Ideen; denn sofern die Wesenheit nicht in wirklicher Tätigkeit sich befände, so würde keine Bewegung stattfinden. Ja, wenn es selbst in wirklicher Tätigkeit sich befände, sein Wesen aber bloßes Vermögen wäre, auch dann würde keine ewige Bewegung stattfinden; denn was dem Vermögen nach ist, kann möglicherweise auch nicht sein. Also muß ein solches Prinzip vorausgesetzt werden, dessen Wesen wirkliche Tätigkeit ist. Ferner müssen diese Wesenheiten ohne Stoff sein; denn wenn irgend etwas anderes ewig ist, müssen sie es sein; also müssen sie der Wirklichkeit nach sein. Doch hier entsteht eine Schwierigkeit. Denn das Wirkliche, meint man, ist alles möglich, das Mögliche nicht alles wirklich, so daß demnach dies Vermögen das Frühere sein würde. Aber wäre dies wahr, so würde nichts von dem Seienden sein; denn es ist möglich, daß etwas zwar vermag zu sein, aber doch noch nicht ist. Stimmt man freilich der Ansicht der alten Götterlehre bei, welche alles aus der Nacht erzeugt, oder der der Naturphilosophen, welche behaupten, daß alle Dinge beisammen waren, so kommt man auf dieselbe Unmöglichkeit. Denn wie soll etwas bewegt werden, wenn nicht eine Ursache in wirklicher Tätigkeit vorhanden wäre? Denn es kann ja doch der Stoff nicht sich selbst in Bewegung setzen, sondern dies tut die Baukunst, und ebensowenig kann die Menstruation oder die Erde sich selbst bewegen, sondern das tut der Same oder der Keim. Darum setzen einige eine ewige wirkliche Tätigkeit voraus, z. B. Leukippos und Platon; denn sie behaupten, es existiere immer Bewegung. Aber warum dies so ist, und welche Bewegung es ist, warum sich dies so, jenes anders bewegt, davon geben sie keinen Grund an; denn es bewegt sich ja nichts so, wie es sich eben trifft, sondern es muß immer etwas zugrunde liegen, wie sich ja jetzt etwas von Natur auf diese Weise, durch Gewalt aber oder durch Vernunftbestimmung oder durch ei- 276 III. Erste Philosophie: Metaphysik nen Anderen auf eine andere Weise bewegt. Ferner, welche Art von Bewegung ist die erste? Denn darauf kommt gar sehr viel an. Für Platon aber [1072a] würde es öfters gar nicht möglich sein zu sagen, welches er für das Prinzip, für das sich selbst bewegende, hält; denn, wie er sich ausspricht, müßte die Seele später sein als der Himmel und doch auch zugleich mit dem Himmel. Die Ansicht nun, daß die Möglichkeit der Wirklichkeit vorausgehe, ist gewissermaßen richtig, gewissermaßen auch nicht; wie dies gemeint, ist früher erklärt. Daß aber die wirkliche Tätigkeit das Frühere ist, dafür zeugen Anaxagoras (denn der Geist ist in wirklicher Tätigkeit) und Empedokles mit seinen Prinzipien, Liebe und Haß, und diejenigen, welche eine ewige Bewegung annehmen, wie Leukippos. Also war nicht eine unendliche Zeit Chaos oder Nacht, sondern immer dasselbige, entweder im Kreislauf oder auf eine andere Weise, sofern die wirkliche Tätigkeit dem Vermögen vorausgeht. Wenn nun immer dasselbe im Kreislauf besteht, so muß etwas bleiben, das gleichmäßig in wirklicher Tätigkeit ist. Soll aber Entstehen und Vergehen vorhanden sein, so muß etwas anderes existieren, was in anderer und wieder anderer Weise wirklich tätig ist. Es muß also in der einen Weise in Beziehung auf sich selbst, in der andern Weise in Beziehung auf anderes wirken, und dies also in Beziehung auf ein verschiedenes drittes oder auf das erste. Notwendig auf dies; denn dies ist wieder sich selbst wie jenem anderen Ursache der Bewegung. Also vorzüglicher ist das erste; denn es war ja Ursache der ewig gleichen Bewegung, der verschiedenen Bewegung Ursache war das andere; daß aber immer diese Verschiedenheit stattfindet, davon sind offenbar beide Ursache. So verhalten sich denn auch die Bewegungen. Was braucht man also noch andere Prinzipien zu suchen? Da es nun aber angeht, daß sich die Sache so verhalte, und wenn sie sich nicht so verhielte, alles aus der Nacht und dem Beisammen aller Dinge und dem Nicht-seienden hervorgehen würde, so lösen sich demnach diese Schwierigkeiten, und es gibt etwas, das sich immer in unaufhörlicher Bewegung bewegt, diese Bewegung aber ist die Kreisbewegung. Dies ist nicht nur durch den Begriff, sondern auch durch die Sache selbst deutlich. Also ist der erste Himmel ewig. 277 8. Wissenschaft vom Göttlichen Also gibt es auch etwas, das bewegt. Da aber nun dasjenige, was bewegt wird und bewegt, ein Mittleres ist, so muß es auch etwas geben, das ohne bewegt zu werden selbst bewegt, das ewig und Wesenheit und wirkliche Tätigkeit ist. Auf solche Weise aber bewegt das Erstrebte, und auch das Gedachte bewegt, ohne bewegt zu werden. An sich und im ursprünglichen Sinne gefaßt ist dies beides dasselbe. Denn Gegenstand des Begehrens ist dasjenige, was als schön erscheint, Gegenstand des Willens ist an sich das, was schön ist. Wir erstreben aber etwas vielmehr, weil wir es für gut halten, als daß wir es für gut hielten, weil wir es erstreben. Prinzip ist das Denken. Die Vernunft wird von dem Denkbaren in Bewegung gesetzt, denkbar aber an sich ist die eine Reihe der Dinge; in ihr nimmt die Wesenheit die erste Stelle ein, und unter dieser die einfache, der wirklichen Tätigkeit nach existierende (Eins aber und einfach ist nicht dasselbe; denn das Eins bezeichnet ein Maß, das Einfache aber ein bestimmtes Verhalten), aber auch das Schöne und das um seiner selbst willen zu Wählende findet sich in derselben Reihe, und das [1072b] erste ist entweder das beste oder dem analog. Daß aber der Zweck zu dem Unbeweglichen gehört, macht die Zergliederung deutlich. Denn es gibt einen Zweck für etwas und von etwas; dieser ist unbeweglich, jener nicht. Er bewegt als begehrt, und das von ihm Bewegte bewegt wieder das übrige. Wenn nun etwas bewegt wird, so ist es möglich, daß es sich auch anders verhalte. Wenn also Ortsbewegung die erste wirkliche Tätigkeit insofern ist, als das Bewegte in Bewegung ist, so ist insofern auch möglich, daß es sich anders verhalte, nämlich dem Orte, wenn auch nicht der Wesenheit nach. Nun gibt es aber etwas, das ohne bewegt zu werden selbst bewegt und in wirklicher Tätigkeit existiert; bei diesem ist also auf keine Weise möglich, daß es sich anders verhalte. Denn Ortsbewegung ist die erste unter den Veränderungen, und unter ihr die Kreisbewegung; diese Bewegung aber wird von jenem ersten Bewegenden hervorgebracht. Also ist es notwendig seiend, und inwiefern es notwendig ist, ist es auch so gut und in diesem Sinne Prinzip. (Notwendig nämlich wird in mehreren Bedeutungen gebraucht, einmal als das gegen den eigenen Trieb mit Gewalt Erzwungene, dann als das, ohne welches das Gute nicht sein kann, drittens 278 III. Erste Philosophie: Metaphysik als das, was nicht anders möglich ist, sondern absolut ist.) Von solchem Prinzip also ist der Himmel und die Natur abhängig. Sein Leben aber ist das trefflichste, und wie es bei uns nur kurze Zeit stattfindet, da beständige Dauer uns unmöglich ist, so ist es bei ihm immerwährend. Denn seine wirkliche Tätigkeit ist zugleich Freude. Und deshalb ist Wachen, Wahrnehmen, Denken das Angenehmste, und durch dieses erst Hoffnung und Erinnerung. Das Denken an sich aber geht auf das an sich Beste, das höchste Denken auf das Höchste. Sich selbst denkt die Vernunft in Ergreifung des Denkbaren; denn denkbar wird sie selbst, den Gegenstand berührend und denkend, so daß Vernunft und Gedachtes dasselbe ist. Denn die Vernunft ist das aufnehmende Vermögen für das Denkbare und die Wesenheit. Sie ist in wirklicher Tätigkeit, indem sie das Gedachte hat. Also ist jenes, das Gedachte, noch in vollerem Sinne göttlich als das, was die Vernunft Göttliches zu enthalten scheint, und die Spekulation ist das Angenehmste und Beste. Wenn nun so wohl, wie uns zuweilen, der Gottheit immer ist, so ist sie bewundernswert, wenn aber noch wohler, dann noch bewundernswerter. So verhält es sich aber mit ihr. Und Leben wohnt in ihr; denn der Vernunft wirkliche Tätigkeit ist Leben, die Gottheit aber ist die Tätigkeit; ihre Tätigkeit an sich ist ihr bestes und ewiges Leben. Die Gottheit, sagen wir, ist das ewige, beste lebendige Wesen, also Leben und stetige, ewige Fortdauer wohnet in der Gottheit; denn sie ist Leben und Ewigkeit. Unrichtig ist die Meinung aller, welche, wie die Pythagoreer und Speusippos, annehmen, das Schönste und Beste sei nicht im Prinzip enthalten, weil ja auch bei den Pflanzen und Tieren die Prinzipien zwar Ursachen sind, das Schöne und Vollkommene aber erst in dem daraus Hervorgehenden sich findet. Denn der Same geht aus anderem, ihm selbst vorausgehenden Vollendeten hervor, und das [1073a] erste ist nicht der Same, sondern das Vollendete; man würde z. B. vom Menschen sagen, daß er früher sei als der Same, nämlich nicht von dem Menschen, der aus diesem Samen wird, sondern von einem andern, aus welchem der Same hervorgegangen ist. Daß es also eine ewige, unbewegliche, von dem Sinnlichen getrennt selbständig existierende Wesenheit gibt, ist aus dem Gesagten klar. Es ist aber auch erwiesen, daß diese Wesenheit keine Größe haben kann, sondern unteilbar und unzertrennlich ist. Denn die un- 279 8. Wissenschaft vom Göttlichen endliche Zeit hindurch setzt sie in Bewegung, nichts Begrenztes aber hat ein unbegrenztes Vermögen. Da nun jede Größe begrenzt oder unbegrenzt sein muß, so kann sie eine begrenzte Größe aus dem angegebenen Grunde nicht haben, eine unbegrenzte Größe aber darum nicht, weil es überhaupt keine unbegrenzte Größe gibt. Aber es ist auch ferner erwiesen, daß sie keiner Affektion und keiner Qualitätsveränderung unterworfen ist; denn alle übrigen Bewegungen folgen erst der Ortsbewegung nach. Von diesem also ist offenbar, warum es sich so verhält. Ob nun aber nur eine solche Wesenheit anzunehmen ist oder deren mehrere, diese Frage darf nicht übersehen werden, vielmehr müssen wir auch die Erklärungen der anderen Philosophen erwähnen, nämlich daß sie hierüber nichts Bestimmtes ausgesprochen haben. Denn die Ideenlehre enthält hierüber keine eigentümliche Untersuchung; die Anhänger derselben erklären nämlich, die Ideen seien Zahlen, über die Zahlen aber sprechen sie bald so, als seien derselben unendlich viele, bald wieder, als seien sie mit der Zehnzahl begrenzt und abgeschlossen; weshalb aber die Anzahl der Zahlen gerade so groß sei, dafür führen sie keinen ernstlichen Beweis. Wir aber müssen uns darüber unseren Grundlagen und den bisherigen Bestimmungen gemäß aussprechen. Das Prinzip nämlich und das Erste von allem Seienden ist unbeweglich, sowohl an sich wie auch in akzidenteller Weise, aber es bringt die erste, ewige und einige Bewegung hervor. Da nun das Bewegte von etwas bewegt werden, und das erste Bewegende an sich unbeweglich sein, und die ewige Bewegung von einem ewigen, die einige von einem einigen ausgehn muß, und da wir ferner außer der einfachen Bewegung des Ganzen, welche nach unserer Behauptung von der ersten und unbewegten Wesenheit ausgeht, noch andere ewige Bewegungen sehen, die der Planeten nämlich (denn ewig und ruhelos ist der im Kreis bewegte Körper, wie dies in den physischen Schriften erwiesen ist): so muß auch jede dieser Bewegungen von einer an sich unbeweglichen und ewigen Wesenheit ausgehen. Denn die Natur der Gestirne ist eine ewige Wesenheit, und so ist auch das Bewegende ewig und früher als das Bewegte, und was früher ist als eine Wesenheit, muß notwendig Wesenheit sein. Demnach ist aus dem vorher 280 III. Erste Philosophie: Metaphysik erörterten Grunde offenbar, daß ebenso viele Wesenheiten existieren müssen, die ihrer Natur nach ewig und an sich unbeweglich und ohne Größe [1073b] sind. Daß also Wesenheiten existieren, und welche davon die erste und die zweite ist nach derselben Ordnung wie die Bewegungen der Gestirne, ist offenbar. Die Anzahl aber der Bewegungen müssen wir aus derjenigen mathematischen Wissenschaft entnehmen, welche mit der Philosophie in der nächsten Beziehung steht, aus der Astronomie. Denn diese stellt Untersuchung an über die zwar sinnlich wahrnehmbare, aber doch ewige Wesenheit; die anderen mathematischen Wissenschaften dagegen handeln gar mehr von einer Wesenheit, z. B. die Wissenschaft der Zahlen und der Geometrie. Daß nun die bewegten Körper mehrere Bewegungen haben, ist selbst denen offenbar, die sich nur wenig mit der Sache beschäftigt haben; denn jeder von den Planeten hat mehr als eine Bewegung. Wieviel ihrer aber sind, darüber geben wir jetzt der Übersicht wegen die Angaben einiger Mathematiker an, damit man in Gedanken eine bestimmte Zahl annehmen kann; übrigens muß man teils selbst untersuchen, teils diejenigen befragen, welche die Sache untersuchen; und wenn sich dann bei dieser Beschäftigung etwas von dem jetzt Gesagten Abweichendes ergibt, so muß man zwar beide schätzen, aber den genaueren folgen. Eudoxos nun nahm an, daß die Bewegung der Sonne und des Mondes in je drei Sphären geschehe; die erste davon sei die Sphäre der Fixsterne, die zweite habe ihre Richtung mitten durch den Tierkreis, die dritte gehe in schräger Richtung durch die Breite des Tierkreises, schräger aber durchschneide den Tierkreis die Sphäre, in welcher der Mond, als die, in welcher die Sonne sich bewegt. Jeder der Planeten bewege sich in vier Sphären; unter diesen sei die erste und zweite mit den entsprechenden von Sonne und Mond einerlei, weil sowohl die Sphäre der Fixsterne alle in Bewegung setze, als auch die ihr untergeordnete, in der Richtung der Mittellinie des Tierkreises bewegte allen gemeinsam sei; für die dritte lägen die Pole bei allen Planeten in dem durch die Mittellinie des Tierkreises gelegten Kreise; die vierte Sphäre bewege sich nach der Richtung eines gegen die Mitte der dritten Sphäre schiefen Kreises. Für die dritte Sphäre hätten die übrigen Planeten jeder seine eigenen Pole, Venus und Merkur aber dieselben. 281 8. Wissenschaft vom Göttlichen Kallippos stimmte in betreff der Lage der Sphären, d. h. der Ordnung ihrer Abstände, mit Eudoxos überein, auch schrieb er dem Jupiter und dem Saturn dieselbe Anzahl von Sphären zu wie jener; doch der Sonne und dem Monde, meinte er, müßten noch je zwei hinzugefügt werden, wenn man die wirklichen Erscheinungen darstellen wolle, und jedem der übrigen Planeten noch eine. Sollen aber [1074a] diese Sphären alle zusammengenommen die wirklichen Erscheinungen darstellen, so muß für jeden Planeten eine um eins kleinere Anzahl anderer Sphären vorhanden sein, welche die der Lage nach erste Sphäre des jedesmal zunächst untergeordneten Planeten zurückführen und in dieselbe Lage wiederherstellen; denn nur so ist es möglich, daß das Gesamte die Bewegung der Planeten ergibt. Da nun der Sphären, in welchen die Planeten selbst bewegt werden, 8 und 25 sind, und von diesen nur diejenigen nicht brauchen zurückgeführt zu werden, in welchen der unterste Planet sich bewegt, so ergeben sich 6 Sphären, welche die der beiden obersten zurückführen, und 16 für die folgenden, und als Anzahl der gesamten Sphären, der bewegenden sowohl als der zurückführenden, 55. Wollte man aber der Sonne und dem Mond die eben erwähnten Bewegungen nicht zufügen, so würde sich als Anzahl der gesamten Sphären 47 ergeben. So groß also mag die Anzahl der Sphären sein; dann ist mit Wahrscheinlichkeit die Anzahl der Wesenheiten und der unbeweglichen sowie der sinnlich wahrnehmbaren Prinzipien ebenso groß zu setzen. Von Notwendigkeit hier zu reden mag Stärkeren überlassen bleiben. Wenn es aber keine Bewegung geben kann, die nicht in der Bewegung eines Gestirnes ihr Ziel hat, wenn man ferner jede Natur und jede den Affektionen nicht unterworfene, an sich des Besten teilhaftige Wesenheit für Zweck halten muß: so würde es demnach keine andere Wesenheit außer diesen geben, sondern dies würde notwendig die Zahl der Wesenheiten sein. Denn gäbe es noch andere, so müßten sie ja in Bewegung setzen, indem sie Zweck einer Bewegung wären. Aber unmöglich kann es noch andere Bewegungen außer den genannten geben; das ist aus der Betrachtung der bewegten Körper zu ersehen. Denn wenn jedes Bewegende auf ein Bewegtes geht, und jede Bewegung Bewegung eines Dinges ist, so kann es keine Bewegung geben, welche auf sich selbst oder auf eine andere Bewegung 282 III. Erste Philosophie: Metaphysik ginge, sondern sie muß Bewegung eines Gestirnes sein. Denn ginge eine Bewegung auf eine andere Bewegung, so müßte auch diese wieder auf eine andere gehen. Und da nun ein Fortschritt ins Unendliche undenkbar ist, so muß das Ziel jeder Bewegung einer von den göttlichen Körpern sein, die sich am Himmel bewegen. Daß aber nur ein Himmel existiert, ist offenbar. Denn gäbe es mehrere Himmel, wie es der Menschen mehrere gibt, so würde das Prinzip eines jeden einzelnen der Form nach eines sein, und nur der Zahl nach waren es viele. Was aber der Zahl nach eine Mehrheit ist, hat einen Stoff; denn der Begriff der mehreren, z. B. des Menschen, ist einer und derselbe, Sokrates aber ist ein Einzelner. Das erste Wesenswas aber hat keinen Stoff, denn es ist tätige Wirklichkeit. Eines also ist dem Begriff und der Zahl nach das erste bewegende Unbewegliche; also ist auch das immer und stetig Bewegte nur Eins; also gibt es nur einen Himmel. Von [1074b] den Alten und den Vätern aus uralter Zeit ist in mythischer Form den Späteren überliefert, daß die Gestirne Götter sind und das Göttliche die ganze Natur umfaßt. Das übrige ist dann in sagenhafter Weise hinzugefügt zur Überredung der Menschen und zur Anwendung für die Gesetze und das allgemeine Beste. Sie schreiben ihnen nämlich Ähnlichkeit mit den Menschen oder mit andern lebendigen Wesen zu und anderes dem Ähnliches und damit Zusammenhängendes. Wenn man hiervon absehend nur das erste selbst nimmt, daß sie nämlich die ersten Wesenheiten für Götter hielten, so wird man dann einen göttlichen Ausspruch finden, und da wahrscheinlich jede Kunst und jede Wissenschaft öfters nach Möglichkeit aufgefunden und wieder verlorengegangen ist, so wird man in diesen Ansichten gleichsam Trümmer von jenen sehen, die sich bis jetzt erhalten haben. Nur insoweit also ist uns die Ansicht unserer Väter und unserer ältesten Vorfahren klar. In betreff der Vernunft aber entstehen einige Zweifel. Unter dem Erscheinenden nämlich gilt sie für das Göttlichste; inwiefern aber und durch welche Eigenschaft sie dies sei, ist schwierig anzugeben. Denn wenn sie nichts denkt, sondern sich so verhält wie ein Schlafender, worin läge denn da ihre Würde? Wenn sie aber denkt, dies Denken aber durch etwas anderes bedingt ist, so wäre sie, da das, worin ihre 283 8. Wissenschaft vom Göttlichen Wesenheit besteht, dann nicht Denken als Tätigkeit, sondern nur das Vermögen dazu wäre, nicht die beste Wesenheit. Denn durch das Denken kommt ihr die Würde zu. Ferner, mag nun Vernunft oder mag die Tätigkeit des Denkens ihre Wesenheit sein, was denkt sie denn? Entweder doch denkt sie sich selbst oder etwas anderes, und wenn etwas anderes, dann entweder immer dasselbe oder Verschiedenes. Macht es nun einen Unterschied, oder macht es keinen, ob man das Schöne oder ob man das erste beste denkt? Oder ist es nicht vielmehr gar unziemend, manches zum Gegenstand des Denkens zu machen? Offenbar denkt sie das Göttlichste und Würdigste, und zwar ohne Veränderung; denn die Veränderung würde zum Schlechteren gehen, und dies würde schon eine Bewegung sein. Erstlich nun, wenn die Vernunft nicht Tätigkeit des Denkens ist, sondern nur Vermögen, so ist ja natürlich, daß ihr die Stetigkeit des Denkens beschwerlich sei. Ferner ist offenbar, daß etwas anderes würdiger sein würde als die Vernunft, nämlich das Gedachte. Denn das Denken und die Tätigkeit des Denkens wird auch dem zukommen, der das Schlechteste denkt. Wenn nun dies zu fliehen ist, wie es ja auch besser ist, manches nicht zu sehen, als es zu sehen: so würde demnach die Tätigkeit des Denkens nicht das Beste sein. Sich selbst also denkt die Vernunft, sofern sie ja das Vorzüglichste ist, und das Denken ist Denken des Denkens. Nun haben aber offenbar die Wissenschaft und die Sinneswahrnehmung und die Meinung und die Vorstellung immer etwas anderes zum Objekt, sich selbst aber nur nebenbei. Ferner, wenn Denken und Gedachtwerden verschieden sind, in Beziehung auf welches von beiden kommt denn der Vernunft das Gute zu? Denn Denken-sein und Gedachtes-sein ist ja nicht dasselbe. Doch bei [1075a] manchem ist ja die Wissenschaft die Sache selbst. Bei den werktätigen Wissenschaften sind, vom Stoff abgesehen, die Wesen und das Wesenswas, bei den betrachtenden der Begriff und das Denken die Sache. Da also das Gedachte und die Vernunft nicht verschieden sind bei allem, was keinen Stoff hat, so wird es dasselbe sein, und das Denken mit dem Gedachten ein einziges. Ferner bleibt nun noch eine schwierige Frage übrig: ob das Gedachte zusammengesetzt ist; denn es würde ja dann das Denken in den Teilen des Ganzen einer Veränderung unterworfen sein. Viel- 284 III. Erste Philosophie: Metaphysik mehr ist doch wohl alles, was keinen Stoff hat, unteilbar. Denn wie sich die menschliche Vernunft, obgleich das Zusammengesetzte ihr Gegenstand ist, zu manchen Zeiten verhält, indem sie nämlich nicht in diesem oder in jenem Teile das Gute, sondern im Ganzen das Beste hat, welches doch etwas von ihr Verschiedenes ist: so verhält sich das Denken selbst seiner selbst die ganze Ewigkeit hindurch. (Met. XII 6-9) IV. Ethik ( Nikomachische Ethik ) Einleitung Wer in Aristoteles‘ Ethik eine der Moderne fremde Welt erwartet, wird überrascht. Schon methodisch, durch ihre Verbindung eines selten reichen Problembewußtseins mit einer erfahrungsgesättigten Phänomenologie und einer hochdifferenzierten Begrifflichkeit, erweist sie sich als hochmodern. Aristoteles’ Grundbegriffe, insbesondere die Unterscheidung von Herstellen (poiêsis) und Handeln (praxis) sowie die zugehörigen intellektuellen Fähigkeiten, die Kunst(fertigkeit) (technê) zum Herstellen und die Lebensklugheit (phronêsis) zum Handeln, haben Epoche gemacht. Dasselbe gilt für das Modell menschlichen Handelns, das orexis-, Strebensmodell mit dem Leitprinzip Glück (eudaimonia). Erst durch eine Willensethik und ihr Prinzip der Freiheit (Autonomie) wird dieses Modell relativiert, selbst dann aber nicht vollständig abgelöst. Bis heute aktuell sind auch der Gedanke einer wahrhaft praktischen Philosophie, ferner die handlungstheoretischen Erörterungen zu den Begriffen des Freiwilligen und der Entscheidung, der Willensschwäche und Lust, weiterhin die Untersuchung der ethischen bzw. charakterlichen (aretai êthikai) und der dianoetischen bzw. Verstandestugenden (aretai dianoêtikai), die ausführliche Behandlung der verschiedenen Arten von Freundschaft und nicht zuletzt das Plädoyer für ein nicht auf Anwendung, sondern auf reines Wissen verpflichtetes Wissenschaftlerleben, das Lob des bios theôrêtikos. Aristoteles’ Ethik ist, wie in der Einführung gesagt, in drei Fassungen überliefert. Im Verhältnis zur Eudemischen Ethik und besonders zur Großen Ethik (Magna Moralia), deren Authentizität umstritten ist, sind die Erörterungen der Nikomachischen Ethik in der Regel am ausführlichsten. Weil sie außerdem die weit größere Wirkungsmacht entfalten, greift diese Textauswahl nur auf die Nikomachische Ethik, kurz: Ethik, zurück. Sie ist ein reifes Werk, dem eine wohlüberlegte Komposition zugrunde liegt: Buch I steuert rasch auf das Thema „Leitziel menschlichen Handelns“ zu, identifiziert es als Glück und 286 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) entfaltet dann dessen Begriff. Von ihm her ergeben sich zwei Arten praktischer Kompetenz, die charakterlichen und die intellektuellen Tugenden, die in den Büchern II-V und VI erörtert werden. Die folgenden Bücher schließen damit zusammenhängende Themen an: die Willensschwäche (akrasia: VII 1-11), die Lust (hêdonê: VII 12- 15 und X 1-5) und die Freundschaft (philia: VIII-IX). Den Höhepunkt und Schluß (X 6-9) bildet die Erörterung der beiden zum Glück führenden Lebensformen, der theoretischen und der sittlichpolitischen Existenz (bios politikos). Für manche Leser überraschend, argumentiert Aristoteles in der Ethik so gut wie ohne jede metaphysische Prämisse. Umgekehrt wirft er jedoch die praktische, sogar existenzielle Frage auf: „Wozu Metaphysik? “ Während Ethik und Metaphysik als philosophische Disziplinen weitgehend voneinander unabhängig sind, gehört die Rechtfertigung eines der bloßen Erkenntnis, letztlich eines der Fundamentalphilosophie, also Metaphysik gewidmeten Lebens in den Aufgabenbereich der Ethik. Praktische Philosophie Daß sich eine philosophische Ethik mit der menschlichen Praxis befaßt, versteht sich von selbst. Nicht so selbstverständlich ist, daß sie dabei nicht auf Wissen, sondern auf Handeln zielt (to telos estin ou gnôsis alla praxis: EN I 1, 1095a5f.; ähnlich II 2, 1103b26ff. und X 10, 1179a35-b2; vgl. Prot. B 52). Indes gibt Aristoteles den Anspruch auf wissenschaftlich-philosophische Strenge nicht auf; die praktische Intention tritt nicht etwa an deren Stelle, sondern kommt sowohl bei der Ethik als auch bei der Politik zusätzlich hinzu. Mit dem Gedanken einer praktischen Philosophie setzt sich Aristoteles erneut von Platon ab, hier von dessen Vorhaben einer Einheitsphilosophie, die er vor allem in der Politeia mit einer letztlich praktisch-politischen Ausrichtung verbindet. Dort wird die gesamte Philosophie Platons zu einer praktischen Philosophie. Im Gegenzug setzt sich Aristoteles dafür ein, daß große Bereiche der Philosophie von jeder praktischen Intention freigesetzt werden. Weniger der Gedanke einer wahrhaft praktischen als der einer rein theoretischen Philosophie ist typisch Aristotelisch: 287 Einleitung Für Aristoteles bedeutet „Theorie“ nicht jedes relativ grundsätzliche Wissen, sondern allein dasjenige, das um seiner selbst willen gesucht wird. Sie gilt als ein Selbstzweck und für ein sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen als die höchste Form von Praxis. Im Gegensatz zu dieser „theoretischen“ Philosophie, die in der Physik, Mathematik und vor allem der Ersten Philosophie gepflegt wird, ist die praktische Philosophie eine auf Praxis bezogene Wissenschaft. Der praktische Charakter der zwei einander zugeordneten Disziplinen Ethik und Politik beginnt mit der Fähigkeit, grundlegende Orientierungs- und Legitimationsschwierigkeiten aufzugreifen: Die philosophische Ethik entsteht ebenso wie die politische Philosophie in Situationen von grundlegenden Formen von Konflikt, Kritik und Krise. Der praktische Charakter setzt sich in dem Interesse fort, innerhalb der Möglichkeiten von Philosophie zu einer sittlichen Verbesserung menschlichen Handelns beizutragen. Zu diesem Zweck beschränkt sich die Ethik nicht auf die Erörterung eines höchsten Prinzips und Kriteriums des sittlich Guten, der Eudaimonie. Weit lebensnäher nimmt sie zu den unterschiedlichen Bereichen und Aspekten menschlichen Handelns eine Fülle von Phänomen-Beobachtungen und phänomenologischen Untersuchungen, von Methoden-, Begriffs- und Prinzipienanalysen vor. So vereint Aristoteles’ Ethik noch verschiedene Disziplinen, die sich später zum Schaden der Sache voneinander abgekapselt haben: die normative Ethik und die Metaethik, die Handlungstheorie und die philosophische Anthropologie. Obwohl die Philosophie der sittlich-politischen Praxis dienen soll, kann sie diese nicht ursprünglich hervorbringen. Im Wesentlichen kann sie nur die schon vorhandene, allerdings in eine grundlegende Krise geratene Sittlichkeit reflexiv erhellen. Auf diese Weise, durch Klarheit über die Prinzipien, die Strukturen und die Grundaspekte, vermag sie über die grundlegenden Formen von Konflikt, Kritik und Krise aufzuklären, durch diese Aufklärung sie intellektuell zu bewältigen und auf diese Weise zu ihrer Verbesserung beizutragen. So ist die Ethik in dem dreifachen Sinn eine praktische Disziplin, daß ihre Untersuchung der Praxis um der Praxis willen von ebendieser Praxis als einer schon wesentlich sittlichen Lebenswelt ausgeht. 288 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Weil Aristoteles’ praktische Philosophie nicht abstrakte Normen konstruiert, sondern an das anknüpft, was über menschliches Handeln gesagt wird, hat sie im Sinne von Aristoteles’ Topik (s. Teil I) einen topischen Charakter. Man kann sie auch jener hermeneutischen Philosophie im weiteren Sinn zuordnen, die sich nicht mit der Auslegung von Texten begnügt, sondern eine sittlich-politische Lebenswelt interpretiert. Weder der topische noch der hermeneutische Charakter bedeuten allerdings, Aristoteles sei ein Philosoph des griechischen Common sense, der lediglich das tatsächliche Handeln der Menschen und ihre Vorstellungen vom Guten interpretiert. Denn, wie in Teil I betont, knüpft Aristoteles generell, so auch in seiner theoretischen Philosophie an umlaufende Ansichten an. Vor allem entdeckt er in den tatsächlichen Lebensvollzügen und in den darüber umlaufenden Meinungen offensichtliche Unterschiede, sogar Widersprüche, beispielsweise zwischen den Lebensformen, denen die Menschen folgen. Die selbstgestellte Aufgabe, das für den Menschen Gute zu bestimmen (to anthrôpinon agathon), gibt sich daher nicht mit einer Interpretation des Gegebenen und einem Vergleich bekannter Lebensvorstellungen zufrieden. Ebenso wie die theoretische nimmt auch die praktische Philosophie strenge Sach-, Begriffs- und Prinzipienanalysen vor. Streben und Strebensglück Wie in der Naturphilosophie, so geht Aristoteles auch in der Ethik von der Kategorie der Bewegung aus. Für die spezifisch menschliche Bewegung ist allerdings eine Strukturkomplikation charakteristisch, die zum bewußten und freiwilligen Handeln führt. Nach Aristoteles ist das typisch menschliche Tun der Grundstruktur nach das Auslangen nach einem Ziel oder Zweck (telos); es ist ein Streben (orexis) nach etwas, das - tatsächlich oder nur vermeintlich - gut (agathon) ist (EN I 1, 1094a1-3). In einer für das abendländische Denken fundamental gewordenen Unterscheidung zeigt Aristoteles, daß es je nach dem Verhältnis des Strebens zu seinem Ziel zwei Grundformen menschlichen Handelns gibt (EN I 1, 1094a3-6; VI 4-5): Das Herstellen oder Machen (poiêsis) bringt ein selbständiges Objekt, ein Produkt, hervor; Muster für 289 Einleitung diese actio transcendens ist die Handwerkstätigkeit. Das Handeln im engeren Sinn dagegen, die Praxis, hat das Ziel im Vollzug des Handelns selbst, sie ist eine actio immanens, wie es zum Beispiel für das Sehen, Denken oder Musizieren zutrifft: Wer sieht, denkt oder musiziert, der hat schon gesehen, gedacht oder musiziert. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, daß ein Verhalten je nach dem Gesichtspunkt in einer Hinsicht als Herstellen, in einer anderen als Handeln verstanden werden kann. Im nächsten Argumentationsschritt verweist Aristoteles auf eine Fülle von Tätigkeitswesen, die jeweils ihr eigenes Ziel verfolgen. So dient die Medizin der Gesundheit, die Ökonomie dem Reichtum, die Kriegskunst dem Sieg. Mindestens einige dieser Ziele lassen sich hierarchisch ordnen, so daß sich die Frage aufdrängt, ob es nicht ein gemeinsames Ziel gibt, um dessentwillen alle anderen Ziele verfolgt werden. Im Anschluß an unsere gewöhnlichen Vorstellungen nennt Aristoteles das höchste Ziel Glück (eudaimonia). Anders als in hedonistischen oder utilitaristischen Positionen bestimmt er aber das Glück nicht bloß als dominantes, sondern zusätzlich als inklusives (umfassendes) Ziel. Als das schlechthin höchste Ziel, über das hinaus kein anderes Ziel gedacht werden kann, ist es die vollständige Erfüllung allen menschlichen Strebens; es hat den Charakter des Sichselbstgenugseins (autarkeia: EN I 5): Im Glück ist all das versammelt, worauf es im Leben letztlich ankommt. Lebensformen Indem der Mensch letztlich sein Glück im Sinne von Eudaimonie sucht, liegt der Maßstab für das Gelingen oder Verfehlen seines Lebens nicht im Hervorbringen irgendeines Objekts, sondern in der immanenten Vollendung. Deswegen hat das Leben als ganzes den Charakter von Praxis. Von welcher Lebensform bzw. Lebenführung (bios) kann man sagen, daß sie auf eine im vollen Sinn glücklich-gelungene Existenz zielt? Aristoteles diskutiert vier Existenzformen (EN I 5). Die ersten zwei werden schon nach einer kurzen Vorbetrachtung verworfen: Wer seine Existenz bloß auf Genuß ausrichtet (bios apolaustikos), unterwirft sich den jeweils vorherrschenden Trieben und Leidenschaf- 290 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) ten, lebt insofern völlig sklavenartig. Und wer sein Leben bloß auf Gelderwerb ausrichtet (chrêmatistês bios), der verkehrt den Reichtum, der sinnvollerweise lediglich ein Mittel (zum sicheren und angenehmen Leben) ist, zum Selbstzweck. Übrig bleiben zwei Lebensformen, zwischen denen Aristoteles eine einfache Entscheidung nicht mehr für möglich hält. Denn in beiden realisiert sich ein glückliches Leben, in der einen Lebensform allerdings mehr als in der anderen: Die um ihrer selbst willen durchgeführte Erforschung der Prinzipien und Gründe aller Wirklichkeit, die theoretische Existenz, nimmt deshalb den höchsten Rang ein, da sie weder von äußeren Umständen abhängt noch zugunsten anderer Ziele relativiert wird, schließlich deshalb, weil die Theorie jener ausgezeichnete Fall von Praxis ist, bei dem der Vollzug, das Denken, mit seinem Ziel vollständig zusammenfällt. Zugleich tut sich eine dialektische Verschränkung von theoretischer und praktischer Philosophie auf: Während sich in der Ersten Philosophie die Vernunft- und Sprachbegabung des Menschen in vollendeter Weise realisiert, ist es die Ethik, die den Vollzug der Ersten Philosophie als höchste Form menschlicher Existenz begründet. Allerdings ist das, was die Gottheit ständig tut: das Sichselbstdenken des Geistes, dem Menschen nur für kurze Zeitspannen vergönnt. Weil der Mensch nicht reine Intelligenz, sondern auch ein Lebewesen ist, bleibt er auf die Notwendigkeiten des Lebens und auf das Zusammensein mit seinesgleichen in der Polis grundsätzlich angewiesen. Aus diesem Grund gibt es eine zweite Lebensform eigener Dignität, die wegen der Bedeutung der Charaktertugenden und deren sozialen, sogar politischen Zusammenhangs als sittlich-politisches Leben zu bezeichnen ist (bios politikos). Sittlich-politisches Leben Der Untersuchung der zweiten Lebensform widmet Aristoteles den Hauptteil seiner Ethik: Die sittlich-politische Existenz steht im Gegensatz zu einem Leben, das von den naturwüchsigen Leidenschaften beherrscht ist (kata pathos zên). Sie ist das vernunftgemäße Leben (kata logon zên), das sich aus dem Zusammenspiel von zwei Grundhaltungen ergibt, der Charakter- und der Verstandestugend. Auf- 291 Einleitung grund der Charaktertugend (aretê êthike), etwa der Tapferkeit, Besonnenheit, Freigebigkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, wird man in den verschiedensten Lebensumständen die sittlich richtigen Ziele sehen und tatsächlich verfolgen. Aristoteles bestimmt die Charaktertugend auf klassische Weise, durch Gattung und Art. Der Gattung nach gilt sie als eine Haltung oder Einstellung (hexis), der Art nach als eine Mitte für uns (meson pros hêmas). Wer aus einer Haltung heraus lebt, handelt so, wie er handelt, nicht aus Zufall oder aus einer glücklichen Stimmung, sondern aus einem festen Bestandteil seiner Persönlichkeit und daher in aller Verläßlichkeit. Zu einer derartigen Haltung gibt es durchaus eine natürliche Anlage (VI 13, 1144b1ff.) Die eigentliche Tugend muß man aber lernen, und zwar durch Einüben, nicht durch ein Theoretisieren. Wie man das Flöten- oder Klavierspiel nicht durch Vorlesungen, sondern durch viel Üben lernt, so wird man nur durch gerechtes Handeln gerecht, nur durch besonnenes Handeln besonnen und allgemein nur durch tugendhaftes Handeln tugendhaft. Abgeschlossen ist der Lernprozeß, wenn man zu seinen Leidenschaften bzw. Affekten (pathê) jenes richtige Verhältnis gefunden hat, das Aristoteles als Mitte, und zwar einer Mitte „für uns“ bestimmt. Nur bei der Gerechtigkeit gebe es eine objektive Mitte (pragmatos meson). Daß zum Beispiel die Tapferkeit in der Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit liege, besagt zwar auch, daß der Tollkühne über zu viel und der Feige über zu wenig Mut verfügt. Wichtiger ist jedoch, daß sich beide einer natürlichen Neigung hingeben, wobei der eine vor keinen Gefahren zurückschreckt und der andere sich vor jeder Gefahr drückt. „Tapfer“ heißt hingegen, wer sich gegenüber Gefahren unerschrocken und standhaft verhält, sie daher souverän zu meistern versteht. Worin genau die Haltung liegt, läßt sich aber, darauf spielt der Zusatz „(Mitte) für uns“ an, nicht subjektunabhängig sagen. Von dem, der vor Gefahren eher spontan zurückschreckt, ist etwas anderes zu erwarten als von dem, der lieber „blind vorprescht“. Nicht zuletzt kommt es auf die Art und Größe der Gefahr an. Analog besteht angesichts körperlicher Lust die natürliche Neigung entweder in Zügellosigkeit oder, was seltener vorkomme, in Stumpfsinn, die maßvolle Praxis dagegen in Besonnenheit. In Geldfragen wendet sich die Haltung, die einem Freien (eleutheros) gebührt, 292 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) die Freigebigkeit, sowohl gegen Verschwendung als auch gegen Geiz: Nur wer sich an sein Vermögen weder ängstlich klammert noch es gedankenlos verschleudert, ist in einem personalen Sinn frei. Bei diesen und weiteren Tugenden gibt es einen Situationstyp, der den jeweiligen Aufgabenbereich definiert und sich aus allgemeinmenschlichen Bedingungen ergibt. Aristoteles’ Charaktertugenden sind geschichtlich gewachsene Schematisierungen moralischer Praxis, vorgenommen in bezug auf Leidenschaftstypen und Handlungsbereiche, die nicht etwa typisch griechisch, sondern allgemeinmenschlicher Natur sind. Die Charaktertugenden allein befähigen noch nicht zum Glück. Denn sie schaffen nur die richtigen Grundhaltungen, während die situationsgerechte Konkretisierung fehlt. Dafür zuständig ist eine intellektuelle Tugend mit handlungsleitender Kraft, eine sittlich-politische Urteilskraft, die Aristoteles phrônesis nennt, was am besten mit „(Lebens-) Klugheit“ übersetzt wird. Als Mitte zwischen Gerissenheit und Einfalt ist die Klugheit zwar lediglich für Mittel und Wege zuständig, aber nicht im Blick auf beliebige Ziele, nicht einmal auf ein so selbstverständliches Teilziel wie die Gesundheit. Zur Definition gehört es, auf jenes Ziel im Singular und mit bestimmtem Artikel ausgerichtet zu sein, das im gelungenen Leben insgesamt (eu zên holôs) besteht (VI 13, 1145a6 und VI 5, 1140a27f.). Während die Charaktertugenden für die Grundausrichtung auf das eu, die Eudaimonie, zuständig sind, sorgt unter Voraussetzung dieser Grundausrichtung die intellektuelle Klugheit für deren situationsgerechte Konkretisierung: Wer Klugheit besitzt, versteht sich auf eine dem Leitziel Glück verpflichtete Überlegung. Das durch beide Faktoren, die Charaktertugend und die Klugheit gestiftete sittlich-politische Leben tritt exemplarisch im vortrefflichen Menschen (spoudaios, phronimos anêr) hervor, dem lebendigen Vorbild für die Mitbürger. Willensschwäche Zu den bestkomponierten Teilen der Ethik gehört die relativ selbständige Abhandlung über akrasia, die man mit „Willensschwäche“ oder „Unbeherrschtheit“ übersetzt. Aristoteles wirft drei Fragen auf: Han- 293 Einleitung delt der Unbeherrschte wissend oder nicht? Bezieht er sich auf jede Art von Lust und Unlust? Schließlich: Wie verhalten sich die Unbeherrschtheit und andere Formen von Ohnmacht praktischer Vernunft zueinander? Für die erste und systematisch wichtigste Frage ist der entscheidende Gesprächspartner Sokrates mit der These „Tugend ist Wissen“. Das entscheidende Kapitel 5 operiert der Sache nach mit den auf Handlungen bezogenen, sogenannten praktischen Syllogismen; auch Aristoteles diskutiert also die Willensschwäche als ein Problem des Wissens. Zu diesem Zweck führt er drei begriffliche Unterscheidungen ein und ergänzt sie um eine „naturwissenschaftliche“ Überlegung (physikôs). Diese vier Elemente könnten auf vier selbständige Lösungen hinauslaufen; plausibler ist es aber, sie als vier Bausteine anzusehen, die erst zusammengenommen Aristoteles’ Lösung ergeben. Im Hintergrund der ersten Unterscheidung, dem Gebrauchmachen und Nichtgebrauchmachen von einem Wissen, steht das Begriffspaar Potenz und Akt. Mit seiner Hilfe kann man in der Willensschwäche einen epistemischen Mangel sehen, ohne dem Willensschwachen ein zu geringes Wissen zu unterstellen. In Wahrheit „hat“ der Betreffende genug Wissen, nur ist es in ihm wie ein toter Besitz. Nach der zweiten Unterscheidung benennt von den beiden Vordersätzen innerhalb des praktischen Syllogismus der Obersatz das Allgemeine und der Untersatz das Individuelle. Insofern die Charaktertugend für die allgemeine Ausrichtung und die Klugheit für die individuelle Konkretion verantwortlich ist, zeigt der praktische Syllogismus wie im Vorübergehen die genannte Handlungsstruktur, das Zusammenspiel von charakterlicher und epistemischer Kompetenz. Außerdem werden zwei Arten moralischer Pathologie durchsichtig: Wem das „Wissen“ ums Allgemeine fehlt, der ist schlecht; wem das Wissen um den Einzelfall fehlt, der ist unklug bzw. töricht. In der Unbeherrschtheit liegt jedoch eine dritte Pathologie vor; sie wird erst in Verbindung mit der ersten Unterscheidung deutlich. Danach „hat“ man das Wissen um beide Vordersätze und kann trotzdem dagegen handeln, da man beim individuellen Vordersatz das Wissen nicht aktualisiert. Die dritte Unterscheidung präzisiert das Nichtaktualisieren: Man besitzt das Wissen wie ein wacher Mensch oder aber wie jemand, der entweder schläft oder wahnsinnig oder betrunken ist. Im zweiten Fall 294 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) kann man durchaus schwierige Dinge hersagen. Wie ein Schauspieler auf der Bühne schlüpft man jedoch in eine fremde Rolle. Nach der vierten, „naturwissenschaftlichen“ Überlegung gibt es zwei konkurrierende Obersätze, etwa „das Kosten von Süßem ist verboten“ und „das Süße ist angenehm“, wobei sich wegen einer aktuellen Begierde der zweite, aufs Süße gerichtete Obersatz durchsetzt. Mit Hilfe dieser drei Unterscheidungen läßt sich nun sagen, inwiefern der Unbeherrschte oder Willensschwache „ohne oder gegen eine Entscheidung“ handelt: Insofern er einem Betrunkenen ähnelt, handelt er hinsichtlich eines ersten, voluntativen Moments von Entscheidung freiwillig, denn er weiß, was er tut und wozu (VII 11, 1152a15f.), aber es geschieht in der eingeschränkten Form des Unwissenden. Hinsichtlich des zweiten Elements, der Überlegung, stehen beide Möglichkeiten offen: Die Willensschwäche „ist teils Voreiligkeit, teils Schwäche. Denn die einen haben zwar überlegt, bleiben dann aber wegen des Affekts nicht bei dem, was sie überlegt haben, die anderen werden, weil sie nicht überlegt haben, vom Affekt geleitet“ (VII 8, 1150b19-22). Schließlich ist hinsichtlich der charakterlichen Vorgabe willensschwach, wer im Unterschied zum Zügellosen zwar über moralische Vorgaben verfügt, diese aber in ihm noch nicht hinreichend verwurzelt sind: Im Wettstreit zwischen Vernunft und Begierde gehen die Begierden nicht grundsätzlich, aber doch immer wieder als Sieger hervor. Freundschaft, Lust Am ausführlichsten, in zwei Büchern, untersucht Aristoteles die Freundschaft. Er versteht darunter den bunten Strauß nichtinstitutionalisierter Beziehungen. Für die Freundschaft unter Gleichen nennt er drei Arten: Entweder kommt es auf den Nutzen oder auf die Lust oder auf das wahrhaft Gute und zugleich den Freund selbst an. Aristoteles widmet einem so wichtigen Phänomen wie der Lust zwei Abhandlungen (VII 12-15 und X 1-5). In der ersten setzt er die Lust mit der ungehinderten Tätigkeit gleich. In der zweiten bestimmt er sie als eine zur vollkommenen Tätigkeit hinzukommende Vollendung, vergleichbar mit der Schönheit, die sich in der Blüte der Jahre einstellt (X 4, 1174b33). 295 Einleitung Gerechtigkeit (iustitia) Gewaltsame Delikte: Ordnung, Austausch allgemeine G. (i. universalis) besondere G. (i. particularis) gesetzlich (positives Recht) natürlich (Naturrecht) gewaltsame Delikte: Mißhandlung, Freiheitsberaubung, Tötung, Raub, Verstümmelung, üble Nachrede, Beschimpfung verborgene Delikte: Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei, Abspenstigmachen von Sklaven, Meuchelmord, falsches Zeugnis Kauf, Verkauf, Darlehen, Bürgschaft unfreiwillig (Strafrecht) korrektive Gerechtigkeit (i. correctiva) freiwillig (Zivilrecht) korrektive Gerechtigkeit (i. commutativa) politisch (Selbstregierung freier Bürger) nicht-politisch (z. B. Hausgemeinschaft) Verteilung (i. distributiva) (Ehre, Geld, Selbsterhaltung) schlechthin ( „ abstrakt “ ) in Institutionen Aristoteles’ Unterscheidungen zur Gerechtigkeit 1 1 Dieses Schaubild ist entnommen aus: Höffe, O., Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. München 2001, S. 25. 296 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) 1. Gegenstand und Methode; Glück [1094a1] Jedes Herstellungswissen und jedes wissenschaftliche Vorgehen, ebenso jedes Handeln und Vorhaben strebt, so die verbreitete Meinung, nach einem Gut. Deshalb hat man „Gut“ zu Recht erklärt als „das, wonach alles strebt“. Doch zeigt sich ein Unterschied zwischen den Zielen; einige sind Tätigkeiten, andere darüber hinaus Produkte der Tätigkeiten. Wo es Ziele über die Handlungen hinaus gibt, sind die Produkte naturgemäß besser als die Tätigkeiten. Da es nun viele Arten des Handelns, Herstellungswissens und der Wissenschaft gibt, gibt es auch viele Ziele; so ist das Ziel der Medizin die Gesundheit, dasjenige des Schiffsbaus das Schiff, das der Strategik (Heerführung) der Sieg, das der Haushaltsführung der Reichtum. Wo solche Kenntnisse einer bestimmten Fähigkeit unterstehen - wie die Sattlerei und die übrigen Kenntnisse, die mit der Ausstattung von Pferden zu tun haben, der Reitkunst untergeordnet sind, während diese und alle Arten kriegerischer Handlungen ihrerseits der Strategik unterstehen, und auf dieselbe Weise andere Arten des Handelns wieder anderen -, in allen diesen Fällen sind die Ziele der leitenden Kenntnisse wählenswerter als die der untergeordneten; denn jenen zuliebe werden auch diese verfolgt. Hierbei ist es gleichgültig, ob die Ziele der Handlungen die Tätigkeiten selbst sind oder etwas darüber hinaus, wie das bei den erwähnten Arten von Kenntnissen der Fall ist. Wenn es nun für das, was wir tun, ein Ziel gibt, das wir um seiner selbst willen wünschen, während wir die übrigen Dinge um seinetwillen wünschen, und wenn wir nicht alles um eines weitergehenden Ziels willen wählen - denn auf diese Weise ginge der Prozeß ins Unendliche, so daß das Streben leer und vergeblich würde -, dann wird offensichtlich dieses [Ziel] das Gut, und zwar das beste Gut sein. Wird nun das Erkennen dieses Guts nicht auch großes Gewicht für die Lebensführung haben, und werden wir dadurch nicht wie Bogenschützen, die einen Zielpunkt haben, eher das Richtige treffen? Wenn ja, dann müssen wir zumindest im Umriß zu erfassen versu- 297 1. Gegenstand und Methode; Glück chen, was es sein könnte und zu welcher Wissenschaft oder Fähigkeit es gehört. Man sollte annehmen, daß es Gegenstand derjenigen Disziplin ist, die am meisten leitet und anordnet. Als so beschaffen erweist sich die Politik. Denn diese ordnet an, welche Kenntnisse im Staat [1094b] vertreten sein müssen, welche jeder Einzelne lernen muß und bis zu welchem Grad. Wir sehen, wie ihr sogar die am höchsten geschätzten Fähigkeiten unterstehen, zum Beispiel Strategik, Haushaltsführung, Rhetorik. Da nun die Politik sich die übrigen praktischen Wissenschaften zunutze macht und außerdem Gesetze darüber erläßt, was man tun und was man unterlassen soll, wird ihr Ziel das der anderen Kenntnisse mit umfassen, so daß dieses das Gut für den Menschen sein wird. Denn auch wenn das Ziel dasselbe für den Einzelnen und für den Staat ist, scheint größer und vollkommener doch das Gut des Staates, was das Erreichen ebenso wie was das Bewahren betrifft. Denn erfreulich ist es zwar auch für Einen allein, schöner und göttlicher aber für ein ganzes Volk oder einen Staat. Unsere Untersuchung ist also auf diese Dinge gerichtet und stellt eine Art politische Untersuchung dar. Unsere Ausführungen werden dann ausreichen, wenn ihre Klarheit und Bestimmtheit dem vorliegenden Stoff entspricht; denn man darf nicht bei allen Erörterungen denselben Grad von Genauigkeit suchen, sowenig wie bei handwerklichen Produkten. Die werthaften und gerechten Handlungen, die die politische Wissenschaft untersucht, weisen große Unterschiede und Schwankungen auf, so daß man denken könnte, daß sie nur durch Konvention und nicht von Natur aus richtig und gerecht sind. Solche Schwankungen finden wir auch bei den Gütern, da vielen Menschen aus ihnen Schaden entsteht. Denn schon manche Menschen sind durch ihren Reichtum zugrunde gegangen, andere durch ihre Tapferkeit. Es muß also, wenn wir über solche Dinge und ausgehend von solchen Voraussetzungen reden, genügen, grob und im Umriß die Wahrheit aufzuzeigen; und wenn wir über dasjenige reden, was meistens der Fall ist, und dies zur Voraussetzung haben, muß es genügen, zu Folgerungen zu kommen, die ebenso beschaffen sind. Auf dieselbe Weise muß daher auch jede Aussage aufgenommen werden. Denn einen gebildeten Menschen erkennt man daran, daß 298 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) er in jeder Gattung der Dinge nur so viel Genauigkeit sucht, wie die Natur der Sache zuläßt: Von einem Mathematiker bloße Plausibilitätsargumente zu akzeptieren ist ähnlich verfehlt, wie von einem Redner strenge Beweise zu verlangen. Jeder beurteilt die Dinge gut, die er kennt, und ist darin ein guter Beurteiler. Gut über [1095a] einen bestimmten Gegenstand urteilt, wer darin ausgebildet ist, und gut überhaupt, wer in allem ausgebildet ist. Aus diesem Grund sind junge Menschen keine geeigneten Hörer der politischen Wissenschaft. Denn sie sind unerfahren in den Handlungen, in denen das Leben besteht; diese aber bilden gerade den Gegenstand und Ausgangspunkt der Untersuchung. Ferner wird für sie, die dazu neigen, ihren Affekten zu folgen, das Zuhören vergeblich und nutzlos sein; denn Ziel der politischen Untersuchung ist ja nicht das Erkennen, sondern das Handeln. Dabei ist es gleichgültig, ob sie jung an Jahren oder unreif im Charakter sind; ihre Unzulänglichkeit hängt nicht von der Zeit ab, sondern ergibt sich daraus, daß sie vom Affekt geleitet leben und auf diese Weise ihre jeweiligen Ziele verfolgen. Solchen Menschen bringt das Erkennen keinen Nutzen - ebensowenig wie den Unbeherrschten. Hingegen wird für diejenigen, die ihre Strebungen nach der Vernunft gestalten und entsprechend handeln, das Wissen über diese Dinge von vielfältigem Nutzen sein. Das sei einleitend gesagt über den Hörer, wie die Untersuchung aufzunehmen ist und was wir vorhaben. Nehmen wir nun das Vorherige wieder auf: Da jedes Erkennen und jedes Vorhaben nach einem Gut strebt, wonach strebt unserer Meinung nach die Politikwissenschaft, und welches ist das höchste aller durch Handeln erreichbaren Güter? Im Namen stimmen die meisten Menschen ziemlich überein: „Das Glück“, sagen nämlich sowohl die Leute aus der Menge als auch die kultivierten Menschen; und dabei setzen sie das Glücklichsein damit gleich, daß man gut lebt und gut handelt. Darüber jedoch, was das Glück ist, besteht Uneinigkeit, und die Leute aus der Menge geben nicht dieselbe Antwort wie die Gebildeten. Jene nämlich halten es für etwas Sichtbares und Offenkundiges, wie Lust oder Reichtum oder Ehre, wobei jeder etwas anderes nennt und oft auch ein und derselbe Verschiedenes: wenn er krank ist, die 299 1. Gegenstand und Methode; Glück Gesundheit, wenn er arm ist, den Reichtum. Im Bewußtsein ihrer eigenen Unwissenheit aber bewundern sie jene, die etwas Großes sagen, das ihr Verständnis übersteigt. Einige Leute aber meinten, daß es neben diesen vielen Gütern ein anderes, für sich seiendes Gut gibt, das auch für alle eben genannten Güter die Ursache ihres Gutseins ist. Es ist wohl eine ziemlich vergebliche Mühe, alle Meinungen zu prüfen, und es genügt, diejenigen zu untersuchen, die am weitesten verbreitet sind oder einigermaßen begründet scheinen. Dabei sollten wir beachten, daß es einen Unterschied gibt zwischen Begründungen, die von den Prinzipien ausgehen, und solchen, die zu den Prinzipien hinführen. Mit Recht nahm daher auch Platon diese Schwierigkeit immer wieder auf, indem er untersuchte, ob der Weg von den Prinzipien kommt oder zu ihnen führt - wie der Lauf [1095b] im Stadion von den Schiedsrichtern zum Wendepunkt und zurück geht. Man muß nämlich von dem Bekannten ausgehen. Doch dieses ist von zweifacher Art. Das eine ist das für uns Bekannte, das andere das überhaupt Bekannte. Vermutlich müssen wir also mit dem für uns Bekannten anfangen. Daher muß, wer für das Hören von Ausführungen über das Werthafte und Gerechte, allgemein über die Themen der politischen Untersuchung, geeignet sein will, bereits einen guten Charakter erworben haben. Denn Ausgangspunkt ist das Daß, und wenn uns dies hinreichend deutlich ist, wird nicht noch darüber hinaus das Warum erforderlich sein. Wer so beschaffen ist [einen guten Charakter erworben hat], der besitzt entweder die ersten Prinzipien, oder er wird sie leicht erhalten. Der, für den weder das eine noch das andere gilt, höre auf die Worte Hesiods: „Von allen der Beste ist, wer selbst alles bedenkt; gut ist auch, wer auf den guten Rat eines anderen hört. Wer aber weder selbst denkt noch sich zu Herzen nimmt, was er von einem anderen hört, ist ein unbrauchbarer Mann.“ Wir wollen nun die Erörterung an dem Punkt wieder aufnehmen, von dem wir abgeschweift sind. Nach den Lebensformen zu schließen scheinen die Leute aus der Menge, das heißt die vulgärsten, das Gut und das Glück - nicht ganz grundlos - in der Lust zu sehen, weshalb sie das Leben des Genusses lieben. Es gibt nämlich insbesondere drei vorherrschende Lebensformen: die gerade erwähnte, dann 300 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) das politische Leben und als dritte das betrachtende Leben. Die meisten Menschen nun ziehen offenbar auf gänzlich sklavenhafte Art das Leben des Viehs vor. Sie bekommen aber auf gewisse Weise Recht, da viele unter den Mächtigen ähnliche Empfindungen haben wie Sardanapal. Die kultivierten und aktiven Menschen dagegen wählen die Ehre, denn darin besteht grob gesprochen das Ziel des politischen Lebens. Die Ehre scheint allerdings oberflächlicher zu sein als das gesuchte Ziel, da man annimmt, daß sie mehr von den Ehrenden als von dem Geehrten abhängt, während wir die dunkle Ahnung haben, daß das Gut etwas Eigenes ist, das man jemandem nur schwer wegnehmen kann. Außerdem scheint man die Ehre zu verfolgen, um sich zu überzeugen, daß man selbst gut ist. Jedenfalls will man von den Klugen geehrt werden und von denen, denen man bekannt ist, und das aufgrund der eigenen Gutheit. Es ist also klar, daß zumindest nach Meinung dieser Menschen Gutheit mehr Gewicht hat als Ehre. Vielleicht könnte man dann annehmen, daß eher diese [die Gutheit] das Ziel des politischen Lebens ist. Doch erweist auch diese sich als etwas, das zu wenig fertig ist. Denn man hält es für möglich, daß jemand, während er die Tugend besitzt, schläft oder das ganze Leben hindurch untätig ist, und darüber hinaus, daß man im Besitz der Tugend [1096a] die größten Übel und Unglücksfälle erleidet. Jemanden, der so lebt, würde niemand glücklich nennen, es sei denn um der Rettung der These willen. Das genügt zu diesen Fragen, da sie ausführlich auch in den populären Schriften behandelt wurden. Die dritte der Lebensformen ist die betrachtende, die wir an späterer Stelle untersuchen werden. Das Leben des Gelderwerbs hat etwas Erzwungenes, und der Reichtum ist sicher nicht das gesuchte Gut. Denn er ist nützlich, das heißt, er wird [nur] anderem zuliebe erstrebt. Deswegen könnte man eher die davor erwähnten Dinge für Ziele halten; denn diese werden um ihrer selbst willen geschätzt. Doch auch sie scheinen nicht das gesuchte Ziel zu sein, obwohl für sie viele Argumente verbreitet sind. Hiermit wollen wir uns jetzt nicht weiter befassen. (EN I 1-3) [1097a15] Kommen wir nun auf die Frage zurück, was das gesuchte Gut sein könnte. Offensichtlich ist es für verschiedene Arten des 301 1. Gegenstand und Methode; Glück Handelns und Herstellungswissens verschieden. Denn es ist ein anderes in der Medizin, in der Strategik und ebenso in den anderen Bereichen. Was ist nun das Gut in jedem dieser Fälle? Ist es etwa das, dem zuliebe das Übrige getan wird? In der Medizin ist dies die Gesundheit, in der Strategik der Sieg, in der Baukunst das Haus, in einem anderen Bereich wieder etwas anderes, kurz: Bei jeder Handlung und jedem Vorhaben ist es das Ziel; denn dieses ist es, um dessentwillen die Menschen jeweils die übrigen Dinge tun. Wenn es daher ein Ziel für alle praktischen Unternehmungen gibt, dann wird dieses das Gut sein, das Gegenstand des Handelns ist, und wenn es mehrere Ziele gibt, dann werden es diese sein. So ist unser Argumentationsgang auf anderem Weg am selben Punkt angekommen; doch müssen wir versuchen, das noch besser zu verdeutlichen. Da sich die Ziele als viele erweisen, wir von diesen aber einige um anderer Dinge willen wählen (wie Reichtum, Flöten und allgemein die Werkzeuge), sind offensichtlich nicht alle Ziele abschließende Ziele. Es ist aber klar, daß das beste Gut abschließenden Charakter hat. Daher wird, wenn es nur ein einziges Abschließendes gibt, dieses das Gesuchte sein, wenn aber mehrere, dasjenige unter ihnen, welches am meisten abschließend ist. Wir nennen das als solches Erstrebte mehr abschließend als das um einer anderen Sache willen Erstrebte, und das niemals um einer anderen Sache willen Erstrebte mehr abschließend als das sowohl als solches wie um anderer Sachen willen Erstrebte, während wir abschließend überhaupt dasjenige nennen, was immer als solches und nie um einer anderen Sache willen gewählt wird. Als derartiges Ziel gilt aber insbesondere das Glück; [1097b] dieses nämlich wählen wir immer um seiner selbst willen und niemals um anderer Dinge willen, während wir Ehre, Lust, Vernunft und jede Tugend zwar um ihrer selbst willen wählen (denn selbst wenn sich nichts aus ihnen ergeben würde, würden wir doch jedes von ihnen wählen), aber auch dem Glück zuliebe, weil wir annehmen, daß wir durch sie glücklich sein werden. Das Glück dagegen wählt niemand diesen anderen Zielen zuliebe oder überhaupt um anderer Dinge willen. Dasselbe Ergebnis scheint auch aus dem Kriterium der Autarkie zu folgen; denn das abschließende Gut gilt als autark. 302 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Mit „autark“ meinen wir nicht, was für einen Menschen allein genügt, für jemanden, der ein isoliertes Leben führt, sondern was auch für die Eltern, Kinder, Ehefrau, allgemein für die Freunde und Mitbürger genügt, da der Mensch seiner Natur nach in die politische Gemeinschaft gehört. Hier muß man allerdings eine bestimmte Grenze festlegen; denn wenn wir den Kreis auf die Vorfahren, Nachkommen und Freunde von Freunden ausdehnen, geht die Reihe ins Unendliche. Doch dies müssen wir später untersuchen. Das Autarke bestimmen wir als dasjenige, was auch dann, wenn man nur es allein besitzen würde, das Leben wählenswert macht und ihm nichts fehlen läßt. Für so beschaffen halten wir aber das Glück. Wir halten es außerdem für das wählenswerteste unter allen Dingen, wobei es nicht als ein Gut unter anderen Gütern gezählt wird - zählt man es so mit, würde es offensichtlich wählenswerter, wenn man auch nur das kleinste Gut hinzuaddiert, da das Hinzugefügte ein Plus an Gütern ergibt und jeweils das größere Gut wählenswerter ist. Das Glück erweist sich also als etwas, das abschließend und autark ist; es ist das Ziel all dessen, was wir tun. Doch zu sagen, daß das beste Gut im Glück besteht, ist wohl offensichtlich ein Gemeinplatz, und man wünscht sich, noch genauer erläutert zu haben, was es ist. Nun wird das vielleicht geschehen können, wenn man die Funktion des Menschen erfaßt. Wie man nämlich annimmt, daß für den Flötenspieler, den Bildhauer und jeden Fachmann in einem Herstellungswissen, allgemein für jeden, der eine bestimmte Funktion und Tätigkeit hat, „gut“ und „auf gute Weise“ in der Funktion liegt, so sollte man annehmen, daß das wohl auch für den Menschen zutrifft, wenn er wirklich eine bestimmte Funktion hat. Sollten also wirklich der Schreiner und der Schuster bestimmte Funktionen und Tätigkeiten haben, der Mensch hingegen keine, sondern von Natur aus ohne Funktion sein? Oder kann man, ebenso wie offensichtlich das Auge, die Hand, der Fuß, allgemein jeder Körperteil eine bestimmte Funktion besitzt, so auch für den Menschen eine bestimmte Funktion neben all diesen Funktionen ansetzen? Welche nun könnte das sein? Das Leben scheint der Mensch mit den Pflanzen gemeinsam zu haben, gesucht ist aber die ihm eigen- 303 1. Gegenstand und Methode; Glück tümliche Funktion. [1098a] Das [vegetative] Leben der Ernährung und des Wachstums ist also auszusondern. Als Nächstes käme wohl das Leben der Wahrnehmung, doch auch dieses teilt der Mensch offenkundig mit dem Pferd, dem Rind und überhaupt mit jedem Tier. Übrig bleibt also ein tätiges Leben desjenigen Bestandteils in der menschlichen Seele, der Vernunft besitzt; von diesem hat ein Teil Vernunft in der Weise, daß er der Vernunft gehorcht, der andere so, daß er sie hat und denkt. Da aber auch von diesem letzteren Teil in zwei Bedeutungen gesprochen wird, müssen wir sagen, daß er im Sinn der Betätigung zu verstehen ist, da er so im eigentlicheren Sinn bezeichnet werden dürfte. Wenn nun die Funktion des Menschen eine Tätigkeit der Seele entsprechend der Vernunft oder wenigstens nicht ohne Vernunft ist und wenn wir sagen, daß die Funktion eines So-und-so und die eines guten So-und-so zur selben Art gehören, zum Beispiel die eines Kitharaspielers und die eines guten Kitharaspielers, und so überhaupt in allen Fällen, wobei das Herausragen im Sinn der Gutheit zur Funktion hinzugefügt wird (denn die Funktion eines Kitharaspielers ist, die Kithara zu spielen, und die Funktion des guten Kitharaspielers, das auf gute Weise zu tun) - wenn das der Fall ist, wenn wir aber als die Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise annehmen, und zwar eine Tätigkeit der Seele oder der Vernunft entsprechende Handlungen, als die Funktion des guten Menschen aber, diese Handlungen auf gute und angemessene Weise zu tun, und wenn jede Handlung gut verrichtet ist, wenn sie im Sinn der eigentümlichen Tugend verrichtet ist - wenn es sich so verhält: dann erweist sich das Gut für den Menschen als Tätigkeit der Seele im Sinn der Gutheit, und wenn es mehrere Arten der Gutheit gibt, im Sinn derjenigen, welche die beste und am meisten ein abschließendes Ziel ist. Hinzufügen müssen wir: „in einem ganzen Leben“. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig und glücklich. (EN I 5-6) 304 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) 2. Seele [1102a26] Über die Seele ist einiges ganz hinreichend auch in den exoterischen Schriften gesagt. Davon ist nun hier Gebrauch zu machen: beispielsweise daß der eine Bestandteil der Seele vernunftlos ist, während der andere Vernunft besitzt. Ob diese so getrennt sind wie die Teile des Körpers und wie alles Teilbare oder ob sie der Definition nach zwei sind, aber von Natur aus untrennbar - wie das Konvexe und das Konkave im Fall einer gewölbten Oberfläche -, spielt für unsere gegenwärtige Untersuchung keine Rolle. Vom vernunftlosen Bestandteil scheint der eine allem Lebenden gemeinsam und vegetativ. Ich meine denjenigen, der Ursache der Ernährung und des Wachstums ist; denn ein derartiges Vermögen der Seele wird man allen Wesen zuschreiben, die Nahrung [1102b] aufnehmen, auch den Embryonen, und dasselbe Vermögen auch den ausgewachsenen Wesen; das ist plausibler, als bei ihnen ein anderes Vermögen anzunehmen. Die Gutheit dieses Vermögens ist offenbar allen Lebewesen gemeinsam und nicht spezifisch menschlich. Denn dieser Teil und dieses Vermögen sind, so meint man, am meisten im Schlaf tätig; der Gute und der Schlechte aber sind im Schlaf am wenigsten voneinander zu unterscheiden (woher der Satz kommt, daß sich das halbe Leben die Glücklichen nicht von den Unglücklichen unterscheiden). Das ist naheliegend, denn der Schlaf ist eine Untätigkeit der Seele in der Hinsicht, in der sie als gut oder schlecht bezeichnet wird, es sei denn, einige der Bewegungen dringen in geringem Grad tatsächlich im Schlaf zu uns durch, und die Traumvorstellungen der guten Menschen sind in dieser Hinsicht besser als die von beliebigen Menschen. Doch genug hierüber; lassen wir das Ernährungsvermögen beiseite, da es seiner Natur nach keinen Anteil an der menschlichen Gutheit hat. Es scheint aber noch ein anderer natürlicher Bestandteil der Seele vernunftlos zu sein, der allerdings auf gewisse Weise an der Vernunft Anteil hat. Beim Beherrschten und Unbeherrschten loben wir nämlich die Vernunft bzw. den vernünftigen Bestandteil ihrer Seele, da er auf richtige Weise und zum Besten antreibt. Anscheinend ist aber noch etwas anderes neben der Vernunft in ihrer [der Beherrschten 305 2. Seele und Unbeherrschten] Natur vorhanden, das mit der Vernunft kämpft und ihr Widerstand leistet. Denn genau wie gelähmte Glieder eines Körpers, wenn man sie nach rechts bewegen will, in die entgegengesetzte Richtung nach links abirren, so verhält es sich mit der Seele: Die Antriebe der Unbeherrschten gehen in entgegengesetzte Richtungen. Aber während wir beim Körper sehen, was in eine andere Richtung abirrt, ist das bei der Seele nicht der Fall. Dennoch müssen wir wohl annehmen, daß es ebenso auch in der Seele etwas neben der Vernunft gibt, das sich ihr entgegenstellt und ihr Widerstand leistet. In welchem Sinn es verschieden ist, spielt keine Rolle. Doch scheint wie gesagt auch dieser Teil an der Vernunft teilzuhaben; jedenfalls gehorcht er der Vernunft beim Beherrschten - und vermutlich ist er noch gehorsamer beim Mäßigen und Tapferen, denn bei ihm stimmt er in allem mit der Vernunft überein. Anscheinend ist also der vernunftlose Bestandteil ebenfalls [wie die Seele im ganzen] von zweifacher Art. Denn der vegetative Bestandteil hat niemals etwas mit der Vernunft gemeinsam, während der begehrende und allgemein der strebende Bestandteil auf gewisse Weise an ihr teilhat, insofern er auf sie hört und ihr gehorcht. In diesem Sinn sagen wir, daß wir den Rat des Vaters oder der Freunde in Rechnung stellen, wobei wir diesen Ausdruck nicht in dem Sinn wie in der Mathematik gebrauchen. Daß das Vernunftlose auf gewisse Weise der Vernunft gehorcht, zeigt sich auch in unserer Praxis des Ermahnens und in allen Arten des Tadelns und [1103a] Ermutigens. Wenn man auch von diesem Bestandteil sagen muß, daß er Vernunft besitzt, dann wird der vernunftbesitzende Bestandteil ebenfalls [wie der vernunftlose] von zweifacher Art sein: Der eine seiner Teile besitzt die Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich selbst, der andere in der Weise, daß er auf sie so hören kann, wie man auf den Vater hört. In Entsprechung zu diesem Unterschied wird auch die Gutheit aufgeteilt. Denn wir nennen von den Arten der Gutheit die einen Tugenden des Denkens, die anderen Tugenden des Charakters. Dabei sind Weisheit, Verständigkeit und Klugheit Tugenden des Denkens, Großzügigkeit und Mäßigkeit solche des Charakters. Wenn wir über den Charakter eines Menschen reden, sagen wir nicht, daß er weise oder verständig, sondern daß er sanftmütig oder mäßig ist. 306 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Doch loben wir auch den Weisen für seine Disposition, und die lobenswerten Dispositionen nennen wir Tugenden. (EN I 13) 3. Tugend als „Mitte für uns“ [1103a14] Da die Gutheit also zwei Arten aufweist, die Gutheit des Denkens und die charakterliche Gutheit, verdankt die Gutheit des Denkens sowohl ihr Entstehen als auch ihr Anwachsen größtenteils der Belehrung - weshalb sie Erfahrung und Zeit erfordert -, während die charakterliche Gutheit aus Gewöhnung hervorgeht; daher auch ihr Name, der nur wenig von dem Wort ethos (Gewohnheit) abweicht. Hieraus wird auch deutlich, daß keine der Tugenden des Charakters in uns von Natur aus entsteht. Denn kein natürliches Ding wird durch Gewöhnung geändert. Beispielsweise läßt sich ein Stein, der von Natur aus nach unten fällt, nicht daran gewöhnen, nach oben zu fliegen, selbst wenn jemand ihn dadurch daran gewöhnen wollte, daß er ihn zehntausendmal nach oben wirft. Ebensowenig kann man das Feuer daran gewöhnen, sich nach unten zu bewegen, und man wird auch keines von den übrigen Dingen, das von Natur aus auf eine bestimmte Weise beschaffen ist, daran gewöhnen, sich auf eine andere Weise zu verhalten. Also entstehen die Tugenden in uns weder von Natur aus noch gegen die Natur. Vielmehr sind wir von Natur aus fähig, sie aufzunehmen, und durch Gewöhnung werden sie vollständig ausgebildet. Ferner: Bei dem, was uns von Natur aus gegeben ist, besitzen wir zuerst die Fähigkeit und äußern erst später die Tätigkeit, wie das bei der sinnlichen Wahrnehmung deutlich ist. Wir haben nämlich die Wahrnehmungsvermögen nicht durch wiederholtes Sehen oder Hören erworben, sondern umgekehrt: Weil wir die Wahrnehmungsvermögen schon hatten, haben wir sie gebraucht; wir haben sie nicht durch den Gebrauch erst bekommen. Die Tugenden hingegen erwerben wir dadurch, daß wir sie zuvor betätigen, wie das auch bei den Arten des Herstellungswissens der Fall ist. Denn was wir erst lernen müssen, um es zu machen, lernen wir, indem wir es machen. Zum Beispiel wird man Baumeister dadurch, daß man baut, und Kithara- 307 3. Tugend als „Mitte für uns“ spieler dadurch, daß man die Kithara spielt. So werden [1103b] wir auch gerecht dadurch, daß wir Gerechtes tun, mäßig dadurch, daß wir Mäßiges, und tapfer dadurch, daß wir Tapferes tun. Bestätigung hierfür ist auch, was in den Staaten geschieht: Die Gesetzgeber machen die Bürger durch Gewöhnung gut - die Absicht jedes Gesetzgebers besteht darin. Diejenigen aber, die das nicht richtig machen, verfehlen diese Absicht, und gerade darin unterscheidet sich eine gute Verfassung von einer schlechten. Ferner: Dasjenige, woraus und wodurch jede Tugend, und ebenso jedes Herstellungswissen, sowohl entsteht als auch vergeht, ist ein und dasselbe. So entstehen aus dem Kitharaspielen sowohl die guten als auch die schlechten Kitharaspieler. Und Entsprechendes gilt für Baumeister und alle übrigen; aus dem guten Bauen gehen gute Baumeister hervor, aus dem schlechten schlechte. Wenn es sich nicht so verhielte, dann brauchte man keine Lehrer, sondern alle würden als gute oder als schlechte [Baumeister] geboren. So verhält es sich nun auch bei den Tugenden: Indem wir im Verkehr mit anderen Menschen so oder so handeln, werden die einen von uns gerecht, die anderen ungerecht, und indem wir in Gefahrensituationen handeln und uns ans Fürchten oder Muthaben gewöhnen, werden wir tapfer oder feige. Ebenso steht es auch mit den Handlungen im Bereich der Begierde und des Zorns. Die einen werden mäßig und mild, die anderen unmäßig und erzürnbar, indem sich die einen in derartigen Situationen so verhalten, die anderen so. Mit einem Wort: Die Dispositionen entstehen aus den entsprechenden Tätigkeiten. Aus diesem Grund müssen wir den Tätigkeiten, die wir ausüben, eine bestimmte Qualität geben, eben weil den Unterschieden zwischen diesen die Dispositionen entsprechen. Es kommt also nicht wenig darauf an, ob man schon von Kindheit an so oder so gewöhnt wird; es hängt viel davon ab, ja sogar alles. (EN II 1) [1105b19] Als Nächstes müssen wir untersuchen, was die [charakterliche] Tugend ist. Da die Dinge, die in der Seele vorkommen, von dreierlei Art sind, Affekte, Anlagen und Dispositionen, wird die Tugend eines von diesen sein. Mit den Affekten meine ich Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, allgemein Gefühle, die von Lust und Unlust begleitet wer- 308 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) den. Unter Anlagen verstehe ich das, kraft dessen wir für die Affekte empfänglich heißen, zum Beispiel die Anlage, kraft deren wir in der Lage sind, zornig zu werden oder Unlust oder Mitleid zu empfinden. Mit Dispositionen schließlich ist das gemeint, kraft dessen wir den Affekten gegenüber gut oder schlecht disponiert sind: So sind wir dem Zorn gegenüber schlecht disponiert, wenn wir heftig oder schwach zürnen, und gut, wenn auf mittlere Weise; und ebenso bei den übrigen Affekten. Weder Tugenden noch Laster sind Affekte. Denn nicht aufgrund von Affekten werden wir gut oder schlecht genannt, vielmehr aufgrund von Tugenden und Lastern. Und nicht aufgrund unserer Affekte werden wir gelobt oder getadelt (denn man lobt nicht den, der Furcht oder Zorn empfindet, und tadelt nicht den, der überhaupt [1106a] erzürnt ist, sondern den, der das auf eine bestimmte Weise ist); dagegen lobt oder tadelt man uns aufgrund unserer Tugenden oder Laster. Ferner empfinden wir Zorn und Furcht ohne Vorsatz, die Tugenden jedoch sind etwas Vorsätzliches, oder sie sind [jedenfalls] nicht ohne Vorsatz. Außerdem sagt man bei Affekten, daß wir bewegt werden. Bei Tugenden und Lastern aber sagt man nicht, daß wir bewegt werden, sondern daß wir auf bestimmte Weise disponiert sind. Aus diesen Gründen sind sie auch keine Anlagen. Denn man nennt uns nicht gut oder schlecht aufgrund der bloßen Anlage, Affekte zu erleiden, noch werden wir deswegen gelobt oder getadelt. Außerdem haben wir die Anlagen von Natur aus, gut und schlecht aber werden wir nicht von Natur aus. Darüber haben wir zuvor schon gesprochen. Wenn nun die Tugenden weder Affekte noch Anlagen sind, dann bleibt nur übrig, daß sie Dispositionen sind. Was die Tugend der Gattung nach ist, ist hiermit gesagt. Wir dürfen uns aber nicht darauf beschränken zu sagen, daß die [charakterliche] Gutheit eine Disposition ist; vielmehr müssen wir auch sagen, welche Art von Disposition sie ist. Da ist nun zu bemerken, daß jede Gutheit dasjenige, dessen Gutheit sie ist, in eine gute Verfassung bringt und zugleich die Ausübung seiner Funktion gut macht. So macht zum Beispiel die Gutheit des Auges ebenso das Auge gut, wie es seine Funktionsausübung zu einer guten macht; denn durch 309 3. Tugend als „Mitte für uns“ die Gutheit des Auges sehen wir gut. Auf die gleiche Weise macht die Gutheit des Pferdes dieses zu einem guten Pferd und gut darin, zu laufen, seinen Reiter zu tragen und vor den Feinden standzuhalten. Wenn sich dies nun in allen Fällen so verhält, dann wird auch die Gutheit des Menschen diejenige Disposition sein, durch die er ein guter Mensch wird und aus der heraus er die ihm eigene Funktion gut erfüllt. Wie dies geschieht, haben wir bereits gesagt. Es wird jedoch auch auf die folgende Weise klar werden, wenn wir betrachten, wie ihr [der Gutheit] Wesen beschaffen ist. Bei allem Kontinuierlichen und Teilbaren kann man einen größeren, einen kleineren oder einen gleichen Betrag nehmen, und dies entweder in bezug auf die Sache selbst oder in bezug auf uns. Das Gleiche ist eine Art Mittleres zwischen Übermaß und Mangel. Ich nenne aber das Mittlere der Sache das, was gleich weit von beiden Extremen entfernt ist, und das ist für alle ein und dasselbe. Hingegen meine ich mit dem Mittleren in bezug auf uns, was weder zu viel noch zu wenig ist; dies ist nicht eines, und es ist auch nicht für alle dasselbe. Wenn zum Beispiel zehn viel und zwei wenig ist, dann nimmt man als das der Sache nach Mittlere sechs, da es um den gleichen Betrag übertrifft und übertroffen wird; das ist die Mitte nach der arithmetischen Proportion. Das Mittlere in bezug auf uns darf man jedoch nicht so nehmen. Wenn [1106b] für jemanden Nahrung von zehn Minen zu viel und Nahrung von zwei Minen zu wenig ist, dann wird der Trainer nicht Nahrung von sechs Minen vorschreiben; denn vielleicht ist auch das für denjenigen, der die Nahrung aufnehmen soll, zu viel oder zu wenig - für Milon wenig, für einen Anfänger in den athletischen Übungen viel. Dasselbe gilt für Wettlauf und Ringkampf. So meidet also jeder Kundige Übermaß und Mangel, das Mittlere dagegen sucht er und wählt eben dieses, und zwar das Mittlere nicht der Sache, sondern in bezug auf uns. Wenn nun also jedes Herstellungswissen seine Funktion auf diese Art gut erfüllt, indem es auf das Mittlere sieht und seine Produkte an diesem ausrichtet (weshalb man gewöhnlich bei gut beschaffenen Produkten sagt, es sei nicht möglich, etwas wegzunehmen oder hinzuzufügen, da man annimmt, Übermaß oder Mangel würden die gute Beschaffenheit zerstören, die Mitte aber bewahre sie), wenn ferner Menschen, die gut in einem Herstellungswissen sind, wie wir sa- 310 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) gen, bei ihrer Arbeit auf diese [die Mitte] schauen, und wenn schließlich die Gutheit - wie auch die Natur - genauer und besser ist als jedes Herstellungswissen, dann wird sie [die Gutheit] so beschaffen sein, daß sie auf das Mittlere zielt. Ich meine die Gutheit des Charakters, die Tugend. Denn diese hat mit Affekten und Handlungen zu tun, und in diesen gibt es Übermaß, Mangel und das Mittlere. Zum Beispiel kann man Furcht, Mut, Begierde, Zorn, Mitleid und allgemein Lust und Unlust ebenso zu viel wie zu wenig empfinden, und beides ist nicht die richtige Weise. Dagegen sie zu empfinden, wann man soll, bei welchen Anlässen und welchen Menschen gegenüber, zu welchem Zweck und wie man soll, ist das Mittlere und Beste, und dies macht die Tugend aus. Ähnlich gibt es Übermaß, Mangel und das Mittlere in bezug auf Handlungen. Die Tugend hat mit Affekten und Handlungen zu tun, bei denen das Übermaß wie auch der Mangel eine Verfehlung darstellt, das Mittlere dagegen gelobt wird und das Richtige trifft. Dies beides aber [Gegenstand von Lob und richtig zu sein] sind Kennzeichen der Tugend. Die Tugend ist also eine Art von Mitte, da sie auf das Mittlere zielt. Außerdem gibt es viele Arten der Verfehlung - denn das Schlechte gehört auf die Seite des Unbegrenzten, wie die Pythagoreer vermuteten, das Gute auf die des Begrenzten -, während es nur eine Weise des richtigen Handelns gibt. Daher ist auch das eine leicht und das andere schwer. Leicht ist es, den Zielpunkt zu verfehlen, schwer aber, ihn zu treffen. Auch deshalb also gehören Übermaß und Mangel zum Laster, die Mitte dagegen zur Tugend: „Denn Menschen sind gut auf nur eine Art, schlecht aber auf viele“. Die Tugend ist also eine Disposition, die sich in Vorsätzen äußert, wobei sie in einer Mitte [1107a] liegt, und zwar der Mitte in bezug auf uns, die bestimmt wird durch die Überlegung, das heißt so, wie der Kluge sie bestimmen würde. Sie ist die Mitte zwischen zwei Lastern, von denen das eine auf Übermaß, das andere auf Mangel beruht. Sie ist auch in dem Sinn eine Mitte, daß die einen Laster in den Affekten und Handlungen hinter dem Gesollten zurückbleiben, die anderen über es hinausgehen, während die Tugend das Mittlere sowohl findet wie wählt. Daher ist die Tugend ihrem Wesen nach, das 311 3. Tugend als „Mitte für uns“ heißt nach der Definition, die angibt, was es hieß, dies zu sein, eine Mitte; im Hinblick darauf aber, was das Beste und das gute Handeln ist, ist sie ein Extrem. Nicht jede Handlung und nicht jeder Affekt läßt allerdings eine Mitte zu. Einige nämlich haben Namen, die die Schlechtigkeit bereits implizieren, zum Beispiel Schadenfreude, Schamlosigkeit, Neid, und im Fall der Handlungen Ehebruch, Diebstahl, Mord. All diese und ähnliche Dinge werden so benannt, weil sie selbst schlecht sind, und nicht das Übermaß oder der Mangel an ihnen. Man kann also in diesem Bereich niemals das Richtige treffen, sondern immer nur fehlgehen. Auch besteht, gut oder nicht gut zu handeln, bei solchen Dingen nicht darin, daß man zum Beispiel Ehebruch begeht, mit wem, wann und wie man soll. Irgendeines dieser Dinge zu tun ist vielmehr überhaupt falsch. Ebenso verhält es sich, wenn man erwarten würde, daß es eine Mitte, ein Übermaß und einen Mangel bei der ungerechten, feigen oder unmäßigen Handlung gibt. Denn so gäbe es ja eine Mitte bei Übermaß und Mangel, ein Übermaß des Übermaßes und einen Mangel des Mangels. Doch wie es bei der Mäßigkeit und der Tapferkeit nicht Übermaß und Mangel gibt, weil das Mittlere in gewissem Sinn ein Extrem ist, so gibt es auch bei den genannten Handlungen keine Mitte, auch nicht Übermaß oder Mangel; sondern wie immer man sie tut, handelt man falsch. Allgemein gesagt: Es gibt weder eine Mitte bei Übermaß und Mangel noch Übermaß und Mangel bei der Mitte. Dies darf man jedoch nicht nur allgemein behaupten, sondern man muß auch zeigen, wie es auf die einzelnen Fälle paßt. Von den Aussagen über das Handeln haben nämlich die allgemeinen eine breitere Anwendung, die besonderen aber liegen näher an der Wahrheit. Denn das Handeln hat mit Einzelnem zu tun, und unsere Erklärungen müssen mit diesem übereinstimmen. Wir müssen diese Fälle nun unserer Tabelle entnehmen. In bezug auf Furcht und Mut ist die Tapferkeit die [1107b] Mitte. Von denjenigen Menschen, die die Mitte überschreiten, hat der übermäßig Furchtlose keine eigene Bezeichnung (das ist in der Tat für viele Dispositionen der Fall). Wer dagegen übermäßig Mut empfin- 312 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) det, ist tollkühn, und wer sich zu sehr fürchtet und zu wenig Mut empfindet, ist feige. Im Hinblick auf Lust und Unlust - nicht in allen Fällen, und weniger bei der Unlust - ist die Mitte die Mäßigkeit, das Übermaß die Unmäßigkeit. Menschen, die einen Mangel bezüglich der Lust zeigen, finden sich kaum, und sie haben daher auch keinen Namen erhalten; nennen wir sie empfindungslos. Wo es um das Geben und Nehmen von Geld geht, ist die Mitte die Freigebigkeit, das Übermaß und der Mangel Verschwendung und Geiz. Hier zeigen die Leute Übermaß und Mangel auf entgegengesetzte Arten; der Verschwenderische ist übermäßig im Ausgeben und nimmt zu wenig, der Geizige ist übermäßig im Nehmen und mangelhaft im Geben. (Für den Augenblick geben wir nur eine Skizze oder Zusammenfassung und begnügen uns damit; später sollen diese Dispositionen genauer bestimmt werden.) Im Hinblick auf das Geld gibt es noch weitere Dispositionen - als Mitte die Großzügigkeit. Der Großzügige unterscheidet sich nämlich vom Freigebigen; jener hat mit großen, dieser mit kleinen Beträgen zu tun. Das Übermaß nennt man in diesem Fall Geschmacklosigkeit und Protzerei, den Mangel Kleinlichkeit. Diese [Formen von Übermaß und Mangel] unterscheiden sich von denen im Bereich der Freigebigkeit - wie, wird später zu erläutern sein. In bezug auf Ehre und Ehrlosigkeit ist die Mitte Stolz, das Übermaß das, was man eine Art von Eitelkeit nennt, der Mangel Kleinmütigkeit. Wie sich nach dem Gesagten zur Großzügigkeit die Freigebigkeit verhält, nämlich im Unterschied zu ihr mit kleinen Beträgen zu tun hat, so steht auch dem Stolz, der mit großen Ehrungen zu tun hat, eine Disposition gegenüber, die es mit kleinen Ehrungen zu tun hat. Denn man kann nach Ehre streben, wie man soll, oder mehr, als man soll, oder weniger. Man nennt denjenigen, der zu viel nach Ehre strebt, ehrgeizig, und denjenigen, der zu wenig danach strebt, ohne Ehrgeiz; der Mittlere hat keinen Namen. Ohne Namen sind auch die Dispositionen, außer daß diejenige des Ehrgeizigen Ehrgeiz heißt. Darum beanspruchen die Träger der Extreme ebenfalls den mittleren Platz; es kommt vor, daß auch wir den Mittleren bald ehrgeizig nennen, dann wieder ehrgeizlos, und daß [1108a] wir einmal den Ehrgeizigen loben, dann wieder den Ehrgeizlosen. Aus welchem Grund 313 3. Tugend als „Mitte für uns“ wir das tun, werden wir im Folgenden sagen. Nun aber wollen wir über die verbleibenden Dispositionen auf die bisher praktizierte Weise reden. Auch beim Zorn gibt es Übermaß, Mangel und eine Mitte. Da sie so gut wie namenlos sind, wollen wir, da wir den Mittleren sanftmütig nennen, die Mitte Sanftmut nennen. Von den Menschen in den extremen Dispositionen soll derjenige, der zu viel zürnt, jähzornig heißen und das Laster Jähzorn. Wer zu wenig zürnt, heiße unerzürnbar, der Mangel Unerzürnbarkeit. Es gibt noch drei weitere mittlere Dispositionen, die eine gewisse Ähnlichkeit miteinander haben und doch voneinander unterschieden sind. Sie haben alle mit der Gemeinschaft in Worten und Handlungen zu tun, unterscheiden sich aber dadurch, daß die eine sich auf das in diesen Dingen Wahre bezieht, die anderen auf das Angenehme. Hiervon [vom Angenehmen] findet sich wiederum das eine in der Vergnügung, das andere in allen Lebensumständen. Auch davon also müssen wir reden, damit wir besser sehen, daß in allen Dingen die Mitte lobenswert ist, die Extreme jedoch weder lobenswert noch richtig, sondern tadelnswert sind. Nun sind auch von diesen Dispositionen die meisten ohne Namen, aber wir müssen, wie auch in den anderen Fällen, versuchen, selbst Namen für sie zu bilden, damit die Dinge klar sind und man gut folgen kann. Im Hinblick auf das Wahre heiße nun der Mittlere ein wahrhaftiger Mensch und die mittlere Disposition Wahrhaftigkeit. Die Verstellung, die übertreibt, heiße Angeberei, und der, der sie hat, ein Angeber, die Verstellung, die untertreibt, heiße geheuchelte Bescheidenheit, und der, der sie hat, einer, der Bescheidenheit heuchelt. Im Hinblick auf das Angenehme beim Vergnügen heiße der Mittlere gewandt bzw. umgänglich und die Disposition Gewandtheit bzw. Umgänglichkeit, das Übermaß Possenreißerei und der, der es hat, ein Possenreißer, wer zu wenig hat, eine Art ungehobelter Bauer, und die Disposition Ungehobeltheit. Was das übrige Angenehme, das heißt das Angenehme im Leben allgemein betrifft, heiße derjenige, der angenehm ist, wie man soll, freundlich, und die Mitte Freundlichkeit, der über die Mitte Hinausgehende, wenn er damit keinen Zweck verfolgt, beliebtheitssüchtig, wenn er den eigenen Nutzen im Auge hat, ein Schmeichler, wer aber 314 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) hinter der Mitte zurückbleibt und in jeder Situation unangenehm ist, ist ein streitsüchtiger und mürrischer Mensch. Es gibt mittlere Zustände auch bei den Affekten und in bezug auf sie. So ist die Scham keine Tugend, und doch wird auch der Schamhafte gelobt. Denn auch bei diesen Dingen wird der eine Mensch als mittlerer bezeichnet, der andere als übermäßig, wie der Schüchterne, der sich vor allem scheut. Derjenige, dem es an Scham mangelt oder der sie überhaupt nicht fühlt, ist der Schamlose, der Mittlere hingegen ist der, der Schamgefühl besitzt. Berechtigte [1108b] Entrüstung ist die Mitte zwischen Mißgunst und Schadenfreude; diese Dispositionen betreffen die Lust und Unlust, die bei den Dingen entstehen, die unseren Nächsten zustoßen. Wer zu berechtigter Entrüstung neigt, empfindet Unlust über diejenigen, denen es unverdient gut geht; der Mißgünstige geht über diesen hinaus und empfindet Unlust über alle, denen es gut geht. Derjenige, der zur Schadenfreude neigt, ist so weit davon entfernt, Unlust zu empfinden, daß er sich sogar freut. Doch wird an anderer Stelle noch Gelegenheit sein, über diese Affekte zu reden. Was die Gerechtigkeit betrifft, werden wir (nach diesen Themen), da der Ausdruck nicht nur in einem Sinn gebraucht wird, zwei Arten unterscheiden und aufzeigen, wie jede von beiden eine mittlere Disposition ist; ähnlich werden wir auch die Vernunfttugenden behandeln. (EN II 4-7) 4. Handlungstheorie [1109b30] Da nun die [charakterliche] Tugend mit Affekten und Handlungen zu tun hat und da dasjenige, was aus dem eigenen Wollen hervorgeht, Lob und Tadel erfährt, wohingegen das, was ungewollt ist, Verzeihung, manchmal sogar Mitleid erregt, müssen wohl diejenigen, die die Tugend untersuchen, das Gewollte und das Ungewollte gegeneinander abgrenzen. Das ist auch für die Gesetzgeber nützlich, was die Festsetzung von Ehrungen und Strafen angeht. Als ungewollt gilt üblicherweise das, was durch Zwang [1110a] oder aufgrund von Unwissenheit geschieht. Erzwungen ist ein Verhalten, dessen Bewegursache außerhalb liegt, das heißt so beschaffen 315 4. Handlungstheorie ist, daß der Handelnde oder Erleidende gar nichts beiträgt, etwa wenn jemanden der Wind irgendwohin trägt, oder Menschen, die einen in ihrer Gewalt haben. Wo Dinge aus Furcht vor größeren Übeln oder im Hinblick auf etwas Werthaftes getan werden (nehmen wir zum Beispiel an, ein Tyrann würde jemandem befehlen, etwas Niedriges zu tun, während er dessen Eltern und Kinder in seiner Gewalt hat, und diese würden gerettet, wenn er die Handlung ausführt, andernfalls aber müßten sie sterben), kann man im Zweifel sein, ob sie ungewollt oder gewollt sind. Ähnlich ist die Lage, wo im Sturm Güter über Bord geworfen werden. Denn ohne weiteres wirft niemand aus eigenem Wollen Güter weg; wo dies aber die Bedingung dafür ist, sich selbst und die übrigen zu retten, tut es jeder, der bei Verstand ist. Solche Handlungen sind also gemischt, gleichen aber mehr gewollten. Denn man wählt sie in der Handlungssituation, und das Ziel einer Handlung richtet sich nach der Situation. Also muß man von „gewollt“ oder „ungewollt“ im Hinblick auf den Zeitpunkt der Handlung sprechen. Dann handelt man [in den beschriebenen Fällen] wollend. Denn in der Tat liegt der Ursprung der Bewegung der Körperteile bei solchen Handlungen im Handelnden selbst. Bei Handlungen aber, deren Ursprung in ihm selbst liegt, liegt es auch bei ihm, sie zu tun oder nicht zu tun. Solche Handlungen sind also gewollt, ohne weiteres aber vielleicht ungewollt. Denn niemand würde eine Handlung dieser [der beschriebenen] Art ohne weiteres wählen. Für solche Handlungen wird man manchmal sogar gelobt, und zwar dann, wenn man etwas Niedriges oder Unangenehmes als Preis für große und edle Dinge erträgt. Im entgegengesetzten Fall wird man getadelt. Denn das Niedrige als Preis für etwas zu ertragen, das gar nicht oder nur mäßig edel ist, ist das Merkmal eines schlechten Menschen. In manchen Fällen erfährt man kein Lob, aber doch Verzeihung - in Fällen, in denen jemand Dinge, die man nicht tun soll, aufgrund von Bedingungen tut, die die menschliche Natur übersteigen und die keiner aushalten würde. Zu einigen Handlungen aber darf man sich vielleicht nicht zwingen lassen, sondern sollte vielmehr, nachdem man das Schlimmste erlitten hat, den Tod auf sich nehmen. Denn die Dinge, die zum Beispiel den Alkmaion des Euripides „gezwungen“ haben, seine Mutter zu töten, erscheinen in der Tat lächer- 316 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) lich. Es ist allerdings manchmal schwierig zu beurteilen, was man um welcher Dinge willen wählen und was um welcher Dinge willen ertragen muß; und noch schwieriger ist es, an unseren Urteilen festzuhalten. Denn meistens ist das, was man erwartet, unangenehm, und das, wozu man gezwungen wird, niedrig, so daß Lob oder Tadel danach verteilt werden, ob man [1110b] dem Zwang erlegen oder ihm nicht erlegen ist. Welche Arten von Verhalten soll man also erzwungen nennen? Etwa allgemein die, bei denen die Ursache außerhalb liegt und der Handelnde nichts beiträgt? Was dagegen für sich genommen ungewollt ist, was aber jetzt und um dieser Dinge willen gewählt wird - und dabei den Bewegursprung im Handelnden hat -, das ist zwar für sich genommen ungewollt, jetzt aber und um dieser Dinge willen gewollt. Es entspricht daher eher gewollten Handlungen. Denn Handlungen betreffen immer das Einzelne, und dieses ist gewollt. Welche Dinge um welcher anderen Dinge willen zu wählen sind, ist nicht leicht anzugeben, da es viele Unterschiede in den Einzelfällen gibt. Wenn aber jemand sagen würde, daß das Angenehme und das Werthafte uns zwingen, indem sie als äußere Bedingungen Zwang ausüben, dann wäre für ihn alles erzwungen. Denn diesen beiden Dingen zuliebe tun alle Menschen alles, was sie tun. Und diejenigen, die aufgrund von Zwang und widerwillig handeln, handeln mit Unlust, diejenigen aber, die aufgrund des Angenehmen und Werthaften handeln, handeln mit Lust. Außerdem ist es lächerlich, die äußeren Bedingungen und nicht sich selbst dafür verantwortlich zu machen, daß man sich von solchen Dingen so leicht einfangen läßt, und lächerlich ist es auch, die werthaften Handlungen sich selbst zuzuschreiben, die niedrigen aber dem Angenehmen. - Was aus Zwang geschieht, scheint also das zu sein, dessen Ursprung außerhalb liegt, ohne daß die gezwungene Person etwas beiträgt. Was aufgrund von Unwissenheit geschieht, ist alles nicht gewollt. Gegen das Wollen aber ist [nur] das, was Unlust und Bedauern erzeugt. Denn wer irgendetwas aufgrund von Unwissenheit getan hat, ohne Unbehagen über die Handlung zu empfinden, der hat es nicht wollend getan, da er ja nicht wußte, was er tat. Er hat es aber doch 317 4. Handlungstheorie auch nicht gegen sein Wollen getan, da ihm die Handlung nicht leid tut. Beim Handeln aufgrund von Unwissenheit gilt daher ein Mensch, der bedauert, als jemand, der gegen sein Wollen handelt. Wer nicht bedauert, soll, da er ein anderer ist, als jemand bezeichnet werden, der ohne sein Wollen gehandelt hat. Denn da er sich von dem anderen unterscheidet, ist es besser, daß er einen eigenen Namen hat. Handeln aufgrund von Unwissenheit scheint auch etwas anderes zu sein als Handeln in Unwissenheit. Wer in Trunkenheit oder im Zorn handelt, handelt, so nimmt man an, nicht aufgrund von Unwissenheit, sondern aufgrund eines der genannten Zustände, trotzdem nicht wissend, sondern in Unwissenheit. Nun befindet sich in Unwissenheit über das, was er tun und was er unterlassen soll, jeder schlechte Mensch; es ist ein solcher Fehler, durch den Menschen ungerecht und überhaupt schlecht werden. Der Ausdruck „gegen das Wollen“ wird jedoch nicht verwendet, wenn jemand das für ihn Förderliche nicht weiß. Nicht die Unwissenheit im Vorsatz macht ja die Handlung zu einer gegen das Wollen (sie macht sie vielmehr schlecht), auch nicht die Unkenntnis des Allgemeinen (denn wegen dieser Unwissenheit werden Menschen gerade getadelt), sondern die Unkenntnis des Einzelnen, das heißt [1111a] der Umstände, unter denen das Handeln stattfindet, und der Dinge, mit denen es zu tun hat. Denn von diesen hängen Mitleid ebenso wie Verzeihung ab. Derjenige, der etwas hiervon nicht weiß, handelt also gegen sein Wollen. Vielleicht ist es also ganz sinnvoll, diese einzelnen Bedingungen zu bestimmen, das heißt zu bestimmen, welche und wie viele es sind. Sie lauten: wer handelt, was er tut, in bezug auf was und in welchem Bereich er handelt, manchmal auch womit er handelt (zum Beispiel: mit welchem Werkzeug), zu welchem Zweck (zum Beispiel: um der Rettung willen) und wie er es tut (zum Beispiel: ob sanft oder heftig). Nun kann wohl niemand in Unkenntnis all dieser Bedingungen sein, es sei denn, er ist wahnsinnig. So kann er offensichtlich nicht in Unkenntnis des Handelnden sein. Denn wie könnte er sich selbst nicht kennen? Dagegen könnte jemand nicht wissen, was er tut. So sagt man, es sei einem etwas beim Reden entschlüpft oder man habe nicht gewußt, daß es ein Geheimnis sei, wie Aischylos von den Mysterien sagte. Oder jemand könnte sagen „Sie ging los, während ich sie nur 318 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) vorführen wollte“, wie der Mann mit der Schleuder. Es könnte auch jemand meinen, der eigene Sohn sei ein Feind, wie Merope es tat, oder der gespitzte Speer ende in einem runden Knauf, oder der Stein sei ein Bimsstein. Oder: Man gibt jemandem einen Schluck zu trinken, um ihn zu retten, tötet ihn aber damit. Oder: Man will die Hand seines Gegners berühren wie beim Ringen mit den Fingerspitzen, schlägt ihn aber dabei nieder. Bezüglich all dieser Bedingungen, unter denen das Handeln sich abspielt, kann es also eine Unwissenheit geben, und wer eine dieser Bedingungen nicht kennt, von dem nimmt man an, daß er gegen sein Wollen gehandelt hat, insbesondere dann, wenn es um die wichtigsten Bedingungen geht. Als die wichtigsten Bedingungen gelten das Worin der Handlung und ihr Zweck. Derjenige, dessen Handlung man im Sinn dieser Art von Unwissenheit als eine Handlung gegen das Gewollte bezeichnet, muß also zusätzlich über seine Handlung Unlust und Bedauern empfinden. Da gegen das Wollen das ist, was durch Zwang und aufgrund von Unwissenheit geschieht, dürfte als das Gewollte dasjenige gelten, dessen Ursprung im Handelnden selbst liegt, wobei er die einzelnen Bedingungen kennt, unter denen die Handlung stattfindet. Vermutlich ist es nicht richtig, Verhalten aus Erregung oder Begierde als dem Wollen entgegen zu bezeichnen. Denn erstens würde dann keines der übrigen Tiere aus Wollen handeln, ebensowenig die Kinder. Sodann: Tun wir keines der Dinge, die wir aus Begierde oder Erregung tun, weil wir sie wollen, oder tun wir das Werthafte, weil wir es wollen, das Niedrige gegen unser Wollen? Ist das nicht absurd, wo doch die Ursache ein und dieselbe ist? Auch wäre es sicherlich seltsam, Dinge, nach denen man streben soll, als solche zu bezeichnen, die unserem Wollen entgegen sind. Man soll sich ja über bestimmte Dinge ärgern und bestimmte Dinge begehren, zum Beispiel Gesundheit und Lernen. Außerdem hält man das, was gegen das eigene Wollen ist, für unangenehm, was der Begierde entspricht, aber für angenehm. Ferner: Worin unterscheiden sich Fehler aufgrund von Überlegung und Fehler aufgrund von Erregung im Hinblick auf die Frage, ob die Handlung dem eigenen Wollen entgegen war? Beide Fehler sind zu meiden, [1111b] doch die unvernünftigen Affekte gel- 319 4. Handlungstheorie ten üblicherweise als ebenso menschlich, so daß auch diejenigen Handlungen zum Menschen gehören, die aus Erregung und Begierde hervorgehen. Es wäre also seltsam, sie zu dem zu rechnen, was gegen das eigene Wollen ist. Nachdem wir das gewollte und das ungewollte Handeln definiert haben, ist die nächste Aufgabe, den Vorsatz zu erörtern; denn der Vorsatz gilt als besonders eng mit der Tugend verbunden und soll mehr noch als die Handlungen Unterschiede im Charakter von Menschen anzeigen. Der Vorsatz ist nun offensichtlich etwas Gewolltes, er ist aber nicht mit dem Gewollten identisch, das eine weitere Ausdehnung hat. Denn am Gewollten haben sowohl Kinder wie die anderen Tiere teil, am Vorsätzlichen aber nicht, und Handlungen, die wir aus einer Augenblickslaune tun, nennen wir zwar gewollt, aber nicht vorsätzlich. Diejenigen, die den Vorsatz Begierde, Erregung, Wunsch oder eine Art von Meinung nennen, scheinen Unrecht zu haben. Denn der Vorsatz ist den vernunftlosen Wesen nicht mit uns gemeinsam, Begierde und Erregung hingegen schon. Weiter handelt der Unbeherrschte zwar mit Begehren, aber nicht mit Vorsatz, während umgekehrt der Beherrschte mit Vorsatz handelt, aber ohne Begierde. Ferner steht dem Vorsatz die Begierde entgegen, aber nicht die Begierde der Begierde. Weiter bezieht sich die Begierde auf das Angenehme und Unangenehme, der Vorsatz dagegen weder auf das Unangenehme noch auf das Angenehme. Noch weniger aber ist der Vorsatz Erregung; denn Handlungen aufgrund von Erregung gelten am wenigsten als vorsätzlich. Der Vorsatz ist aber auch nicht mit dem Wunsch identisch, obwohl er ihm ähnlich ist. Denn ein Vorsatz bezieht sich nicht auf Unmögliches, und wenn jemand sagen würde, daß er sich Unmögliches vornimmt, würde man ihn für dumm halten. Wünschen hingegen kann man auch etwas Unmögliches, zum Beispiel die Unsterblichkeit. Und der Wunsch bezieht sich auch auf Dinge, die man auf keine Weise durch eigenes Handeln herbeiführen kann, etwa daß ein bestimmter Schauspieler oder Athlet gewinnen möge. Doch solche Dinge nimmt sich niemand vor, sondern nur diejenigen Dinge, von denen man meint, daß sie durch eigenes Handeln zustande kommen können. Ferner: Der Wunsch bezieht sich mehr auf das Ziel, der Vor- 320 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) satz mehr auf das, was zum Ziel führt. Wir wünschen zum Beispiel, gesund zu sein, doch wir nehmen uns die Dinge vor, durch die wir gesund werden. Und wir wünschen, glücklich zu sein, und sagen auch, daß wir es wünschen, während man nicht gut sagen kann, dass wir uns vornehmen, glücklich zu sein. Überhaupt also scheint der Vorsatz das zum Gegenstand zu haben, was in unserer Macht steht. Daher wird er auch nicht mit der Meinung identisch sein. Denn die Meinung bezieht sich nach üblicher Auffassung auf alles - auf das Ewige und Unmögliche ebenso wie auf das, was bei uns liegt. Sie wird außerdem nach Falsch und Wahr unterschieden, nicht nach Schlecht oder Gut, der Vorsatz hingegen eher nach Letzterem. Allgemein wird daher [1112a] niemand den Vorsatz mit der Meinung gleichsetzen. Doch auch nicht mit einer bestimmten Meinung. Wir sind nämlich dadurch Menschen mit so und so beschaffenen Charakterdispositionen, daß wir uns das Gute oder Schlechte vornehmen, nicht aber dadurch, daß wir es meinen. Ferner: Wir nehmen uns vor, einen Gegenstand dieser Art zu bekommen oder zu meiden, während wir eine Meinung darüber haben, was ein Gegenstand ist oder wem er nützt oder wie; ihn zu bekommen oder zu vermeiden ist dagegen nicht Inhalt einer Meinung. Außerdem wird der Vorsatz eher deswegen gelobt, weil er das zum Inhalt hat, was er soll, oder weil er richtig ist, während die Meinung dafür gelobt wird, daß sie wahr ist. Weiter nehmen wir uns das vor, wovon wir am sichersten wissen, daß es gut ist, während wir Meinungen auch über das bilden, was wir nicht genau wissen. Man denkt auch nicht, daß es dieselben Menschen sind, die die besten Vorsätze und die besten Meinungen haben, sondern einige meinen das Bessere, wählen aber aus Schlechtigkeit nicht, was sie sollen. Ob eine Meinung dem Vorsatz vorhergeht oder ihn begleitet, macht keinen Unterschied. Denn nicht das ist unsere Frage; vielmehr ist die Frage, ob der Vorsatz mit einer Meinung identisch ist. Was ist nun der Vorsatz und von welcher Art ist er, da er keines von den genannten Dingen ist? Nun, er ist offensichtlich etwas Gewolltes, aber nicht alles Gewollte ist etwas Vorsätzliches. Ist er dann vielleicht das, was vorher überlegt ist? Auf jeden Fall geht der Vorsatz mit Überlegung und Denken einher. Auch der Name scheint anzudeuten, daß das, was man sich vornimmt, das ist, was man vor anderen Dingen nimmt. 321 4. Handlungstheorie Überlegt man alles, und ist alles ein Gegenstand von Überlegung, oder gibt es über einige Dinge keine Überlegung? Als Gegenstand der Überlegung sollten wir vielleicht nicht das bezeichnen, worüber ein Dummkopf oder ein Wahnsinniger, sondern worüber jemand, der bei Verstand ist, Überlegungen anstellen würde. Über das Ewige, zum Beispiel über den Kosmos oder die Inkommensurabilität von Diagonale und Seite, stellt ja niemand Überlegungen an. Auch nicht über diejenigen Dinge, die zwar in Bewegung sind, aber immer auf dieselbe Weise geschehen, sei es aus Notwendigkeit, sei es von Natur aus oder durch irgendeine andere Ursache, etwa über die Sonnenwenden oder das Aufgehen der Sterne. Auch nicht über diejenigen Ereignisse, die bald auf die eine, bald auf die andere Weise geschehen, wie Dürre und Regen. Auch nicht über die Dinge, die durch Zufall geschehen, wie das Finden eines Schatzes. Selbst das Menschliche überlegen wir nicht alles. So wird kein Spartaner überlegen, was die beste Staatsverfassung für die Skythen ist. Denn nichts davon kann durch uns zustande kommen. Wir überlegen vielmehr diejenigen Dinge, die in unserer Macht stehen und durch Handeln bewirkt werden können; sie sind es, die noch übrig bleiben. Denn als Ursachen gelten die Natur, die Notwendigkeit und der Zufall, außerdem das Denken und alles, was durch menschliches Handeln geschieht. Unter den Menschen aber überlegt jede Gruppe das, was sie durch eigenes Handeln zu bewirken vermag. Hinsichtlich der [1112b] exakten und autarken Wissenschaften gibt es keine Überlegung, wie zum Beispiel über die Buchstaben (denn wir sind nicht im Zweifel, wie man [sie] zu schreiben hat). Hingegen ist Gegenstand der Überlegung dasjenige, was durch uns geschieht, jedoch nicht immer auf dieselbe Weise, zum Beispiel Fragen der Medizin oder des Gelderwerbs. Fragen der Navigation sind es mehr als solche der Gymnastik, insofern jene weniger genau ausgearbeitet ist, und ebenso bei den übrigen Dingen. Fragen des Herstellungswissens überlegen wir eher als Fragen der Wissenschaft, da wir über erstere mehr im Zweifel sind. Die Überlegung findet also im Bereich derjenigen Dinge statt, die meistens geschehen, wo aber ungewiß ist, wie sie ausgehen werden, und dort, wo unbestimmt ist, wie zu handeln ist. Bei wichtigen Fragen ziehen wir Berater hinzu, da wir uns selbst nicht zutrauen, die richtige Entscheidung zu finden. 322 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Gegenstand der Überlegung sind aber nicht die Ziele, sondern das, was zu den Zielen führt. Denn ein Arzt überlegt nicht, ob er heilen soll, ebensowenig ein Redner, ob er überzeugen, oder ein Politiker, ob er eine gute Ordnung herstellen will, und auch sonst stellt niemand Überlegungen über das Ziel an; sondern wenn man das Ziel festgesetzt hat, untersucht man, wie und wodurch es sich verwirklichen läßt. Und wenn es anscheinend durch mehreres verwirklicht werden kann, erwägt man, wodurch am leichtesten und besten. Wenn es sich dagegen nur durch eines erreichen läßt, fragt man, wie [es] durch dieses [erreicht wird] und wodurch wiederum dieses entsteht. Diese Untersuchung setzt man fort, bis man zur ersten Ursache kommt, die im Prozess des Auffindens als letzte erreicht wird. Denn wer überlegt, scheint in der beschriebenen Weise zu untersuchen und zu analysieren, gerade so, wie man es bei einer geometrischen Figur macht (und während offenbar nicht jede Untersuchung eine Überlegung ist - die mathematische Suche zum Beispiel nicht -, ist jede Überlegung eine Untersuchung). Das, was in der Analyse das Letzte ist, wird dann im Prozess der Verwirklichung das Erste sein. Wenn man dabei auf etwas Unmögliches stößt, gibt man auf, zum Beispiel wenn Geld benötigt wird, aber nicht beschafft werden kann. Scheint es dagegen möglich, versucht man zu handeln. Möglich ist, was durch uns geschehen kann. Auch was durch unsere Freunde getan wird, geschieht in gewisser Weise durch uns, da der Ursprung in uns ist. Gesucht wird manchmal nach den Werkzeugen, manchmal nach ihrer Anwendung. Ähnlich ist auch in anderen Fällen die Frage, manchmal womit eine Sache hervorgebracht wird, manchmal wie oder durch wen sie entsteht. Es scheint also, wie gesagt, daß der Mensch Ursprung von Handlungen ist. Die Überlegung bezieht sich auf die Dinge, die er selbst bewirken kann, die Handlungen aber geschehen um anderer Dinge willen. Gegenstand der Überlegung ist ja nicht das Ziel, sondern die Dinge, die zum Ziel führen. Auch wird Gegenstand der Überlegung sicher nicht das Einzelne sein, [1113a] zum Beispiel ob dies Brot ist oder ob es richtig gebacken ist; denn dies sind Fragen der Wahrnehmung. Wenn man aber immer überlegen wollte, würde man kein Ende finden. Überlegung und Vorsatz haben denselben Gegenstand, nur daß das, was wir uns vornehmen, bereits bestimmt ist; denn man nimmt 323 4. Handlungstheorie sich das vor, was man als Ergebnis der Überlegung entschieden hat. Jeder hört auf zu untersuchen, wie er handeln soll, wenn er den Ursprung auf sich selbst zurückgeführt hat, und zwar auf den leitenden Teil in sich; denn dieser ist es, der sich Dinge vornimmt. Das wird auch aus den alten Verfassungen deutlich, die Homer darstellt; dort verkündeten die Könige dem Volk die gefaßten Vorsätze. Da nun Gegenstand des Vorsatzes etwas Erstrebtes und Überlegtes unter denjenigen Dingen ist, die in unserer Macht stehen, wird auch der Vorsatz ein mit Überlegung verbundenes Streben nach den Dingen sein, die in unserer Macht stehen. Nachdem wir nämlich als Ergebnis der Überlegung eine Entscheidung erreicht haben, streben wir der Überlegung entsprechend. So weit also unsere skizzenhafte Bestimmung des Vorsatzes: von welcher Art seine Gegenstände sind, und daß er sich auf das bezieht, was zum Ziel führt. Daß der Wunsch sich auf ein Ziel bezieht, haben wir bereits gesagt. Dabei denken die einen, er beziehe sich auf ein Gut, die anderen, er beziehe sich auf das, was als Gut erscheint. Für diejenigen nun, die sagen, Gegenstand des Wünschens sei ein Gut, ergibt sich, daß das, was jemand aufgrund einer unrichtigen Wahl wünscht, nicht wirklich gewünscht ist. Denn wäre es gewünscht, so wäre es ja gut; es könnte aber sein, daß es im gegebenen Fall schlecht war. Für diejenigen andererseits, die sagen, Gegenstand des Wünschens sei, was als Gut erscheint, ergibt sich, daß es nichts von Natur aus Gewünschtes gibt, sondern nur das, was dem Einzelnen jeweils so scheint. Verschiedenen Menschen aber erscheinen verschiedene Dinge gut, unter Umständen sogar entgegengesetzte. Wenn nun diese Ansichten unbefriedigend sind, muß man dann sagen, daß überhaupt und in Wahrheit Gegenstand des Wünschens ein Gut ist, für den einzelnen Menschen aber das, was ihm als ein Gut erscheint? Für den guten Menschen wäre es dann das, was in Wahrheit Gegenstand des Wünschens ist, für den Schlechten etwas Beliebiges, ebenso wie im physischen Bereich für Körper in guter Verfassung diejenigen Dinge gesund sind, die wahrhaft gesund sind, für die kranken Körper aber andere Dinge - und dasselbe gilt für bitter, süß, warm, schwer usw. Der Gute beurteilt jedes Einzelne richtig, und in allen Einzelsituationen zeigt sich ihm, was wahr ist. Jede 324 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Disposition hat nämlich ihren eigenen Bereich des Werthaften und Angenehmen, und der Gute zeichnet sich vielleicht am meisten dadurch aus, daß er in allen Einzelfällen die Wahrheit sieht, indem er gewissermaßen Richtschnur und Maß dafür ist. Bei den Leuten aus der Menge scheint die Täuschung durch die Lust zustande zu kommen. Denn sie erscheint als ein Gut, ist [1113b] es aber nicht. So wählen sie das Angenehme als ein Gut, die Unlust aber meiden sie als ein Übel. Da also Gegenstand des Wünschens das Ziel ist, Gegenstand der Überlegung und des Vorsatzes das, was zum Ziel führt, werden auch die Handlungen, die sich auf Letzteres beziehen, einem Vorsatz entsprechen und gewollt sein. Es beziehen sich darauf aber die Betätigungen der Tugenden. Also liegt auch die Tugend bei uns, und ebenso das Laster. Denn wo es bei uns liegt zu handeln, liegt es auch bei uns, nicht zu handeln, und umgekehrt. Daher: Wenn zu handeln bei uns liegt, wo zu handeln werthaft ist, wird auch nicht zu handeln bei uns liegen, wo nicht zu handeln niedrig ist. Und wenn nicht zu handeln bei uns liegt, wo nicht zu handeln werthaft ist, wird auch zu handeln bei uns liegen, wo zu handeln niedrig ist. Wenn es nun bei uns liegt, gute oder schlechte Handlungen zu tun, und genauso, sie nicht zu tun, und wenn gerade das bedeutete, ein guter bzw. schlechter Mensch zu sein, dann liegt es also bei uns, ob wir gute oder schlechte Menschen sind. Die Behauptung „Keiner ist aus eigenem Wollen schlecht oder gegen sein Wollen glückselig“ erweist sich teils als falsch, teils als wahr. Denn glückselig ist sicher niemand gegen sein Wollen, die Schlechtigkeit aber geht aus dem eigenen Wollen hervor. Oder man müßte in Zweifel ziehen, was gerade gesagt wurde, und dürfte nicht sagen, daß der Mensch Ursprung und Erzeuger seiner Handlungen ist, so wie er der Erzeuger seiner Kinder ist. Wenn er aber offensichtlich ein solcher Ursprung ist und wir Handlungen nicht auf andere Ursprünge zurückführen können als die in uns, dann liegt das, dessen Ursprung in uns ist, auch selbst bei uns und geht aus unserem eigenen Wollen hervor. Dafür scheinen sowohl die Individuen im Privaten als auch die Gesetzgeber selbst Zeugnis zu geben. Sie verhängen nämlich Züchtigungen oder Strafen gegen Übeltäter, sofern sie nicht unter Zwang 325 4. Handlungstheorie oder aufgrund einer Unwissenheit gehandelt haben, für die sie nicht selbst verantwortlich sind, während sie diejenigen, die das Werthafte tun, ehren, um so diese zu ermutigen, jene aber zurückzuhalten. Doch ermutigt uns niemand, Dinge zu tun, die nicht bei uns liegen und nicht Gegenstand des Wollens sind. Man hält es für zwecklos, jemanden zu überzeugen, er solle nicht Hitze, Schmerzen, Durst oder etwas Derartiges empfinden. Wir werden das alles darum nicht weniger empfinden. Allerdings fügen sie [die Gesetzgeber] Strafen gerade wegen der Unwissenheit zu, wenn jemand selbst für seine Unwissenheit verantwortlich scheint - wie zum Beispiel die Strafe für Betrunkene verdoppelt wird. Denn hier liegt der Ursprung der Handlung im Handelnden; er hatte ja die Kontrolle darüber, sich nicht zu betrinken, was dann die Ursache der Unwissenheit wurde. Man bestraft auch diejenigen, die etwas in den Gesetzen nicht kennen, das man kennen muß und das nicht [1114a] schwierig ist. Und so bei allem anderen, bei dem man die Unwissenheit für eine Folge von Nachlässigkeit hält, sofern es bei den Betreffenden liege, nicht unwissend zu sein; denn sie hatten schließlich die Kontrolle darüber, Sorgfalt zu üben. Aber vielleicht ist der Handelnde so beschaffen, daß er nicht sorgfältig sein kann? Doch dann ist er selbst verantwortlich dafür, daß er jemand mit dieser Beschaffenheit geworden ist, indem er ausschweifend lebt. Ebenso sind Menschen dafür verantwortlich, daß sie ungerecht oder unmäßig sind, die einen dadurch, daß sie Unrecht tun, die anderen dadurch, daß sie ihre Zeit mit Trinken und ähnlichen Dingen verbringen. Denn die Tätigkeiten in den einzelnen Bereichen geben uns einen solchen Charakter. Das ist deutlich am Beispiel derer, die für irgendeine Art von Wettkampf oder Handlung üben; sie führen andauernd die entsprechende Tätigkeit aus. Nur ein völlig einsichtsloser Mensch kann also in Unkenntnis darüber sein, daß die Dispositionen durch Betätigung in den entsprechenden Dingen entstehen. Ferner: Es ist unsinnig anzunehmen, jemand, der Unrecht tut, wolle nicht ungerecht sein, oder jemand, der unmäßig handelt, wolle nicht unmäßig sein. Wenn jemand, ohne sich in Unwissenheit zu befinden, Dinge tut, die zur Folge haben werden, daß er ungerecht ist, dann wird er aus eigenem Wollen ungerecht sein. Allerdings wird 326 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) er nicht sofort, wenn er es nur wünscht, aufhören, ungerecht zu sein, und sofort gerecht sein. Auch der Kranke ist ja nicht sofort gesund, wenn er es nur wünscht. Dabei könnte das Kranksein aus seinem eigenem Wollen hervorgehen, wenn er unbeherrscht lebt und nicht auf die Ärzte hört. Damals hatte er die Möglichkeit, nicht krank zu sein, nachdem er aber seine Gesundheit verschleudert hat, nicht mehr, so wie es auch für den, der einen Stein weggeschleudert hat, nicht mehr möglich ist, ihn zurückzuholen. Und dennoch lag es an ihm zu werfen, da der Ursprung der Bewegung in ihm war. So stand es auch dem Ungerechten und dem Unmäßigen zu Anfang offen, nicht so zu werden, und daher sind sie es aus eigenem Wollen; nachdem sie aber einmal so geworden sind, ist es ihnen nicht [mehr] möglich, nicht so zu sein. Es sind aber nicht nur die Schlechtigkeiten der Seele gewollt, sondern bei manchen Menschen auch die des Körpers, weshalb wir diese Menschen ebenfalls tadeln. Während die von Natur aus Häßlichen niemand tadelt, tadeln wir diejenigen, die häßlich sind aufgrund eines Mangels an Training und durch Nachlässigkeit. Ebenso verhält es sich bei Schwäche und Gebrechen. Niemand wird einem Menschen Vorwürfe machen, der von Geburt oder durch Krankheit oder durch einen Schlag blind ist - man wird vielmehr Mitleid mit ihm haben. Dagegen wird jeder den tadeln, dessen Blindheit die Folge von Trunkenheit oder einer anderen Art von Unmäßigkeit ist. Von den Schlechtigkeiten des Körpers werden also diejenigen, die bei uns liegen, getadelt, die nicht bei uns liegen, nicht. Wenn es sich so verhält, werden auch in anderen Fällen diejenigen Schlechtigkeiten, die getadelt werden, bei uns liegen. Wenn nun jemand sagen würde, daß alle nach dem streben, was ihnen als das Gut erscheint, daß sie aber darüber, wie etwas ihrer Vorstellung erscheint, nicht die Kontrolle haben, vielmehr einem jeden [1114b] das Ziel so erscheint, wie er beschaffen ist, [dann könnte man entgegnen: ] Wenn jeder für sich selbst in gewisser Weise für seine Disposition verantwortlich ist, wird er auch in gewisser Weise selbst verantwortlich dafür sein, wie die Dinge seiner Vorstellung erscheinen. Wenn aber nicht, dann ist niemand verantwortlich für sein eigenes schlechtes Handeln, vielmehr tut er diese Handlungen in Un- 327 5. Gerechtigkeit und Billigkeit kenntnis des Ziels, in der Meinung, durch sie das Beste für sich zu erreichen. Das Streben nach dem Ziel ist dann nicht selbst gewählt, sondern man muß gewissermaßen mit einem Auge geboren sein, mit dem man richtig urteilen und das wahrhafte Gut wählen kann; und derjenige ist von Natur aus gut ausgestattet, der dies auf richtige Weise bekommen hat. Denn das Größte und Werthafteste, das man von keinem anderen erhalten oder lernen kann, wird man dann nur so besitzen, wie es einem angeboren ist; und mit diesem gut und richtig ausgestattet zu sein, wird die vollkommen und wahrhaft gute Natur sein. Wenn dies also wahr ist, wie wird dann die Tugend mehr etwas Gewolltes sein als das Laster? Beiden Menschen, dem guten und dem schlechten, erscheint ja gleichermaßen das Ziel von Natur aus oder auf irgendeine andere Weise und ist so gegeben; alles Übrige aber, was immer es ist, tun sie, indem sie es auf dieses Ziel beziehen. Ob also für jeden Menschen das Ziel nicht von Natur aus als so-und-so-beschaffen erscheint, sondern dies zu einem gewissen Teil auch von ihm abhängt, oder ob das Ziel naturgegeben ist, die Tugend jedoch dadurch gewollt ist, daß der Gute das Übrige aus eigenem Wollen tut, in beiden Fällen wird auch das Laster nicht weniger gewollt sein. Denn auch auf den Schlechten trifft das „durch ihn“ in bezug auf seine Handlungen zu, wenn auch nicht in bezug auf das Ziel. Wenn nun, wie gesagt wird, die Tugenden auf dem Wollen beruhen - denn wir sind tatsächlich selbst in gewisser Weise Mitursache der Dispositionen, und indem wir Menschen einer bestimmten Beschaffenheit sind, setzen wir uns so beschaffene Ziele -, dann werden auch die Laster auf dem Wollen beruhen; denn für sie gilt dasselbe. (EN III 1-7) 5. Gerechtigkeit und Billigkeit [1129a3] Wir müssen nun die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit untersuchen und fragen, mit welchen Handlungen sie zu tun haben, was für eine mittlere Disposition die Gerechtigkeit ist und zwischen welchen Extremen das Gerechte die Mitte ist. Unser Vorgehen wird dasselbe sein wie bei den vorausgehenden Untersuchungen. 328 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Nun sehen wir, daß alle mit Gerechtigkeit diejenige Disposition meinen, die Menschen so beschaffen macht, daß sie das Gerechte tun, das heißt auf gerechte Weise handeln und Gerechtes wünschen. Auf dieselbe Weise versteht man unter Ungerechtigkeit diejenige Disposition, die Menschen Unrecht tun und Ungerechtes wünschen läßt. Das soll daher auch für uns als grob umrissener Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden. Mit den Dispositionen verhält es sich anders als mit den wissenschaftlichen Kenntnissen und mit den Fähigkeiten. Von der Wissenschaft und der Fähigkeit gilt, daß sich ein und dieselbe auf beide Glieder eines Gegensatzes bezieht. Für eine Disposition dagegen, welche die eine Seite eines Gegensatzpaars ist, gilt dies nicht. So läßt uns die Gesundheit nicht tun, was ihr entgegengesetzt ist, sondern nur das Gesunde. Denn wir sagen, daß jemand auf gesunde Weise geht, wenn er geht wie ein Gesunder. Häufig wird nun die eine von zwei entgegengesetzten Dispositionen aus der ihr entgegengesetzten kenntlich; häufig werden Dispositionen aber auch aus ihren Trägern kenntlich. Denn wenn deutlich ist, welches die gute körperliche Kondition ist, wird auch deutlich, welches die schlechte Kondition ist. Und aus den Dingen, die zu einer guten Kondition beitragen, wird deutlich, was eine gute Kondition ist, und umgekehrt. Wenn die gute körperliche Kondition die Straffheit des Fleisches ist, dann muß notwendig die schlechte Kondition die Schlaffheit des Fleisches sein; und das, was zu einer guten Kondition beiträgt, muß das sein, was die Festigkeit im Fleisch hervorbringt. Und in der Regel folgt: Wenn das eine Glied eines Gegensatzpaars in mehreren Bedeutungen ausgesagt wird, dann hat auch das andere mehrere Bedeutungen, zum Beispiel wenn „gerecht“, dann auch „ungerecht“. Nun scheinen in der Tat „Gerechtigkeit“ und „Ungerechtigkeit“ mehrere Bedeutungen zu haben. Da aber die verschiedenen Bedeutungen eng zusammen sind, bleibt die Mehrdeutigkeit verborgen und ist nicht so offensichtlich wie dort, wo die Bedeutungen weit auseinander liegen. Groß ist der Unterschied, wo er die wahrnehmbare Gestalt betrifft, wie wenn man zum Beispiel mit demselben Wort „Schlüssel“ das Schlüsselbein unterhalb des Halses beim Tier und den Schlüssel bezeichnet, mit dem man Türen verschließt. Stel- 329 5. Gerechtigkeit und Billigkeit len wir nun fest, wie viele Bedeutungen der Ausdruck „der Ungerechte“ hat. Als ungerecht gilt zum einen, wer das Gesetz verletzt, zum anderen, wer mehr haben will, das heißt eine Einstellung der Ungleichheit hat. Daher ist klar, daß gerecht derjenige sein wird, der die Gesetze beachtet und eine Einstellung der Gleichheit hat. Das Gerechte ist also das Gesetzliche und das Gleiche, das [1129b] Ungerechte das Gesetzwidrige und Ungleiche. Da nun der Ungerechte mehr haben will, wird er es mit Gütern zu tun haben, nicht mit allen Gütern, sondern mit denen, auf die sich äußeres Glück und Unglück beziehen, mit Gütern also, die als solche immer Güter sind, für einen bestimmten Menschen aber nicht in jedem Fall. Die Menschen erbitten sie in Gebeten und jagen ihnen nach. Das sollten sie jedoch nicht tun, sondern sollten vielmehr erbitten, daß die Dinge, die für sich genommen Güter sind, auch Güter für sie sind, und sie sollten die Dinge, die für sie Güter sind, [dann auch] wählen. Der Ungerechte wählt aber nicht immer das Mehr, sondern [manchmal] auch das Weniger, nämlich bei den Dingen, die als solche Übel sind. Doch da auch das kleinere Übel in gewisser Weise als Gut gilt, das Mehrhabenwollen sich aber auf Güter bezieht, deswegen gilt er als einer, der mehr haben will. So ist er jemand, der eine Einstellung der Ungleichheit hat. Denn dies umfaßt beides [mehr Güter und weniger Übel haben wollen] und ist beidem gemeinsam. Da nun, wie sich zeigte, jemand, der die Gesetze verletzt, ungerecht ist, und wer die Gesetze beachtet, gerecht, so ist klar, daß alles, was den Gesetzen entspricht, in gewisser Weise gerecht ist. Denn was von der Gesetzgebung festgelegt wird, ist gesetzlich, und jede einzelne gesetzliche Bestimmung nennen wir gerecht. Die Gesetze geben Bestimmungen über alles und zielen dabei entweder auf das, was allen gemeinsam förderlich ist, oder den Besten oder den Herrschenden, und zwar im Sinn der Tugend oder in einem anderen solchen Sinn. Daher nennen wir gerecht in einer Weise das, was das Glück und seine Teile für die politische Gemeinschaft hervorbringt und erhält. Das Gesetz ordnet aber auch an, die Taten des Tapferen zu tun (z. B. seinen Posten nicht zu verlassen, nicht zu fliehen, nicht die Waffen wegzuwerfen), ebenso die Taten des Mäßigen (z. B. nicht Ehebruch 330 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) zu begehen oder Gewalttaten zu verüben) und des Sanftmütigen (z. B. andere nicht zu schlagen oder zu beleidigen), und ebenso für die anderen Tugenden und Laster, indem es das eine befiehlt, das andere verbietet - auf richtige Weise, wenn das Gesetz richtig festgelegt wurde, und weniger gut, wenn es flüchtig entworfen wurde. Diese Form der Gerechtigkeit ist also die vollkommene Gutheit des Charakters, jedoch nicht absolut gesehen, sondern in bezug auf den anderen Menschen. Deswegen gilt die Gerechtigkeit häufig als die wichtigste der Tugenden, und weder der Abendstern noch der Morgenstern ist so wunderbar. Auch im Sprichwort heißt es „In der Gerechtigkeit ist jede Tugend enthalten“. Und sie gilt am meisten als vollkommene charakterliche Gutheit, weil sie die Ausübung der vollkommenen Gutheit ist. Vollkommen aber ist sie, weil der, der sie besitzt, die Tugenden auch in bezug auf den anderen Menschen gebrauchen kann, und nicht nur für sich selbst. Viele nämlich können die Tugenden in den eigenen Angelegenheiten anwenden, sind aber nicht in der Lage, sie im Bereich der Dinge anzuwenden, [1130a] die sich auf den anderen Menschen beziehen. Deswegen gilt der Ausspruch des Bias als richtig, daß die Ausübung eines Amts zeigt, was für ein Mensch jemand ist. Denn wer ein Amt innehat, der ist schon auf den anderen Menschen bezogen und ist schon in Gemeinschaft. Aus demselben Grund hält man auch die Gerechtigkeit als einzige der Tugenden für ein Gut für einen anderen, weil sie auf den anderen Menschen bezogen ist. Sie tut nämlich das Förderliche für einen anderen, sei es für einen Herrscher oder einen Mitbürger. Der Schlechteste nun ist, wer eine Schlechtigkeit sowohl in bezug auf sich selbst als auch in bezug auf seine Freunde anwendet. Der Beste aber ist nicht, wer eine Tugend in bezug auf sich gebraucht, sondern wer es in bezug auf den anderen tut. Denn dies ist eine schwierige Aufgabe. Die Gerechtigkeit in diesem Sinn nun ist nicht ein Teil der charakterlichen Gutheit, sondern die ganze Gutheit, und die ihr entgegengesetzte Ungerechtigkeit ist nicht ein Teil der Schlechtigkeit, sondern die ganze Schlechtigkeit. Worin sich aber die charakterliche Gutheit und diese Form der Gerechtigkeit unterscheiden, ist aus dem Gesagten deutlich. Sie sind dieselbe [Disposition], aber was sie ihrem Wesen nach sind, ist nicht dasselbe, sondern insofern die Disposition auf 331 5. Gerechtigkeit und Billigkeit den anderen Menschen bezogen ist, ist sie Gerechtigkeit, im absoluten Sinn aber charakterliche Gutheit. Nun suchen wir jedoch die Gerechtigkeit, die ein Teil der charakterlichen Gutheit ist (denn eine solche, behaupten wir, gibt es), und ebenso die Ungerechtigkeit, die ein Teil der Schlechtigkeit ist. Ein Indiz für ihre Existenz ist: Wer eines der anderen Laster betätigt, tut zwar Unrecht, will aber nicht von etwas mehr haben (z. B. wer aus Feigheit seinen Schild wegwirft oder aus Verdruß andere beleidigt oder aus mangelnder Freigebigkeit nicht mit Geld hilft). Wenn aber jemand mehr haben will, dann häufig aus keinem solchen Laster heraus, noch weniger aus allen zusammen, aber trotzdem aus einem ganz bestimmten Laster heraus (wir tadeln ihn ja), und zwar aus Ungerechtigkeit. Es gibt also noch eine andere Art der Ungerechtigkeit, die ein Teil der ganzen Ungerechtigkeit ist, und es gibt ein Ungerechtes im besonderen Sinn als Teil des Ungerechten im allgemeinen Sinn des Gesetzwidrigen. Ferner: Wenn der eine Mensch des Gewinns wegen Ehebruch begeht und dabei noch Geld bekommt, der andere es aus Begierde tut, dafür noch Geld ausgibt und einen Verlust erleidet, so sollte man letzteren eher für unmäßig halten als für einen, der mehr haben will, ersteren dagegen für ungerecht, aber nicht für unmäßig. Dies offensichtlich deswegen, weil ersterer des Gewinnes wegen handelt. Ferner: Alle anderen ungerechten Handlungen werden stets auf ein bestimmtes Laster zurückgeführt, zum Beispiel der Ehebruch auf Unmäßigkeit, das Im-Stich-Lassen des Kameraden in der Schlachtreihe auf Feigheit, das Schlagen auf Zorn. Wenn aber jemand einen Gewinn macht, dann wird seine Handlung keinem anderen Laster zugeschrieben als der Ungerechtigkeit. Offensichtlich also gibt es eine bestimmte andere Art von Ungerechtigkeit neben der Ungerechtigkeit als ganzer, die ein Teil von ihr ist und denselben Namen hat, weil ihre Definition sie in [1130b] dieselbe Gattung einordnet. Denn der Wirkungsbereich beider ist das Handeln in bezug auf den anderen Menschen. Die eine jedoch hat zu tun mit Ehre und Geld und Selbsterhaltung - oder mit dem, was all dies zusammenfassen könnte, wenn wir einen Namen dafür hätten -, und zwar aufgrund der Lust, die durch den Gewinn ent- 332 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) steht; die andere ist mit allem befaßt, was zum Handlungsbereich eines guten Menschen gehört. Es ist also klar, daß es mehrere Arten von Gerechtigkeit gibt und daß es neben der Gerechtigkeit im Sinn der gesamten charakterlichen Gutheit noch eine andere Art gibt. Was sie ist und wie sie beschaffen ist, müssen wir herausfinden. Das Ungerechte wurde nun unterteilt in das Gesetzwidrige und das Ungleiche, das Gerechte in das Gesetzliche und das Gleiche. Die Ungerechtigkeit, über die wir zuvor gesprochen haben, entspricht dann dem Ungerechten im Sinn des Gesetzwidrigen. Da jedoch das Ungleiche und das Gesetzwidrige nicht dasselbe, sondern verschieden sind und sich wie der Teil zum Ganzen verhalten (denn zwar ist alles Ungleiche gesetzwidrig, nicht alles Gesetzwidrige aber ungleich), so sind auch das Ungerechte und die Ungerechtigkeit im Sinn des Ungleichen nicht identisch mit der ersten Art, sondern unterscheiden sich von ihr wie der Teil vom Ganzen. Denn diese Ungerechtigkeit [die Ungleichheit] ist ein Teil der ganzen Ungerechtigkeit, genauso wie die ihr entsprechende Gerechtigkeit ein Teil der ganzen Gerechtigkeit ist. Daher müssen wir auch über die Gerechtigkeit im speziellen Sinn und die Ungerechtigkeit im speziellen Sinn reden, und auf dieselbe Weise über das Gerechte und das Ungerechte. Diejenige Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die sich auf denselben Bereich bezieht wie die ganze charakterliche Gutheit, die Gerechtigkeit als Ausübung der ganzen Gutheit, die Ungerechtigkeit als Ausübung der ganzen Schlechtigkeit in bezug auf den anderen Menschen, wollen wir beiseite lassen. Es ist auch klar, wie das Gerechte und das Ungerechte zu bestimmen ist, das dieser Art der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entspricht. Denn fast das meiste vom Gesetz Angeordnete bezieht sich auf Handlungen, die von der charakterlichen Gutheit als ganzer vorgeschrieben sind. Denn das Gesetz gebietet, in der Betätigung jeder einzelnen Tugend zu leben, und verbietet ein Leben in der Betätigung jeder einzelnen Schlechtigkeit. Was aber diese ganze Gutheit des Charakters hervorbringt, sind diejenigen Gesetzesvorschriften, die im Hinblick auf die Erziehung für die Gemeinschaft erlassen sind. (Was die Erziehung des einzelnen betrifft, die ihn zu einem guten Menschen überhaupt macht, so müssen wir später bestimmen, ob sie Aufgabe der Politik oder einer ande- 333 5. Gerechtigkeit und Billigkeit ren Disziplin ist. Denn vielleicht ist es nicht dasselbe, ein guter Mensch zu sein und ein guter Bürger in irgendeinem Staat.) Von der Gerechtigkeit im speziellen Sinn und dem in ihrem Sinne Gerechten findet sich die eine Form bei der Verteilung von Ehre, Geld oder anderen Gütern, die unter den Mitgliedern der Staatsgemeinschaft teilbar sind (denn in diesen Dingen kommt es vor, daß jemand einen ungleichen oder den gleichen Betrag hat wie ein anderer). Die [1131a] andere Form betrifft den Ausgleich in Transaktionen zwischen Menschen. Diese hat wiederum zwei Teile. Von den Transaktionen sind nämlich die einen gewollt, die anderen gegen das eigene Wollen. Gewollt sind zum Beispiel Kauf, Verkauf, Darlehen, Bürgschaft, Nutznießung, Deposition, Miete (man bezeichnet diese als gewollt, weil der Ursprung der Transaktionen im eigenen Wollen liegt). Von den Transaktionen gegen das Wollen sind die einen heimlich, zum Beispiel Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei, Verführung von Sklaven, Meuchelmord, falsches Zeugnis. Die anderen sind gewaltsam, zum Beispiel Mißhandlung, Freiheitsberaubung, Totschlag, Raub, Verstümmelung, Verleumdung, Beleidigung. Da nun der ungerechte Mensch ungleich eingestellt und das Ungerechte ungleich ist, gibt es offensichtlich auch zwischen dem Ungleichen [auf Seiten der beiden Extreme] ein Mittleres. Dies ist das Gleiche. Denn bei jeder Handlungsweise, bei der es ein Zuviel und ein Zuwenig gibt, gibt es auch das Gleiche. Wenn also das Ungerechte ungleich ist, ist das Gerechte gleich, wovon auch ohne Begründung alle überzeugt sind. Und da das Gleiche ein Mittleres ist, wird das Gerechte ein Mittleres sein. Das Gleiche enthält nun mindestens zwei Glieder. Demnach muß das Gerechte sowohl ein Mittleres wie ein Gleiches sein und ein Bezogenes, nämlich für bestimmte Partner. Als ein Mittleres wird es die Mitte zwischen zwei Dingen sein (die zu groß und zu klein sind), als ein Gleiches das Gleiche von zweien und als ein Gerechtes für bestimmte Personen gerecht. Also muß das Gerechte in wenigstens vier Gliedern liegen. Denn die Personen, für die es das Gerechte ist, sind zwei, und die Sachen, in denen es sich zeigt, sind ebenfalls zwei. Weiterhin wird dieselbe Gleichheit zwischen den Personen und den Sachen bestehen, die beteiligt sind. Wie sich diese zueinander 334 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) verhalten, die Sachen, so auch jene, die Personen. Wenn diese nicht gleich sind, werden sie nicht gleiche Anteile haben - und hier haben die Streitigkeiten und Anklagen ihren Ursprung, wenn Gleiche ungleiche Anteile oder Ungleiche gleiche Anteile haben und zugeteilt bekommen. Die Verteilung nach der Würdigkeit macht dies ebenfalls deutlich. Denn alle stimmen darin überein, daß das Gerechte bei Verteilungen einer Art von Würdigkeit entsprechen muß, doch nennen nicht alle dieselbe Art von Würdigkeit, sondern die Demokraten nennen den Status des freien Menschen, die Oligarchen den Reichtum, manche auch die adlige Abstammung, die Aristokraten die Gutheit des Charakters. Das Gerechte ist also eine Art des Proportionalen. Denn das Proportionale ist nicht nur eine Eigenschaft von Zahlen, die aus abstrakten Einheiten bestehen, sondern Eigenschaft der Zahl im allgemeinen. Proportionalität ist Gleichheit der Verhältnisse und erfordert mindestens vier Glieder. Daß die unstetige Proportion vier Glieder erfordert, ist offensichtlich; dasselbe gilt aber auch für die stetige Proportion, weil sie ein Glied als zwei [1131b] verwendet und es zweimal anführt; zum Beispiel: wie sich Linie A zu Linie B verhält, so Linie B zu Linie C. Hier wird also die Linie B zweimal angeführt, so daß, wenn B zweimal eingesetzt wird, die Glieder der Proportion vier sind. Das Gerechte erfordert nun ebenfalls mindestens vier Glieder, und das Verhältnis ist dasselbe: Die Personen und die Sachen werden auf dieselbe Weise geteilt. Dann wird sich, wie sich A zu B verhält, auch C zu D verhalten, und vertauscht man die Stellung der Glieder, verhält sich A zu C wie B zu D. Daher steht auch das Ganze [A + C] im selben Verhältnis zum Ganzen [B + D]. Das ist die Paarung, die durch die Verteilung hergestellt wird, und wenn sie die Glieder so zusammensetzt, ist die Paarung gerecht. Das Gerechte in der Verteilung besteht also in der Verbindung von Glied A mit C und B mit D, und dieses Gerechte ist ein Mittleres, während das Ungerechte das ist, was gegen die Proportion verstößt. Denn das Proportionale ist ein Mittleres, das Gerechte aber ein Proportionales. (Die Mathematiker nennen diese Art der Proportion 335 5. Gerechtigkeit und Billigkeit geometrisch. Denn in der geometrischen Proportion verhält sich ebenfalls das eine Ganze zum anderen Ganzen wie das eine Glied zum anderen Glied.) Dieses Verhältnis ist aber nicht kontinuierlich; denn die Person [der zugeteilt wird] und die Sache [die zugeteilt wird] sind nicht der Zahl nach ein einziges Glied. Das Gerechte also ist dieses, das Proportionale; das Ungerechte ist, was die Proportionalität verletzt. Der eine Anteil wird also zu groß und der andere zu klein, wie es auch in der Praxis geschieht. Denn wer Unrecht tut, hat zu viel vom Guten, wer Unrecht erleidet, zu wenig. Beim Übel gilt das Umgekehrte, da man das kleinere Übel für gut im Vergleich mit dem größeren Übel hält. Denn das kleinere Übel ist wählenswerter als das größere. Was aber wählenswert ist, ist ein Gut, und was wählenswerter ist, ein größeres Gut. Dies ist also die eine Art des Gerechten. Die verbleibende Art ist das ausgleichende Gerechte, das sowohl in den gewollten wie in den ungewollten Transaktionen vorkommt. Das Gerechte in diesem Sinn hat eine andere Form als das Gerechte im vorherigen Sinn. Denn das Gerechte, das die gemeinsamen Güter verteilt, entspricht immer der beschriebenen [geometrischen] Proportion. Auch dann nämlich, wenn eine Verteilung aus gemeinsamen Geldmitteln erfolgt, wird sie sich nach demselben Verhältnis richten, das die eingebrachten Beiträge zueinander haben. Und das Ungerechte, das dieser Art des Gerechten entgegengesetzt ist, besteht in der Verletzung dieser Proportion. Dagegen ist das Gerechte in Transaktionen zwar in gewisser Weise ein Gleiches - und das Unge[1132a]rechte ein Ungleiches - aber nicht nach der genannten Proportion, sondern nach der arithmetischen. Denn es ist gleichgültig, ob ein guter Mensch einen schlechten betrogen hat oder ein schlechter Mensch einen guten, und ebenso, ob ein guter oder ein schlechter Mensch Ehebruch begangen hat. Vielmehr sieht das Gesetz nur auf den Unterschied, der durch den zugefügten Schaden entstanden ist, und behandelt die Personen als gleiche und fragt nur, ob der eine Unrecht tut, der andere Unrecht erleidet und ob der eine einen Schaden zugefügt, der andere Schaden erlitten hat. Der Richter versucht also, das Ungerechte dieser Form, das in der Ungleichheit besteht, auszugleichen. Denn auch, wenn der eine ver- 336 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) letzt wurde, der andere eine Verletzung zugefügt hat, oder der eine tötet, der andere getötet wird, wird das Erleiden und das Tun in ungleiche Teile geteilt. Und der Richter versucht, diese Teile durch einen Verlust gleich zu machen, indem er vom Gewinn etwas wegnimmt. Denn im allgemeinen reden wir in solchen Fällen von Gewinn und Verlust, zum Beispiel von Gewinn für den Verletzenden und Verlust für den Verletzten, auch wenn das Wort vielleicht in manchen Fällen unangemessen ist. Aber wenn das Erlittene gemessen worden ist, nennt man eben das eine Verlust, das andere Gewinn. Das Gleiche ist also das Mittlere zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Gewinn und Verlust sind aber auf entgegengesetzte Weise zu viel bzw. zu wenig: Zu viel vom Gut und zu wenig vom Übel ist der Gewinn, und das Gegenteil gilt für den Verlust. Das Mittlere zwischen ihnen war das Gleiche, von dem wir sagen, daß es gerecht ist. Folglich wird das ausgleichende Gerechte das Mittlere zwischen Verlust und Gewinn sein. Daher nehmen die Menschen auch, wenn sie streiten, zum Richter Zuflucht; zum Richter gehen heißt, zum Gerechten gehen. Denn Richter zu sein bedeutet gewissermaßen, die Personifikation des Gerechten zu sein. Sie suchen den Richter als etwas Mittleres, und einige Menschen nennen ihn geradezu „Vermittler“, in der Überzeugung, daß sie, wenn sie das Mittlere bekommen, das Gerechte erhalten. Das Gerechte ist also ein Mittleres, wenn das in der Tat auch für den Richter gilt. Der Richter stellt die Gleichheit wieder her: Als hätte er es mit einer in ungleiche Abschnitte geteilten Linie zu tun, nimmt er von dem größeren Abschnitt den Betrag weg, um den er die Hälfte übertrifft, und fügt ihn zum kleineren Abschnitt hinzu. Wenn aber ein Ganzes in zwei [gleiche] Teile geteilt wird, so sagt man, man habe das Seine, wenn jeder das Gleiche [die Hälfte] hat. Das Gleiche aber ist das nach der arithmetischen Proportion Mittlere zwischen dem Größeren und dem Kleineren. Aus diesem Grund wird es auch mit dem Ausdruck „gerecht“ bezeichnet, weil es eine Teilung in zwei Teile bedeutet, wie wenn man dichaion sagen würde und der Richter dichastês hieße. Denn wenn etwas von einem von zwei gleichen Dingen weggenommen und zum anderen hinzugefügt wird, übertrifft das eine das andere um das Doppelte dieses Betrags; hätte man es nur von dem 337 5. Gerechtigkeit und Billigkeit einen weggenommen, aber dem anderen [1132b] nicht hinzugefügt, würde letzteres ersteres nur um den einen Betrag übertreffen. So aber übertrifft letzteres das Mittlere um einen Betrag, und das Mittlere übertrifft das, vom dem etwas weggenommen wurde, um einen Betrag. Dadurch also werden wir erkennen, was man von der Seite, die mehr hat, wegnehmen und was man der Seite, die weniger hat, hinzufügen muß. Den Betrag nämlich, um den das Mittlere sie übertrifft, muß man der Seite, die weniger hat, hinzufügen, und den Betrag, um den das Mittlere übertroffen wird, muß man von der größten Seite wegnehmen. Gegeben seien drei Linien AA', BB', CC', die einander gleich sind. Ziehen wir von der Linie AA' das Stück AE ab und fügen wir zur Linie CC' das Stück CD hinzu, so daß die ganze Linie DCC die Linie EA' um das Stück CD und das Stück CF übertrifft. Sie wird dann die Linie BB' um CD übertreffen. Diese Bezeichnungen, „Verlust“ und „Gewinn“, stammen aus der gewollten Transaktion. Denn mehr als das zu haben, was einem gehörte, nennt man „gewinnen“, und weniger als ursprünglich zu haben, „verlieren“, zum Beispiel beim Kaufen und Verkaufen und in allen anderen Dingen, in denen das Gesetz keine Sanktionen erlassen hat. Wenn Menschen aber weder mehr noch weniger erhalten, sondern genau das, was sie eingebracht haben, sagt man, daß sie das haben, was ihnen gehört, und weder verlieren noch gewinnen. Also ist das Gerechte bei denjenigen Transaktionen, die gegen das eigene Wollen sind, das Mittlere zwischen einer Art von Gewinn und einer Art von Verlust, und zwar so, daß man nachher das Gleiche hat wie zuvor. Einige sind der Ansicht, daß auch das Reziproke ohne weiteres gerecht ist. Diese Auffassung haben die Pythagoreer vertreten: Sie haben das Gerechte überhaupt bestimmt als reziprokes Erleiden dessen, was man einem anderen zugefügt hat. Das Reziproke paßt aber weder auf das verteilende noch auf das ausgleichende Gerechte (obwohl man meint, der Satz des Rhadamanthys über das Gerechte wolle dies sagen: „Wenn man erleiden würde, was man getan hat, dann würde genaue Gerechtigkeit geschehen“). Denn in vielen Fällen stimmen Reziprozität und ausgleichende Gerechtigkeit nicht überein. Wenn zum Beispiel ein Amtsträger jemanden geschlagen hat, so darf er 338 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) nicht zum Ausgleich seinerseits geschlagen werden, und wenn jemand einen Amtsträger geschlagen hat, soll man ihn nicht nur schlagen, sondern [außerdem] auch bestrafen. Ferner besteht ein großer Unterschied zwischen einer gewollten Handlung und einer Handlung, die gegen das eigene Wollen ist. In Tauschgemeinschaften aber hält diese Art des Gerechten die Menschen zusammen, und zwar das Reziproke, das der Proportion und nicht der Gleichheit entspricht. Denn durch den proportionalen reziproken Austausch hält der Staat zusammen. Die Menschen versuchen, entweder Schlechtes für Schlechtes zurückzugeben, und wenn [1133a] sie es nicht tun, halten sie das für einen Zustand der Sklaverei. Oder sie versuchen, Gutes für Gutes zurückzugeben, und wenn sie es nicht tun, gibt es keinen Austausch, durch den Austausch aber bleiben sie zusammen. Daher errichten die Menschen auch einen Tempel der Chariten an einem gut sichtbaren Ort, damit reziprokes Geben stattfinde. Denn dies ist dem Dank eigentümlich: Demjenigen, der eine Gunst erwiesen hat, muß man im Gegenzug wieder einen Dienst erweisen, und ein andermal muß man als erster ihm eine Gunst erweisen. Das proportionale reziproke Geben kommt durch die Verbindung diametraler Gegensätze zustande. Sei A ein Baumeister, B ein Schuster, C ein Haus, D ein Schuh. Dann muß also der Baumeister vom Schuster dessen Produkt nehmen, und er selbst muß jenem sein eigenes Produkt zum Ausgleich geben. Wenn nun zuerst eine proportionale Gleichheit der Güter besteht und dann eine reziproke Handlung stattfindet, so geschieht das, was wir meinen. Wenn aber nicht, besteht keine Gleichheit, und es hält nichts die Parteien zusammen. Denn es könnte leicht der Fall sein, daß das Produkt des einen dem des anderen überlegen ist; folglich muß man zwischen diesen Gleichheit herstellen. (Das gilt auch für die anderen Arten des Herstellungswissens. Sie würden nämlich aufgehoben, wenn nicht das, was der Herstellende bewirkt, dem entspräche, was das Bearbeitete erleidet, und zwar auch in der Quantität und Qualität.) Denn nicht aus zwei Ärzten entsteht eine Gemeinschaft, sondern aus einem Arzt und einem Bauern und allgemein aus Menschen, die verschieden und nicht gleich sind. Und zwischen diesen muß man Gleichheit herstellen. 339 5. Gerechtigkeit und Billigkeit Darum müssen alle Dinge, von denen es einen Austausch gibt, irgendwie vergleichbar sein. Dazu ist das Geld aufgekommen, und es wird in gewisser Weise zu einem Mittleren. Denn es mißt alles, also auch das Übermaß und den Mangel, etwa wie viele Schuhe einem Haus oder einer bestimmten Menge an Nahrungsmitteln gleich sind. Folglich muß sich, wie der Hausbauer zum Schuster, eine so und so große Zahl von Schuhen zu einem Haus oder einer Nahrungsmenge verhalten. Ist das nicht der Fall, werden keine Transaktion und keine Tauschgemeinschaft zustande kommen. Das wird aber nicht der Fall sein, wenn die beiden Seiten nicht irgendwie gleich sind. Man muß also, wie schon gesagt, alles mit einer bestimmten Einheit messen. Dies ist aber in Wahrheit das Bedürfnis, das alles zusammenhält. Denn wenn die Menschen keiner Dinge bedürften oder wenn sie ihrer nicht auf ähnliche Weise bedürften, dann gäbe es keinen Austausch, oder jedenfalls nicht denselben Austausch. Als eine Art Ersatz für das Bedürfnis ist aber durch Übereinkunft das Geld entstanden. Und deswegen hat es den Namen nomisma (Geld) erhalten, weil es nicht durch die Natur, sondern durch Konvention (nomos) vorhanden ist und weil es bei uns liegt, es zu ändern und unbrauchbar zu machen. Reziprozität wird also dann vorliegen, wenn Gleichheit hergestellt wurde, so daß sich, wie der Bauer sich zum Schuhmacher verhält, das Produkt des Schuhmachers zum Produkt des Bauern verhält. Jedoch darf [1133b] man sie nicht erst in ein Schema der Proportion bringen, wenn sie den Austausch bereits vorgenommen haben (sonst erhält das eine der beiden äußeren Glieder beide Überschüsse), sondern wenn sie ihre eigenen Güter noch haben. Auf diese Weise sind sie Gleiche und Tauschpartner, eben weil diese Gleichheit in ihrem Fall hergestellt werden kann. Es sei A ein Bauer, C Nahrung, B ein Schuhmacher und D sein Produkt, das dem des Bauern gleich gemacht wurde. Wenn nicht auf diese Weise Reziprozität möglich wäre, gäbe es keine Gemeinschaft. Daß aber das Bedürfnis zusammenhält wie eine einzige Einheit, zeigt sich darin, daß die Parteien, wenn sie kein Bedürfnis nach einander haben - das heißt, wenn beide einander nicht brauchen oder einer von beiden den anderen nicht braucht -, keinen Austausch vornehmen [wie dann, wenn jemand einer Sache 340 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) bedarf, die man selbst hat, z. B. Wein, und dafür der Export von Getreide erlaubt wird]. Hier muß also Gleichheit hergestellt werden. Für den künftigen Austausch - dafür, daß der Austausch, wenn jetzt kein Bedarf besteht, möglich sein wird, wenn Bedarf aufkommt - ist uns das Geld gewissermaßen Bürge. Denn dem, der dieses bringt, muß es möglich sein, etwas zu bekommen. Allerdings geschieht dasselbe mit dem Geld. Es ist nämlich nicht immer gleich viel wert; dennoch hat es die Tendenz, stabiler zu sein. Darum muß für alle Güter ein Preis festgesetzt werden. So nämlich wird immer Tausch stattfinden, und wenn Tausch, dann Gemeinschaft. Das Geld stellt also, indem es die Dinge wie ein Maß kommensurabel macht, Gleichheit her. Denn weder gäbe es Gemeinschaft, wenn es keinen Austausch gäbe, noch Austausch, wenn es keine Gleichheit gäbe, noch Gleichheit, wenn es keine Kommensurabilität gäbe. In Wahrheit allerdings ist es unmöglich, daß Dinge, die so verschieden sind, kommensurabel werden können, doch im Hinblick auf das Bedürfnis ist das hinreichend möglich. Es muß also eine Einheit geben, und zwar durch Übereinkunft; daher wird sie Geld genannt. Das Geld macht alle Dinge kommensurabel, denn alle werden durch das Geld gemessen. Sei A ein Haus, B zehn Minen, C ein Bett. A ist die Hälfte von B, wenn das Haus fünf Minen wert oder ihnen gleich ist. Das Bett, C, ist ein Zehntel von B. Es ist demnach klar, wie viele Betten einem Haus gleich sind, nämlich fünf. Daß der Tausch so vonstatten ging, ehe es Geld gab, ist klar. Denn es ist gleichgültig, ob fünf Betten für ein Haus getauscht werden oder der Geldwert von fünf Betten. Wir haben nun also gesagt, was das Gerechte und das Ungerechte ist. Nachdem diese bestimmt sind, ist klar, daß gerechtes Handeln das Mittlere ist zwischen dem Unrechttun und dem Unrechtleiden. Denn das eine bedeutet, zu viel, das andere, zu wenig zu haben. Die Gerechtigkeit ist also eine Mitte, jedoch nicht in derselben Weise wie die anderen Tugenden, sondern weil sie sich auf das Mittlere bezieht, die [1134a] Ungerechtigkeit hingegen auf die Extreme. Und zwar ist die Gerechtigkeit diejenige Disposition, kraft deren der Gerechte als jemand bezeichnet wird, der das Gerechte mit Vorsatz tut und der, wo es um das Verteilen geht, für sich in bezug auf einen anderen und für einen anderen in bezug auf einen Dritten nicht so vorgeht, daß er 341 5. Gerechtigkeit und Billigkeit vom Wählenswerten sich selbst mehr und dem Nächsten weniger gibt, vom Schädlichen aber umgekehrt, sondern so, daß er das proportional Gleiche gibt, und ebenso bei der Verteilung zwischen zwei anderen Personen. Die Ungerechtigkeit ist im Gegensatz dazu diejenige Disposition, kraft deren der ungerechte Mensch als jemand bezeichnet wird, der das Ungerechte tut, und das bedeutet Übermaß und Mangel im Nützlichen oder Schädlichen entgegen dem proportionalen Verhältnis. Daher ist die Ungerechtigkeit Übermaß und Mangel, weil sie auf Übermaß und Mangel gerichtet ist - geht es um einen selbst, auf das Übermaß des Nützlichen und den Mangel des Schädlichen überhaupt. Geht es um andere, ist es im ganzen ähnlich, es bleibt aber zufällig, in welche Richtung die Proportion verletzt wird. Beim ungerechten Handeln bedeutet es, wenn man zu wenig erhält, Unrecht leiden, wenn zu viel, Unrecht tun. Was also die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit betrifft, sei dies unsere Erklärung, ebenso über das Gerechte und Ungerechte im allgemeinen. (EN V 1-9) [1137a31] Als Nächstes muß über die Billigkeit und das Billige geredet werden, darüber, wie sich die Billigkeit zur Gerechtigkeit verhält und das Billige zum Gerechten. Denn bei näherer Prüfung erweisen sie sich weder als einfach dasselbe noch als der Gattung nach verschieden. So loben wir bald das Billige und den billig eingestellten Menschen, so daß wir den [1137b] Ausdruck beim Loben sogar anstelle des Worts „gut“ auf andere Bereiche übertragen - und so das Billigere als das Bessere erweisen -; bald aber scheint es, wenn wir der Wortbedeutung folgen, seltsam, daß das Billige lobenswert sein soll, wenn es etwas ist, das neben dem Gerechten steht. Denn entweder ist das Gerechte nicht gut, oder das Billige ist nicht gerecht, wenn es verschieden vom Gerechten ist; oder wenn beide gut sind, sind sie dasselbe. Das sind ungefähr die Erwägungen, aus denen die Schwierigkeit über das Billige entsteht. Sie sind alle in gewisser Weise richtig und widersprechen einander nicht. Denn das Billige ist, obwohl es besser ist als eine bestimmte Art des Gerechten, gerecht, und es ist nicht in der Weise besser als das Gerechte, als wenn es zu einer ande- 342 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) ren Gattung gehörte. Gerechtes und Billiges ist also dasselbe, und während beide gut sind, ist das Billige das Überlegene. Die Schwierigkeit wird dadurch hervorgerufen, daß das Billige zwar ein Gerechtes ist, aber nicht das Gerechte nach dem Gesetz, sondern als Berichtigung des gesetzlich Gerechten. Der Grund liegt darin, daß jedes Gesetz allgemein ist, sich aber über manche Dinge keine richtigen allgemeinen Sätze aufstellen lassen. Wo es nun nötig ist, allgemein zu sprechen, dies aber nicht auf richtige Weise möglich ist, da nimmt das Gesetz die Regel, die meistens richtig ist, durchaus wissend, daß dies fehlerhaft ist. Und doch ist das Gesetz deshalb nicht weniger richtig. Denn der Fehler liegt nicht im Gesetz, auch nicht beim Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache. Denn so ist nun einmal die Handlungsmaterie beschaffen. Wenn nun das Gesetz allgemein spricht, aber ein einzelner Fall eintritt, der vom allgemeinen Gesetz nicht erfaßt wird, dann ist es richtig, dort, wo der Gesetzgeber eine Lücke läßt und den Fall durch die allgemeine Formulierung verfehlt, dies zu berichtigen - indem man sagt, was auch der Gesetzgeber selbst gesagt hätte, wenn er da gewesen wäre, und was er in das Gesetz aufgenommen hätte, wenn er es gewußt hätte. Daher ist das Billige gerecht und besser als eine bestimmte Art des Gerechten, nicht besser als das allgemein Gerechte, aber besser als der Mangel, der aufgrund der allgemeinen Formulierung des Gesetzes entsteht. Dies ist also das Wesen des Billigen, eine Berichtigung des Gesetzes zu sein, insofern dieses wegen seiner Allgemeinheit eine Lücke aufweist. Das ist auch der Grund, warum nicht alles durch das Gesetz geregelt ist: daß es Dinge gibt, über die man keine Gesetze aufstellen kann, so daß ein [besonderer] Beschluß nötig ist. Denn wo die Sache unbestimmt ist, ist auch der Maßstab unbestimmt, wie der bleierne Maßstab, der beim Hausbau auf Lesbos verwendet wird. Der Maßstab paßt sich nämlich der Gestalt des Steins an und ist nicht starr, und so paßt sich auch der Beschluß den Sachverhalten an. Was nun also das Billige ist und daß es gerecht ist und besser als eine bestimmte Art des Gerechten, ist deutlich. Daraus geht dann auch hervor, wer ein billig eingestellter Mensch ist. Wer sich nämlich solche Dinge vornimmt und sie tut und [1138a] wer nicht im schlechten Sinn zu genau am Recht klebt, sondern dazu neigt, weniger zu beanspruchen, obwohl er das Gesetz auf seiner Sei- 343 6. Dianoetische Tugenden te hat, der ist billig eingestellt. Diese Disposition ist die Billigkeit; sie ist eine Art der Gerechtigkeit und nicht eine von dieser verschiedene Disposition. (EN V 14) 6. Dianoetische Tugenden [1138b35] Als wir die Tugenden der Seele einteilten, sagten wir, daß die einen [1139a] zum Charakter gehören, die anderen zum Denken. Die Tugenden des Charakters haben wir erörtert; über die anderen wollen wir im Folgenden sprechen, wobei wir mit einigen Bemerkungen über die Seele beginnen. Früher sagten wir, daß es zwei Bestandteile der Seele gibt, denjenigen Teil, der Vernunft besitzt, und den vernunftlosen Teil. Jetzt aber müssen wir bei dem Teil, der Vernunft besitzt, ebenfalls eine Unterteilung vornehmen. Und zwar sei zugrunde gelegt, daß es zwei Vernunft besitzende Bestandteile gibt, einen, mit dem wir dasjenige Seiende betrachten, dessen Ursprünge nicht [so oder] anders sein können, und einen, mit dem wir das betrachten, was [so oder] anders sein kann. Denn wo die Dinge der Gattung nach verschieden sind, ist auch derjenige Bestandteil der Seele, der zu ihnen naturgemäß in einer Beziehung steht, der Gattung nach verschieden, da es ja in einer gewissen Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit ihren Gegenständen begründet ist, daß die Seelenteile Erkenntnis haben. Der eine Teil heiße nun „wissenschaftlich“, der andere „überlegend“. Denn überlegen und nachdenken ist dasselbe, niemand aber stellt Überlegungen über die Dinge an, die nicht anders sein können. Der überlegende Teil ist also ein Bestandteil des vernunftbesitzenden Seelenteils. Wir müssen nun herausfinden, welches die beste Disposition jedes der beiden Teile ist. Denn diese ist jeweils seine Gutheit. Die Gutheit einer Sache ist aber bezogen auf deren eigentümliche Funktion. Nun gibt es drei Dinge in der Seele, die Handlung und Wahrheit kontrollieren: Wahrnehmung, Denken, Streben. Von diesen dreien ist die Wahrnehmung nie Ursprung eines Handelns. Das zeigt sich daran, daß die Tiere zwar Wahrnehmung besitzen, aber keinen Anteil am Handeln haben. 344 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Was beim Denken Bejahung und Verneinung ist, ist beim Streben das Aufsuchen und Meiden. Also muß, da die charakterliche Tugend eine sich in Vorsätzen äußernde Disposition und der Vorsatz ein überlegtes Streben ist, eben deshalb die Überlegung wahr und das Streben richtig sein, wenn der Vorsatz gut sein soll, und was der denkende Teil bejaht und der strebende Teil verfolgt, muß dasselbe sein. Dies ist das praktische Denken und die praktische Wahrheit. Beim Denken, das betrachtend, das heißt weder handelnd noch herstellend ist, besteht das „auf gute Weise“ oder „auf schlechte Weise“ im Wahren oder Falschen (dies [zu erkennen] ist schließlich die Funktion eines jeden denkenden Teils), während es beim praktischen Denken in der Wahrheit liegt, die mit dem richtigen Streben übereinstimmt. Ursprung einer Handlung - im Sinn des Ursprungs der Bewegung, nicht des Zwecks - ist ein Vorsatz, und der Ursprung des Vorsatzes ist das Streben und die Überlegung, die auf einen Zweck gerichtet ist. Deswegen kann es einen Vorsatz weder ohne intuitives und diskursives Denken geben, noch ohne eine Charakterdisposition. Denn gutes Handeln und das Gegenteil davon gibt es nicht ohne Denken und Charakter. Das Denken als solches bewegt jedoch nichts, sondern nur dasjenige Denken, das auf einen Zweck bezogen, das heißt praktisch ist. [1139b] Dieses leitet ja auch das herstellende Denken. Denn jeder, der etwas herstellt, stellt es zu einem Zweck her, wobei Ziel letztlich nicht der Gegenstand des Herstellens ist (dieser ist vielmehr Ziel nur in bezug auf etwas und als Ziel eines bestimmten Herstellungswissens), sondern der Gegenstand des Handelns. Ziel ist das gute Handeln, und das Streben richtet sich auf dieses. Daher ist der Vorsatz entweder strebendes Denken oder denkendes Streben, und ein so gearteter Ursprung ist der Mensch. Gegenstand des Vorsatzes kann nichts Vergangenes sein, zum Beispiel nimmt sich niemand vor, Troja zerstört zu haben. Man überlegt ja nicht das Vergangene, sondern das Zukünftige und Mögliche. Was in der Vergangenheit geschehen ist, kann unmöglich nicht geschehen sein. Daher hat Agathon recht, wenn er sagt: „Denn diese Fähigkeit fehlt als einzige auch Gott, ungeschehen zu machen, was getan worden ist.“ Die Funktion beider denkender Bestandteile ist also die [Erkenntnis der] Wahrheit. Für beide Teile wird daher ihre Gutheit jeweils in 345 6. Dianoetische Tugenden derjenigen Disposition bestehen, vermöge deren sie am meisten die Wahrheit treffen. Holen wir nun weiter aus und erörtern wir die vernünftigen Bestandteile der Seele noch einmal. Es sei angenommen, daß es fünf Dispositionen gibt, mit denen die Seele durch Bejahen und Verneinen die Wahrheit trifft: Herstellungswissen, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit, intuitives Denken. Vermutung und Meinung schließen wir nicht ein, weil bei ihnen Täuschung möglich ist. Was die Wissenschaft ist, wird, wenn man genau reden muß und sich nicht durch Analogien leiten lassen darf, aus dem Folgenden deutlich. Wir alle nehmen an, daß das, was wir wissen, unmöglich anders sein kann. Von dem, was anders sein kann, wissen wir, wenn es außerhalb unserer Beobachtung geschieht, nicht, ob es der Fall ist oder nicht. Was Gegenstand des Wissens ist, ist also mit Notwendigkeit. Daher ist es ewig; denn alles, was im absoluten Sinn mit Notwendigkeit ist, ist ewig, und was ewig ist, unterliegt nicht dem Entstehen und Vergehen. Ferner gilt jede Wissenschaft als lehrbar und ihr Gegenstand als lernbar. Jede Lehre geht aber von bereits Bekanntem aus, wie wir auch in den Analytiken sagen; denn sie geschieht teils durch Induktion, teils durch deduktives Schließen. Die Induktion nun führt zur Erkenntnis des Ausgangspunkts, das heißt des Allgemeinen, während der deduktive Schluß vom Allgemeinen ausgeht. Es gibt demnach Ausgangspunkte, die Prämissen von Schlüssen, aber keine Folgerungen von Schlüssen sind; also werden sie durch Induktion gewonnen. Die Wissenschaft ist folglich eine Disposition, die sich im Beweisen betätigt, mit all den weiteren Definitionskriterien, die in den Analytiken genannt werden. Dann nämlich hat jemand Wissen, wenn er auf bestimmte Weise überzeugt ist und ihm die Ausgangspunkte bekannt sind. Sind ihm diese nicht bekannter als die Schlußfolgerung, wird er das Wissen nur zufällig haben. Dies sei unsere Bestimmung der Wissenschaft. [1140a] Was anders sein kann, ist teils Gegenstand des Herstellens, teils des Handelns. Herstellen und Handeln sind zweierlei (wir stützen uns, was diese betrifft, auch auf unsere populären Schriften). Da- 346 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) her ist auch die mit Überlegung verbundene Disposition des Handelns verschieden von der mit Überlegung verbundenen Disposition des Herstellens. Sie schließen sich daher auch nicht wechselseitig ein; weder nämlich ist das Handeln Herstellen, noch ist das Herstellen Handeln. Da die Baukunde eine Art von Herstellungswissen und ihrem Wesen nach eine bestimmte mit Überlegung verbundene Disposition des Herstellens ist und da es weder ein Herstellungswissen gibt, das keine mit Überlegung verbundene Disposition des Herstellens ist, noch eine solche Disposition, die kein Herstellungswissen ist, werden Herstellungswissen und mit wahrer Überlegung verbundene Disposition des Herstellens dasselbe sein. Jedes Herstellungswissen hat mit einem Entstehen zu tun, das heißt damit, daß man sich ausdenkt und zusieht, wie etwas von den Dingen, die sowohl sein als auch nicht sein können, entstehen könnte, und zwar von solchen Dingen, deren Ursprung im Herstellenden liegt und nicht im Hergestellten. Denn das Herstellungswissen bezieht sich weder auf das, was mit Notwendigkeit ist oder entsteht, noch auf das, was von Natur aus entsteht, weil dies seinen Ursprung in sich selbst hat. Da aber Herstellen und Handeln Verschiedenes sind, muß zum Herstellungswissen das Herstellen gehören, nicht das Handeln. Auf gewisse Weise beziehen sich Zufall und Herstellungswissen auf dasselbe, wie auch Agathon sagt: „Das Herstellungswissen liebt den Zufall und der Zufall das Herstellungswissen.“ Das Herstellungswissen ist also, wie gesagt, eine bestimmte mit wahrer Überlegung verbundene Disposition des Herstellens, das fehlende Herstellungswissen im Gegensatz dazu eine mit falscher Überlegung verbundene Disposition des Herstellens, wobei beide sich auf das beziehen, was [so oder] anders sein kann. Was die Klugheit ist, können wir erfassen, indem wir schauen, welche Menschen wir klug nennen. Es gilt als Kennzeichen eines klugen Menschen, daß er gut zu überlegen vermag über das für ihn Gute und Zuträgliche, und zwar nicht in einer besonderen Hinsicht, zum Beispiel darüber, was seiner Gesundheit oder seiner Kraft zuträglich ist, sondern darüber, was überhaupt dem guten Leben zuträglich ist. Ein Indiz dafür ist, daß wir auch diejenigen, die mit einem speziellen 347 6. Dianoetische Tugenden Bereich zu tun haben, klug nennen, wenn sie im Hinblick auf ein bestimmtes gutes Ziel gut überlegen, das nicht Gegenstand eines Herstellungswissens ist. So wird allgemein der Kluge derjenige sein, der gut im Überlegen ist. Es überlegt aber niemand Dinge, die nicht auch anders sein können, ebensowenig solche, die zu tun ihm nicht möglich ist. Wenn also die Wissenschaft Beweise enthält, es aber von den Dingen, deren Ursprünge auch anders sein können, keinen Beweis gibt (da sich [dies] alles auch anders verhalten kann), und wenn man nicht [1140b] Dinge überlegen kann, die mit Notwendigkeit sind, wird folglich die Klugheit weder Wissenschaft noch Herstellungswissen sein. Sie wird nicht Wissenschaft sein, weil die Gegenstände des Handelns [so oder] anders sein können, und sie wird nicht Herstellungswissen sein, weil Handeln und Herstellen zu unterschiedlichen Gattungen gehören. Es bleibt also, daß sie eine mit Überlegung verbundene wahre Disposition des Handelns ist, die sich auf das bezieht, was für den Menschen gut oder schlecht ist. Das Ziel der Herstellung ist von dieser selbst verschieden, das der Handlung nicht. Denn das gute Handeln selbst ist Ziel. Aus diesem Grund glauben wir, daß Perikles und Menschen seiner Art klug sind, weil sie nämlich erwägen können, was für sie selbst und die Menschen gut ist; auch diejenigen, die ein Haus oder einen Staat leiten, halten wir für so beschaffen. Daher geben wir auch der Mäßigkeit diesen Namen, um auszudrücken, daß sie die Klugheit bewahrt. Sie bewahrt nämlich das so [wie beschrieben] beschaffene Urteil. Es wird ja nicht jedes Urteil durch Lust oder Unlust verdorben oder verdreht, zum Beispiel nicht dasjenige, daß die Winkelsumme im Dreieck zwei rechte Winkel beträgt oder nicht, sondern nur solche Urteile, die in den Bereich des Handelns gehören. Denn die Ursprünge des Getanen liegen in ihrem Zweck und in ihrem Grund. Demjenigen aber, der durch Lust oder Unlust verdorben ist, zeigt sich sofort der Ursprung nicht mehr, und auch nicht, daß man zu diesem Zweck oder aus diesem Grund alles wählen und tun soll - denn die Schlechtigkeit verdirbt den Ursprung. 348 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) So ist also die Klugheit notwendigerweise eine mit Überlegung verbundene wahre Disposition des Handelns in bezug auf die menschlichen Güter. Nun gibt es allerdings beim Herstellungswissen eine Gutheit, bei der Klugheit hingegen nicht. Und beim Herstellungswissen würde man den, der absichtlich einen Fehler macht, vorziehen, bei der Klugheit weniger, wie auch bei den charakterlichen Tugenden. Es ist also deutlich, daß die Klugheit eine Art von Tugend und nicht ein Herstellungswissen ist. Da es zwei Bestandteile der Seele gibt, die Vernunft haben, wird sie [die Klugheit] die Gutheit des einen der beiden sein, und zwar des meinenden Teils. Denn die Meinung bezieht sich auf die Dinge, die anders sein können, und ebenso die Klugheit. Sie ist aber auch nicht nur eine mit Überlegung verbundene Disposition. Ein Indiz dafür ist, daß eine solche Disposition in Vergessenheit geraten kann, die Klugheit hingegen nicht. Da die wissenschaftliche Erkenntnis ein Urteil über das Allgemeine und Notwendige ist, da es aber für alles Beweisbare und für jede Wissenschaft Prinzipien gibt - denn die Wissenschaft enthält Begründung -, wird der Ausgangspunkt des Wißbaren weder Sache der Wissenschaft noch des Herstellungswissens noch der Klugheit sein. Denn was wißbar ist, ist beweisbar, und die anderen beiden [Herstellungswissen und Klugheit] haben [1141a] mit dem zu tun, was sich [so oder] anders verhalten kann. Aber auch die Weisheit handelt nicht von den Prinzipien. Denn es ist Kennzeichen des Weisen, daß er für einige Dinge einen Beweis hat. Wenn nun die Dispositionen, mit denen wir die Wahrheit treffen und uns niemals täuschen, sei es über das, was nicht anders sein kann, sei es über das, was anders sein kann, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und intuitive Vernunft sind, von den dreien aber (mit den dreien meine ich: Klugheit, Wissenschaft, Weisheit) keines die Prinzipien zum Gegenstand haben kann, dann bleibt nur, daß es die intuitive Vernunft ist, welche die Prinzipien erfaßt. Die Weisheit schreiben wir beim Herstellungswissen denjenigen zu, die am genauesten in ihrer Disziplin sind, zum Beispiel bezeichnen wir Pheidias als weisen Bildhauer, Polykleitos als weisen Bronzebild- 349 6. Dianoetische Tugenden ner, und hier meinen wir mit „Weisheit“ nichts anderes, als daß sie die Gutheit des Herstellungswissens ist. Wir denken aber auch, daß manche Menschen ganz allgemein weise sind, nicht weise in einem besonderen Bereich oder in sonst einer Hinsicht, wie Homer im Margites sagt: „Diesen machten die Götter weder zum Gräber noch zum Pflüger, noch in sonst etwas weise.“ Daraus ist deutlich, daß die Weisheit die genaueste der Wissenschaften ist. Folglich muß der Weise nicht nur das wissen, was aus den Prinzipien folgt, sondern er muß auch eine wahre Auffassung von den Prinzipien haben. Die Weisheit wird also intuitive Vernunft und Wissenschaft sein - Wissenschaft sozusagen mit einem Haupt, welche die am höchsten geschätzten Gegenstände hat. Denn es wäre seltsam, wenn jemand das politische Wissen oder die Klugheit für die beste Wissenschaft hielte, es sei denn, der Mensch wäre das beste der Wesen im Universum. Wenn nun für Menschen etwas anderes gesund und gut ist als für Fische, das Weiße und das Gerade dagegen immer dasselbe ist, dann werden alle auch das Weise als immer dasselbe, das Kluge hingegen als jeweils ein anderes bezeichnen. Denn dasjenige Wesen, das die einzelnen Dinge, die es selbst betreffen, gut bedenkt, nennt man klug, und ihm wird man diese Dinge anvertrauen. Deswegen nennt man auch manche Tiere klug, nämlich diejenigen, die ein Vermögen der Vorsorge für ihr eigenes Leben zeigen. Offensichtlich ist auch, daß die Weisheit und das politische Wissen nicht dasselbe sein können. Denn wenn die Leute das Wissen über das jeweils ihnen selbst Zuträgliche Weisheit nennen, dann wird es viele Arten der Weisheit geben. Denn es gibt nicht eine Weisheit, die sich auf das Gut aller Arten von Tieren bezieht, sondern für jede Art eine andere, es sei denn, es gäbe auch nur ein medizinisches Wissen in bezug auf alle Wesen. Sagt man aber, daß der Mensch das beste unter den Tieren ist, so ändert das nichts. Denn es gibt andere Wesen, die in ihrer Natur noch [1141b] viel göttlicher sind als der Mensch, zum Beispiel am deutlichsten diejenigen, aus denen das Universum besteht. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Weisheit sowohl wissenschaftliches als auch intuitives Erkennen derjenigen Dinge ist, die ihrer Natur nach die am höchsten geschätzten sind. 350 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Daher nennen die Leute Anaxagoras, Thales und derartige Menschen zwar weise, aber nicht klug, wenn sie sehen, daß diese das ihnen Förderliche nicht kennen; und daher sagt man auch, daß sie Dinge wissen, die außergewöhnlich, wunderbar, schwierig und göttlich sind, aber unbrauchbar, weil sie nicht die Güter für den Menschen suchen. Dagegen hat die Klugheit die menschlichen Dinge zum Gegenstand, dasjenige, worüber man überlegen kann. Denn dies bezeichnen wir vor allem als die Leistung des Klugen, gut zu überlegen. Nun überlegt niemand Dinge, die sich unmöglich anders verhalten können, auch nicht Dinge, die nicht ein Ziel haben, und zwar ein Gut, das Gegenstand des Handelns ist. Der Wohlberatene allgemein aber ist derjenige, der entsprechend der Überlegung auf das für den Menschen beste der durch Handeln erreichbaren Güter abzielt. Auch hat die Klugheit nicht nur mit dem Allgemeinen zu tun, vielmehr muß sie auch das Einzelne erkennen. Denn sie ist handlungsbezogen, und das Handeln betrifft das Einzelne. Daher kommt es, daß manchmal - und das gilt auch auf anderen Gebieten - Menschen ohne [allgemeines] Wissen besser im Handeln sind als andere mit einem Wissen, nämlich die Erfahrenen. Wenn jemand nämlich weiß, daß leichtes Fleisch gut verdaulich und gesund ist, aber nicht weiß, welches Fleisch leicht ist, wird er keine Gesundheit bewirken; vielmehr wird das derjenige können, der weiß, daß Geflügelfleisch leicht und gesund ist. Nun bezieht sich die Klugheit aufs Handeln, so daß man beides [Wissen des Allgemeinen und Erfahrung vom Einzelnen] haben muß, oder mehr noch das zweite. Aber auch hier wird es eine leitende Kenntnis geben. Das politische Wissen und die Klugheit sind dieselbe Disposition, ihr Sein ist jedoch nicht dasselbe. Von der mit dem Staat befaßten Klugheit ist die leitende Form das Gesetzgebungswissen. Die andere Form, die sich mit dem Einzelnen befaßt, hat den gemeinsamen Namen „politisches Wissen“. Sie ist handlungsbezogen und überlegend, denn ein Staatsbeschluß ist, als letzter Schritt in einem Überlegungsprozeß, etwas, das durch Handeln ausgeführt werden kann. Daher sagt man nur von denjenigen, die sich auf diese Weise betätigen, daß sie Politik machen; denn nur sie machen etwas wie Handwerker. Man 351 6. Dianoetische Tugenden nimmt gewöhnlich aber auch an, daß die Klugheit insbesondere diejenige Art ist, die den Handelnden selbst und die einzelne Person betrifft; diese hat den gemeinsamen Namen, „Klugheit“. Von den anderen Arten ist eine die Leitung des Hauses, eine andere Gesetzgebung, die dritte politisches Wissen, und davon ist die eine Art die überlegende, die andere die richterliche. (EN VI 2-8) [1143b18] Man könnte in bezug auf sie [Klugheit und Weisheit] jedoch ein Problem aufwerfen und fragen, wozu sie beide nützen. Denn die Weisheit betrachtet keines der Dinge, die einen Menschen glücklich machen; sie hat es ja mit keinem Entstehen zu tun. Die Klugheit andererseits hat zwar gerade dieses zum Gegenstand, doch wozu brauchen wir sie? Die Klugheit befaßt sich mit den Dingen, die gerecht, werthaft und gut für den Menschen sind, das heißt mit eben denen, deren Ausführung Sache des guten Menschen ist. Wir werden aber durch das Wissen dieser Dinge nicht besser zu ihrer Ausführung geeignet sein, wenn doch die Tugenden Dispositionen sind. Dasselbe gilt für die Gesundheit und physische Kondition, sofern nicht das Tun gemeint ist, sondern das Hervorgehen aus der Disposition. Auch hier werden wir durch den Besitz des medizinischen oder gymnastischen Wissens nicht geeigneter zum Handeln. Wenn man aber sagen muß, daß klug sein nicht hierfür nützlich ist, sondern dafür, gut zu werden, dann wäre die Klugheit für diejenigen, die schon gut sind, gar nicht nützlich; und ebensowenig für diejenigen, die es nicht sind. Denn es spielt keine Rolle, ob sie selbst Klugheit haben oder ob sie auf andere hören, die sie haben. Es wird uns genügen, hier genauso zu verfahren wie bei der Gesundheit: Wir wollen gesund sein, erlernen aber trotzdem nicht die Medizin. Hinzu kommt, daß man es merkwürdig finden würde, wenn die Klugheit, die doch der Weisheit unterlegen ist, ihr gebieten würde. Denn das Herstellungswissen hat die Herrschaft und gibt Anweisungen über jede Sache. Diese Dinge also muß man erörtern. Denn bisher haben wir nur die Schwierigkeiten aufgezeigt, die sie aufwerfen. [1144a] Als Erstes nun wollen wir sagen, daß Klugheit und Weisheit, selbst wenn keine von beiden irgendetwas herstellen würde, als solche wählenswert sein müssen, da sie jeweils die Gutheit eines der beiden Seelenbestandtei- 352 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) le sind. Zweitens stellen sie auch beide etwas her, jedoch nicht wie die Medizin die Gesundheit herstellt, sondern wie die Gesundheit es tut - so „stellt“ die Weisheit das Glück „her“. Denn da sie ein Bestandteil der ganzen Tugend ist, macht sie uns dadurch, daß wir sie besitzen und ausüben, glücklich. Ferner wird dieses „Hergestellte“ vermöge der Klugheit und der charakterlichen Tugend erreicht. Denn die Tugend des Charakters macht den Zielpunkt richtig, die Klugheit aber das, was zum Ziel führt. Vom vierten Teil der Seele, dem Ernährungsvermögen, gibt es keine solche Gutheit. Denn es gibt nichts, was zu tun oder nicht zu tun bei ihm läge. Was das Problem betrifft, daß wir durch Klugheit nicht eher geeignet sein werden, werthafte und gerechte Handlungen zu tun, müssen wir ein wenig weiter ausholen, indem wir Folgendes zum Ausgangspunkt nehmen: Wie wir sagen, daß manche Menschen gerechte Handlungen tun, ohne schon gerecht zu sein - zum Beispiel diejenigen, die das von den Gesetzen Angeordnete widerwillig oder aufgrund von Unwissenheit oder aus einem anderen Grund und nicht aufgrund der Anordnungen selbst tun (obwohl sie gerade tun, was man soll, und alles tun, was der Gute tun muß) -, ebenso besteht, so scheint es, die Möglichkeit, daß jemand die jeweiligen Handlungen in einer bestimmten Disposition tut, so daß er ein guter Mensch ist; ich meine, daß er sie aufgrund eines Vorsatzes und um der Handlungen selbst willen tut. Der Vorsatz nun wird durch die Gutheit des Charakters richtig; was aber entsprechend der Natur der Dinge zu dessen Realisierung zu tun ist, ist nicht Sache der charakterlichen Tugend, sondern eines anderen Vermögens. Wir müssen also unsere Aufmerksamkeit auf diese Dinge richten und deutlicher über sie reden. Es gibt ja ein Vermögen, das man „Geschicklichkeit“ nennt. Dieses ist so geartet, daß es zu tun und zu erreichen vermag, was zum festgesetzten Zielpunkt führt. Wenn nun der Zielpunkt werthaft ist, ist es lobenswert, wenn aber schlecht, handelt es sich um Verschlagenheit. Deswegen nennen wir sowohl die Klugen als auch die Verschlagenen geschickt. Nun ist die Klugheit nicht identisch mit dieser Fähigkeit, existiert jedoch nicht ohne sie. Dieses Auge der Seele erhält seine richtige Disposition nicht ohne die Gutheit des Charakters, wie gesagt wurde und deutlich ist. Denn diejenigen Schlüsse, die die Gegenstände des Handelns zum Thema haben, haben einen Ausgangspunkt, der besagt: „Da das Ziel, das 353 6. Dianoetische Tugenden heißt das Beste, so beschaffen ist“, was immer es sein mag (es sei jetzt um der Argumentation willen irgendetwas Beliebiges). Dieser Ausgangspunkt aber zeigt sich nur dem guten Menschen. Denn die Schlechtigkeit verdreht das Urteil und bewirkt, daß man sich über die Ausgangspunkte der Handlungen täuscht. Daher ist es offenkundig unmöglich, klug zu sein, wenn man nicht gut [1144b] ist. Wir müssen daher auch die [charakterliche] Gutheit noch einmal betrachten. Denn auch bei der Gutheit findet sich eine vergleichbare Relation. Wie sich nämlich die Klugheit zur Geschicklichkeit verhält - sie ist nicht dasselbe, sondern etwas Ähnliches -, so verhält sich die natürliche Gutheit zur Gutheit im eigentlichen Sinn. Denn man nimmt allgemein an, daß uns die einzelnen Tugenden auf gewisse Weise von Natur aus zukommen, da wir gerecht, mäßig, tapfer usw. sofort von Geburt an sind. Und dennoch suchen wir das Gute im eigentlichen Sinn als etwas anderes und wollen, daß diese Tugenden uns auf andere Weise zukommen. Denn die natürlichen Dispositionen kommen auch Kindern und Tieren zu, doch ohne Denken erweisen sie sich als schädlich. So viel scheint ersichtlich: Wie ein starker Körper, der sich ohne Sehvermögen bewegt, schwer stürzen kann, weil ihm die Sicht fehlt, so verhält es sich auch hier. Wenn man aber das Denken erwirbt, bedeutet das einen Unterschied für das Handeln, und die Disposition, die bisher der Tugend nur ähnlich war, wird dann eine Tugend im eigentlichen Sinn sein. Wie es beim meinenden Bestandteil [der Seele] zwei Arten gibt, die Geschicklichkeit und die Klugheit, so gibt es also auch im Bereich des Charakters zwei Arten, einerseits die natürliche Tugend, andererseits die Tugend im eigentlichen Sinn, und von diesen beiden kommt die Tugend im eigentlichen Sinn nicht ohne Klugheit zustande. Deswegen sagen einige, alle Tugenden seien Arten der Klugheit, und deswegen war Sokrates in einer Hinsicht auf dem richtigen Weg, während er sich in anderer Hinsicht im Irrtum befand. Darin nämlich, daß er alle Tugenden für Arten der Klugheit hielt, irrte er, während er mit der Behauptung, daß sie nicht ohne Klugheit vorkommen würden, Recht hatte. Ein Indiz dafür ist: Auch heute fügen alle, wenn sie die Tugend definieren, nachdem sie die Disposition und ihren Gegenstandsbereich genannt haben, hinzu, daß es die Disposition ist, die der 354 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) richtigen Überlegung entspricht. Richtig aber ist diejenige Überlegung, die der Klugheit entspricht. Es scheinen also alle Menschen irgendwie zu ahnen, daß die Tugend die so beschaffene Disposition ist, das heißt diejenige Disposition, die der Klugheit entspricht. Wir müssen aber noch einen kleinen Schritt weitergehen. Tugend ist nicht die Disposition, [nur] der richtigen Überlegung entsprechend [zu handeln], sondern die Disposition, verbunden mit einer richtigen Überlegung [zu handeln]. Die richtige Überlegung über solche Dinge aber ist die Klugheit. Sokrates meinte also, die Tugenden seien Überlegungen (sie seien nämlich, so glaubte er, alle Arten des Wissens). Wir hingegen glauben, daß sie mit Überlegung verbunden sind. Aus dem Gesagten ist also klar, daß man weder im eigentlichen Sinn gut sein kann ohne die Klugheit noch klug ohne die Tugend des Charakters. Mit Hilfe dieses Ergebnisses könnte man weiterhin auch das Argument auflösen, das man in dialektischen Zusammenhängen anwendet, um zu zeigen, daß die Tugenden voneinander getrennt vorkommen - das Argument, daß nicht derselbe Mensch für alle Tugenden die gleiche Naturanlage hat, so daß es vorkommt, daß er die eine Tugend schon erworben hat, die andere noch nicht. Dies ist möglich im Sinn der natürlichen Tugenden, nicht aber im Sinn derjenigen Tugenden, aufgrund [1145a] deren man gut überhaupt genannt wird. Denn mit der Klugheit, die [nur] eine ist, werden sie alle zugleich vorhanden sein. Es ist klar, daß die Klugheit selbst dann, wenn sie nicht zum Handeln führen würde, nötig wäre, weil sie die Gutheit eines Bestandteils [der menschlichen Seele] ist, und klar ist auch, daß ein Vorsatz nicht richtig sein wird ohne Klugheit, aber auch nicht ohne Gutheit des Charakters. Denn diese läßt uns das Ziel setzen, jene das tun, was zum Ziel führt. Allerdings hat die Klugheit gerade nicht die Herrschaft über die Weisheit oder über den besseren Seelenteil, wie auch die Medizin nicht die Herrschaft über die Gesundheit ausübt; denn sie macht nicht von ihr Gebrauch, sondern sieht zu, daß sie entsteht. Sie gibt also Anweisungen nicht ihr, sondern ihretwegen. Ferner: Das [zu sagen, die Klugheit herrsche] wäre ebenso, als würde jemand sagen, das politische Wissen herrsche über die Götter, weil es über alle Dinge im Staat Anordnungen erteilt. (EN VI 13) 355 7. Willensschwäche 7. Willensschwäche [1145a15] Nach diesen Darlegungen müssen wir einen neuen Anfang machen, indem wir feststellen, daß es im Zusammenhang mit dem Charakter drei Arten von Verfassungen gibt, die zu meiden sind: Schlechtigkeit, Unbeherrschtheit, tierische Rohheit. Die Gegensätze zu den beiden ersten sind klar: Den einen Gegensatz nennen wir charakterliche Gutheit, den anderen Beherrschtheit. Der tierischen Rohheit wäre am ehesten die übermenschliche Tugend entgegenzusetzen, eine heroische und göttliche Tugend, wie Homer den Priamos von Hektor sagen läßt, er sei überaus gut gewesen, „und nicht schien er eines sterblichen Mannes Sohn zu sein, sondern eines Gottes“. Wenn daher, wie man sagt, aus Menschen aufgrund eines Übermaßes an Gutheit Götter werden, dann wäre die Disposition, die der tierischen Rohheit entgegengesetzt ist, offenbar von dieser Art. Denn wie ein Tier weder Schlechtigkeit noch Gutheit des Charakters hat, so auch ein Gott nicht. Vielmehr ist seine Disposition schätzenswerter als die Gutheit, und die Disposition des Tiers gehört in eine andere Art als die Schlechtigkeit. Da es aber selten vorkommt, daß ein Mensch göttlich ist (als solchen pflegen die Spartaner in ihrem Dialekt jemanden zu bezeichnen, den sie besonders bewundern), so ist auch selten ein Mensch tierhaft. Am meisten kommt die Rohheit unter den Barbaren vor, doch entsteht sie manchmal auch aufgrund von Krankheit oder Behinderung. Wir verwenden das Wort auch als Schimpfnamen für Menschen, die andere an Schlechtigkeit übertreffen. Doch diese Art von Disposition müssen wir später erwähnen; über die Schlechtigkeit haben wir schon früher gesprochen. Über die Unbeherrschtheit aber und die Weichlichkeit bzw. Genußliebe müssen wir reden, und ebenso über die Beherrschtheit und Ausdauer. Denn man [1145b] darf von keiner dieser beiden Seiten annehmen, daß sie mit denselben Dispositionen zu tun hat wie Gutheit und Schlechtigkeit, doch auch nicht, daß sie in einen anderen Bereich gehört. Wir müssen nun, wie auch sonst, zuerst darlegen, was über die Gegenstände wahr zu sein scheint, und die Schwierigkeiten durchgehen, um dann auf diese Weise, wenn möglich, die Wahrheit aller anerkannten Meinungen über diese Affektionen nachzuweisen, oder 356 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) wenn nicht, [wenigstens] die Wahrheit der meisten und wichtigsten Meinungen. Denn wenn wir die Schwierigkeiten auflösen und die anerkannten Meinungen bestehen bleiben, dann wird der Gegenstand ausreichend geklärt sein. Es ist nun verbreitete Meinung, daß Beherrschtheit und Ausdauer zu den guten und lobenswerten Dingen gehören, Unbeherrschtheit und Weichlichkeit aber zu den schlechten und tadelnswerten, und daß der Beherrschte und derjenige, der bei seiner Überlegung bleibt, derselbe ist, und ebenso der Unbeherrschte und derjenige, der von seiner Überlegung abweicht. Der Unbeherrschte weiß, daß es schlecht ist, was er tut, und tut es dennoch aufgrund des Affekts. Der Beherrschte andererseits weiß, daß die Begierden schlecht sind, und folgt ihnen wegen der Überlegung nicht. Den Mäßigen nennt man beherrscht und ausdauernd. Wer so beschaffen ist, den nennen aber die einen in jeder Hinsicht mäßig, die anderen nicht; und einige nennen unmäßige Menschen unbeherrscht und unbeherrschte unmäßig, indem sie beide zusammenwerfen, während andere sagen, daß sie verschieden sind. Vom klugen Menschen wird manchmal gesagt, daß er nicht unbeherrscht sein kann, manchmal aber sagt man, einige, die klug und geschickt sind, seien unbeherrscht. Ferner: Unbeherrscht nennt man Menschen auch in Dingen des Zorns, der Ehre und des Gewinns. Dies also sind die gängigen Meinungen. Man könnte nun eine Schwierigkeit darin sehen, wie jemand ein richtiges Urteil haben und dennoch unbeherrscht sein kann. Einige sagen, daß er sich unmöglich so verhalten könne, wenn er Wissen hat. Denn es wäre - wie Sokrates dachte - seltsam, wenn, obwohl Wissen vorhanden ist, etwas anderes es beherrschen und wie einen Sklaven herumzerren würde. Sokrates lehnte ja die fragliche Auffassung vollständig ab in der Überzeugung, es gebe keine Unbeherrschtheit. Niemand, so pflegte er zu sagen, handelt gegen das Beste in der Überzeugung, dies zu tun, sondern [man handelt so nur] aufgrund von Unwissenheit. Diese Aussage nun widerstreitet offen- 357 7. Willensschwäche sichtlich den Tatsachen, und wir müssen Fragen über den Affekt des Handelnden stellen: Wenn er durch Unwissenheit entsteht, um welche Art der Unwissenheit handelt es sich? Denn daß der Unbeherrschte nicht meint, daß er so handeln solle, ehe er in den Affekt gerät, ist offensichtlich. Einige nun geben [dem Sokrates] das eine zu, das andere aber nicht. Daß nämlich nichts stärker ist als das Wissen, dem stimmen sie zu; jedoch stimmen sie nicht zu, daß niemand gegen das handelt, was er für besser hält. Und deswegen sagen sie, der Unbeherrschte habe, wenn er von der Lust beherrscht wird, nicht ein Wissen, sondern [nur] eine Meinung. Aber wenn es sich wirklich um eine Meinung und nicht um ein Wissen handelt, das heißt, wenn also das Entgegenstehende nicht ein starkes [1146a] Urteil ist, sondern ein schwaches - wie bei Menschen, die über etwas zweifeln -, so hat man Nachsicht mit denjenigen, die angesichts starker Begierden nicht bei ihren Urteilen bleiben. Für die Schlechtigkeit aber gibt es keine Nachsicht, ebensowenig wie für alles andere, was Gegenstand von Tadel ist. Ist es also die Klugheit, die Widerstand leistet? Denn diese ist ja das Stärkste. Aber das wäre seltsam: Denn derselbe Mensch wäre dann gleichzeitig klug und unbeherrscht; niemand wird aber behaupten, es sei kennzeichnend für den Klugen, aus eigenem Wollen das Schlechteste zu tun. Außerdem wurde früher gezeigt, daß der Kluge gerade auf das Handeln bezogen ist (denn er ist jemand, der mit dem Letzten zu tun hat) und auch die übrigen Tugenden besitzt. Ferner: Wenn im Beherrschtsein liegt, daß der Beherrschte starke und schlechte Begierden hat, dann wird weder der Mäßige beherrscht sein noch der Beherrschte mäßig; denn es ist kennzeichnend für den Mäßigen, weder übermäßige noch schlechte Begierden zu haben. Und doch müßte er sie haben. Denn wenn die Begierden gut sind, dann ist die Disposition, die daran hindert, ihnen zu folgen, schlecht, so daß nicht jede Beherrschtheit gut wäre. Wenn sie aber schwach und nicht schlecht sind, ist es nichts Besonderes, ihnen nicht zu folgen; und wenn sie schlecht und schwach sind, ist es ebenfalls nichts Großes, ihnen zu widerstehen. Ferner: Wenn die Beherrschtheit bewirkt, daß man bei jeder Meinung bleibt, ist sie schlecht, falls sie jemanden auch bei einer falschen Meinung bleiben läßt. Und wenn die Unbeherrschtheit 358 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) bewirkt, daß man von jeder Meinung abläßt, dann wird es auch eine gute Unbeherrschtheit geben wie im Fall des Neoptolemos im Philoktet des Sophokles. Denn er ist dafür zu loben, daß er nicht bei dem bleibt, wozu Odysseus ihn überredet hat, da es ihm Leid tut, ein Lügner zu sein. Ferner stellt das Argument der Sophisten eine Schwierigkeit dar. Weil sie nämlich auf etwas Paradoxes schließen wollen, um, wenn ihnen das gelingt, geschickt zu erscheinen, führt der Schluß, der gezogen wird, in Schwierigkeiten. Denn das Denken ist gebunden, wenn es einerseits nicht stehenbleiben will, weil die Folgerung es nicht befriedigt, jedoch andererseits nicht weitergehen kann, weil es keine Möglichkeit hat, das Argument aufzulösen. So folgt aus einer bestimmten Argumentation, daß Unverstand verbunden mit Unbeherrschtheit eine Tugend ist: Jemand tut aufgrund seiner Unbeherrschtheit das Gegenteil von dem, was er für richtig hält, denkt aber [aufgrund seines Unverstandes], das Gute sei schlecht und dürfe nicht getan werden, so daß er das Gute und nicht das Schlechte tut. Ferner: Wer aus Überzeugung und vorsätzlich das Angenehme tut und verfolgt, den wird man für besser halten als jemanden, der dies nicht aufgrund von Überlegung, sondern aus Unbeherrschtheit tut. Denn er ist leichter zu heilen, weil man ihn überzeugen kann, seine Meinung zu ändern. Der Unbeherrschte hingegen fällt unter das Sprichwort: „Wenn das Wasser würgt, was soll man nachtrinken? “ Wäre er nämlich [1146b] von dem, was er tut, überzeugt gewesen, hätte er aufgehört, wenn man ihn von etwas anderem überzeugt hätte. So aber handelt der Unbeherrschte, obwohl er überzeugt ist, daß er es nicht tun sollte, trotzdem anders. Ferner: Wenn es in allen Bereichen Unbeherrschtheit und Beherrschtheit gibt, wer ist dann der Unbeherrschte überhaupt? Denn keiner besitzt alle Arten von Unbeherrschtheit, wir nennen aber einige Menschen „unbeherrscht“ ohne weitere Hinzufügung. Ungefähr von dieser Art sind also die Schwierigkeiten, die sich ergeben. Einige von ihnen müssen aufgelöst werden, die anderen muß man auf sich beruhen lassen. Denn das Auflösen der Schwierigkeit ist ein Finden [der Wahrheit]. Zuerst müssen wir untersuchen, ob die Unbeherrschten wissend handeln oder nicht und in welcher Weise 359 7. Willensschwäche wissend. Zweitens ist zu fragen, welches die Gegenstände sind, in bezug auf die der Unbeherrschte und der Beherrschte anzusiedeln sind, das heißt, ob jede Lust und Unlust oder [nur] einige bestimmte Arten. Weiter, ob der Beherrschte und der Ausdauernde derselbe sind oder verschieden. Ähnlich müssen wir auch die anderen Fragen behandeln, die mit dieser Betrachtung zusammenhängen. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Frage, ob sich der Beherrschte und der Unbeherrschte durch ihre Gegenstände oder durch ihre Disposition unterscheiden, ich meine: Ist der Unbeherrschte nur dadurch unbeherrscht, daß er mit diesen bestimmten Gegenständen zu tun hat, oder nicht dadurch, sondern durch seine Disposition, oder auch dadurch nicht, sondern durch beides? Sodann: Gibt es Unbeherrschtheit und Beherrschtheit in bezug auf alle Gegenstände oder nicht? Denn der Unbeherrschte überhaupt ist nicht mit allen Dingen befaßt - vielmehr mit denjenigen, auf die auch der Unmäßige bezogen ist -, und er ist auch nicht mit ihnen befaßt, indem er sich zu diesen überhaupt verhält (denn sonst wäre die Unbeherrschtheit dasselbe wie die Unmäßigkeit), sondern indem er sich auf diese bestimmte Weise dazu verhält. Denn der eine handelt vorsätzlich, indem er denkt, man müsse immer das gegenwärtige Angenehme verfolgen; der andere hat zwar diese Meinung nicht, tut es aber dennoch. Was nun den Vorschlag betrifft, es sei eine wahre Meinung und nicht ein Wissen, wogegen man verstößt, wenn man unbeherrscht handelt, so hängt von dieser Unterscheidung für das Argument nichts ab. Denn manche Menschen schwanken [auch] in ihren Meinungen nicht, sondern glauben, genau zu wissen. Wenn es also an der Schwäche ihrer Überzeugungen liegt, daß diejenigen, die nur Meinungen haben, eher als die Wissenden gegen ihr Urteil handeln, dann wird sich das Wissen vom Meinen nicht unterscheiden. Denn manche sind nicht weniger von ihren Meinungen überzeugt als andere von ihrem Wissen - das zeigt sich am Beispiel Heraklits. Da wir aber von „Wissen“ in zwei Bedeutungen sprechen - denn sowohl denjenigen, der Wissen besitzt, es aber nicht benutzt, als auch den, der es benutzt, nennt man wissend -, wird es einen Unterschied machen, ob jemand das Wissen davon, was man nicht tun soll, be- 360 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) sitzt, es aber nicht erwägt, oder ob er es besitzt und [außerdem] auch erwägt. Letzteres nämlich hält man für seltsam, nicht aber, wenn man es nicht erwägt. Ferner: Da es zwei [1147a] Arten von Prämissen gibt, hindert nichts daran, daß jemand, der beide besitzt, gegen das Wissen handelt, wenn er zwar die allgemeine Prämisse, aber nicht die partikuläre anwendet. Denn Gegenstand des Handelns ist das Einzelne. Aber auch das Allgemeine muß differenziert werden. Denn das eine bezieht sich auf den Handelnden, das andere auf die Sache. Zum Beispiel: „Jedem Menschen ist das Trockene zuträglich“ und „Ich bin ein Mensch“ oder „So Beschaffenes ist trocken“. Ob aber dies hier so beschaffen ist, davon besitzt man entweder kein Wissen oder man betätigt es nicht. Welcher dieser Arten des Wissens das Handeln entspricht, wird also einen gewaltigen Unterschied machen, so daß es in einer Bedeutung gar nicht seltsam erscheinen wird, wenn der Unbeherrschte weiß, während es in der anderen erstaunlich ist. Ferner: Man kann Wissen noch auf eine andere als die jetzt erwähnten Arten haben. Denn falls wir Wissen haben und dennoch nicht anwenden, sehen wir, daß das Haben etwas ganz anderes wird, so daß man in solchen Fällen auf gewisse Weise Wissen hat und auch nicht hat, zum Beispiel beim Schlafenden, Wahnsinnigen oder Betrunkenen. Gerade in einer solchen Verfassung sind aber diejenigen, die sich in Affekten befinden. Denn Zornesausbrüche, sexuelle Begierden und manches dieser Art verändern offensichtlich auch die körperliche Verfassung, und in einigen Menschen bewirken sie sogar Schübe von Wahn. Man muß also offenbar sagen, daß sich die Unbeherrschten in einer ähnlichen Verfassung befinden wie diese. Daß sie Sätze sagen, die aus Wissen hervorgehen, beweist gar nichts. Denn auch diejenigen, die sich in den Affekten befinden, sagen mathematische Beweise oder Verse des Empedokles auf. Und auch diejenigen, die etwas erst zu lernen beginnen, reihen Sätze aneinander, haben aber noch kein Wissen. Denn das Wissen muß mit dem Menschen verwachsen; das aber braucht Zeit. Man muß also annehmen, daß die Unbeherrschten in der Weise sprechen, wie es die Schauspieler tun. Ferner: Man könnte die Ursache auch auf folgende naturwissenschaftliche Weise betrachten. Die eine Meinung ist allgemein, die andere hat mit dem Einzelnen zu tun, für das bereits die Wahrneh- 361 7. Willensschwäche mung zuständig ist. Wenn nun aus beiden Sätzen einer wird, dann muß die Seele im einen Fall [bei der theoretischen Erkenntnis] notwendigerweise die Schlußfolgerung bejahen und im Fall von Prämissen, die ein Tun betreffen, sofort handeln. Zum Beispiel: Wenn man alles Süße genießen soll, dieses hier als ein bestimmtes Einzelding aber süß ist, dann muß notwendigerweise derjenige, der das Vermögen hat und nicht gehindert ist, dies zugleich auch tun. Wenn also eine allgemeine Meinung in der Seele vorhanden ist, die das Genießen verbietet, und eine andere, daß alles Süße angenehm ist, dies hier aber süß ist (und diese Meinung in Betätigung ist), und wenn nun gerade eine Begierde in der Seele vorhanden ist, dann sagt die eine [Meinung], man solle dies fliehen, die Begierde aber treibt an; denn sie kann jeden Körperteil bewegen. Daher ergibt sich, [1147b] daß man auf gewisse Weise durch Überlegung und Meinung unbeherrscht sein kann, und zwar durch eine Meinung, die nicht als solche der richtigen Überlegung entgegengesetzt ist, sondern akzidentell - denn entgegengesetzt ist ihr die Begierde, nicht die Meinung; so daß aus diesem Grund auch die Tiere nicht unbeherrscht sind, weil sie keine Annahme vom Allgemeinen haben, sondern Vorstellung und Erinnerung vom Einzelnen. Wie aber die Unwissenheit aufgelöst und der Unbeherrschte wieder wissend wird, darüber gibt es für diesen affektiven Zustand keine eigene Erklärung, sondern es gilt hier dieselbe Erklärung wie für den Betrunkenen und Schlafenden; dazu muß man die Naturforscher hören. Da die zweite Prämisse eine Meinung über einen Wahrnehmungsgegenstand enthält und diese das Handeln bestimmt, besitzt der Unbeherrschte, da er sich im Affekt befindet, diese entweder gar nicht, oder er besitzt sie so, daß das Besitzen kein Wissen ist, sondern ein Sprechen wie das eines Betrunkenen, der Verse des Empedokles aufsagt. Und weil der letzte Begriff nicht allgemein ist und nicht in gleicher Weise Wissen zu enthalten scheint wie die allgemeine Prämisse, scheint sich auch das zu ergeben, was Sokrates suchte. Denn nicht, wenn das, was als Wissen im eigentlichen Sinn gilt, vorhanden ist, entsteht der Affekt, und es wird auch nicht dieses Wissen durch den Affekt hin- und hergezerrt, sondern wenn das wahrnehmende Wissen vorliegt. So viel zu der Frage, ob der Unbeherrschte wissend han- 362 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) delt oder nicht und in welchem Sinn von „wissend“ man wissend unbeherrscht sein kann. Im Anschluss daran müssen wir erörtern, ob es jemanden gibt, der unbeherrscht überhaupt ist, oder ob alle es nur in besonderer Hinsicht sind, und wenn es ihn gibt, mit welchen Gegenständen er zu tun hat. Nun ist offenkundig, daß sowohl die beherrschten und ausdauernden als auch die unbeherrschten und weichlichen Menschen mit Lust und Unlust zu tun haben. Von den Dingen, die Lust bewirken, sind die einen notwendig, die anderen sind als solche wählenswert, lassen jedoch ein Übermaß zu. Notwendig sind die körperlichen Dinge; damit ist gemeint, was mit Nahrung zu tun hat oder mit Sexualität, das heißt diejenigen körperlichen Dinge, die, wie oben dargelegt, der Bereich der Unmäßigkeit und Mäßigkeit sind. Die anderen Dinge hingegen sind nicht notwendig, vielmehr als solche wählenswert, zum Beispiel Sieg, Ehre, Reichtum, Güter und angenehme Dinge dieser Art. Diejenigen nun, die diese Dinge gegen die in ihnen vorhandene richtige Überlegung im Übermaß suchen, nennen wir nicht unbeherrscht überhaupt, sondern unbeherrscht mit dem Zusatz „in bezug auf Geld, Gewinn, Ehre, Zorn“. Wir nennen sie nicht unbeherrscht überhaupt, weil sie sich von den Unbeherrschten unterscheiden und [nur] der Ähnlichkeit nach unbeherrscht genannt werden, wie der Mensch namens Anthropos, der bei den Olympischen Spielen sieg[1148a]te. Hier war ja der Unterschied der allgemeinen von der individuellen Bezeichnung gering, und doch war sie verschieden. Ein Indiz: Die Unbeherrschtheit wird nicht nur als Fehler, sondern auch als eine Art von Laster getadelt, entweder überhaupt oder in einem Teil, während das für keine der genannten besonderen Arten von Unbeherrschtheit der Fall ist. Unter denen aber, die mit körperlichen Genüssen zu tun haben - dem Gegenstandsbereich des Mäßigen und Unmäßigen, wie wir sagen -, wird derjenige, der das Übermaß des Angenehmen nicht durch einen Vorsatz verfolgt bzw. unangenehme Dinge, zum Beispiel Hunger, Durst, Hitze, Kälte und alle Gegenstände des Tastens und Schmeckens, nicht durch Vorsatz meidet, sondern dies gegen seinen Vorsatz und sein Denken tut, unbeherrscht genannt, und zwar nicht 363 7. Willensschwäche mit dem Zusatz, daß er unbeherrscht in dieser oder jener Hinsicht ist, zum Beispiel im Zorn, sondern ohne Zusatz. Ein Indiz: Man redet auch von weichlichen Menschen bei diesen [zuletzt genannten] Dingen [körperlicher Lust und Unlust], doch nicht bei irgendeinem von jenen [vorher genannten: Geld, Ehre, Gewinn, Zorn]. Das ist auch der Grund, aus dem wir den Unbeherrschten und den Unmäßigen zusammenstellen sowie den Beherrschten und den Mäßigen - aber keinen von jenen -, weil sie in gewisser Weise mit denselben Arten von Lust und Unlust zu tun haben. Sie haben mit denselben Gegenständen zu tun, allerdings nicht auf dieselbe Weise; vielmehr haben die einen einen Vorsatz, die anderen nicht. Daher würden wir wohl eher denjenigen unmäßig nennen, der ohne Begierde oder mit schwacher Begierde das Übermaß sucht und mäßige Unlust meidet, als einen, der dies aufgrund einer heftigen Begierde tut. Denn was würde jener erst tun, wenn er zusätzlich eine lebhafte Begierde und einen starken Schmerz über den Mangel an notwendigen Dingen hätte? Nun gehören von den Begierden und Arten der Lust die einen zu den der Gattung nach werthaften und guten Dingen (denn einige angenehme Dingen sind von Natur aus wählenswert), andere stehen im Gegensatz dazu, wieder andere, wie wir zuvor unterschieden haben, dazwischen, zum Beispiel Geld, Gewinn, Sieg, Ehre. Was alle Dinge der ersten Art und die der mittleren Art betrifft, werden Menschen nicht dafür getadelt, daß sie von ihnen affiziert werden, sie begehren und eine Vorliebe für sie haben, sondern [nur] dafür, daß sie das auf eine bestimmte Art, und zwar im Übermaß, tun. Daher sind diejenigen, die gegen ihre Überlegung durch eines der von Natur aus guten und werthaften Dinge beherrscht werden oder es verfolgen, nicht schlecht, zum Beispiel diejenigen, die sich mehr um Ehre kümmern, als man soll, oder um Kinder oder Eltern; denn auch diese gehören zu den Gütern, und diejenigen, die sich darum bemühen, werden gelobt. Und doch gibt es ein Übermaß auch darin, wenn jemand wie Niobe sogar gegen die Götter kämpfen oder wenn jemand sich um seinen Vater kümmern würde [1148b] wie Satyros, der den Beinamen „Vaterliebender“ erhielt (man dachte nämlich, daß er sich darin allzu dumm verhielt). In Hinsicht auf alle diese Dinge nun liegt keine Schlechtigkeit vor, und zwar aufgrund des 364 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) oben Gesagten, das heißt, weil jedes von ihnen seiner Natur nach um seiner selbst willen wählenswert ist; schlecht und zu meiden aber ist das Übermaß in ihnen. Ebensowenig gibt es hier Unbeherrschtheit. Denn Unbeherrschtheit ist nicht nur zu vermeiden, sondern gehört auch zu den tadelnswerten Dingen. Doch aufgrund einer Ähnlichkeit des affektiven Zustands verwendet man hier den Ausdruck „Unbeherrschtheit“, fügt aber noch hinzu, auf welchen einzelnen Bereich sie sich bezieht, wie wir jemanden einen schlechten Arzt oder einen schlechten Schauspieler nennen, den wir nicht schlecht überhaupt nennen würden. Wie wir das also hier nicht tun, weil die jeweilige Eigenschaft kein Laster ist, sondern einem solchen nur durch Analogie ähnlich ist, so ist klarerweise auch dort als Unbeherrschtheit und Beherrschtheit nur diejenige Disposition aufzufassen, die denselben Gegenstandsbereich wie Mäßigkeit und Unmäßigkeit hat; beim Zorn aber reden wir von Unbeherrschtheit der Ähnlichkeit nach. Und daher fügen wir hinzu „unbeherrscht im Zorn“, gerade so, wie wir sagen „unbeherrscht im Streben nach Ehre oder Gewinn“. Da nun einiges von Natur aus angenehm ist, und zwar das eine überhaupt, das andere für bestimmte Arten von Tieren und von Menschen, anderes hingegen nicht von Natur aus angenehm ist, sondern teils aufgrund von Defekten dazu wird, teils aufgrund von Gewöhnung, teils durch schlechte Naturanlagen, kann man auch bei jeder dieser Arten entsprechende Dispositionen erkennen. Ich meine nämlich die tierhaften Dispositionen, wie im Fall des Weibes, das angeblich schwangere Frauen aufgeschlitzt und ihre Kinder gegessen hat, oder wie das, woran einige der wild lebenden Stämme rund um das Schwarze Meer sich erfreuen - man sagt, daß einige von ihnen rohes Fleisch oder Menschenfleisch essen oder daß sie sich gegenseitig ihre Kinder zum Verspeisen geben oder tun, was man sich über Phalaris erzählt. Diese Dispositionen sind tierhaft, andere entstehen manchmal durch Krankheiten oder durch Wahnsinn, zum Beispiel bei dem Mann, der seine Mutter opferte und aß, oder bei dem, der die Leber seines Mitsklaven aß; andere sind krankhafte Dispositionen, die durch Gewöhnung entstehen, zum Beispiel die Gewohnheit, die Haare auszureißen und die Nägel abzubeißen, ferner Kohle und Erde zu essen, oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, die Disposition der Päderastie. Sie entsteht bei 365 7. Willensschwäche den einen von Natur aus, bei anderen als Ergebnis von Gewöhnung, zum Beispiel bei jenen, die schon von Kind auf mißbraucht worden sind. Diejenigen nun, bei denen die Natur die Ursache ist, wird niemand unbeherrscht nennen, wie man auch nicht die Frauen deswegen unbeherrscht nennen würde, weil sie in der sexuellen Vereinigung nicht aktiv, sondern passiv sind. Dasselbe gilt für diejenigen, die aufgrund von Gewöhnung in einer krankhaften Disposition sind. Solche einzelnen Dispositionen zu haben, liegt außerhalb [1149a] der Grenzen der Schlechtigkeit, wie auch die tierische Rohheit. Wenn aber derjenige, der sie hat, sie beherrscht oder von ihr beherrscht wird, ist das nicht Unbeherrschtheit überhaupt, sondern Unbeherrschtheit der Ähnlichkeit nach, wie wir auch einen Menschen, der sich beim Zorn so verhält, als unbeherrscht im Hinblick auf diesen Affekt bezeichnen, aber nicht als unbeherrscht überhaupt. Denn jedes Übermaß an Unverstand ebenso wie an Feigheit, Unmäßigkeit und Verdrießlichkeit ist entweder tierhaft oder krankhaft: Der eine ist von Natur aus so beschaffen, daß er sich vor allem fürchtet - selbst vor dem Rascheln einer Maus -; dieser ist feige im Sinn einer tierhaften Feigheit. Ein anderer fürchtete sich vor einer Katze aufgrund einer Krankheit. Ebenso sind unter den Unverständigen diejenigen, die von Natur aus gedankenlos sind und nur mit der sinnlichen Wahrnehmung leben, tierhaft, wie einige weit entfernt lebende Stämme der Barbaren; diejenigen aber, die durch Krankheiten (wie die Epileptiker) oder Wahnsinn so sind, sind krankhaft. Bei einigen dieser Zustände ist es aber möglich, daß man sie nur zeitweise hat, ohne von ihnen beherrscht zu werden - ich meine zum Beispiel, wenn Phalaris sich in der Begierde, Kinder zu essen, oder in der Begierde nach einer ausgefallenen sexuellen Lust zurückgehalten hätte -; es ist aber auch möglich, von ihnen beherrscht zu werden und sie nicht nur zu haben. Wie nun bei der Schlechtigkeit die dem Menschen eigene Form als Schlechtigkeit überhaupt bezeichnet wird, die andere Form aber nicht, sondern als Schlechtigkeit mit dem Zusatz „tierhaft“ oder „krankhaft“, und nicht im uneingeschränkten Sinn, ebenso ist offenkundig auch die Unbeherrschtheit teils tierhaft, teils krankhaft. Un- 366 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) beherrschtheit überhaupt dagegen ist nur diejenige Unbeherrschtheit, die der menschlichen Unmäßigkeit entspricht. Daß nun die Unbeherrschtheit und die Beherrschtheit nur genau die Dinge betreffen, mit denen die Mäßigkeit und die Unmäßigkeit zu tun haben, und daß es für die anderen Bereiche eine andere Form der Unbeherrschtheit gibt, die nur im übertragenen und nicht im eigentlichen Sinn so bezeichnet wird, ist klar. Daß aber die Unbeherrschtheit, die sich auf den Zorn bezieht, auch weniger niedrig ist als diejenige, die sich auf die Begierden bezieht, wollen wir jetzt untersuchen. Es scheint nämlich der Zorn in gewisser Weise auf die Überlegung zu hören, aber falsch zu hören, wie voreilige Diener, die hinauslaufen, ehe sie den ganzen Auftrag gehört haben, und dann den Auftrag falsch ausführen, oder wie Hunde, die schon bei einem Geräusch bellen, ehe sie nachgesehen haben, ob da ein Freund ist. So hört der Zorn zwar, hört aber nicht den Auftrag und eilt infolge der Hitzigkeit und Voreiligkeit seiner Natur zur Rache. Denn die Vernunft oder die Vorstellung hat deutlich gemacht, daß eine Beleidigung oder Geringschätzung vorliegt, und der Zorn entrüstet sich sofort, als würde er schlußfolgern, daß man sich gegen Derartiges wehren müsse. Die Begierde andererseits eilt zum Genuß, wenn die Vernunft oder die Wahrnehmung nur sagt, daß etwas angenehm [1149b] ist. So folgt der Zorn in gewisser Weise der Vernunft, die Begierde hingegen nicht. Sie ist daher niedriger. Denn wer im Zorn unbeherrscht ist, unterliegt in gewisser Weise der Vernunft, der andere aber unterliegt der Begierde und nicht der Vernunft. Ferner: Es ist verzeihlicher, den natürlichen Strebungen zu folgen, wie es auch eher verzeihlich ist, solchen Begierden zu folgen, die allen Menschen gemeinsam sind und so weit sie ihnen gemeinsam sind. Der Zorn aber und die Reizbarkeit sind natürlicher als die Begierden, die auf das Übermaß und die nicht notwendigen Güter gerichtet sind. So verteidigte sich derjenige, der seinen Vater schlug, mit den Worten: „Auch dieser hat seinen Vater geschlagen, und dieser den seinen“, und indem er auf seinen kleinen Sohn zeigte: „und dieser wird mich schlagen, wenn er ein Mann geworden ist; denn das liegt bei uns in der Familie“. Und ein anderer, der von seinem Sohn weg- 367 7. Willensschwäche gezogen wurde, forderte ihn auf, an der Tür Halt zu machen, denn auch er selbst habe seinen Vater nur bis dorthin gezogen. Ferner: Hinterhältigere Menschen sind ungerechter. Nun sind aber zornige Menschen nicht hinterhältig, auch der Zorn nicht, sondern er liegt offen zutage. Die Begierde aber ist hinterhältig, wie man Aphrodite „die Listen spinnende Tochter Zyperns“ nennt und wie Homer über ihren „bestickten Riemen“ sagt, in ihm sei „Verführung, die auch den verständig Denkenden den Sinn raubt“. Wenn daher wirklich diese Art Unbeherrschtheit ungerechter und niedriger ist als die auf den Zorn bezogene, dann ist sie auch Unbeherrschtheit im eigentlichen Sinn und in gewisser Weise ein Laster. Ferner: Niemand empfindet Unlust, wenn er andere mutwillig verletzt. Jeder aber, der im Zorn handelt, handelt mit Unlust, wer dagegen mutwillig verletzt, tut es mit Lust. Wenn also diejenigen Dinge, über die wir mit besonderem Recht zürnen, [auch] ungerechter sind, dann gilt das auch für die Unbeherrschtheit, die durch Begierde entsteht. Denn im Zorn gibt es keine mutwillige Aggression. Daß also die Unbeherrschtheit in bezug auf die Begierde niedriger ist als diejenige in bezug auf den Zorn und daß die Beherrschtheit und die Unbeherrschtheit auf die körperlichen Begierden und Lüste bezogen sind, ist deutlich. Wir müssen nun die Unterschiede innerhalb eben dieser aufzeigen. Denn wie am Anfang gesagt wurde, sind einige Arten der körperlichen Lust sowohl der Gattung wie der Größe nach menschlich und natürlich, andere sind tierhaft, andere wiederum gehen auf Behinderungen und Krankheiten zurück. Nur mit den ersten haben Mäßigkeit und Unmäßigkeit zu tun. Daher nennen wir auch die Tiere weder mäßig noch unmäßig, außer im übertragenen Sinn, das heißt nur, wenn eine bestimmte Tiergattung eine andere insgesamt an Aggressivität, Lüsternheit und Gefräßigkeit übertrifft. Denn die Tiere haben keinen Vorsatz und keine Überlegung, sondern fallen aus der Natur heraus wie die Wahn[1150a]sinnigen unter den Menschen. Doch ist die tierische Rohheit ein geringeres Übel als die Schlechtigkeit, aber furchterregender. Denn der bessere Teil ist hier nicht - wie beim Menschen - verdorben, sondern nicht vorhanden. Es ist also ähnlich, wie wenn man das Unbeseelte mit dem Beseelten im Hinblick darauf vergleicht, ob es schlechter ist. Denn die Schlechtigkeit 368 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) desjenigen, das keinen Ursprung der Bewegung hat, ist immer unschädlicher, und die Vernunft ist ein solcher Ursprung. Der Vergleich ist also ähnlich dem zwischen der Ungerechtigkeit und einem ungerechten Menschen: In einem Sinn ist dieses, in einem anderen jenes schlechter. Denn ein schlechter Mensch wird tausendmal mehr Übel tun als ein wildes Tier. Was nun Lust und Unlust durch Tasten und Schmecken sowie das entsprechende Begehren und Vermeiden betrifft, das wir zuvor als den Bereich der Unmäßigkeit und Mäßigkeit abgegrenzt haben, so kann jemand so verfaßt sein, daß er dem unterliegt, dem die meisten Menschen überlegen sind; es kann aber jemand auch das beherrschen, dem die meisten unterlegen sind. In bezug auf die Lust heißt der eine unbeherrscht, der andere beherrscht; hinsichtlich der Unlust ist der eine weichlich, der andere ausdauernd. Die Disposition der meisten Menschen liegt dazwischen, auch wenn sie mehr zum Schlechteren neigen. Da nun manche Arten der Lust notwendig sind, andere nicht, und die notwendigen bis zu einem gewissen Grad notwendig sind, während das Übermaß und ebenso der Mangel nicht notwendig sind, und da es sich ähnlich mit den Begierden und der Unlust verhält, so gilt: Wer das Übermaß angenehmer Dinge verfolgt oder diese Dinge im Übermaß verfolgt und wer dies ferner vorsätzlich tut, um dieser Dinge selbst willen und nicht, weil sich etwas anderes aus ihnen ergibt, der ist unmäßig. Dieser ist notwendigerweise nicht geeignet, sein Handeln zu bedauern, so daß er unheilbar ist. Denn wer nicht bedauert, ist unheilbar. Den Gegensatz zu ihm bildet derjenige, der in der Verfolgung lustvoller Dinge zurückbleibt; der Mittlere aber ist der Mäßige. Unmäßig ist ebenso auch derjenige, der die körperliche Unlust nicht deswegen meidet, weil er unterliegt, sondern der dies mit Vorsatz tut. Von denen aber, die keinen Vorsatz haben, handelt der eine aufgrund der Lust, der andere zur Vermeidung der Unlust, die aus der Begierde entsteht, so daß diese Typen sich voneinander unterscheiden. (Jeder aber dürfte wohl denken, daß es schlechter ist, wenn jemand ohne Begierden oder mit schwachen Begierden etwas Niedriges tut, als wenn er dies in einer heftigen Begierde tut, und daß es 369 7. Willensschwäche schlechter ist, wenn jemand schlägt, ohne zu zürnen, als wenn er dies im Zorn tut. Denn was hätte er erst getan, wäre er in dem Affekt gewesen? Daher ist der Unmäßige schlechter als der Unbeherrschte.) Von den genannten Dispositionen ist also die eine eher eine Form der Weichlichkeit, die andere kennzeichnet den Unmäßigen. Dem Unbeherrschten ist der Beherrschte entgegengesetzt, dem Weichlichen der Ausdauernde. Denn die Ausdauer liegt im Widerstehen, die Beherrschtheit aber im Beherrschen, und Widerstehen und Beherrschen sind zweierlei, wie auch das Nicht-Besiegtwerden vom Besiegen verschieden ist. Daher ist auch die Beherrschtheit wählenswerter [1150b] als die Ausdauer. Wer nun versagt, wo die meisten widerstehen und dies vermögen, ist weichlich und verwöhnt. Denn auch die Verwöhntheit ist eine Art der Weichlichkeit. Wer sein Kleid auf dem Boden schleppen läßt, um die Unlust durch die Mühe des Aufhebens zu vermeiden, und wer den Überanstrengten spielt, hält sich nicht für unglücklich, obwohl er einem Unglücklichen gleicht. Ebenso verhält es sich auch bezüglich der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit. Denn es ist nicht erstaunlich, wenn jemand von starker und übergroßer Lust oder Unlust besiegt wird - vielmehr ist das verzeihlich, wenn er versucht hat zu widerstehen, wie es der Philoktet des Theodektes getan hat, als er von der Schlange gebissen wurde, oder Kerkyon in der Alope des Karkinos oder wie diejenigen, die das Lachen zurückzuhalten versuchen, plötzlich losprusten, wie es dem Xenophantos passiert ist. Erstaunlich ist es hingegen, wenn jemand den Dingen, denen die meisten widerstehen können, unterliegt und ihnen nicht Widerstand zu leisten vermag, und zwar nicht durch Vererbung oder Krankheit (wie die erbliche Weichlichkeit bei den skythischen Königen) oder wie sich das Weibliche vom Männlichen unterscheidet. Man hält auch denjenigen, der das Vergnügen liebt, für unmäßig, er ist jedoch in Wirklichkeit weichlich. Denn Vergnügen bedeutet Entspannung, da es ja eine Erholung ist; und wer das Vergnügen liebt, gehört zu denen, die hierin das Übermaß suchen. Die Unbeherrschtheit ist teils Voreiligkeit, teils Schwäche. Denn die einen haben zwar überlegt, bleiben dann aber wegen des Affekts nicht bei dem, was sie überlegt haben, die anderen werden, weil sie nicht überlegt haben, vom Affekt geleitet. Manche nämlich werden 370 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) - wie diejenigen, die zuerst andere kitzeln, selbst nicht gekitzelt werden -, wenn sie zuvor wahrgenommen und gesehen haben, was kommt, und sich selbst und die Überlegung wach gehalten haben, nicht vom Affekt besiegt, weder wenn er angenehm noch wenn er unangenehm ist. Unbeherrscht im Sinn der voreiligen Unbeherrschtheit sind am meisten die zu heftigen Reaktionen neigenden und reizbaren Menschen. Denn die einen warten aufgrund ihrer Voreiligkeit, die anderen aufgrund ihrer Hitzigkeit die Überlegung nicht ab, weil sie die Tendenz haben, der sinnlichen Vorstellung zu folgen. Der Unmäßige ist, wie gesagt, nicht geeignet, Bedauern zu empfinden; denn er bleibt bei seinem Vorsatz. Jeder Unbeherrschte hingegen empfindet Bedauern. Daher verhält es sich nicht so, wie wir bei der Darlegung der Schwierigkeiten formuliert haben. Vielmehr ist der Unmäßige unheilbar und der Unbeherrschte heilbar. Es gleicht nämlich das Laster Krankheiten wie der Wassersucht oder der Schwindsucht, die Unbeherrschtheit dagegen epileptischen Anfällen. Denn die eine [die Unmäßigkeit] ist eine ständig vorhandene Schlechtigkeit, die andere [die Unbeherrschtheit] eine nicht ständig vorhandene. Überhaupt gehören Unbeherrschtheit und Schlechtigkeit zu verschiedenen Gattungen. Denn die Schlechtigkeit bleibt unbemerkt, die Unbeherrschtheit hingegen nicht. [1151a] Unter den Unbeherrschten selbst nun sind diejenigen, die leicht außer sich geraten, besser als diejenigen, die überlegt haben, aber nicht beim Ergebnis der Überlegung bleiben. Diese werden nämlich von einem schwächeren Affekt besiegt und handeln nicht wie die anderen, ohne vorher überlegt zu haben. Der Unbeherrschte gleicht ja denen, die schnell und von wenig Wein betrunken werden, das heißt von weniger Wein als die Mehrzahl. Daß nun die Unbeherrschtheit kein Laster ist, ist offensichtlich (in gewissem Sinn allerdings ist sie es vielleicht). Denn das eine [das unbeherrschte Handeln] ist gegen den Vorsatz, während das andere [die Handlung des Lasters] dem Vorsatz entspricht. Und doch sind sie de facto dem Handeln nach gleich. Wie Demodokos über die Milesier sagt „Die Milesier sind zwar nicht unverständig, sie tun aber Dinge, wie sie die Unverständigen tun“, so sind auch die Unbeherrschten nicht ungerecht, tun aber ungerechte Handlungen. 371 7. Willensschwäche Da nun der eine [der Unbeherrschte] so beschaffen ist, daß er die übermäßige und der richtigen Überlegung entgegengesetzte körperliche Lust sucht, jedoch nicht aus Überzeugung, der andere aber [der Unmäßige] eine solche Überzeugung hat, weil er so beschaffen ist, daß er sie [die körperliche Lust] sucht, so ist der erstere leicht von etwas Besserem zu überzeugen, der letztere nicht. Denn Tugend und Schlechtigkeit bewahren bzw. zerstören das Prinzip, beim Handeln aber ist das Worumwillen das Prinzip, so wie es in der Mathematik die Hypothesen sind. Weder dort noch hier ist es die Überlegung, die das Prinzip lehrt; es ist vielmehr die natürliche oder durch Gewöhnung entstandene Tugend, die das richtige Meinen über das Prinzip lehrt. Mäßig also ist, wer so beschaffen ist, unmäßig der Entgegengesetzte. Es gibt aber den Fall dessen, der durch einen Affekt außer sich und im Gegensatz zur richtigen Überlegung ist, den der Affekt zwar so sehr überwindet, daß er nicht nach der richtigen Überlegung handelt, aber doch nicht so sehr, daß es seine Art wäre zu glauben, man solle ungehemmt solche Lust suchen. Dieser ist der Unbeherrschte, und er ist besser als der Unmäßige und nicht schlecht überhaupt. Denn das Beste bleibt gewahrt, das Handlungsprinzip. Ein anderer Typ ist diesem entgegengesetzt, derjenige nämlich, der [bei seiner Überlegung] bleibt und nicht [aus ihr] heraustritt, wenigstens nicht durch den Affekt. Hieraus ist jedenfalls deutlich, daß die letztere Disposition gut, die andere schlecht ist. Ist nun beherrscht, wer bei jeder beliebigen Überlegung und jedem beliebigen Vorsatz oder wer beim richtigen Vorsatz bleibt, und ist unbeherrscht derjenige, der bei jedem beliebigen Vorsatz und jeder beliebigen Überlegung oder wer bei der nicht falschen Überlegung und dem richtigen Vorsatz nicht bleibt (eine Schwierigkeit, die wir oben aufgeworfen haben)? Oder ist es akzidentell jede beliebige Überlegung, für sich betrachtet aber die wahre Überlegung und der richtige Vorsatz, bei dem der eine bleibt, der andere aber nicht bleibt? Denn wenn jemand dieses Bestimmte um dieses [Zwecks] willen [1151b] wählt oder sucht, dann sucht und wählt er für sich betrachtet das Letztere, akzidentell aber das Erstere. Wenn wir im eigentlichen Sinn reden, meinen wir aber das „für sich betrachtet“. Daher ist es in ge- 372 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) wissem Sinn jede beliebige Meinung, bei der der eine bleibt und die der andere aufgibt, im eigentlichen Sinn aber die wahre Meinung. Es gibt auch Menschen mit der Tendenz, bei ihrer Meinung zu bleiben, die man starrsinnig nennt, nämlich jene, die schwer zu überzeugen und nicht leicht von etwas anderem zu überzeugen sind. Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Beherrschten, wie der Verschwender mit dem Freigebigen und der Tollkühne mit dem Mutigen; sie sind aber in vieler Hinsicht verschieden. Denn jener, der Beherrschte, ändert seine Meinung zwar nicht wegen eines Affekts oder einer Begierde; er ist aber unter Umständen leicht [durch Gründe] zu überzeugen. Die anderen [die Starrsinnigen] dagegen sind nicht durch einen Grund zu überzeugen, aber doch durch Begierden, denen sie zugänglich sind, und viele Menschen lassen sich von der Lust leiten. Starrsinnig sind aber die Eigensinnigen, die Unwissenden und die Ungehobelten - die Eigensinnigen aufgrund von Lust und Unlust; sie freuen sich nämlich über ihren Sieg, wenn sie nicht von etwas anderem überzeugt werden, und leiden darunter, wenn ihre Meinungen ungültig werden, wie es mit den Volksbeschlüssen geschieht. Daher gleichen sie mehr den Unbeherrschten als den Beherrschten. Hingegen gibt es auch Menschen, die nicht bei ihren Meinungen bleiben, jedoch nicht aufgrund von Unbeherrschtheit, zum Beispiel Neoptolemos im Philoktet des Sophokles. Und doch war eine Lust der Grund, warum er nicht an seiner Meinung festhielt, jedoch eine werthafte Lust. Denn es besaß für ihn einen Wert, die Wahrheit zu sagen; von Odysseus aber war er überredet worden zu lügen. Es ist nämlich nicht jeder, der etwas aus Lust tut, unmäßig oder schlecht oder unbeherrscht, sondern derjenige, der es aufgrund einer niedrigen Lust tut. Nun gibt es auch einen Menschentyp, der sich weniger, als man soll, an den körperlichen Dingen freut und der nicht bei der Überlegung bleibt. In der Mitte zwischen diesem und dem Unbeherrschten befindet sich der Beherrschte. Denn der Unbeherrschte bleibt nicht bei der Überlegung wegen eines Zuviel, jener [der sich zu wenig an der körperlichen Lust freut] aber wegen eines Zuwenig. Der Beherrschte dagegen bleibt bei der Überlegung und läßt sich durch keines von beidem umstimmen. Es müssen aber, wenn die Beherrschtheit etwas 373 7. Willensschwäche Gutes ist, beide entgegengesetzten Dispositionen schlecht sein, und als solche erweisen sie sich in der Tat. Weil aber die eine von beiden bei wenigen Leuten und selten zu sehen ist, denkt man, es sei, wie der Mäßigkeit nur die Unmäßigkeit entgegengesetzt ist, so auch der Beherrschtheit nur die Unbeherrschtheit entgegengesetzt. Da jedoch vieles aufgrund von Ähnlichkeit bezeichnet wird, ist es dazu gekommen, der Ähnlichkeit nach auch von der Beherrschtheit des Mäßigen zu sprechen. Denn der Beherrschte ist wie der Mäßige in der Lage, nichts aufgrund der körperlichen Lust gegen die Überlegung [1152a] zu tun; dabei hat der eine schlechte Begierden, der andere nicht, und der eine ist so beschaffen, daß er nicht Lust gegen die Überlegung empfindet, der andere so, daß er dies tut, aber nicht von der Lust geleitet wird. Ähnlich sind einander auch der Unbeherrschte und der Unmäßige; sie sind zwar verschieden, doch suchen beide die körperliche Lust, aber der eine so, daß er auch meint, man solle das tun, der andere, ohne dies zu meinen. Es ist auch nicht möglich, daß ein und dieselbe Person zugleich klug und unbeherrscht ist. Denn wie gezeigt ist man gleichzeitig klug und gut im Charakter. Ferner: Klug ist man nicht nur durch Wissen, sondern auch durch die Disposition, dem Wissen entsprechend zu handeln. Der Unbeherrschte aber hat keine Disposition zum Handeln; es spricht jedoch nichts dagegen, daß der Geschickte unbeherrscht ist. Daher gelten manchmal auch einige als klug, aber unbeherrscht, weil sich die Geschicklichkeit von der Klugheit auf die in den früheren Ausführungen beschriebene Weise unterscheidet, das heißt, weil sie ihr nahesteht, was die Überlegung betrifft, aber in Hinsicht auf den Vorsatz verschieden ist. In der Tat verhält sich der Unbeherrschte nicht wie jemand, der weiß und betrachtet, sondern wie ein Schlafender oder Betrunkener. Und er handelt zwar wollend (denn in gewisser Weise weiß er, was er tut, und ebenso, zu welchem Zweck er es tut), ist aber nicht schlecht, da sein Vorsatz gut ist; er ist also halbschlecht. Weiterhin ist er nicht ungerecht, da er nicht hinterhältig handelt. Denn der eine Typ des Unbeherrschten ist nicht gewohnt, bei den Dingen, die er überlegt hat, zu bleiben, der Reizbare aber neigt überhaupt nicht zum Überlegen. Und so gleicht der Unbeherrschte einem Staat, der alle nötigen Beschlüsse faßt und gute Gesetze hat, aber keinerlei Gebrauch davon 374 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) macht, wie Anaxandrides scherzhaft sagt: „Die Stadt wollte es, die sich um Gesetze nicht kümmert.“ Der Schlechte dagegen gleicht einem Staat, der zwar die Gesetze anwendet, aber schlechte Gesetze. Die Unbeherrschtheit hat mit dem zu tun, was über die Disposition der meisten Menschen hinausgeht. Denn der eine bleibt mehr, der andere weniger bei Dingen, als es die Mehrzahl der Menschen vermag. Leichter heilbar aber ist diejenige Form der Unbeherrschtheit, welche die Reizbaren aufweisen, also diejenigen, die zwar überlegen, aber nicht beim Ergebnis bleiben; ebenso sind die durch Gewohnheit unbeherrschten Menschen leichter heilbar als die, die das von Natur aus sind. Die Gewohnheit läßt sich nämlich leichter in eine andere Richtung bewegen als die Natur. Denn [nur] deswegen ist auch die Gewohnheit schwer zu ändern, weil sie der Natur gleicht, wie auch Euenos sagt: „Ich sage, Freund, es bedarf lang dauernder Übung, und dann wird sie dem Menschen schließlich zur Natur.“ Was also die Beherrschtheit und was die Unbeherrschtheit, was die Ausdauer und was die Weichlichkeit ist und wie diese Dispositionen sich zueinander verhalten, ist hiermit dargelegt. (EN VII 1-11) 8. Freundschaft [1155a3] An diese Themen wird sich passend die Behandlung der Freundschaft anschließen. Denn sie ist eine bestimmte Tugend oder mit Tugend verbunden, zudem ist sie äußerst notwendig für das Leben. Denn niemand würde wählen, ohne Freunde zu leben, auch wenn er alle übrigen Güter hätte. Auch die Reichen und diejenigen, die Macht und Einfluß besitzen, bedürfen, so die übliche Meinung, in besonderem Maß der Freunde. Denn welchen Nutzen hat ein solcher Wohlstand, wenn man die Wohltätigkeit wegnimmt, die man am meisten gegenüber Freunden ausübt und die dort am meisten gelobt wird? Und wie sollte der Wohlstand beschützt und bewahrt werden ohne Freunde? Denn je größer er ist, umso gefährdeter ist er. Weiter hält man in Armut und anderen Unglücksfällen die Freunde für die einzige Zuflucht. Außerdem hilft die Freundschaft jungen Menschen, Fehler zu vermeiden, alten, Pflege und Unterstützung bei Tätigkeiten 375 8. Freundschaft zu bekommen, bei denen sie aus Schwäche nachlassen, und denen, die auf dem Höhepunkt ihres Lebens stehen, werthaft zu handeln - „Wo zwei zusammengehen ...“ -; denn zwei können besser denken und handeln als einer. Ferner: Beim Erzeuger scheint von Natur aus Freundschaft für das Erzeugte vorhanden zu sein, ebenso beim Erzeugten für den Erzeuger, und dies nicht nur beim Menschen, sondern auch bei den Vögeln und den meisten Tieren. Auch empfinden Wesen derselben Spezies Freundschaft füreinander, vor allem Menschen, weshalb wir diejenigen, die menschenfreundlich sind, loben. Auch auf Reisen kann man sehen, wie dem Menschen jeder Mensch verwandt und ihm ein Freund ist. Außerdem scheint die Freundschaft die Staaten zusammenzuhalten, und die Gesetzgeber scheinen sich mehr um sie zu bemühen als um die Gerechtigkeit. Denn die Eintracht scheint etwas Ähnliches wie die Freundschaft zu sein, diese aber streben sie [die Gesetzgeber] am meisten an, und die Zwietracht, die eine Feindschaft ist, versuchen sie am meisten zu vertreiben. Und wenn Menschen Freunde sind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit; hingegen bedarf es, wenn sie gerecht sind, zusätzlich der Freundschaft, und als das Gerechteste innerhalb des Gerechten gilt das Freundschaftliche. Die Freundschaft ist aber nicht nur notwendig, sondern auch werthaft. Denn diejenigen, die Freunde lieben, loben wir, und es gilt als eines von den werthaften Dingen, viele Freunde zu haben. Ferner nimmt man an, daß dieselben Menschen, die gut sind, auch Freunde sind. Über die Freundschaft wird nicht wenig gestritten. Die einen nämlich halten sie für eine Art von Gleichheit und halten solche für Freunde, die sich gleich sind. Daher kommt der Ausspruch „den Gleichen zu dem Gleichen“ oder „eine Krähe zur anderen Krähe“ u. ä. Andere sagen im Gegenteil, Gleiches [1155b] verhalte sich zu Gleichem wie die Töpfer zueinander. Und über eben diese Dinge stellt man weitergehende und mehr naturwissenschaftliche Untersuchungen an. So sagt Euripides „Es liebt die Erde den Regen“ (wenn sie ausgetrocknet ist) und „Der erhabene Himmel liebt es, wenn er mit Regen angefüllt ist, auf die Erde zu fallen“. Und Heraklit spricht vom Widerstrebenden, das zusam- 376 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) menstimmt, und meint, aus der Verschiedenheit entstünde die schönste Harmonie, und alles werde auf dem Wege des Streits erzeugt. Im Gegensatz zu diesen steht neben anderen Empedokles mit seiner Behauptung, das Gleiche strebe zum Gleichen. Wir wollen nun diejenigen Schwierigkeiten, die naturwissenschaftlicher Art sind, beiseite lassen, da sie nicht zur gegenwärtigen Untersuchung gehören, und vielmehr jene betrachten, die mit dem Menschen zu tun haben und sich auf den Charakter und die Affekte beziehen, zum Beispiel, ob Freundschaft unter allen Menschen entsteht, oder ob Menschen, die schlecht sind, keine Freunde sein können, und ob es nur eine Art der Freundschaft gibt oder mehrere. Diejenigen, die meinen, daß es nur eine Art gibt, weil die Freundschaft ein Mehr oder Weniger zuläßt, stützen sich auf ein Indiz, das nicht hinreichend ist; denn ein Mehr oder Weniger gibt es auch bei Dingen, die der Art nach verschieden sind. Doch darüber haben wir früher gesprochen. Vielleicht werden diese Fragen sich klären, wenn wir herausgefunden haben, was Gegenstand der Liebe ist. Denn, so scheint es, nicht alles wird geliebt, sondern nur das Liebenswerte; als liebenswert aber gilt, was gut, angenehm oder nützlich ist. Als nützlich aber gilt, wodurch ein Gut oder Lust erzeugt wird, so daß liebenswert als Ziele das Gute und das Angenehme sein werden. Lieben die Menschen nun, was gut [überhaupt] ist, oder lieben sie, was für sie gut ist? Dies fällt nämlich manchmal auseinander. Ebenso verhält es sich beim Angenehmen. Man nimmt doch an, daß jeder liebt, was für ihn selbst gut ist, daß also liebenswert überhaupt ist, was gut ist, für jeden einzelnen Menschen aber liebenswert, was für ihn gut ist. Der Einzelne liebt nicht, was für ihn gut ist, sondern was ihm als gut erscheint. Das macht aber keinen Unterschied: Das Liebenswerte wird dann sein, was als gut erscheint. Es gibt also drei Gründe für das Lieben. Die Liebe zu leblosen Dingen wird aber nicht als Freundschaft bezeichnet. Denn hier gibt es keine Erwiderung der Liebe, noch kommt es hier vor, daß man dem Gegenstand Gutes wünscht (denn es wäre wohl lächerlich, dem Wein Gutes zu wünschen, höchstens wünscht man, daß er aufbewahrt wird, damit man selbst ihn zur Verfügung hat). Hingegen heißt es, daß man dem Freund um seiner selbst willen Gutes wünschen 377 8. Freundschaft muß. Diejenigen, die in dieser Weise Gutes wünschen, nennt man wohlwollend, wenn nicht derselbe Wunsch auch von der Gegenseite kommt; denn das Wohlwollen, das gegenseitig ist, nennt man Freundschaft. Oder müssen wir hinzufügen: wenn es nicht verborgen bleibt? Denn viele haben Wohlwollen gegenüber Menschen, die sie nie gesehen haben, die sie aber für gut oder [1156a] nützlich halten, und von diesen letzteren könnte jemand dasselbe für jenen empfinden. Offenkundig nun besteht zwischen diesen gegenseitiges Wohlwollen. Wie aber könnte man sie Freunde nennen, wenn sie von ihrem gegenseitigen Verhältnis nichts wissen? Sie müssen also [damit es sich um Freundschaft handelt] einander, ohne daß dies verborgen bleibt, wohl wollen und sich Gutes wünschen aufgrund eines der genannten Gründe. Diese Gründe sind nun der Art nach verschieden, entsprechend also auch die Arten der Liebe und der Freundschaft. Es gibt daher drei Arten der Freundschaft, ebenso viele wie Arten liebenswerter Dinge. Denn bei jeder Art gibt es eine Erwiderung der Liebe, die nicht verborgen bleibt, und die Liebenden wünschen einander Gutes im Hinblick auf den Grund, aus dem sie lieben. Diejenigen nun, die einander aufgrund des Nützlichen lieben, lieben einander nicht als solche, sondern aufgrund eines Guts, das sie voneinander bekommen. Dasselbe gilt für diejenigen, die wegen der Lust lieben: Die Menschen lieben die Umgänglichen nicht, weil diese bestimmte Qualitäten haben, sondern weil sie ihnen angenehm sind. Diejenigen, deren Liebe im Nutzen gründet, lieben also den anderen wegen des für sie selbst Guten, und diejenigen, bei denen sie in der Lust gründet, wegen des für sie selbst Angenehmen; sie lieben ihn nicht, insofern er diese Person ist, sondern insofern er nützlich oder angenehm ist. Solche Freundschaften sind also akzidentell. Denn hier wird der Geliebte nicht geliebt, insofern er ist, was er ist, sondern insofern er ein Gut bzw. Lust verschafft. Solche Freundschaften werden daher leicht aufgelöst, wenn die Menschen nicht die gleichen bleiben. Denn wenn sie nicht mehr angenehm oder nützlich sind, hören die anderen auf, sie zu lieben. Das Nützliche ist aber nicht von Dauer, sondern es ist bald dies, bald jenes nützlich. Wenn also der Grund verlorengeht, aus dem man 378 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) befreundet war, dann löst sich auch die Freundschaft auf, da sie nur auf diesen bezogen war. Am meisten scheint diese Art der Freundschaft zwischen alten Menschen vorzukommen (denn Menschen dieser Altersstufe suchen nicht das Angenehme, sondern das Nützliche), bei Menschen auf dem Höhepunkt des Lebens und jungen Menschen [nur] zwischen denen, die das Förderliche suchen. Solche Menschen leben kaum zusammen. Denn manchmal finden sie einander nicht einmal angenehm. Sie haben daher auch kein zusätzliches Bedürfnis nach einem solchen Umgang, sofern sie nicht nützlich füreinander sind. Denn sie sind nur so weit angenehm, wie sie Hoffnung auf ein Gut haben. Unter diese Arten der Freundschaft ordnet man auch die Gastfreundschaft ein. Dagegen beruht, so nimmt man an, die Freundschaft der jungen Menschen auf der Lust. Denn diese leben affektgeleitet und suchen insbesondere das für sie Angenehme und das unmittelbar Vorhandene. Wenn sie aber in ein anderes Alter kommen, werden auch die Dinge, die sie angenehm finden, andere. Daher werden sie schnell Freunde und hören schnell auf, es zu sein. Denn die Freundschaft wechselt mit dem Angenehmen, [1156b] und solche Lust ändert sich rasch. Junge Menschen haben aber auch erotische Neigungen; denn die erotische Freundschaft ist größtenteils affektiv und auf Lust bezogen. Daher verlieben sie sich schnell und hören schnell wieder auf, wobei sich das häufig am gleichen Tag ändert. Diese Menschen wollen den Tag zusammen verbringen und zusammen leben. Denn auf diese Weise bekommen sie das, was ihrer Art der Freundschaft entspricht. Die vollkommene Freundschaft aber ist die Freundschaft zwischen Menschen, die gut und gleich an Tugend sind. Denn diese wünschen in gleicher Weise Gutes füreinander, insofern sie gut sind, und sie sind als solche gut. Diejenigen aber, die den Freunden um dieser selbst willen Gutes wünschen, sind am meisten Freunde. Sie verhalten sich so aufgrund ihrer eigenen Beschaffenheit und nicht zufällig. Folglich bleibt die Freundschaft dieser Menschen bestehen, solange sie gut sind; die Gutheit aber ist etwas Beständiges. Und jeder von beiden ist gut überhaupt und gut für den Freund. Denn die Guten sind sowohl gut überhaupt als auch nützlich füreinander und ebenso 379 8. Freundschaft auch angenehm. Denn die Guten sind sowohl angenehm überhaupt als auch angenehm füreinander. Für jeden sind nämlich die eigenen Handlungen und solche, die ihnen ähnlich sind, angenehm, und die Handlungen der Guten sind dieselben oder ähnlich. Die so beschaffene Freundschaft aber ist, so kann man mit guten Gründen annehmen, beständig; denn bei ihr trifft alles zusammen, was bei Freunden vorhanden sein muß. Jede Freundschaft beruht auf einem Gut oder einer Lust, entweder überhaupt oder für den Liebenden, und beruht auf einer bestimmten Ähnlichkeit. In dieser Freundschaft finden sich alle erwähnten Eigenschaften kraft der Natur der Freunde selbst. Denn in dieser Hinsicht ebenso wie in den übrigen Hinsichten sind sie ähnlich, und was gut überhaupt ist, ist auch angenehm überhaupt. Dies aber ist das Liebenswerteste. Auch Liebe und Freundschaft findet man daher vor allem und in der besten Form zwischen solchen Menschen. Doch sind solche Freundschaften vermutlich selten, denn es gibt wenige Menschen von dieser Art. Ferner bedarf es dafür zusätzlich der Zeit und der Vertrautheit. Denn wie das Sprichwort sagt, ist es nicht möglich, einander zu kennen, ehe man nicht das bekannte Salz zusammen gegessen hat. So können Menschen auch nicht als Freunde angenommen werden oder Freunde sein, ehe nicht der eine sich dem anderen als liebenswert und vertrauenswürdig erwiesen hat. Diejenigen, die sich schnell zueinander auf freundschaftliche Art verhalten, wünschen zwar, Freunde zu sein, sind es aber nicht, wenn sie nicht auch liebenswert sind und die andere Seite dies weiß. Denn der Wunsch nach Freundschaft entsteht schnell, die Freundschaft hingegen nicht. Diese Freundschaft ist also sowohl bezüglich der Zeitdauer als auch in allen anderen Hinsichten vollkommen; in ihr bekommt jeder in allen Hinsichten vom anderen dasselbe oder etwas Ähnliches, wie es eben unter Freunden geschehen soll. Die Freundschaft, die [1157a] auf dem Angenehmen beruht, hat eine Ähnlichkeit mit dieser. Denn auch die guten Menschen sind einander angenehm. Ähnliches gilt für die Freundschaft, die auf dem Nutzen beruht, denn ebenso sind gute Menschen einander nützlich. 380 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Auch unter diesen Menschen bleiben die Freundschaften am ehesten bestehen, wenn sie voneinander dasselbe bekommen, zum Beispiel Lust, und nicht nur das, sondern auch aus derselben Quelle, wie bei den Gewandten, und nicht wie zwischen Liebhaber und Geliebtem. Denn diese freuen sich nicht an demselben, sondern der eine freut sich am Anblick des anderen, der andere, wenn der Liebhaber sich um ihn kümmert. Wenn aber die Jugend aufhört, hört manchmal auch die Freundschaft auf (denn dem einen ist der Anblick nicht mehr angenehm, und dem anderen geschieht es nicht mehr, daß man sich um ihn kümmert). Allerdings bleiben viele solche Beziehungen bestehen, wenn die Freunde infolge der Vertrautheit [wechselseitig] ihre Charaktere lieb gewonnen haben und nun im Charakter gleich sind. Diejenigen aber, die in Liebesbeziehungen nicht Angenehmes austauschen, sondern Nützliches, sind und bleiben in geringerem Maß Freunde. Die wegen des Nützlichen Freunde sind, trennen sich, sobald das Förderliche endet. Denn sie waren nicht Freunde voneinander, sondern Freunde des Vorteils. Aufgrund der Lust und des Nutzens können also sogar schlechte Menschen miteinander befreundet sein oder gute Menschen mit schlechten oder solche, die keines von beidem sind, mit Menschen von beliebiger Beschaffenheit; um ihrer selbst willen aber können offenkundig nur Gute Freunde sein. Denn schlechte Menschen freuen sich nicht aneinander, wenn nicht ein Vorteil daraus entsteht. Ferner ist nur die Freundschaft der Guten vor Verleumdung sicher. Denn es ist nicht leicht, irgendjemandes Rede über einen Menschen zu glauben, den man selbst lange geprüft hat. Und unter diesen besteht [die wechselseitige] Gewißheit „ich vertraue ihm“ und „er würde mir nie Unrecht tun“ und alles andere, was wir von der wahren Freundschaft erwarten. Bei den anderen Arten der Freundschaft dagegen hindert nichts daran, daß solche Dinge [wie Verleumdung] eintreten. Denn da die Leute auch diejenigen Freunde nennen, die sich wegen des Nutzens lieben, wie dies die Staaten tun (denn die Bündnisse zwischen Staaten kommen, so nimmt man an, des Nutzens wegen zustande), und ebenso diejenigen, die einander wegen der Lust lieben, wie die Kinder, müssen vielleicht auch wir solche Menschen Freunde nennen, dann aber sagen, daß es mehrere Arten der Freundschaft gibt: Freundschaft im ersten und eigentlichen Sinn, ist die 381 8. Freundschaft Freundschaft zwischen guten Menschen als guten, die übrigen Arten aber heißen so der Ähnlichkeit nach. Denn insofern ein Gut oder eine bestimmte Ähnlichkeit gegeben ist, sind sie Freunde. Auch das Angenehme ist ja ein Gut für diejenigen, die das Angenehme lieben. Doch diese beiden Arten der Freundschaft gehen nicht leicht zusammen, und es werden nicht dieselben Menschen wegen des Nützlichen und wegen des Angenehmen Freunde. Denn Dinge, die nur akzidentell zusammengehören, verbinden sich nicht leicht. [1157b] Da nun die Freundschaft in diese Arten aufgeteilt ist, so werden die schlechten Menschen Freunde sein aufgrund der Lust oder des Nutzens, da sie einander darin ähnlich sind, die guten Menschen hingegen werden um ihrer selbst willen Freunde sein, da sie Freunde sind, insofern sie gut sind. Diese sind also Freunde im eigentlichen Sinn, die anderen sind nur akzidentell Freunde und dadurch, daß sie eine Ähnlichkeit mit jenen haben. Wie man bei den Tugenden die einen in bezug auf die Disposition, die anderen in bezug auf die Betätigung gut nennt, so auch bei der Freundschaft. Die einen freuen sich im Zusammenleben aneinander und verschaffen sich gegenseitig Güter; andere sind, weil sie schlafen oder räumlich getrennt sind, zwar nicht freundschaftlich tätig, sind aber so verfaßt, daß sie tätig werden können. Denn die räumliche Entfernung löst nicht die Freundschaft überhaupt auf, sondern nur die Betätigung. Wenn aber die Abwesenheit lange dauert, dann dürfte sie auch die Freundschaft in Vergessenheit geraten lassen. Weshalb man sagt: „Der Mangel an Gespräch hat viele Freundschaften aufgelöst“. Weder alte noch verdrießliche Menschen erweisen sich als zur Freundschaft geneigt. Denn es findet sich wenig Lust bei ihnen; niemand aber kann seine Tage mit Menschen verbringen, die unangenehm oder auch nur nicht angenehm sind. Die Natur meidet ja offenbar vor allem das Unangenehme und sucht das Angenehme. Diejenigen, die einander akzeptieren, aber nicht zusammenleben, sind eher wohlwollend als befreundet. Denn nichts ist für Freunde so typisch wie das Zusammenleben (nach dem Nutzen streben die Bedürftigen, doch auch die Glücklichen wollen ihre Tage mit anderen verbringen; denn diesen kommt ein Leben in Einsamkeit am wenig- 382 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) sten zu). Die Zeit mit anderen verbringen kann man aber nur, wenn man einander angenehm ist oder sich an denselben Dingen freut, wie es für die Freundschaft der Gefährten der Fall sein dürfte. Im höchsten Sinn Freundschaft ist also, wie öfter gesagt, die Freundschaft der Guten. Denn als liebenswert und wählenswert [überhaupt] gilt das, was gut oder angenehm überhaupt ist, für den einzelnen aber das, was für ihn so ist. Der Gute ist dies aus beiden Gründen für den Guten. Es gleicht nun aber das Lieben einem Affekt, die Freundschaft hingegen einer Disposition. Denn das Lieben kommt ebenso sehr gegenüber unbeseelten Dingen vor, erwidert hingegen wird die Liebe mit Vorsatz; der Vorsatz aber beruht auf einer Disposition. Auch wünscht man denen, die man liebt, um ihrer selbst willen Gutes, nicht aus einem Affekt, sondern aufgrund einer Disposition. Und indem jemand seinen Freund liebt, liebt er das, was für ihn selbst gut ist; denn der Gute wird, wenn er zum Freund wird, für den, dessen Freund er ist, ein Gut. Jeder von beiden liebt also das für ihn Gute und gibt Gleiches zurück im Wünschen und im Angenehmsein. Denn man nennt Freundschaft Gleichheit, [1158a] dies aber trifft vor allem auf die Freundschaft der Guten zu. Unter verdrießlichen und alten Menschen entsteht umso weniger Freundschaft, je übellauniger sie sind und je weniger sie sich am Umgang mit Menschen freuen. Denn dies gilt am meisten als Merkmal der Freundschaft und als geeignet, Freundschaft hervorzubringen. Daher werden junge Menschen schnell Freunde, alte hingegen nicht. Man schließt nämlich nicht Freundschaft mit Menschen, an denen man sich nicht erfreut. Ebenso werden die Übellaunigen nicht leicht Freunde. Doch sind die so beschaffenen Menschen einander wohlgesinnt. Denn sie wünschen einander Gutes und helfen einander, wo es nötig ist. Sie sind aber kaum Freunde, da sie weder ihre Zeit zusammen verbringen noch sich aneinander freuen, was man für die wichtigsten Merkmale der Freundschaft hält. Man kann aber nicht mit vielen in der Weise der vollkommenen Freundschaft befreundet sein, wie man ja auch nicht viele zugleich erotisch begehren kann (denn das erotische Begehren scheint einer Art Übermaß zu gleichen, und ein solches kann naturgemäß nur auf eine Person gerichtet sein). Es ist auch nicht leicht möglich, daß viele 383 8. Freundschaft zugleich demselben Menschen sehr gefallen, und ebensowenig vermutlich, daß viele gleichzeitig gut sind. Man muß außerdem Erfahrung erwerben und miteinander vertraut werden, was überaus schwierig ist. Dagegen kann man aufgrund des Nützlichen und des Angenehmen vielen gefallen. Denn es gibt viele Menschen, die nützlich oder angenehm sind, und diese Leistungen erfordern wenig Zeit. Von diesen beiden Arten kommt diejenige, die auf dem Angenehmen beruht, der Freundschaft näher, das heißt, wenn beide dasselbe voneinander bekommen und sich aneinander oder an denselben Dingen freuen, wie es in der Freundschaft zwischen jungen Menschen der Fall ist. Denn in diesen Freundschaften findet man eher das Element der Großzügigkeit. Die auf dem Nützlichen beruhende Freundschaft hingegen ist etwas für Krämer. Auch die Glückseligen brauchen keine nützlichen, aber doch angenehme Freunde, da sie mit Menschen zusammenleben wollen. Das Unangenehme jedoch erträgt man nur für kurze Zeit, und niemand hält es auf Dauer aus, nicht einmal das Gute selbst [würde jemand aushalten], wenn es ihm unangenehm wäre. Daher suchen Menschen Freunde, die angenehm sind. Solche Freunde müssen sicher auch gut sein, und außerdem gut für sie. Denn so werden sie alles haben, was Freunden zukommen muß. Menschen in Machtpositionen scheinen unterschiedliche Gruppen von Freunden zu haben; denn einige sind ihnen nützlich, andere angenehm, selten aber sind ein und dieselben beides. Denn sie [die Mächtigen] suchen weder Menschen, bei denen das Angenehme mit Gutheit verbunden ist, noch Menschen, die nützlich im Hinblick auf das Werthafte sind. Vielmehr suchen sie, sofern sie auf das Angenehme aus sind, umgängliche Freunde, und andererseits geschickte, wenn es um die Ausführung von Instruktionen geht. Doch das findet sich selten bei ein und derselben Person. Gleichzeitig angenehm und nützlich ist aber, wie wir gesagt haben, der Gute. Doch ein solcher wird nicht der Freund von einem, der ihm an Macht überlegen ist, wenn dieser ihm nicht auch an Gutheit überlegen ist. Ist er es nicht, kommt keine Gleichheit zustande, weil er nicht an Macht und Gutheit in einem analogen Verhältnis übertroffen wird. Machthaber sind aber gewöhnlich kaum so beschaffen. (EN VIII 1-7) 384 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) [1166a1] Die freundschaftlichen Einstellungen zu den Nächsten und die Merkmale, welche die Arten der Freundschaft definieren, scheinen aus den Beziehungen zu uns selbst abgeleitet. Denn als Freund bezeichnet man einen Menschen, der das, was gut ist oder gut erscheint, wünscht und tut um des anderen willen, oder einen, der um des Freundes selbst willen wünscht, daß dieser existiert und lebt. So geht es Müttern im Verhältnis zu ihren Kindern und Freunden, die in Streit geraten sind. Andere verstehen unter einem Freund jemanden, mit dem man Zeit zusammen verbringt und der dieselben Dinge wählt, oder jemanden, der Leid und Freude mit dem Freund teilt. Am meisten aber ist auch dies bei der Mutterliebe der Fall. Durch eines dieser Merkmale definiert man auch die Freundschaft. Jedes dieser Merkmale kommt aber dem Guten in Beziehung auf sich selbst zu und den anderen Menschen, soweit sie sich für so beschaffen halten. Wie gesagt scheint aber das Maß aller Dinge jeweils die Gutheit und der Gute zu sein. Denn dieser ist mit sich selbst in Übereinstimmung, und er strebt mit seiner ganzen Seele nach denselben Dingen. Und er wünscht folglich sich selbst das Gute oder das, was als gut erscheint, und tut es (denn es ist Kennzeichen des guten Menschen, daß er das Gute durchführt), und zwar um seiner selbst willen, nämlich dem denkenden Teil zuliebe, den man für dasjenige hält, was jeder Mensch seinem Wesen nach ist. Und er wünscht, daß er selbst lebt und erhalten bleibt, und insbesondere derjenige Teil in ihm, mit dem er denkt. Denn für den guten Menschen ist sein Sein etwas Gutes, und jeder wünscht das Gute sich selbst. Niemand dagegen wünscht, angenommen er ist ein anderer geworden, daß dann alles Gute im Besitz jenes Gewordenen ist (denn auch jetzt hat das Gute der Gott), sondern er wünscht es unter der Bedingung, daß er ist, was er gerade ist. Und der Bestandteil, der denkt, dürfte das sein, was jeder seinem Wesen nach ist oder jedenfalls am meisten ist. Weiter: Der Mensch, der so beschaffen ist, will Zeit mit sich verbringen. Dies nämlich tut er mit Lust, denn die Erinnerungen an das, was er getan hat, sind erfreulich, und die Hoffnungen auf künftige Handlungen sind gut; solche Hoffnungen aber sind erfreulich. Und er verfügt im Denken über einen reichen Besitz an Gegenständen der Betrachtung. Weiter teilt er in hohem Maß Leid und Freude mit sich selbst, denn es ist immer dasselbe betrüblich oder angenehm, nicht 385 8. Freundschaft bald dieses, bald jenes; er ist also, kann man sagen, ohne Bedauern. Da nun jede dieser Einstellungen dem guten Menschen im Verhältnis zu sich selbst zukommt und da man sich zum Freund verhält wie zu sich selbst (denn der Freund ist ein anderes Selbst), nimmt man an, daß auch das Verhältnis der Freundschaft mit anderen in einer der genannten Einstellungen besteht und Freunde diejenigen sind, denen diese zukommen. Ob es aber im Verhältnis zu sich selbst Freundschaft gibt oder nicht, wollen wir im Augenblick beiseite lassen. Man sollte aufgrund des Gesagten meinen, daß Freundschaft insofern vorliegt, als man zwei oder mehr ist, [1166b] und daß der höchste Grad der Freundschaft der Selbstbeziehung gleicht. Die genannten Einstellungen scheinen aber auch bei Leuten aus der Menge vorzukommen, obwohl diese schlecht sind. Haben diese dann, insofern sie mit sich zufrieden sind und sich für gut halten, an ihnen teil? Sicher hat kein durchweg schlechter und frevlerischer Mensch diese Einstellungen oder erweckt auch nur den Anschein, sie zu haben. Aber auch schlechte Menschen haben sie kaum. Denn diese sind nicht mit sich in Übereinstimmung, und sie begehren das eine, während sie anderes wünschen, wie die Unbeherrschten. Denn sie wählen anstelle der Dinge, die sie für gut halten, Angenehmes, das schädlich ist. Andere wiederum tun aufgrund von Feigheit oder Trägheit nicht, was sie als das für sie Beste ansehen. Diejenigen aber, die viele schreckliche Dinge getan haben und aufgrund ihrer Schlechtigkeit gehaßt werden, fliehen sogar das Leben und zerstören sich selbst. Ferner: Die Schlechten suchen Menschen, mit denen sie die Tage verbringen können, sich selbst aber fliehen sie. Denn sie erinnern sich an viele schlimme Dinge und erwarten anderes von derselben Art, wenn sie für sich sind; wenn sie aber mit anderen zusammen sind, vergessen sie es. Ferner: Da sie nichts Liebenswertes an sich haben, erfahren sie kein Gefühl der Freundschaft gegen sich selbst. Und solche Menschen teilen auch nicht Freude und Leid mit sich selbst. Denn ihre Seele ist in Aufruhr; der eine Teil empfindet aufgrund seiner Schlechtigkeit Schmerz, wenn er sich bestimmter Dinge enthält, während der andere sich freut, und der eine Teil zieht die Seele dahin und der andere dorthin, als würden sie sie auseinander reißen. Und wenn es nicht möglich ist, gleichzeitig betrübt zu sein und sich zu freuen, so tut es dem Schlechten nach kurzer Zeit leid, 386 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) daß er sich gefreut hat, und er wünschte, daß er dieses Angenehme nicht erfahren hätte. Denn schlechte Menschen sind voll von Bedauern. Der Schlechte scheint also nicht einmal sich selbst gegenüber freundschaftlich eingestellt zu sein, da er nichts Liebenswertes an sich hat. Wenn nun dies eine allzu unglückliche Verfassung ist, muß man die Schlechtigkeit mit großer Anstrengung meiden und muß versuchen, gut zu sein. Denn so kann man auch sich selbst gegenüber eine freundschaftliche Einstellung erwerben und anderen Menschen zum Freund werden. (EN IX 4) 9. Lust [1172a19] Nach diesen Themen sollten wir anschließend die Lust erörtern. Denn sie ist nach verbreiteter Meinung aufs engste mit unserer menschlichen Natur verbunden; daher erzieht man die jungen Menschen, indem man sie durch Lust und Unlust lenkt. Auch für die Gutheit des Charakters gilt es als besonders wichtig, daß man sich daran freut, woran man sich freuen soll, und das haßt, was man hassen soll. Denn diese Dinge durchziehen das ganze Leben und üben einen gewichtigen Einfluß auf die Gutheit und das glückliche Leben aus; man wählt nämlich das Angenehme und meidet das Unangenehme. Solche Dinge sollte man also am wenigsten übergehen, zumal sie Anlaß zu großen Meinungsverschiedenheiten geben. Manche nämlich sagen, die Lust sei das Gut, andere sagen im Gegenteil, sie sei ganz und gar schlecht, jene vermutlich in der Überzeugung, daß es sich in der Tat so verhalte, diese in der Meinung, daß es besser für unser Leben sei, wenn die Lust als etwas Schlechtes dargestellt wird, auch wenn sie es nicht ist. Denn die Menge neige zur Lust und sei ihr sklavisch ergeben, daher müsse man sie in die entgegengesetzte Richtung führen, da man so zur Mitte komme. Doch dies dürfte kaum richtig sein. Im Bereich der Affekte und Handlungen sind Reden weniger glaubwürdig als Taten; wenn die Reden also mit dem, was man wahrnimmt, in Widerspruch stehen, so werden sie verachtet und [1172b] untergraben noch dazu das, was wahr ist. Wenn nämlich derjenige, der die Lust tadelt, einmal dabei beobachtet wird, wie er sie sucht, so meinen die Leute, seine Neigung zu ihr bedeute, daß 387 9. Lust sie insgesamt erstrebenswert sei; denn genau zu unterscheiden ist nicht Sache der Menge. Es scheint also, daß wahre Sätze nicht nur für das Wissen am brauchbarsten sind, sondern auch für das Leben. Da sie mit den Taten übereinstimmen, schenkt man ihnen Glauben, und daher ermutigen sie diejenigen, die sie verstehen, entsprechend zu leben. Doch genug davon. Gehen wir weiter zu denjenigen Dingen, die über die Lust gesagt worden sind. Eudoxos meinte, die Lust sei das Gut, weil er sah, daß alle Wesen nach ihr streben, die vernünftigen ebenso wie die vernunftlosen. In allen Fällen aber sei das, was gewählt wird, gut, und was am meisten gewählt wird, habe die stärkste Anziehungskraft. Daß sich alle Dinge auf dasselbe zubewegen, zeige also an, daß dies das beste Gut sei; denn jedes Ding finde sein eigenes Gut, wie es seine eigene Nahrung findet. Was aber für alle gut sei und wonach alle streben, dies sei das Gut. Seine Aussagen fanden jedoch mehr wegen der Gutheit seines Charakters als um ihrer selbst willen Glauben. Denn er galt als außergewöhnlich mäßig, und daher nahm man an, er sage diese Dinge nicht als Freund der Lust, sondern es verhalte sich wirklich so. Er meinte nun, daß dies nicht weniger aus dem Gegensatz deutlich sei. Denn die Unlust sei an und für sich für alle Lebewesen etwas zu Meidendes, und darum müsse ebenso das Gegenteil für alle wählenswert sein; am meisten wählenswert sei aber, was wir weder wegen eines anderen noch etwas anderem zuliebe wählen. So beschaffen sei nach allgemeiner Übereinstimmung die Lust; denn niemand frage, zu welchem Zweck man sich freut, da ja die Lust als solche wählenswert sei. Ferner: Werde die Lust zu irgendeinem Gut hinzugefügt, zum Beispiel zum gerechten oder mäßigen Handeln, dann mache sie es wählenswerter. Was aber das Gut steigere, sei selbst ein Gut. Dieses [letzte] Argument nun scheint zu zeigen, daß die Lust eines der Güter ist, und dies nicht mehr als ein anderes. Denn jedes Gut ist verbunden mit einem anderen Gut wählenswerter als für sich allein genommen. Durch ein solches Argument hebt denn auch Platon die Behauptung auf, die Lust sei das Gut: Das lustvolle Leben, sagt er, sei verbunden mit der Klugheit wählenswerter als ohne sie; wenn aber die Mischung besser sei, dann sei die Lust nicht das Gut; denn das Gut werde nicht durch irgendetwas, das man ihm hinzufügt, wäh- 388 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) lenswerter. - Dann wird aber offensichtlich auch nichts anderes, das in Verbindung mit einem der Dinge, die als solche Güter sind, wählenswerter wird, das Gut sein. Was nun ist das Gut, das so beschaffen ist und woran auch wir teilhaben? Etwas solches wird ja gesucht. Diejenigen aber, die einwenden, das, wonach alles strebt, sei kein Gut, reden Unsinn. Denn was alle [1173a] für ein Gut halten, das, sagen wir, ist wirklich ein Gut. Wer aber diese Überzeugung aufheben will, wird kaum etwas Überzeugenderes zu sagen haben. Würden nämlich nur die vernunftlosen Wesen nach diesen Dingen streben, dann könnte die Behauptung einen Sinn haben; wenn aber auch die vernunftbegabten das tun, wie kann sie dann einen Sinn haben? Vielleicht gibt es sogar in den schlechten Wesen ein natürliches Gut, das stärker ist als sie selbst und das nach dem ihnen eigentümlichen Gut strebt. Nicht richtig scheint auch das Argument über den Gegensatz. Wenn, so sagen sie, die Unlust ein Übel ist, sei die Lust kein Gut; ein Übel sei nämlich wiederum einem Übel entgegengesetzt und beide dem, was weder ein Gut noch ein Übel ist. Damit haben sie nicht unrecht, sie treffen allerdings nicht die Wahrheit im vorliegenden Fall. Denn wenn beide, Lust und Unlust, Übel sind, müssten sie auch beide zu meiden sein; und wenn sie beide weder gut noch schlecht sind, so wäre keines von beiden oder beide gleichermaßen zu meiden. Nun aber meiden die Menschen offensichtlich die Unlust als ein Übel und wählen die Lust als ein Gut. Auf diese Weise also sind sie einander entgegengesetzt. Aber auch dann, wenn die Lust nicht zu den Qualitäten gehört, folgt nicht, daß sie nicht zu den Gütern gehört. Denn die Tätigkeiten der Tugend sind ebenfalls keine Qualitäten, und auch das Glück nicht. Weiter behaupten sie, das Gut sei begrenzt, die Lust hingegen sei unbegrenzt, weil sie das Mehr und Weniger zulasse. Wenn sie nun dieses Urteil aus dem Empfinden der Lust gewinnen, dann wird es sich auch mit der Gerechtigkeit und den anderen Tugenden so verhalten. Bei diesen sagt man offensichtlich, man besitze solche Eigenschaften mehr oder weniger, und man handle mehr oder weniger im Sinn der Tugenden: Man kann in größerem [oder geringerem] Maß gerecht oder tapfer sein, und ebenso ist es möglich, mehr oder weniger gerecht oder mäßig zu handeln. Wenn sie aber das Urteil auf die 389 9. Lust Lust beziehen, dann geben sie nicht den wirklichen Grund an, wenn nämlich einige Arten der Lust gemischt, andere ungemischt sind. Und: Warum sollte die Lust sich nicht ebenso verhalten wie die Gesundheit, die als begrenzte das Mehr und Weniger zuläßt? Denn Gesundheit ist nicht in allen Menschen derselbe Gleichgewichtszustand, auch nicht in ein und demselben Menschen immer derselbe, sondern dieser Zustand bleibt bis zu einem gewissen Grad bestehen, auch wenn er nachläßt, und unterscheidet sich so in Hinsicht auf das Mehr und Weniger. So kann es sich doch auch bei der Lust verhalten. Ferner: Indem sie das Gut als fertig, Bewegungen und Entstehungen aber als unfertig ansetzen, versuchen sie, die Lust als eine Bewegung und ein Werden zu erweisen. Aber allem Anschein nach haben sie nicht einmal mit der Behauptung recht, daß sie eine Bewegung ist. Denn jeder Bewegung ist, so denkt man, Schnelligkeit und Langsamkeit eigen, und wenn ihr dies nicht als solcher zukommt - wie der Bewegung des Universums -, dann in bezug auf etwas anderes. Der Lust aber kommt keines von diesen zu. Denn man kann schnell in Freude geraten, so wie [1173b] man schnell in Zorn geraten kann, aber man kann sich nicht schnell freuen, auch nicht in bezug auf etwas anderes, wie es möglich ist, wenn man geht, wächst oder ähnlich. Es ist also zwar möglich, schnell oder langsam in den Zustand der Lust überzuwechseln, aber es ist nicht möglich, die der Lust entsprechende Tätigkeit schnell auszuüben, das heißt sich schnell zu freuen. Ferner: Wie kann die Lust ein Werden sein? Nach üblicher Meinung entsteht ja nicht aus Beliebigem Beliebiges, sondern woraus etwas entsteht, in das löst es sich auch auf. Und wovon die Lust das Werden ist, davon wäre die Unlust das Vergehen. Weiter sagen sie, die Unlust sei Mangel an dem, was der Natur gemäß ist, die Lust dagegen sei die Auffüllung damit. Doch diese Vorgänge affizieren den Körper. Wenn also die Lust die naturgemäße Auffüllung [des Körpers] ist, dann wird das, worin die Auffüllung stattfindet, auch dasjenige sein, das sich freut - also der Körper. Das leuchtet aber nicht ein. Die Auffüllung ist also nicht Lust, sondern wenn die Auffüllung geschieht, freut man sich, und wenn man sie verliert, empfindet man Unlust. Diese Auffassung scheint ihren Ursprung in denjenigen Arten der Lust und Unlust zu haben, die mit der Ernährung zu tun haben; denn wenn man dort Mangel hatte und 390 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) zunächst Unlust empfand, freut man sich an der Auffüllung. Das geschieht aber nicht bei allen Arten der Lust. Denn ohne Unlust ist die Lust am Lernen sowie bei der sinnlichen Wahrnehmung die Lust des Geruchs, viele Hör- und Sehwahrnehmungen, außerdem Erinnerungen und Hoffnungen. Wovon also sollen diese ein Werden sein? Es ist ja kein Mangel an etwas aufgetreten, das aufgefüllt werden könnte. Denen, die die tadelnswerten Arten der Lust anführen, könnte man entgegnen, daß solches nicht wirklich angenehm ist. Denn wenn etwas für Menschen, die in einer schlechten Verfassung sind, angenehm ist, dann darf man nicht denken, daß es wirklich angenehm ist, außer [gerade] für diese Menschen, sowenig wie man denken darf, daß dasjenige, was für die Kranken so ist, gesund oder süß oder bitter ist, oder auch daß diejenigen Dinge, die den Augenkranken so erscheinen, weiß sind. Oder es könnte jemand so antworten: Die Lustempfindungen seien zwar wählenswert, doch nicht die Lustempfindungen, die aus solchen Dingen kommen, ebenso wie das Reichsein wählenswert ist, aber nicht, wenn es das Ergebnis von Verrat ist, und das Gesundsein, jedoch nicht, wenn es durch Essen von allem Beliebigen erreicht wird. Oder auch: Es gibt unterschiedliche Arten der Lust. Denn die Lust am Werthaften ist eine andere als die am Niedrigen. Die Lust des gerechten Menschen kann man nicht empfinden, wenn man nicht gerecht ist, und die des Musikers nicht, wenn man nicht musikalisch ist usw. Auch die Tatsache, daß ein Freund etwas anderes als ein Schmeichler ist, scheint zu zeigen, daß die Lust kein Gut ist oder daß es verschiedene Arten der Lust gibt. Denn der eine ist, so nimmt man an, mit Blick auf ein Gut mit uns zusammen, der andere mit Blick auf die Lust; und der letztere wird getadelt, während man [1174a] den ersteren lobt als jemanden, der mit Blick auf anderes mit uns zusammen ist. Ferner: Niemand würde ein Leben wählen, in dem er sich die ganze Zeit hindurch mit dem Verstand eines Kindes an den Dingen freut, die Kindern die größte Freude machen; und niemand würde sich eine Freude wünschen, die durch das Tun von etwas ganz Niedrigem hervorgerufen wird, auch wenn er deswegen niemals Un- 391 9. Lust lust zu erwarten hätte. Ferner: Um viele Dinge würden wir uns auch dann bemühen, wenn sie keinerlei Lust bringen würden, zum Beispiel Sehen, Erinnern, Wissen, Besitz der Tugenden. Wenn diese Dinge notwendig von Lust begleitet sind, so ändert das nichts: Wir würden sie wählen, selbst wenn durch sie keine Lust entstände. Es scheint also klar zu sein, daß die Lust nicht das Gut ist und daß nicht jede Lust wählenswert ist, ferner daß einige Arten der Lust in der Tat als solche wählenswert sind, die in ihrer Art oder ihrem Ursprung von den anderen verschieden sind. Damit haben wir die gängigen Meinungen über Lust und Unlust hinreichend erörtert. Was die Lust ist und wie sie beschaffen ist, das wird deutlicher werden, wenn wir [die Frage] erneut vom Anfang her aufnehmen. Das Sehen ist, so nimmt man an, in jedem Augenblick fertig. Denn es fehlt ihm nichts, das, indem es später entsteht, seine Form fertig stellen würde. Etwas Derartigem gleicht nun auch die Lust. Denn sie ist etwas Ganzes, und zu keinem Zeitpunkt wird man eine Lust finden, deren Form erst dadurch fertig gestellt würde, daß sie über einen längeren Zeitraum andauert. Gerade deshalb ist die Lust auch keine Bewegung. Denn jede Bewegung, zum Beispiel das Hausbauen, findet in der Zeit statt und ist auf ein Ziel gerichtet, und sie ist fertig, wenn sie hergestellt hat, worauf sie zielt. Sie ist also fertig entweder in der ganzen Zeit oder zu diesem Zeitpunkt. In ihren Teilen aber und während der Zeit, die sie einnehmen, sind alle Bewegungen unfertig, und sie unterscheiden sich in der Art von der ganzen Bewegung und voneinander. Denn das Zusammensetzen der Steine ist etwas anderes als das Kannelieren der Säulen, und beides ist wieder etwas anderes als die Herstellung des Tempels. Die Herstellung des Tempels ist eine fertige Bewegung; denn es fehlt nichts im Hinblick auf die vorliegende Aufgabe. Die Herstellung des Fundaments und der Triglyphen hingegen sind unfertige Bewegungen; denn jede von beiden ist nur die Herstellung eines Teils. Die Bewegungen unterscheiden sich also in der Art, und es ist nicht möglich, zu irgendeinem Zeitpunkt eine Bewegung zu finden, die der Form nach fertig ist, sondern wenn überhaupt, dann in der ganzen Zeit. Ähnlich verhält es sich auch beim Gehen und ähnlichen Bewegungen. Wenn nämlich die Ortsbewegung Bewegung 392 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) von einem Ort zu einem anderen ist, dann gibt es auch bei ihr Unterschiede der Art nach - Fliegen, Schreiten, Springen und dergleichen. Doch es gibt nicht nur diese Unterschiede, sondern auch Unterschiede im Gehen selbst. Denn das Woher und Wohin ist nicht dasselbe beim ganzen Stadion wie bei einem Teil davon und bei einem Teil nicht dasselbe wie bei einem anderen. Ebensowenig ist es dasselbe, ob man diese oder jene Linie durchläuft. [1174b] Denn man durchläuft nicht einfach eine Linie, sondern eine Linie, die sich an einem bestimmten Ort befindet, und die eine Linie ist an einem anderen Ort als die andere. Über die Bewegung nun wurde mit Genauigkeit an anderer Stelle gesprochen. Es scheint aber, daß die Bewegung nicht zu jedem Zeitpunkt fertig ist, sondern daß die meisten Bewegungen unfertig sind und sich der Art nach unterscheiden, sofern das Woher- Wohin die Art bestimmt. Bei der Lust hingegen ist die Form zu jeder beliebigen Zeit fertig. Somit ist klar, daß Lust und Bewegung voneinander verschieden sind und die Lust eines von den ganzen und fertigen Dingen ist. Das läßt sich auch daraus entnehmen, daß man sich nicht bewegen kann, ohne sich in der Zeit zu bewegen, während man durchaus so Lust empfinden kann. Denn was im Jetzt geschieht, ist ein Ganzes. Daraus ist aber auch klar, daß die Behauptung, es gebe eine Bewegung oder ein Werden der Lust, unrichtig ist. Denn diese [Bewegung und Werden] schreibt man nicht allen Dingen zu, sondern denen, die teilbar und nicht ein Ganzes sind. Es gibt auch kein Werden des Sehens oder eines Punkts oder einer Einheit, noch gibt es überhaupt Bewegung oder Werden von diesen Dingen; also auch nicht von der Lust, denn sie ist ein Ganzes. Da nun jedes Wahrnehmungsvermögen sich in bezug auf seinen Wahrnehmungsgegenstand betätigt, und dies auf vollkommene Weise dann, wenn das Wahrnehmungsvermögen in guter Verfassung ist und sein Gegenstand der werthafteste im Bereich dieses Vermögens ist (vor allem etwas so Beschaffenes nämlich scheint die vollkommene Tätigkeit zu sein; ob wir aber sagen, daß sie tätig ist oder ihr Träger, sei dahingestellt), so wird bei jedem Wahrnehmungsvermögen diejenige Betätigung die beste sein, bei der sich das am besten verfaßte 393 9. Lust [Vermögen] auf den besten der Gegenstände in seinem Wahrnehmungsbereich bezieht. Denn es ist diese Betätigung, welche die vollkommenste und lustvollste sein wird. Bei jeder Wahrnehmung nämlich gibt es Lust, ebenso beim Denken und bei der Betrachtung. Am lustvollsten aber ist die vollkommenste Betätigung, und am vollkommensten ist die Betätigung dann, wenn ein gut verfaßtes [Vermögen, Organ, Träger] sich auf den besten der Gegenstände in seinem Bereich richtet. Und die Lust ist das, was die Tätigkeit vollkommen macht. Die Lust macht aber die Tätigkeit nicht auf dieselbe Weise vollkommen, wie der Wahrnehmungsgegenstand und die Wahrnehmung es tun, wenn sie gut sind, ganz ähnlich wie auch die Gesundheit und der Arzt nicht auf dieselbe Weise Ursache des Gesundseins sind. Daß aber Lust bei jeder Art der Sinneswahrnehmung entsteht, ist offensichtlich (denn wir sagen, daß Gesehenes und Gehörtes lustvoll sind). Es ist auch offenkundig, daß dies am meisten der Fall ist, wenn das Wahrnehmungsvermögen am besten verfaßt und in bezug auf etwas tätig ist, das ebenso beschaffen ist. Und wenn Wahrnehmungsgegenstand und Wahrnehmungsvermögen beide so beschaffen sind, wird immer Lust da sein, weil ja das, was die Wahrnehmung erzeugt, und das, was durch dieses affiziert wird, beide vorhanden sind. Es macht aber die Lust die Tätigkeit nicht auf die Weise vollkommen, wie die in der Person vorhandene Disposition es tut, sondern als eine Art hinzukommendes Ziel, wie das Blühen zur Jugend hinzutritt. Solange nun der Gegenstand des Denkens oder Wahrnehmens und ebenso das unterscheidende und betrachtende Vermögen die richtige Beschaffenheit [1175a] besitzen, wird in der Tätigkeit Lust vorhanden sein. Denn wenn beide, das Erleidende und das Bewirkende, gleichartig sind und sich zueinander auf dieselbe Weise verhalten, dann liegt es nahe, daß so auch das Ergebnis dasselbe ist. Wie kommt es nun, daß niemand ununterbrochen Lust empfindet? Vielleicht, weil man ermüdet? Alles Menschliche ist eben unfähig, beständig tätig zu sein. Daher tritt auch die Lust nicht beständig auf; denn sie begleitet die Tätigkeit. Manche Dinge bereiten uns [nur] dann Vergnügen, wenn sie neu sind, später aber nicht mehr in gleicher Weise, und zwar aus demselben Grund: Zuerst ist das Denken angeregt und mit seinen Gegenständen intensiv tätig, ganz ähn- 394 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) lich, wie man beim Sehen den Blick auf etwas fixiert, später aber ist die Tätigkeit nicht mehr so intensiv, sondern läßt nach; daher wird auch die Lust schwächer. Daß alle nach Lust streben, könnte man darauf zurückführen, daß auch alle danach streben zu leben. Nun ist Leben eine Art von Tätigkeit, und jeder ist in bezug auf die Dinge und mit den Vermögen tätig, die er auch am meisten liebt; zum Beispiel betätigt sich der musikalische Mensch durch das Hören im Bereich der Melodien, der Wißbegierige durch das Denken im Bereich der Denkgegenstände usw. Die Lust aber macht die Tätigkeiten vollkommen und damit auch das Leben, nach dem man strebt. Man strebt also mit gutem Grund nach der Lust. Denn sie macht für jeden das Leben, das etwas Erstrebenswertes ist, vollkommen. Ob wir aber wegen der Lust das Leben wählen oder wegen des Lebens die Lust, sei für jetzt dahingestellt. Denn diese beiden Dinge sind offenbar eng miteinander verbunden und lassen keine Trennung zu: Ohne Tätigkeit gibt es keine Lust, und jede Tätigkeit erhält durch die Lust ihre Vollkommenheit. Daher auch die Ansicht, daß es verschiedene Arten der Lust gibt. Denn was der Art nach verschieden ist, das wird, so meinen wir, durch Verschiedenes vollkommen gemacht (das gilt offensichtlich sowohl für natürliche als auch für künstliche Dinge, zum Beispiel Lebewesen, Bäume, Gemälde, Skulptur, Haus, Gerät); und ähnlich, so denkt man, erhalten Tätigkeiten, die der Art nach verschieden sind, ihre Vollkommenheit durch [der Art nach] Verschiedenes. Die Tätigkeiten des Denkens sind von denen der Wahrnehmung, und diese wiederum untereinander, der Art nach verschieden, und verschieden ist folglich auch die Lust, die sie vollkommen macht. Das sollte aber auch daraus deutlich werden, daß jede Lust eng mit der Tätigkeit verbunden ist, die sie vollkommen macht. Denn eine Tätigkeit wird intensiviert durch die ihr eigentümliche Lust: Wer mit Lust tätig ist, wird jedes Ding besser beurteilen und genauer bearbeiten. So werden diejenigen Menschen zu Experten in der Geometrie, die Freude am Betreiben von Geometrie haben, und sie erfassen die einzelnen Dinge besser; entsprechend werden Menschen, die die Musik oder das Bauen oder was immer lieben, jeweils bei der ih- 395 9. Lust nen eigenen Aufgabe Fortschritte machen, indem sie Freude daran haben. Die Lust intensiviert die Tätigkeit, und was etwas intensiviert, ist ihm eigentümlich. Für Dinge [1175b] aber, die der Art nach verschieden sind, ist auch das ihnen Eigentümliche von verschiedener Art. Dies dürfte noch deutlicher werden aus der Tatsache, daß Lust, die aus andersartigen Tätigkeiten kommt, den [gerade ausgeübten] Tätigkeiten hinderlich ist. Liebhaber von Flötenmusik sind nicht in der Lage, Reden zuzuhören, wenn sie gerade jemanden Flöte spielen hören, da sie sich mehr am Flötenspiel freuen als an der gerade vorhandenen Tätigkeit. Die Lust aus dem [Hören des] Flötenspiel[s] zerstört also die Tätigkeit, die die Rede zum Gegenstand hat. Und dies geschieht ebenso auch in allen übrigen Fällen, in denen man gleichzeitig in zwei Bereichen tätig ist: Die lustvollere Tätigkeit verdrängt die andere, und das umso mehr, je mehr sie sich im Hinblick auf die Lust von der anderen Tätigkeit unterscheidet, bis man schließlich in der anderen gar nicht mehr tätig ist. Daher kommt es, daß wir, wenn uns irgend etwas besonders große Freude macht, überhaupt nichts anderes tun, und daß wir, wenn uns etwas wenig befriedigt, andere Dinge tun. Diejenigen zum Beispiel, die im Theater gern Süßigkeiten essen, tun dies am meisten dann, wenn die Schauspieler schlecht sind. Da nun die einer Tätigkeit eigentümliche Lust diese sorgfältiger, dauerhafter und besser macht, eine fremde Lust sie dagegen verdirbt, liegen offensichtlich die beiden Arten der Lust weit auseinander. Denn eine fremde Lust wirkt beinahe wie eine eigentümliche Unlust. Denn die eigentümliche Unlust zerstört die Tätigkeit, etwa wenn für jemanden das Schreiben oder das Rechnen unangenehm ist und Unlust bereitet. Der eine schreibt dann nicht, und der andere rechnet nicht, weil die Tätigkeit ihm Unlust bereitet. Die eigentümliche Lust und die eigentümliche Unlust haben also entgegengesetzte Auswirkungen auf die Tätigkeit. Eigentümlich aber ist einer Tätigkeit diejenige Lust und Unlust, die sich mit der Tätigkeit als solcher einstellt. Von der fremden Lust hingegen wurde gesagt, daß sie ganz ähnlich wie die Unlust wirkt: Sie zerstört die Tätigkeit, nur nicht in der gleichen Weise. Da sich aber die Tätigkeiten durch Gutheit und Schlechtigkeit unterscheiden und einige wählenswert, andere zu meiden sind, wie- 396 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) der andere keines von beidem, verhalten sich ebenso auch die Arten der Lust. Denn zu jeder Tätigkeit gibt es eine ihr eigentümliche Lust. Die der guten Tätigkeit eigentümliche Lust nun ist gut, die der schlechten eigentümliche schlecht. Denn auch die Begierden nach werthaften Dingen sind lobenswert, die nach niedrigen Dingen aber tadelnswert. Der Tätigkeit ist aber die in ihr liegende Lust mehr eigen als die Strebung, aus der sie [die Tätigkeit] hervorgeht. Die Strebung nämlich ist sowohl der Zeit wie ihrer Natur nach begrenzt, die Lust aber ist der Tätigkeit so verwandt und so wenig von ihr abgegrenzt, daß man darüber im Zweifel sein könnte, ob nicht Tätigkeit und Lust identisch sind. Allerdings ist es unwahrscheinlich, daß die Lust Denken oder Wahrnehmen ist (das wäre seltsam); aber weil sie nicht getrennt vorkommen, halten sie manche für dasselbe. Wie also die Tätigkeiten verschieden sind, so auch die Arten der Lust. Das Sehen unterscheidet [1176a] sich vom Tasten durch Reinheit, und ebenso Gehör und Geruch vom Geschmack. Auf gleiche Weise unterscheiden sich auch die Arten der Lust, und von diesen Arten der Wahrnehmungslust unterscheiden sich die Arten der Lust, die sich auf das Denken beziehen, und diese beiden untereinander. Jedem Lebewesen ist, so die verbreitete Meinung, eine bestimmte Art der Lust eigen, so wie es auch eine eigene Funktion hat; denn die Lust, die seiner Tätigkeit entspricht, wird die ihm eigene sein. Das wird deutlich, wenn man die einzelnen Arten durchgeht: Die Lust eines Pferdes, eines Hundes und eines Menschen sind verschieden, wie Heraklit sagt, „Esel würden Streu dem Gold vorziehen“; denn für Esel bedeutet Nahrung mehr Lust als Gold. Bei Lebewesen also, die der Art nach verschieden sind, ist auch die Lust der Art nach verschieden; hingegen ist es plausibel, daß sie bei Wesen derselben Art nicht verschieden ist. Die Arten der Lust weichen aber zumindest bei den Menschen nicht wenig voneinander ab: Dieselben Dinge bereiten den einen Menschen Freude und den anderen Unlust, und sie sind den einen unangenehm und verhaßt, anderen angenehm und lieb. Dasselbe geschieht auch bei süßen Dingen. Denn dem Fiebernden und dem Gesunden erscheint nicht dasselbe als süß und dem Schwachen und dem Kräftigen nicht dasselbe als warm. Und so auch in anderen Fällen. In allen solchen Dingen aber gilt dasjenige als [wirklich] so be- 397 10. Theoretisches und politisches Leben schaffen, was dem Guten so erscheint. Wenn dieser Satz aber, wie man annehmen darf, richtig ist und wenn das Maß einer jeden Sache die Gutheit und der Gute ist, insofern er gut ist, dann wird auch die [wirkliche] Lust diejenige sein, die diesem als solche erscheint, und dasjenige [wirklich] lustvoll, woran dieser sich freut. Wenn aber das, was ihm lästig ist, einem anderen als lustvoll erscheint, so ist das nicht verwunderlich, denn Menschen können auf viele Weisen verdorben und geschädigt sein; aber diese Dinge sind nicht lustvoll, vielmehr sind sie nur lustvoll für diese Menschen und für Menschen in einer solchen Verfassung. Diejenige Lust also, die nach allgemeiner Übereinstimmung niedrig ist, darf man offenkundig nicht als Lust bezeichnen, es sei denn als solche für verdorbene Menschen. Von den Arten der Lust aber, die als gut gelten - welche ist es nun, von der wir sagen, daß sie dem Menschen eigen ist, und wie ist sie beschaffen? Oder ist dies etwa nicht aus den Tätigkeiten ersichtlich? Denn diese sind es ja, die von Lust begleitet werden. Mag nun die Tätigkeit des vollkommenen und glückseligen Menschen eine einzige sein oder mögen es mehrere sein - diejenige Lust sollte man als im eigentlichen Sinn als Lust des Menschen bezeichnen, die diese Tätigkeiten vollkommen macht. Die übrigen Arten der Lust werden Lust in einem sekundären und noch weiter nachgeordneten Sinn sein, ebenso wie die Tätigkeiten. (EN X 1-5) 10. Theoretisches und politisches Leben [1176a30] Nachdem wir nun die Besprechung der Tugenden, der Freundschaft und der Lust abgeschlossen haben, bleibt noch übrig, im Umriß das Glück zu erörtern, da wir dieses für das Ziel allen menschlichen Tuns halten. Unsere Darlegung wird kürzer sein, wenn wir das früher Gesagte wieder aufnehmen. Wir haben gesagt, daß das Glück keine Disposition ist. Denn sonst würde es auch demjenigen zukommen, der sein Leben lang schläft und das Leben einer Pflanze lebt, oder jemandem, der den schlimmsten Unglücksfällen ausgesetzt ist. Wenn das also [1176b] unbefriedigend ist und wir das Glück, wie früher ausgeführt, eher in eine Art von Tätigkeit setzen müssen und wenn ferner die Tätigkeiten teils notwendig und um anderer Dinge 398 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) willen wählenswert, teils als solche wählenswert sind, dann muß man offensichtlich annehmen, daß das Glück zu den als solchen wählenswerten Dingen gehört und nicht zu denen, die wegen etwas anderem gewählt werden. Denn dem Glück fehlt nichts; es ist autark. Als solches wählenswert ist dasjenige, bei dem man nichts über die Tätigkeit hinaus sucht. Für so beschaffen hält man die Handlungen der Gutheit. Denn das Tun des Werthaften und Guten gehört zu dem, was um seiner selbst willen wählenswert ist. Als solche wählenswert sind auch die lustvollen Arten der Vergnügung, da man sie nicht wegen anderer Dinge wählt. Sie schaden allerdings mehr, als sie nützen, da man sich ihretwegen nicht um den eigenen Körper und Besitz kümmert. Die meisten Leute, die man glücklich nennt, flüchten in solche Arten des Zeitvertreibs. Daher stehen diejenigen, die in solchen Arten des Zeitvertreibs gewandt sind, in hohem Ansehen bei den Mächtigen. Denn sie erweisen sich den Mächtigen in den Dingen als angenehm, nach denen diese streben, und die Mächtigen brauchen gerade solche Menschen. Man denkt nun, daß diese Dinge zum Glück gehören, weil die Mächtigen damit ihre Muße verbringen. Doch das Beispiel dieser Leute beweist kaum etwas. Denn nicht im Besitz der Macht liegen die Gutheit und das Denken, von denen die guten Tätigkeiten ausgehen. Und man darf nicht, nur weil diese, da sie von reiner und freier Lust nicht gekostet haben, zu den körperlichen Annehmlichkeiten fliehen, denken, die letzteren seien deswegen wählenswerter. Auch Kinder halten ja das, was von ihnen geschätzt wird, für das Beste. So ist es also verständlich, daß wie Kindern und Erwachsenen so auch Schlechten und Guten Verschiedenes schätzenswert erscheint. Wie nun des öfteren gesagt wurde, sind diejenigen Dinge schätzenswert und angenehm, die für den Guten so sind. Denn für jeden ist diejenige Betätigung am wählenswertesten, die aus seiner eigenen Disposition hervorgeht, für den guten Menschen also die Betätigung, die aus der Gutheit hervorgeht. Das Glück besteht also nicht in der Vergnügung. Es wäre ja auch seltsam, wenn das Ziel die Vergnügung wäre und wenn wir uns das ganze Leben abmühen und Übel auf uns nehmen würden um der Vergnügung willen. Denn wir wählen, so kann man sagen, alles um anderer Dinge willen, nur das Glück nicht. Dieses ist nämlich Ziel. 399 10. Theoretisches und politisches Leben Sich aber ernsthaft zu betätigen und sich anzustrengen der Vergnügung zuliebe, ist offenbar töricht und allzu kindisch. Dagegen gilt der Satz des Anacharsis als richtig: „sich vergnügen, damit man sich ernsthaft betätigen kann“. Denn die Vergnügung gleicht der Erholung; da die Menschen sich nicht ununterbrochen anstrengen können, bedürfen sie der Erholung. Die Erholung ist [1177a] daher keinesfalls Ziel, denn sie geschieht um der Tätigkeit willen. Weiter gilt, daß das glückliche Leben in der Betätigung der Gutheit besteht. Dieses Leben ist mit ernsthafter Bemühung verbunden und besteht nicht in der Vergnügung. Ferner nennen wir die ernsthaften Dinge besser als die lächerlichen und vergnüglichen und die Tätigkeiten des jeweils Besseren - sei es von den Bestandteilen der Seele oder von zwei Menschen - ernsthafter. Die Tätigkeit des Besseren ist demnach überlegen und bringt mehr Glück hervor. Weiter könnte wohl körperliche Lust jeder Beliebige genießen, ein Sklave nicht weniger als der beste Mensch. Doch niemand gibt einem Sklaven Anteil am menschlichen Glück, es sei denn, er hat auch Anteil an einer entsprechenden Lebensform. Das Glück besteht nämlich nicht in solchem Zeitvertreib, sondern in den Betätigungen der Gutheit, wie zuvor schon gesagt wurde. Wenn das Glück ein Leben in der Betätigung der Gutheit ist, dann liegt es nahe, daß es sich um die Tätigkeit im Sinn der höchsten Gutheit handelt. Diese aber wird die Gutheit des Besten sein. Mag das also das intuitive Denken oder etwas anderes sein, von dem man annimmt, daß es seiner Natur nach herrscht, führt und eine Vorstellung von den werthaften und göttlichen Dingen hat, mag es selbst etwas Göttliches sein oder das göttlichste der Dinge in uns - seine Tätigkeit im Sinn der ihm eigenen Gutheit wird das vollkommene Glück sein. Daß diese Tätigkeit eine betrachtende ist, wurde gesagt. Das dürfte sowohl mit dem früher Gesagten wie mit der Wahrheit übereinstimmen. Denn erstens: Diese Tätigkeit ist die höchste, wie auch das intuitive Denken das Höchste in uns ist und seine Gegenstände die höchsten unter den erkennbaren Dingen sind. Ferner: Sie ist die kontinuierlichste Tätigkeit, da wir eher kontinuierlich betrachten können als irgendeine andere Handlung verrichten. 400 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Weiter: Wir glauben, daß dem Glück Lust beigemischt sein muß. Unter den Tätigkeiten, die aus der Gutheit hervorgehen, ist aber nach übereinstimmender Auffassung diejenige, in der sich die Weisheit betätigt, die lustvollste. Jedenfalls besteht die Meinung, daß die Liebe zur Weisheit Freuden von wunderbarer Reinheit und Dauerhaftigkeit gewährt, und natürlich verbringen diejenigen, die [schon] wissen, ihre Zeit lustvoller als die, die [erst] nach Wissen suchen. Weiter: Was wir „Autarkie“ genannt haben, wird sich wohl am meisten bei der betrachtenden Tätigkeit finden. Denn die lebensnotwendigen Dinge braucht der Weise ebenso wie der Gerechte und die Träger der übrigen Tugenden. Wenn sie aber mit diesen Dingen hinreichend ausgestattet sind, braucht der Gerechte noch Menschen, denen gegenüber und mit denen zusammen er gerecht handeln kann, und dasselbe gilt auch für den Mäßigen, den Tapferen und alle Übrigen. Der Weise hingegen kann auch dann betrachten, wenn er für sich ist, und je weiser er ist, umso mehr. Vielleicht ist es besser, wenn er mit anderen zusammen tätig ist, aber dennoch ist [1177b] er der am meisten autarke. Weiter dürfte gelten, daß allein diese Tätigkeit um ihrer selbst willen geliebt wird. Denn nichts entsteht aus ihr außer dem Betrachten, während wir aus den Tätigkeiten des Handelns außer der Handlung mehr oder weniger Gewinn haben. Weiter nimmt man an, daß das Glück in der Muße besteht. Denn wir sind geschäftig, um Muße zu haben, und führen Krieg, um in Frieden zu leben. Für die handlungsbezogenen Tugenden nun liegt die Betätigung im Bereich der politischen und kriegerischen Angelegenheiten. Handlungen, die mit diesen Dingen zu tun haben, gelten aber als nicht mit der Muße vereinbar, die kriegerischen Handlungen schon gar nicht (denn niemand wählt das Kriegführen oder rüstet zum Krieg um des Kriegführens willen, und man wird einen Menschen, der seine Freunde zu Feinden macht, damit Kampf und Mord geschehen, für gänzlich blutrünstig halten). Doch auch der Tätigkeit des Politikers wird die Muße fehlen. Sie zielt - neben der politischen Tätigkeit selbst - darauf, Macht und Ehrungen zu erhalten oder jedenfalls das eigene Glück und das der Mitbürger zu erreichen - ein Glück, das vom politischen Handeln verschieden ist und das wir of- 401 10. Theoretisches und politisches Leben fensichtlich als etwas [vom politischen Leben] Verschiedenes suchen. Wenn nun unter den Handlungen aus den Tugenden die politischen und kriegerischen Handlungen an Werthaftigkeit und Größe hervorragen, diese aber ohne Muße sind, nach einem bestimmen Ziel streben und nicht ihrer selbst wegen wählenswert sind, wenn andererseits gilt, daß sich die Tätigkeit der intuitiven Vernunft als eine betrachtende durch ihre Ernsthaftigkeit auszeichnet, daß sie nach keinem weiteren Ziel außer ihr selbst strebt, daß sie eine ihr eigentümliche Lust besitzt (welche die Tätigkeit verstärkt), daß ferner die Autarkie sowie die Muße und das Freisein von Mühe, soweit es dem Menschen möglich ist, und alles andere, was dem Glückseligen zugeschrieben wird, offensichtlich mit dieser Tätigkeit verbunden sind - wenn das so ist, dann wird das vollkommene Glück des Menschen also diese Tätigkeit sein, falls sie die vollständige Länge eines Lebens einnimmt; denn nichts, was zum Glück gehört, ist unvollständig. Ein so beschaffenes Leben aber ist wohl höher, als es dem Menschen entspricht. Denn so wird er nicht leben, insofern er Mensch ist, sondern insofern etwas Göttliches in ihm vorhanden ist. Und in dem Maß, in dem dieses dem Zusammengesetzten überlegen ist, in dem Maß ist auch seine Tätigkeit derjenigen überlegen, die aus der anderen Gutheit [der des Charakters] hervorgeht. Wenn also die intuitive Vernunft im Vergleich mit dem Menschen göttlich ist, dann ist auch das Leben in der Betätigung dieser Vernunft göttlich im Vergleich mit dem menschlichen Leben. Doch darf man nicht denen folgen, die raten, man solle als Mensch an menschliche Dinge denken und als Sterblicher an sterbliche. Vielmehr müssen wir uns, soweit wir es vermögen, unsterblich machen und alles tun, um in Übereinstimmung mit dem Höchsten in uns zu leben. Denn auch wenn [1178a] dies klein im Umfang ist, überragt es doch alles umso mehr an Vermögen und Wert. In der Tat könnte man denken, daß ein jeder Mensch gerade dies ist, da es das Leitende und Beste unter seinen Bestandteilen ist. Es wäre daher seltsam, wenn der Mensch nicht sein eigenes Leben wählte, sondern das eines anderen Wesens. Das zuvor Gesagte paßt auch diesmal: Was einem Lebewesen von Natur eigentümlich ist, das ist jeweils für es das Beste und Lustvollste. Für den Menschen ist dies 402 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) also das Leben in der Betätigung der intuitiven Vernunft, wenn der Mensch gerade diese am meisten ist. Dieses Leben ist daher auch das glücklichste. In zweiter Linie glücklich ist das Leben im Sinn der anderen Gutheit [der des Charakters]. Denn die Betätigungen dieser Gutheit sind menschlicher Art: Das Gerechte, das Tapfere sowie das übrige, worin sich die Tugenden betätigen, üben wir gegeneinander aus, indem wir im vertraglichen Umgang, in Notlagen, in Handlungen aller Art und bei den Affekten das beachten, was einem jeden angemessen ist. Dies alles aber sind offenbar menschliche Dinge. Nach gängiger Meinung kommt einiges davon auch vom Körper her, und die Gutheit des Charakters ist vielfach mit den Affekten verknüpft. Auch die Klugheit ist mit der charakterlichen Gutheit verbunden, und letztere mit der Klugheit, da ja die Ausgangspunkte der Klugheit den charakterlichen Tugenden entsprechen und die Richtigkeit der charakterlichen Tugenden der Klugheit entspricht. Da diese auch mit den Affekten verbunden sind, gehören sie wohl zum zusammengesetzten Lebewesen. Die Tugenden des zusammengesetzten Wesens aber sind menschliche. Somit sind auch das Leben in ihrer Betätigung und das Glück, das hierin besteht, menschlich. Die Tugend des intuitiven Denkens hingegen ist abgetrennt. So viel sei über sie gesagt. Denn genauer zu sein würde über unsere Absichten hinausgehen. Man sollte aber auch annehmen, daß die Tugend des intuitiven Denkens in geringem Maß der äußeren Ausstattung bedarf oder [doch] in geringerem Maß als die Tugenden des Charakters. Das Bedürfnis nach den lebensnotwendigen Dingen mag bei beiden, und bei beiden in gleichem Maß, bestehen - auch wenn der Politiker sich mehr um den Körper und dergleichen bemüht -; es wird hier nämlich wenig Unterschied bestehen. Was ihre jeweiligen Tätigkeiten betrifft, wird es jedoch große Unterschiede geben. Der Freigebige wird Geld brauchen, um Freigebiges zu tun, und gewiß braucht es auch der Gerechte, um Empfangenes zurückzugeben (denn [bloße] Wünsche sind nicht sichtbar, und auch Menschen, die nicht gerecht sind, geben vor, Gerechtes tun zu wollen). Der Tapfere braucht Kraft, wenn eine Betätigung seiner Tugend zum Erfolg führen soll, und der 403 10. Theoretisches und politisches Leben Mäßige bedarf einer passenden Gelegenheit. Denn wie sonst wird sichtbar sein, daß jemand diese oder eine der anderen Tugenden hat? Allerdings ist strittig, ob für die Tugend der Vorsatz oder die Handlungen wichtiger sind, da sie nach allgemeiner Auffassung in beidem [1178b] liegt. Im vollkommenen Fall wird sie offensichtlich aus beidem bestehen. Für Handlungen braucht man viele Dinge, und umso mehr, je größer und werthafter die Handlungen sind. Im Gegensatz dazu braucht der Betrachtende keines von diesen Dingen, jedenfalls nicht für seine Tätigkeit. In der Tat sind sie, um es so zu sagen, sogar hinderlich, wenigstens was die Betrachtung betrifft. Insofern er aber ein Mensch ist und mit vielen zusammenlebt, wünscht er die Handlungen der charakterlichen Gutheit zu tun. Er braucht also solche Dinge, um ein menschliches Leben zu leben. Daß das vollkommene Glück eine Art von betrachtender Tätigkeit ist, wird auch aus Folgendem deutlich. Wir nehmen ja an, daß die Götter im höchsten Grad selig und glücklich sind. Doch welche Arten von Handlungen soll man ihnen zuschreiben? Gerechte Handlungen? Aber werden die Götter nicht lächerlich erscheinen, wenn sie Verträge schließen, hinterlegte Güter zurückgeben oder ähnliches? Dann also tapfere Handlungen? Dann würden die Götter furchterregenden Situationen standhalten und Gefahren auf sich nehmen, weil das werthaft ist? Oder freigebige Handlungen? Doch wem sollen sie geben? Es wäre seltsam, wenn die Götter auch Geld oder etwas Derartiges hätten. Und was sollten ihre mäßigen Handlungen sein? Ist ein solches Lob nicht plump, da sie keine schlechten Begierden haben? Alles, was mit Handlungen [der Tugenden] zu tun hat, dürfte sich, wenn wir es durchgehen, als trivial und der Götter unwürdig erweisen. Und doch nehmen alle an, daß sie leben und daher tätig sind; denn man nimmt ja nicht an, daß sie schlafen wie Endymion. Wenn man nun von einem lebenden Wesen das Handeln wegnimmt und mehr noch das Herstellen, was bleibt dann außer der Betrachtung? Daher wird die Tätigkeit des Gottes, die an Seligkeit herausragt, eine betrachtende sein. Auch unter den menschlichen Tätigkeiten also wird diejenige, die dieser am nächsten verwandt ist, das größte Glück mit sich bringen. Ein Indiz hierfür ist auch, daß die übrigen Lebewesen am Glück nicht teilhaben, da ihnen diese Art von Tätigkeit vollständig fehlt. 404 IV. Ethik (Nikomachische Ethik) Denn für die Götter ist das Leben insgesamt glückselig, für die Menschen, soweit eine Ähnlichkeit mit dieser Tätigkeit vorhanden ist; von den anderen Lebewesen dagegen ist keines glücklich, da sie ja in keiner Weise an der Betrachtung teilhaben. So weit also die Betrachtung reicht, so weit reicht auch das Glück, und denen das Betrachten in höherem Grad zukommt, denen kommt auch das Glücklichsein in höherem Grad zu, nicht akzidentell, sondern kraft der Betrachtung. Diese nämlich ist als solche schätzenswert. Daher wird also das Glück eine Art von Betrachtung sein. Der Glückliche wird aber, da er ein Mensch ist, auch der äußeren günstigen Umstände bedürfen. Denn unsere Natur ist, was das Betrachten betrifft, nicht autark, vielmehr muß auch der Körper gesund sein, und es muß Nahrung und sonstige Pflege zur Verfügung stehen. [1179a] Allerdings darf man, wenn es nicht möglich ist, ohne die äußeren Güter glückselig zu werden, dennoch nicht meinen, daß jemand, um glücklich zu sein, viele und große Dinge braucht. Denn die Autarkie liegt nicht am Übermaß, auch das Handeln nicht; man kann das Werthafte tun, auch ohne über Land und Meer zu herrschen. Auch mit bescheidenen Mitteln kann man nämlich in Ausübung der Tugend handeln. Das kann man deutlich sehen; Privatleute handeln, so denkt man, nicht weniger angemessen als Machthaber, sondern eher mehr. Es genügt, wenn man gerade so viel hat [wie nötig]. Denn glücklich wird das Leben desjenigen sein, der sich im Sinn der Tugend betätigt. Auch Solon hat die Glücklichen sicher richtig beschrieben, wenn er sagte, daß sie, auf bescheidene Weise mit äußeren Gütern ausgestattet, dennoch die - nach seiner Meinung - werthaftesten Handlungen getan und auf mäßige Weise gelebt haben. Denn man kann mit bescheidenem Besitz handeln, wie man soll. Auch Anaxagoras scheint den Glücklichen weder für reich noch für mächtig gehalten zu haben, wenn er sagt, daß er sich nicht wundern würde, wenn der Glückliche den meisten Menschen seltsam erschiene. Denn diese urteilen nach äußeren Kriterien, da sie nur diese wahrnehmen. Die Meinungen der Weisen scheinen also mit unseren Ausführungen übereinzustimmen. 405 10. Theoretisches und politisches Leben Solche Meinungen haben sicher eine gewisse Überzeugungskraft, doch wird die Wahrheit im praktischen Bereich aus den Taten und dem Leben beurteilt; denn diese sind hier entscheidend. Man muß also das zuvor Gesagte untersuchen, indem man es auf die Taten und das Leben anwendet, und wenn es mit den Taten übereinstimmt, müssen wir es akzeptieren, wenn nicht, für bloße Worte halten. Wer aber in der Betätigung der intuitiven Vernunft lebt und diese pflegt, der scheint sowohl in der besten Verfassung zu sein als auch am meisten von den Göttern geliebt zu werden. Wenn sich nämlich die Götter überhaupt irgendwie um die menschlichen Angelegenheiten kümmern, wie man annimmt, dann dürfte es auch plausibel sein, daß sie sich an dem freuen, was das Beste und ihnen Verwandteste ist (das aber wird die intuitive Vernunft sein), und daß sie denen, die dieses am meisten lieben und ehren, Gutes zurückgeben, insofern sie sich um die Dinge kümmern, die den Göttern lieb sind, und sowohl richtig wie werthaft handeln. Daß all dies vor allem auf den Weisen zutrifft, ist nicht zu übersehen. Er wird daher von den Göttern am meisten geliebt. Eben derselbe ist vermutlich auch der glücklichste. Auch so gesehen ist es also der Weise, der im höchsten Maß glücklich sein wird. (EN X 6-9) V. Politik Einleitung Das Nachdenken über die Politik, einschließlich über Wirtschaft, Recht und Staat, beginnt lange vor Aristoteles. Die erste im vollen Sinn diskursive Untersuchung dieser Gegenstände verdanken wir aber ihm. Der zuständige Text, die Politik, ist ein Meisterwerk der Politischen Philosophie und Wissenschaft. Erst im 13. Jahrhundert wird er ins Lateinische übersetzt, dann aber rasch weithin bekannt und führt zur Ausbildung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin, der Politikwissenschaft. Für Aristoteles bilden Ethik und Politik eine Einheit, die den Titel hê politikê, die Politische (Untersuchung, Philosophie bzw. Wissenschaft) trägt. Die Einheit ergibt sich aus dem Gegenstand, den menschlichen Angelegenheiten, zusätzlich aus dem gemeinsamen Leitbegriff, der Eudaimonie, nicht zuletzt aus dem Interesse an einer wahrhaft praktischen Philosophie. Trotzdem werden Ethik und Politik in getrennten Schriften und als relativ selbständige Disziplinen abgehandelt. Im Gegensatz zu Platon, insbesondere dessen Dialog Politeia, setzt Aristoteles die Untersuchung der (politischen) Institutionen vom Blick der Ethik auf die verantwortliche Person ab. Weder die Charaktertugend noch die Klugheit sind für Aristoteles ein Naturprodukt, sondern Haltungen (hexeis), die der Mensch durch Lob und Tadel, durch Vorbild und Nachahmen sowie durch Erziehung und Gewöhnung erwirbt. Der Erfolg dieses Lernprozesses hängt nun nicht unwesentlich von einer richtig geordneten institutionellen Umgebung, von einer politisch-sozialen Gemeinschaft mit guten Gesetzen und Sitten, ab. So weist die Ethik aus sich heraus auf die Politik. Umgekehrt ist die Politik an die Ethik zurückgebunden; denn die politische Gemeinschaft dient dem gelungen-glücklichen Leben ihrer Mitglieder. Die Gesetze, als Verfassungsform verstanden, geben der Gemeinschaft ihre angemessene und dauerhafte Form. Und als Richtschnur individuellen Handelns erziehen sie die einzelnen zu loyalen, im Falle guter Gesetze sogar zu tugendhaften Bürgern. Aufgrund dieser wechselseitigen Ver- 408 V. Politik schränkung kann Aristoteles beide Disziplinen unter dem gemeinsamen Titel der Politischen Philosophie zusammenfassen. Trotzdem bleibt ein wesentlicher Unterschied: Während die Ethik das politische Leben aus der Sicht des Handelnden untersucht, erforscht es die Politik unter der Perspektive der Institutionen und Gesetze, insbesondere der Verfassungen. Nach ihrer Wiederentdeckung im 13. Jahrhundert erhält Aristoteles’ Politik eine ungewöhnlich starke, über lange Zeiträume sogar kanonische Bedeutung. Viele der Lehrstücke bleiben über das Mittelalter und die frühe Neuzeit bis zur amerikanischen und französischen Revolution wirksam, nicht wenige sogar darüber hinaus: daß die Polis eine Gemeinschaft ist, die einem Gut (agathon) dient; die Betonung der Mehrdeutigkeit von „Herrschaft“ (Pol. I 1); die Kernaussage einer Politischen Anthropologie: daß der Mensch von Natur aus ein politisches Lebewesen ist (I 2); die Anfänge einer Wirtschaftstheorie (I 3-13) mit einer folgenreichen Kritik am Zinswesen und an Wuchergeschäften (I 10, 1258a38ff.) und einer nicht minder folgenreichen Rechtfertigung der Sklaverei; eine kritische Diskussion zahlreicher Verfassungen, angefangen mit Platons Politeia und Nomoi (II); das Vorbild einer vergleichenden Gestaltlehre (Morphologie) des Politischen (III-IV), einschließlich des Gedankens von legitimen und illegitimen Staatsformen; eine Theorie der Demokratie, die auch über Folgelasten nachdenkt (VI 1-5); die Grundzüge einer Politischen Soziologie einschließlich einer Pathologie des Politischen (V), nicht zuletzt der Entwurf eines „Staates nach Wunsch“ (vgl. Pol. II 1, 1260b28f.), wo Aristoteles sich mit der Größe und Beschaffenheit des Landes und dessen Verbindung zum Meer befaßt, wo er die sozialen Stände, das Heiratsalter und die Erziehung, selbst die Landverteilung erörtert. Die Politik ist zwar kein „Werk aus einem Guß“: Im letzten Buch bricht der Text abrupt ab; eine Detailanalyse stößt auf eine Reihe von Unterschieden, die manche Interpreten sogar als Widersprüche auslegen; und das ideale Gemeinwesen wächst nicht organisch aus der stark empirischen Erörterung der tatsächlichen demokratischen und oligarchischen Staatsverfassungen (Bücher IV - VI) heraus. Eine weitgehende Einheit bildet der Text aber doch. 409 Einleitung „Von Natur aus politisch“ Der Beginn der Politik (I 2) enthält jene beiden Grundaussagen über den Menschen, die geradezu Standardformeln des menschlichen Selbstverständnisses geworden sind: der Mensch als von Natur aus politisches Lebewesen (physei politikon zôon) und als vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen (zôon logon echon). Mit der ersten Bestimmung behauptet Aristoteles nicht, der Mensch sei von Geburt an ein politisches Lebewesen oder werde es aufgrund rein biologischer Entwicklungsprozesse. Er meint auch nicht (nur), der Staat sei zur Korrektur eines Notstandes, des tendenziellen Krieges aller gegen alle, erforderlich. Vielmehr behauptet er, der Mensch realisiere seine volle Wesensform, seine grundlegenden Intentionen, Begabungen und Chancen, erst in einer Polis: Arbeitet man, mit äußeren Merkmalen beginnend, mehr und mehr zum Kern sich vor, so erscheint die Polis als eine räumliche Gemeinschaft; sie dient dem Schutz der Bürger, der Schlichtung inneren Streits sowie der Durchführung und Sicherung des Handels. Vor allem aber soll sie dem Lebensvollzug der einzelnen in der Gemeinschaft mit ihresgleichen auf gute und gerechte Weise Wirklichkeit geben (Pol. III 9). Zur Begründung der politischen Natur, also zur Rechtfertigung dieses Grundwortes einer politischen Anthropologie und zugleich eines Grundmusters politischer Legitimation, des Kooperationsmodells, führt Aristoteles vor allem zwei Argumentationsreihen an. In der ersten Argumentationsreihe beruft er sich sowohl auf biologische als auch auf biologisch-ökonomische Gründe, nämlich auf die Gemeinschaft von Mann und Frau um der Fortpflanzung und auf die Kooperation von Herrn und Knecht um des Überlebens beider willen. Die zweite Argumentationsreihe greift auf die andere anthropologische Grundformel zurück: Auch aus Gründen einer (praktischen) Vernunft (logos) sind die Menschen auf ein Zusammenleben mit ihresgleichen angewiesen. Denn dank ihrer Sprach- und Vernunftbegabung verstehen sie nicht bloß wie schon Tiere, momentane Empfindungen von Schmerz und Leid zu äußern. Kraft des Logos können sie auch Nutzen und Schaden erkennen, sind daher zu Interessengemeinschaften wie Handels- und Kriegsbündnissen befähigt. Darüber hinaus können sie Vorstellungen von einem schlechthin gemeinsamen Interesse, dem Guten und Gerechten, bilden. 410 V. Politik Infolgedessen besagt die politische Natur, daß es den Menschen letztlich nicht auf Selbstbehauptung und Expansion, nicht auf Unterdrükkung und Herrschaft, wohl aber auf Verständigung mit ihresgleichen ankommt. Und genau dafür erreicht das Zusammenleben in einer Gemeinschaft von Gut und Schlecht sowie von Recht und Unrecht, also in der Polis, eine strukturelle Vollendung. Zweifellos sind größere politische Einheiten denkbar und von den Griechen auch ansatzweise, etwa als Kultgemeinschaften oder Militärbündnisse, realisiert worden. Aber grundsätzlich mehr als eine Nutzen- und Rechtsgemeinschaft sind auch die größeren Einheiten nicht. Elementare Ungleichheiten Obwohl Aristoteles die Menschen durch Sprach- und Vernunftbegabung definiert, räumt er ihnen nicht aufgrund dieser Begabung eine elementare rechtliche und politische Gleichheit ein. Im Gegenteil rechtfertigt er die bestehenden Ungleichheiten seiner Zeit, die fehlende Gleichberechtigung der Sklaven, der Barbaren und der Frauen. Während beispielsweise der Sophist Alkidamas die Rechtmäßigkeit der Sklaverei anzweifelt, behauptet Aristoteles, es gebe Sklaven nicht nur bia, aufgrund von Gewalt, sondern auch physei: von Natur aus, also mit gutem Grund (Pol. I 4-7). Das darin liegende Ärgernis mildert sich bei näherer Betrachtung zwar ab. Die Beziehung vom Herrn zum Sklaven soll nämlich dem wechselseitigen Wohlergehen dienen (I 2, 1252a30-34; I 5-7 und 13), ist also auf Gegenseitigkeit und mit ihr auf Gerechtigkeit angelegt: Von Natur aus Herr ist, wer dank seiner intellektuellen Fähigkeit Vorsorge für sein Leben treffen kann, von Natur aus Sklave, wer mangels dieser Fähigkeit, also aufgrund einer angeborenen Behinderung, auf jemanden, der für ihn mitdenkt, angewiesen ist, überdies einen Körper hat, der für die „Beschaffung des Notwendigen“ geeignet ist (I 5, 1254b22ff.). Hinsichtlich der Frauen sind Aristoteles’ Aussagen nicht ganz einheitlich. Einerseits erklärt er, die Frau sei selbst hinsichtlich der Tugend den Männern unterlegen (Pol. I 13, 1260a20-24), außerdem werde das gesamte Haus monarchisch regiert (I 7, 1255b19), was die Ehefrau als Teil des Hauses einschließt. Andererseits schwächt er in der Ethik den Vorrang zu einer nur aristokratischen Herrschaft ab und spricht überdies von 411 Einleitung einer Arbeitsteilung (VIII 12, 1160b32f.; VIII 13, 1161a22f.). In Pol. I 12-13 wird die Beziehung sogar als „politisch“ (politikos) bestimmt, mithin als eine Herrschaft, die nach Gleichheit und Unterschiedslosigkeit strebt. Durch die Hintertür eines Komparativs führt Aristoteles aber die Ungleichheit wieder ein; der Mann sei zwar nicht allein, jedoch in einem höheren Maß zur Führung geeignet (hêgemonikôteron: Pol. I 12, 1259b1ff.). Legitime Herrschaft Daß die Gesellschaft eine archê braucht, eine Herrschaft oder Regierung, zieht Aristoteles nirgendwo in Zweifel. Ein Grund dürfte darin liegen, daß er beim Ausdruck archê weniger auf den Zwangscharakter als auf das Moment von Ordnung und Lenkung achtet, das Fehlen der archê daher vornehmlich mit Unordnung, Führungslosigkeit und Ungesetzlichkeit gleichsetzt. Herrschaftsfreiheit gilt ihm für so wenig erstrebenswert wie ein Schiff, das ohne Kapitän fährt. So selbstverständlich für Aristoteles das Bestehen von Herrschaft ist, so wenig selbstverständlich ist ihm aber die nähere Art. Eine legitime Herrschaft ist fünffach begrenzt: Die erste Grenze ist in Aristoteles‘ differenziertem Herrschaftsbegriff enthalten. Ihm zufolge macht es einen Unterschied, ob man eine Polis lenke, als König herrsche, einem Haus vorstehe oder Sklaven befehlige (Pol. I 1, 1252a7-13). Während der Hausherr, griechisch despotês, der Despot also, über Unfreie herrscht, regiert der Polis-Herrscher über Freie. Hier wird die Herrschaft vom Bürger her definiert und zugleich begrenzt: Legitime Herrschaft richtet sich auf Freie, mithin auf Menschen, die sich selbst gehören und um ihrer selbst willen leben (Pol. I 7, 1255b20f.; vgl. Met. I 2, 982b26). Die zweite Begrenzung gerechter Herrschaft besteht in der „Rule of Law“, der Herrschaft des Gesetzes (III 11, 1282b2f.): Durch allgemeine und für die Betreffenden gleich anzuwendende Bestimmungen wird jene Rechtsgleichheit geschaffen, die der Gefahr entgegenwirkt, daß die Menschen, weil sie lieber nach ihrem eigenen Wohl handeln, leicht zu Tyrannen werden (EN V 10, 1134a35-b2). Schon Aristoteles unterscheidet drei öffentliche Gewalten (Pol. IV 14-16), womit er den Gedanken der Gewaltenteilung vorwegnimmt und eine dritte Herrschaftsbegrenzung benennt (Pol. IV 14, 1297b37ff.): Die 412 V. Politik beratende Instanz entspricht in etwa der Legislative, denn sie entscheidet über Krieg und Frieden, über Bündnisse und Verträge, über Gesetze, die Wahl und Rechenschaft der Beamten (EN VI 8, 1141b32f. führt die Gesetzgebung eigens und im Unterschied zur Beratung ein). Die Exekutive liegt bei den Beamten; und als drittes gibt es die Rechtsprechung. Staatsformenlehre Aristoteles’ Politik wäre nicht zu einem der wichtigsten staatsphilosophischen und politikwissenschaftlichen Werke geworden, wenn sie nur den Ursprung und Zweck des Staates und die Herrschaftsbegrenzung untersucht hätte. Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist die Lehre der drei guten und der drei entarteten Staatsformen (Pol. III 6-8, differenzierter in Buch IV). Darin ist eine vierte Art der Herrschaftsbegrenzung enthalten: Als gut und legitim gilt eine Verfassung, die dem Gemeinwohl (to koinê sympheron) dient, als schlecht dagegen jene, die bloß die Interessen der Herrschenden verfolgt. Je nachdem, ob einer, ob wenige oder ob viele, sogar alle an den Staatsgeschäften teilnehmen, gibt es als positive Formen das Königtum, die Aristokratie und den Verfassungsstaat (Politie). Auf der negativen Seite stehen die Tyrannis, die bloß die Interessen des Alleinherrschers besorgt, die Oligarchie, die sich auf die Interessen der Wohlhabenden, und die Demokratie, die sich auf die der Armen konzentriert. Weil bei Aristoteles dêmos die gemeine, sich an keine Gesetze bindende Masse bezeichnet, entsprechen unsere rechtsstaatlichen Verfassungen weniger dem, was Aristoteles die Demokratie, als dem, was er den „Verfassungsstaat“ (politeia) nennt. Verbindet man die beiden vorrangigen Bestimmungen, die Abgrenzung gegen die Despotie und die Verpflichtung aufs Gemeinwohl, so schließt die legitime Herrschaft sowohl politische Unterdrückung („Regierung über Unfreie“) als auch Ausbeutung („Herrschaft zum Eigenwohl des Herrschenden“) aus. Ein so anspruchsvolles Prinzip wie die Gleichberechtigung aller Menschen kennt Aristoteles hingegen nicht: Weder Sklaven noch Frauen und Kinder, in der idealen Polis nicht einmal die Bauern, Handwerker und Kaufleute sind Menschen mit vollen Rechten. Schließlich zieht Aristoteles bei den gemeinwohlorientierten Staatsformen die Herrschaft der Vielen, den „Verfassungsstaat“, die Politie, jenen 413 Einleitung Verfassungen vor, in denen einer, der König, oder einige wenige, die Aristokraten, regieren. (Merkwürdigerweise gilt in EN VIII 12, 1160a32-36 die Politie bzw. Timokratie als schlechter denn Monarchie und Aristokratie.) Die Politie ist die politische Verfassung tout court, die „politische Polis“ oder der „Bürgerstaat“, in dem sich die Bürgerschaft durch die politische Mitwirkung im emphatischen Sinn, durch die Beteiligung an der Regierung, definiert. Vermittelt über die lateinische Übersetzung res publica, Republik, ist die Politie in allen europäischen Sprachen als ein Ideal gegenwärtig, das jede Verfassung ausschließt, die die Macht- und Amtsbefugnisse auf einen einzelnen oder eine Gruppe beschränkt. Ohne Zweifel ist Aristoteles’ Politik in mehrfacher Hinsicht zeitgebunden. Beispielsweise hat sie eine relativ kleine und ziemlich homogene Politik der Einheit, die Griechische Stadtrepublik, vor Augen. Auch wirft sie keinen Blick auf größere Einheiten, weder auf die damals bestehenden gesamtgriechischen Gemeinsamkeiten noch gar auf eine die Staatengrenzen überschreitende Ordnung. Die Grundbehauptung aber, man könne ein Leben der vollen Aktualisierung des menschlich Guten nur in einem geeigneten, vom Recht bestimmten institutionellen Rahmen führen, bleibt bis heute gültig. Nicht weniger überzeugend ist die These, für ein gutes und gerechtes Leben seien die Verpflichtung der staatlichen Grundordnung auf das Gemeinwohl sowie die politische Verständigung von Freien und Gleichen über Recht und Unrecht unabdingbar. 414 V. Politik 1. Von Natur aus politisch [1252a1] Alles, was Staat heißt, ist ersichtlich eine Art von Gemeinschaft, und jede Gemeinschaft bildet sich und besteht zu dem Zweck, irgendein Gut zu erlangen. Denn um dessentwillen, was ihnen ein Gut zu sein scheint, tun überhaupt alle alles, was sie tun. Wenn nun aber sonach eine jede Gemeinschaft irgendein Gut zu erreichen strebt, so tut dies offenbar ganz vorzugsweise und trachtet nach dem vornehmsten aller Güter diejenige Gemeinschaft, welche die vornehmste von allen ist und alle anderen in sich schließt. Dies ist aber der sogenannte Staat und die staatliche Gemeinschaft. Diejenigen nun aber, die da meinen, daß die Aufgabe des Staatsmanns, des Königs, des Hausverwalters und des Herrn eine und dieselbe sei, haben unrecht. Sie gehen nämlich von der Ansicht aus, daß nur die größere oder geringere Zahl der Beherrschten und nicht die Art der Gemeinschaft hier den Unterschied mache, so daß hiernach, wenn einer nur wenigen zu gebieten hat, er Herr, wenn mehreren, Hausverwalter, und wenn noch mehreren, Staatsmann oder König sein würde, indem nach ihrer Meinung ein großes Haus und ein kleiner Staat in nichts verschieden sind. Und auch zwischen dem Staatsmann und dem König machen sie keinen Unterschied der Art, sondern nur den, daß, wenn einer für sich allein an der Spitze steht, er König, wenn er aber nach den Grundsätzen der nämlichen Wissenschaft den Staat leitet und dabei im Regieren und Regiertwerden mit anderen abwechselt, er Staatsmann sei. Daß dies falsch ist, wird klar, wenn wir die Untersuchung nach unserer gewohnten Methode führen. Wie man nämlich auch sonst überall das Zusammengesetzte bis zum Einfachen hin teilen muß - denn dies ergibt eben die kleinsten Teile des Ganzen - so muß man auch beim Staat verfahren; und wenn wir seine Bestandteile untersuchen, so werden wir auch in bezug auf die in Rede stehenden Begriffe wohl zu klarer Einsicht darüber gelangen, wodurch sie sich voneinander unterscheiden und ob es möglich ist, jeden derselben wissenschaftlich festzulegen. Die beste Methode dürfte hier wie bei anderen Problemen sein, daß man die Dinge in ihrem fortschreitenden Wachstum ins Auge faßt. Vor allem ist es eine Notwendigkeit, daß, was nicht ohne einander bestehen kann, 415 1. Von Natur aus politisch sich paarweise miteinander vereint, einerseits das Weibliche und Männliche um der Fortpflanzung willen (und zwar nicht aus bewußter Absicht, sondern geradeso, wie auch den Tieren und Pflanzen von Natur der Trieb innewohnt, ein anderes, ihnen gleiches Wesen zu hinterlassen), andererseits das von Natur Regierende und das von Natur Regierte um der Lebenserhaltung willen; denn was vermöge seines Verstandes vorauszuschauen vermag, ist von Natur das Regierende und Herrschende, was aber nur vermöge seiner körperlichen Kräfte das Vorgesehene auszurichten imstande ist, ist von Natur das Regierte und Dienende, daher denn auch Herr und Sklave das nämliche Interesse haben. Von Natur nun [1252b] ferner sind Weib und Sklave geschieden, denn die Natur verfährt nicht so karg, daß sie solche Gebilde schüfe wie die Messerschmiede das delphische Messer, sondern für jeden besonderen Zweck auch immer ein besonderes, weil so jedes Werkzeug die höchste Vollendung erhält, wenn es nicht zu vielen Zwecken, sondern nur zu einem einzigen dient. Wenn aber bei den Barbaren Weib und Sklave dieselbe Stellung haben, so liegt der Grund hiervon darin, daß ihnen überhaupt dasjenige fehlt, was von Natur zum Regieren bestimmt ist, vielmehr die Gemeinschaft hier nur die Verbindung einer Sklavin mit einem Sklaven ist. Daher sagen denn auch unsere Dichter: „Ja, mit Fug den Griechen sind die andern untertan“, um damit auszudrücken, daß der Barbar und der Sklave von Natur dasselbe sind. Aus diesen beiden Gemeinschaften entsteht nun zunächst das Haus, und mit Recht sang Hesiod: „Sorge zuerst für ein Haus, für den Pflugstier und für ein Weib auch“, denn der Ochse vertritt bei den Armen die Stelle des Hausknechts. Die für das gesamte tägliche Leben bestehende Gemeinschaft ist also naturgemäß das Haus, dessen Glieder Charondas Brotkorbgenossen, Epimenides der Kreter aber Krippengenossen nennt. Diejenige Gemeinschaft aber, welche zunächst aus mehreren Häusern zu einem über das tägliche Bedürfnis hinausgehenden Zweck sich bildet, ist das Dorf, das am naturgemäßesten als Kolonie des Hauses zu betrachten sein dürfte und dessen Glieder von manchen Milchgenossen, Kinder und Kindeskinder, genannt werden. Diesem Ursprung gemäß wurden denn auch die Staaten von Königen regiert, und die Barbarenvölker werden es auch jetzt noch, weil Leute, die unter einer königlichen Herrschaft standen, zu ihnen zusammentraten. Denn jedes Haus wird von dem Ältesten wie von einem König re- 416 V. Politik giert und ebenso daher auch die Kolonien des Hauses wegen der Verwandtschaft ihrer Genossen. Und das ist es auch, was Homer meint, wenn er sagt: „und jeglicher richtet nach Willkür / Weiber und Kinder allein“. Jene nämlich lebten zerstreut, und so hausten überhaupt die Menschen der Urzeit. Auch von den Göttern aber gilt deshalb der allgemeine Glaube, daß sie unter einem König stehen, weil eben die Menschen selber zum Teil noch jetzt so regiert werden, zum Teil es einstmals wurden; und wie die Menschen sich ihre Götter an Gestalt sich selber gleich vorstellen, so auch an Lebensweise. Die aus mehreren Dörfern sich bildende vollendete Gemeinschaft nun aber ist bereits der Staat, welcher, wie man wohl sagen darf, das Endziel völliger Selbstgenügsamkeit erreicht hat, indem er zwar entsteht um des bloßen Lebens, aber besteht um des vollendeten Lebens willen. Drum, wenn schon jene ersten Gemeinschaften naturgemäße Bildungen sind, so gilt dies erst recht von jedem Staat, denn dieser ist Endziel von jenen; die Natur ist eben Endziel, denn diejenige Beschaffenheit, welche ein jeder Gegenstand erreicht hat, wenn seine Entwicklung vollendet ist, eben diese nennen wir die Natur desselben, wie z. B. die des Menschen, des Rosses, des Hauses. Auch ist das Ziel und der Endzweck das Beste, die Selbstgenügsamkeit ist aber der Endzweck und das [1253a] Beste. Hiernach ist denn klar, daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und daß der Mensch von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen ist; und derjenige, der von Natur und nicht durch zufällige Umstände außer aller staatlichen Gemeinschaft lebt, ist entweder mehr oder weniger als ein Mensch, wie etwa der von Homer Beschimpfte: „Ohne Geschlecht und Gesetz, ohn‘ eigenen Herd“. Denn dieser ist von Natur ein solcher und gleichzeitig gierig nach Krieg, da er isoliert dasteht, wie man im Brettspiel sagt. Daß ferner der Mensch in weit höherem Maße als die Bienen und alle anderen herdenweise lebenden Tiere ein nach staatlicher Gemeinschaft strebendes Wesen ist, liegt klar zutage. Denn nichts tut, wie wir behaupten, die Natur zwecklos. Der Mensch ist aber das einzige Lebewesen, das Sprache besitzt. Die bloße Stimme nämlich zeigt nur das Angenehme und Unangenehme an, darum kommt sie auch den anderen Lebewesen zu (denn so weit reicht ihre Natur, Angenehmes und Unangenehmes wahrzunehmen und von dieser Wahrnehmung einander Zeichen zu geben); die Sprache dagegen ist dazu bestimmt, das Nützliche und Schädliche deutlich kundzutun und 417 1. Von Natur aus politisch also auch das Gerechte und Ungerechte. Denn das ist eben dem Menschen eigentümlich im Gegensatz zu den Tieren, daß er allein fähig ist, sich vom Guten und Schlechten, von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Vorstellungen ruft aber eben das Haus und den Staat ins Leben. Auch von Natur ursprünglicher aber ist der Staat als das Haus und jeder einzelne von uns. Denn das Ganze ist notwendig ursprünglicher als der Teil, weil ja, wenn der ganze Leib dahin ist, auch nicht mehr Fuß noch Hand existiert, außer dem Namen nach, gerade wie man auch eine steinerne Hand noch eine Hand nennt. Jedes Ding wird nämlich durch seine besonderen Fähigkeiten und Möglichkeiten bestimmt; und wenn es diese nicht mehr besitzt, so ist es nicht mehr dasselbe Ding, und es sollte nicht mehr als dasselbe Ding bezeichnet werden, es sei denn im Sinne bloßer Namensgleichheit. Daß also der Staat von Natur besteht und ursprünglicher als der Einzelne ist, ist klar. Denn wenn eben jeder einzelne für sich nicht sich selber genügend ist, so verhält er sich zum Staat geradeso wie die Teile eines anderen Ganzen zu diesem letzteren; wenn er aber andererseits überhaupt nicht an einer Gemeinschaft sich zu beteiligen vermag oder dessen durchaus nicht bedarf wegen seiner Selbstgenügsamkeit, so ist er freilich kein Teil des Staates, aber eben damit entweder ein Tier oder aber ein Gott. Diesem allen gemäß lebt nun zwar auch von Natur in allen Menschen der Trieb, in diese Art von Gemeinschaft einzutreten; aber derjenige, welcher den Staat zuerst wirklich ins Leben rief, war damit der Urheber der höchsten Güter. Denn wie der Mensch in seiner Vollendung das edelste aller Lebewesen ist, so wiederum losgerissen von Gesetz und Recht das schlimmste von allen. Denn nie ist die Ungerechtigkeit fürchterlicher, als wenn sie Waffen hat; der Mensch aber hat die natürlichen Waffen in Händen durch seine angeborene Klugheit und Tüchtigkeit, Waffen, die am allermeisten dazu geeignet sind, zu den entgegengesetzten Zwecken sich ihrer zu bedienen. Und daher ist er denn ohne Tugend das ruchloseste und wildeste Lebewesen und in bezug auf Geschlechts- und Gaumenlust das schlimmste von allen. Die Gerechtigkeit aber stammt erst vom Staate her, denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft; das Recht aber ist die Entscheidung darüber, was gerecht ist. (Pol. I 1-2) 418 V. Politik 2. Oikonomie; Erwerbskunde [1253b1] Nachdem nun klargeworden ist, aus welchen Teilen der Staat besteht, müssen wir zunächst über die Hausverwaltung sprechen, denn die Häuser sind ja eben jene Bestandteile des Staates. Die Teile der Hausverwaltungskunde nun entsprechen denen, aus welchen wiederum das Haus besteht. Jedes vollständige Haus aber besteht aus Sklaven und Freien. Da jedoch die Untersuchung eines jeden Gegenstandes bei dessen kleinsten Teilen beginnen muß, diese allerersten und kleinsten Teile nun aber beim Hause Herr und Sklave, Gatte und Gemahlin, Vater und Kinder sind, so ist zunächst jedes dieser drei Verhältnisse seinem Wesen und seiner richtigen Beschaffenheit nach in Betracht zu ziehen, und dies ergibt denn die Lehre vom dienstherrlichen, vom ehelichen (denn die Verbindung von Mann und Frau hat sonst keinen eigenen Namen) und vom väterlichen Verhältnis (auch diese Verbindung hat keinen eigenen Namen). Diese drei seien angenommen. Es existiert nun aber außerdem noch etwas, worin nach der Meinung mancher die ganze Hausverwaltungskunde aufgeht und nach der anderer wenigstens der größte Teil derselben. Es ist also zuzusehen, wie es hiermit steht. Ich meine nämlich die sogenannte Erwerbskunst. Zuvörderst jedoch wollen wir vom Herrn und Sklaven reden, um diesen Gegenstand sowohl mit Rücksicht auf den praktischen Bedarf zu betrachten als auch darauf, ob wir etwa theoretisch denselben richtiger zu fassen imstande sein werden als die jetzt gangbaren Annahmen. Denn jetzt gilt den einen die Herrschaft des Herrn über den Sklaven als eine Wissenschaft, und zwar als dieselbe wie die Tätigkeit des Hausverwalters, des Staatsmannes und des Königs, wie wir gleich zu Anfang bemerkten; und den anderen erscheint die Herrschaft über Sklaven als naturwidrig, indem nach ihrer Meinung nur durch Gesetz der eine Sklave ist und der andere frei, während von Natur kein solcher Unterschied zwischen ihnen besteht, daher denn das ganze Verhältnis nicht in der Gerechtigkeit begründet sei, sondern in der Gewalt. (Pol. I 3) [1256b40] Es gibt aber noch eine Art von Erwerbskunst, die man vorzugsweise und mit Recht die Kunst des Gelderwerbs nennt, und sie ist es, welche die Schuld daran trägt, daß es für Reichtum und [1257a] Besitz 419 2. Oikonomie; Erwerbskunde keinerlei Grenze zu geben scheint, und viele halten sie für eine und dieselbe mit jener ersteren wegen der nahen Verwandtschaft mit ihr. In Wahrheit aber ist sie doch, obwohl sie ihr nicht fernsteht, keineswegs einerlei mit ihr. Denn jene ist eine naturgemäße Erwerbsweise, diese dagegen ist keine naturgemäße, sondern sie kommt vielmehr zustande durch Erfahrung und Kunst. Nehmen wir nun für ihre Betrachtung folgenden Ausgangspunkt. Die Benutzung eines jeden Besitztums ist eine doppelte, und beide Male wird das Besitztum als solches, aber nicht als solches in der gleichen Weise benutzt, sondern die eine Art von Benutzung ist die dem Gegenstand eigentümliche, die andere nicht, z. B. den Schuh kann man benutzen zum Anziehen aber auch als Tauschmittel. Denn beides sind wirklich Benutzungsweisen des Schuhs, insofern auch der, welcher einem anderen, der eines Schuhs bedarf, einen solchen für Geld oder Lebensmittel zum Tausch gibt, damit den Schuh als Schuh benutzt, aber nicht in der demselben eigentümlichen Benutzungsweise, denn nicht zu dem Zweck ist der Schuh gemacht, als Tauschmittel zu dienen. Und ebenso verhält es sich mit allen anderen Besitzstücken: sie alle können als Tauschmittel verwandt werden. Der anfängliche Tauschhandel hatte einen durchaus natürlichen Ursprung, indem die Menschen von einem Gegenstand mehr und von einem anderen weniger haben, als sie bedürfen. Andererseits aber ist gerade hieraus auch ersichtlich, daß das Handelsgeschäft nicht von Natur zur Erwerbskunst gehört. Nur so weit nämlich, als es für den Lebensunterhalt ausreichend war, mußte sich notwendig der Tausch erstrecken. In der ursprünglichsten Gemeinschaft daher, das ist im Hause, fand derselbe offenbar noch gar keinen Platz, sondern erst in der bereits erweiterten Gemeinschaft. Denn bei der ersteren war alles, was ihr zur Verfügung stand, gemeinschaftlich, die letztere hatte einiges für sich gesondert, was sie, je nach den Bedürfnissen, tauschte, wie es noch jetzt viele der Barbaren machen. Die Barbaren nämlich tauschen die nutzbaren Gegenstände selbst gegeneinander, sie geben und nehmen Wein für Getreide, und ebenso mit allen anderen derartigen Artikeln, weiter aber gehen sie im Handel nicht. Ein solcher Tauschhandel nun ist weder wider die Natur noch bildet er bereits eine Klasse der Kunst des Gelderwerbs, denn er entstand nur, um die Mängel auszufüllen, die der natürlichen Selbstgenügsamkeit des Lebens im Wege stehen; aber aus diesem entsprang jene Kunst in sehr 420 V. Politik begreiflicher Weise. Denn da die gegenseitige Unterstützung durch Einfuhr des Mangelnden und Ausfuhr des Überflüssigen sich immer weiter örtlich ausdehnte, verfiel man notwendigerweise auf die Einführung des Geldgebrauchs. Nicht jedes der von Natur notwendigen Bedürfnisse war ein leichtbewegliches Gut, und so kam man dahin überein, zur Vermittlung des gegenseitigen Umtausches einen Gegenstand zu geben und zu nehmen, welcher, selbst zu den nutzbaren Dingen gehörig, zugleich noch den Vorteil eines handlichen Gebrauchs für den Transport hatte, wie Eisen, Silber und was weiter dahin gehört, und zwar so, daß man anfänglich seinen Wert einfach nach Größe und Gewicht bestimmte, schließlich aber es auch mit einem Prägezeichen versah, um sich die Mühe des Abwägens zu ersparen, indem nämlich jetzt dieser Stempel als Zeichen des Wertes aufgeprägt wurde. Und als [1257b] nun so aus dem unentbehrlichen Bedürfnis des Tausches einmal das Geld hervorgegangen war, da bildete sich eine andere Art der Erwerbskunst, das Handelsgeschäft, anfänglich wahrscheinlich in sehr einfacher Art, bereits bald aber durch die Erfahrung in künstlicherer Weise darauf gerichtet, wie und mit welchen Mitteln man beim Umsatz möglichst viel Gewinn machen könne. Daraus entsteht der Schein, als wäre die Erwerbskunst vorzugsweise auf das Geld gerichtet und die Aufgabe derselben, daß sie zu erkennen vermöge, woraus sich möglichst viel Geld ziehen lasse, sofern sie es ja in der Tat mit der Herbeischaffung von Reichtum und Vermögen zu tun habe. Denn auch den Reichtum hält man insgemein für die Masse von möglichst viel Geld, und so entsteht denn der Glaube, daß die Erwerbskunst es hiermit zu tun habe und im Handelsgeschäft bestehe. Dann indessen hört man auch wieder, mit dem Gelde sei es nichts als leeres Gerede und es sei schlechterdings nur eine Satzung und von Natur gar nichts, weil, sobald eine Münzveränderung vorgenommen ist, es nichts mehr wert und zu keinem der notwendigen Lebensbedürfnisse nütze sei, und weil es einem, der Geld im Überfluß habe, doch an den notwendigen Lebensmitteln fehlen könne und es denn doch widersinnig sei, daß das Reichtum sein sollte, in dessen Vollbesitz einer Hungers sterben könne, wie von jenem Midas die Sage geht, indem ihm in Erfüllung seiner unersättlichen Wünsche alles ihm Vorgesetzte zu Gold wurde. Und so suchen denn die Vertreter dieser Ansicht in etwas anderem das wahre Wesen des Reichtums und der Erwerbskunde, und sie tun recht daran. Denn in etwas anderem besteht der natürliche Reichtum und die 421 2. Oikonomie; Erwerbskunde naturgemäße Erwerbskunde, und nur diese letztere ist die zur Hausverwaltungskunde gehörige, während die künstliche im Handelsgeschäft besteht, indem sie nicht auf den Vermögenserwerb überhaupt gerichtet ist, sondern auf Erwerb durch Vermögensumsatz. Und diese hat es augenscheinlich mit dem Geld zu tun, denn das Geld ist beim Handel das Element und die Grenze. Auch unbegrenzt aber ist der Reichtum, der durch diese Art von Erwerbskunst erzeugt wird. Denn wie die Heilkunst unbegrenzt ist im Hinblick auf das Heilen (und jede Kunst ist unbegrenzt im Hinblick auf ihr Ziel - das ist es ja, was die Künste vor allem erreichen wollen -, nicht unbegrenzt aber im Hinblick auf die zum Ziel führenden Mittel - das Ziel ist hier nämlich Grenze von allem), so hat auch diese Art von Erwerbskunst in der Verfolgung ihres Ziels keine Grenze, ihr Ziel aber ist eben ein derartiger Reichtum und Vermögensbesitz; die andere Art von Erwerbskunst dagegen, welche zur Hausverwaltungskunde gehört, hat eine Grenze, denn ein Reichtum jener Art ist ja nicht ihre Aufgabe. Und so ist es denn offenbar, daß in gewisser Weise aller Reichtum seine notwendige Grenze hat, in der Wirklichkeit aber sehen wir das Gegenteil eintreten, denn alle, die auf den Erwerb bedacht sind, suchen ihr Geld bis ins Grenzenlose zu vermehren. Der Grund davon nun ist eben die nahe Berührung beider Arten von Erwerbskunst. Denn die Anwendung der einen spielt in die der anderen hinüber, weil beides Anwendungen derselben Sache sind. Es sind nämlich Anwendungen einer und derselben Gattung von Besitz, aber seitens der einen Erwerbskunst zu einem anderen Zweck und seitens der anderen bloß zu seiner Vermehrung. Daher glauben manche, das sei die Aufgabe der Hausverwaltungskunst, und bleiben dabei, daß man das vorhandene Geld entweder mindestens zu erhalten oder richtiger noch bis ins Endlose zu vermehren suche. Die Ursache solcher Denkweise aber liegt darin, daß die meisten Menschen nur um das Leben und nicht [1258a] um das vollkommene Leben sorgen, und da nun die Lust zum Leben ins Endlose geht, so trachten sie auch, die Mittel zum Leben bis ins Endlose anzuhäufen. Aber auch jene, die auf das vollkommene Leben achten, suchen die Mittel für den körperlichen Genuß, und da mit dem Besitz auch die Möglichkeit, sich solchen zu verschaffen, augenscheinlich sich verbindet, so richtet sich ihr ganzes Dichten und Trachten auf den Vermögenserwerb, und von hier aus ist denn jene andere Art von Erwerbskunst aufgekom- 422 V. Politik men. Denn jeder Sinnengenuß hängt am Übermaß, und so trachten sie denn nach einer Kunst, die ihnen das Übermaß dieses Genusses verschafft; und können sie das durch die Erwerbskunst nicht erreichen, so jagen sie ihm auf einem anderen Wege nach und wenden alle Fertigkeiten ihrer natürlichen Bestimmung entgegen zu diesem Zweck an. Denn die Tapferkeit ist nicht dazu da, Geld zu erzeugen, sondern Mut, und die Kriegs- und Heilkunst hat gleichfalls nicht jene Bestimmung, sondern die erstere die, den Sieg, und die letztere, Gesundheit zu verschaffen; jene Art von Leuten aber macht dies alles zu Mitteln des Gelderwerbs, als wäre dies der Zweck und als gälte es hier, daß doch auf seinen Zweck alles bezogen werden müsse. Und so haben wir denn nun auseinandergesetzt, worin die nicht in der Notwendigkeit begründete Erwerbskunst besteht und woher es gekommen, daß sie bei uns in Brauch ist, wie auch in bezug auf die unentbehrliche erläutert, daß sie verschieden von ihr ist und vielmehr naturgemäß zur Hausverwaltung gehört, als auf Herbeischaffung der Nahrung gerichtet, und nicht wie jene ins Endlose geht, sondern eine Grenze hat. Aber auch jene Frage, von der wir ausgingen, wird jetzt leicht zu entscheiden sein, ob nämlich die Erwerbskunst Sache des Hausverwalters und des Staatsmannes ist oder die nötigen Mittel vielmehr bereits vorhanden sein müssen - denn wie die Staatskunst sich auch die Menschen nicht erst schafft, sondern sie bereits aus den Händen der Natur empfängt und verwendet, so muß die Natur, nämlich die Erde, das Meer usw. auch die Nahrung darbieten -, sodann aber über diese gegebenen Mittel in angemessener Weise zu verfügen, das ist es, was dem Hausverwalter zukommt. Ist es doch auch nicht die Sache der Weberei, Wolle zu erzeugen, sondern sie zu gebrauchen und zu wissen, welche Wolle gut und tauglich und welche schlecht und untauglich ist. Und könnte man doch sonst auch fragen, warum denn gerade die Erwerbskunde ein Teil der Hausverwaltungskunde sein soll und nicht ebensogut auch die Heilkunde, denn der Gesundheit sind ja doch die Hausgenossen ebenso bedürftig wie des Lebens und aller zum Leben notwendigen Dinge. Andererseits haben indessen in gewisser Hinsicht der Hausverwalter und Staatsmann auch wirklich für die Gesundheit zu sorgen, in anderer aber nicht sie, sondern der Arzt, und ebenso für den Erwerb in gewisser Hinsicht der Hausverwalter, während dies in anderer wiederum nur Sache 423 3. Grundbegriffe einer Hilfswissenschaft der Hausverwaltungskunde ist. Vor allem aber muß, wie vorhin gesagt, die Natur selber den erforderlichen Stoff bereits gewähren, denn ihre Sache ist es, dem, was sie erzeugt hat, auch den Unterhalt zu geben, wie denn für ein jedes neugeborene Wesen der Überrest seines Bildungsstoffes zur Nahrung dient. Und daher ist denn der naturgemäße Erwerb für alle Menschen derjenige, welchen sie aus den Früchten der Erde und den Tieren ziehen. Wenn nun aber die Erwerbskunst, wie gesagt, eine doppelte ist, teils eine auf den bloßen Handelsgewinn, teils eine auf die Zwecke der Hausverwaltung berechnete, und nur die letztere notwendig und löblich ist, die [1258b] erstere aus dem bloßen Umsatz gezogene dagegen mit Recht getadelt wird, weil sie nicht auf die Natur gegründet ist, sondern die Menschen diesen Gewinn voneinander ziehen, so ist mit dem größten Recht das Wuchergeschäft verhaßt, weil dieses unmittelbar aus dem Gelde selber den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld doch allein erfunden ist. Denn nur zur Erleichterung des Tausches kam es auf, der Zins aber vermehrt es an sich selber. Daher denn auch der Name für ,Zins‘ soviel wie ,Junges‘ bedeutet, denn das Junge pflegt seinen Erzeugern ähnlich zu sein, und so ist auch der Zins wieder Geld vom Gelde. Und diese Art von Erwerbskunst ist denn hiernach die widernatürlichste von allen. (Pol. I 9-10) 3. Grundbegriffe [1274b32] Wer eine Untersuchung über Staatsverfassung führt, um zu bestimmen, was und wie beschaffen eine jede ist, muß zuvörderst den Staat ins Auge fassen und feststellen, was der Staat ist. Denn zur Zeit ist man darüber noch keineswegs einig, vielmehr heißt es bald, der Staat habe eine Handlung vollzogen, und bald dagegen, nicht der Staat, sondern nur die Oligarchie oder der Tyrann, nun aber sehen wir doch die ganze Tätigkeit des Gesetzgebers und Staatsmannes um den Staat sich drehen, und die Verfassung ist nichts anderes als eine bestimmte Ordnung der Bewohner des Staates. Da nun aber der Staat zu den zusammengesetzten Dingen gehört, geradesogut wie jedes andere, das zwar ein Ganzes bildet, aber doch viele Teile in sich schließt, so ist klar, daß man 424 V. Politik erst nach dem Staatsbürger fragen muß, denn der Staat ist eben eine Vielheit von Staatsbürgern. [1275a] Also das ist zunächst die Frage, wen man Staatsbürger zu nennen hat und was ein Staatsbürger ist. Denn auch darüber ist man keineswegs einig, und keineswegs wird überall einer und derselbe als Staatsbürger anerkannt, vielmehr wer es in einer Demokratie ist, ist es damit noch vielfach nicht auch in einer Oligarchie. Diejenigen nun, welche auf irgendeine außerordentliche Weise zu dieser Bezeichnung gelangen, wie z. B. die mit dem Bürgerrecht Beschenkten, haben wir hierbei ganz aus dem Spiel zu lassen. Aber auch durch das Wohnen an einem Ort wird man noch nicht zum Bürger daselbst, denn auch Beisassen und Sklaven haben mit den Bürgern den Wohnort gemeinschaftlich, und auch noch nicht dadurch, daß man an der Gerichtsbarkeit eines Staates in der Weise Teil hat, daß man vor Gericht gezogen werden oder sich Recht verschaffen kann, denn das kommt auch denjenigen zu, die kraft besonderer Verträge an einem Staat teilnehmen, sofern in solchen Verträgen auch dies mit eingeschlossen ist, - an vielen Orten ist freilich selbst den Beisassen vollständig nicht einmal dieses Recht eingeräumt, sondern sie müssen sich einen Vertreter bestellen, so daß sie also an dieser Art von Gemeinschaft nur unvollständig Anteil haben. Vielmehr steht es hiermit ähnlich, wie man auch schon die Bürgersöhne, die wegen ihres Alters noch nicht in die Bürgerliste eingetragen, und die Greise, die bereits von der Ausübung ihrer bürgerlichen Pflichten entbunden sind, auch noch in gewisser Weise Bürger nennen muß, aber nicht mehr schlechthin, sondern mit dem Zusatz bei den einen ,unvollständige‘ und bei den anderen ,ausgediente‘ Bürger oder sonst einem anderen ähnlichen, denn auf den Namen kommt es hierbei nicht an, da es wohl klar ist, was ich damit sagen will. Nun aber suchen wir ja hier den Bürger im unbedingten Sinne ohne jeden der Berichtigung durch einen solchen Zusatz bedürftigen Mangel, denn sonst ließen sich auch hinsichtlich derer, die ihre bürgerlichen Ehrenrechte verloren haben oder in der Verbannung leben, dieselben Probleme stellen und lösen. Der Staatsbürger schlechthin läßt sich nun durch nichts anderes bestimmen, als dadurch, daß er am Richten und an der Regierung teilnimmt. Die Regierungsämter sind aber wieder zweifacher Art: die Teilnahme an den einen ist einer bestimmten zeitlichen Beschränkung unterworfen, dergestalt, daß manche von ihnen derselbe 425 3. Grundbegriffe Bürger zum zweiten Male entweder gar nicht oder doch erst nach Ablauf einer bestimmten Zeitfrist bekleiden darf, die anderen sind ohne eine solche Beschränkung, nämlich die Mitgliedschaft an Volksgericht und Volksversammlung. Freilich könnte man hiergegen vielleicht einwenden, daß solche Mitglieder auch gar keine Staatsbeamten sind und daß man durch diese Tätigkeit noch keineswegs an der Regierung teilhat; allein, es wäre doch lächerlich, wenn man denen, welche die wichtigsten Dinge entscheiden, die Teilnahme an der Staatsregierung absprechen wollte. Aber es soll darauf nicht ankommen, denn die Frage geht nur nach einem Namen; denn das Gemeinsame für den Richter und das Mitglied der Volksversammlung hat keinen Namen, mit dem man die beiden nennen könnte, und so wollen wir sie denn der Unterscheidung zuliebe ,eine nicht an besondere Bestimmungen gebundene Regierungsgewalt‘ nennen. So erklären wir denn für Staatsbürger die, welche so an der Regierung teilhaben. Dies wäre also die Bestimmung, die am meisten auf alle diejenigen paßt, welche man Staatsbürger nennt. Es ist aber nicht zu übersehen, daß bei allen Gegenständen, deren zugehörige Subjekte der Art nach verschieden sind, und zwar so, daß das eine in erster Linie, das andere in zweiter, ein weiteres in dritter usf. zugehört, das Gemeinsame in diesen Gegenständen als solchen, entweder ganz fehlt, oder in sehr schwachem Maße vorhanden ist. Wir sehen aber, daß die Verfassungen der Art nach verschieden sind und die einen in geringerem, die anderen [1275b] in höherem Maße Verfassungen sind, denn die verfehlten und entarteten müssen es doch notwendig in geringerem Maße sein als die nichtverfehlten, - was ich aber unter ,entarteten‘ verstehe, wird hernach klar werden. Der Staatsbürger wird also je nach der Verfassung ein anderer sein. Und daher paßt denn die von uns gegebene Bestimmung des Staatsbürgers in einer Demokratie ganz vorzugsweise, in den anderen Verfassungen dagegen kann sie zwar zutreffen, aber sie muß es nicht notwendig. Denn manche kennen gar kein selbständiges Volk und keine Volksversammlungen, sondern nur einen außerordentlich zusammenberufenen Rat, und die Gerichtsbarkeit ist in den Händen verschiedener Staatsbeamten, wie z. B. in Lakedaimon der eine von den Ephoren über diese und der andere über jene Art von Vertragssachen richtet, die Alten ferner in Fällen des Totschlags und so andere Staatsbeamte über andere Sachen, und ähnlich geht es in Karthago zu, insofern dort bestimmte Staatsbeamte über alle Rechtshändel aburteilen. Indessen läßt sich die 426 V. Politik obige Bestimmung des Staatsbürgers korrigieren. In den anderen Verfassungen ist nämlich nicht der Inhaber jener ,unbestimmten Regierungsgewalt‘ Mitglied der Volksversammlung und Richter; sondern bestimmten Staatsbeamten, entweder diesen allen oder einigen von ihnen, ist die beratende und richterliche Tätigkeit, sei es über alle, sei es doch über gewisse Sachen übertragen. Was also der Staatsbürger sei, ist hiernach klar. Jeden nämlich, dem in einem Staat der Zutritt zur Teilnahme an der beratenden und richtenden Staatsgewalt desselben offensteht, haben wir auch als Bürger eben dieses Staates zu bezeichnen und den Staat selbst, um es kurz zu sagen, als eine Vielheit solcher Bürger von ausreichender Zahl zu einem selbstgenügsamen Leben. (Pol. III 1) [1276a8] Von manchen Seiten wird die Frage aufgeworfen, wann der Staat selbst etwas getan habe und wann nicht der Staat selbst, wie das z. B. vorkommt, wenn aus Oligarchie oder Tyrannenherrschaft eine Demokratie hervorgegangen ist. Einige wollen, daß die vertraglichen Verpflichtungen dann nicht eingelöst werden, da nicht der Staat, sondern der Tyrann sie eingegangen sei, und anderes dergleichen mehr, wobei die Überzeugung zugrunde liegt, daß gewisse Verfassungen auf der bloßen Gewalt beruhen und nicht das Gemeinwohl zum Zweck haben. Wenn also auch eine Demokratie besteht, so müßte man hiernach die von den Machthabern dieser Verfassung ausgehenden Handlungen gleichermaßen wie die der Machthaber in der Oligarchie und Tyrannenherrschaft als Handlungen des Staates bezeichnen dürfen. Dieser Streitfrage gehört nun, wie es scheint, die Untersuchung an, nach welchem Gesichtspunkt man es zu beurteilen hat, wann der Staat noch derselbe und wann nicht mehr derselbe, sondern ein anderer ist. Die oberflächlichste Erwägung dieser Frage nun bleibt bei der bloßen Örtlichkeit und ihren Bewohnern stehen, wie wenn es z. B. vorkommt, daß die Leute die Örtlichkeit, in der sie bisher zusammengewohnt, verlassen und die einen hier und die anderen da ihren Wohnsitz nehmen. Wir dürfen diese Frage als leicht bezeichnen; denn da das Wort Staat viele Bedeutungen hat, so ist eine solche Untersuchung gewissermaßen bequem. Ganz ähnlich steht es aber auch damit, wenn Leute denselben Ort bewohnen, wann man dies wirklich für einen und denselben Staat anzusehen habe. Denn die bloßen Mauern machen es ja nicht, sonst 427 3. Grundbegriffe könnte man ja auch um die ganze Peloponnes nur eine einzige Mauer ziehen. Eine solche Stadt ist etwa Babylon und jede andere, die mehr den Umfang einer Völkerschaft als eines Staates hat; man erzählt ja, daß am dritten Tage nach der Eroberung Babylons ein Teil der Stadt noch nichts davon wußte. Es wird indessen zweckmäßig sein, diese Frage erst bei einer anderen Gelegenheit zu erörtern, denn allerdings darf der Staatsmann darüber nicht im unklaren bleiben, welche Größe und Einwohnerzahl und ob es dem Staat zuträglich ist, daß er aus einem oder mehreren Völkerstämmen besteht. Hier aber handelt es sich vielmehr darum, ob man, wenn dieselben Leute denselben Ort bewohnen, dies, solange das Geschlecht der Bewohner dasselbe bleibt, auch als denselben Staat zu bezeichnen hat, mögen auch immerfort die einen sterben und die anderen geboren werden - gleichwie wir ja auch die Flüsse und Quellen dieselben zu nennen pflegen, obschon immerfort das alte Wasser ab- und neues zufließt -, oder ob man aus diesem Grunde nur die Leute als dieselben bezeichnen muß, während der Staat dabei [1276b] recht wohl ein anderer geworden sein kann. Da nämlich der Staat eine Gemeinschaft ist, die Gemeinschaft der Staatsbürger einer Staatsverfassung, so erscheint es notwendig, daß, wenn die Verfassung eine andere und verschiedenartige geworden, auch der Staat nicht mehr derselbe ist, gerade wie wir ja auch den komischen und den tragischen Chor verschieden benennen, obschon er vielfach aus denselben Leuten besteht, und desgleichen jede andere Gemeinschaft und Zusammensetzung eine andere ist, wenn die Art dieser Zusammensetzung eine andere ist, wie wir z. B. eine Zusammenfügung der nämlichen Töne doch eine andere nennen, wenn die Tonart die dorische, und eine andere, wenn sie die phrygische ist. Und wenn es sich nun so verhält, so ist offenbar, daß man einen Staat noch denselben nennen muß vorzugsweise mit Rücksicht auf seine Verfassung und daß man ihm danach einen anderen Namen geben darf oder auch denselben, mögen nun dieselben Menschen an dem Ort wohnen oder ganz andere. Ob aber der Staat berechtigt ist, die übernommenen Verbindlichkeiten nicht zu erfüllen, wenn er in eine andere Verfassung übergeht, oder trotzdem dazu verpflichtet ist, das ist eine andere Frage. An das eben Gesagte schließt sich nun aber die Untersuchung darüber an, ob man die Tugend des guten Mannes und die des tüchtigen Bürgers für einerlei erklären müsse oder nicht. Um aber dies untersuchen zu kön- 428 V. Politik nen, muß erst im Umriß angegeben werden, worin die Tugend des Bürgers besteht. Wie nun jeder einzelne auf einem Schiff zu der Gemeinschaft der Schiffsleute gehört, so steht es auch mit dem Bürger. Unter den Schiffsleuten ist aber, da unter ihnen je nach dem, was sie zu leisten haben, Verschiedenheiten bestehen, indem der eine Ruderer, der andere Steuermann, der dritte Untersteuermann ist und ein vierter noch wieder anders nach seinem Geschäft benannt wird, der genaueste Begriff der Tugend eines jeden zwar derjenige, welcher die Tüchtigkeit zu seiner besonderen Aufgabe bezeichnet, aber ebenso wird ihnen allen auch ein gemeinsamer zukommen, denn die Aufrechterhaltung einer guten Fahrt ist die gemeinsame Aufgabe, und danach strebt ein jeder der Schiffsleute; und ebenso sind auch die Bürger zwar verschiedene, aber die Aufrechterhaltung ihrer Gemeinschaft ist doch die gemeinsame Aufgabe für sie alle, die Gemeinschaft aber ist die Verfassung, und daher richtet sich denn die Tugend eines Bürgers immer nach der Staatsverfassung. Gibt es mithin verschiedene Arten von Verfassung, so ist klar, daß die Tugend des tüchtigen Bürgers unmöglich eine und dieselbe schlechthin vollkommene sein kann, während wir doch den guten Mann eben danach bestimmen, wieweit er diese eine vollkommene Tugend besitzt. Hiernach leuchtet denn nun ein, daß jemand ein tüchtiger Bürger sein kann, ohne doch die Tugend zu besitzen, die den guten Mann ausmacht. Aber auch noch auf andere Weise kann man bei der Erörterung dieser Frage zu demselben Ergebnis gelangen: vom Gesichtspunkt der besten Verfassung aus. Wenn es nämlich unmöglich ist, daß alle Bürger tüchtig sind, aber doch jeder von ihnen seine eigene Aufgabe gut erfüllen muß und dies doch eben wieder nur durch die Tugend möglich ist, so dürfte, da alle Bürger unmöglich gleich sein können, die [1277a] Tugend des guten Bürgers und die des guten Mannes nicht eine und dieselbe sein, denn die Tugend des tüchtigen Bürgers müssen alle Bürger besitzen - dadurch allein nämlich kann der Staat vollkommen sein -; daß sie alle auch die Tugend des guten Mannes besitzen, ist dagegen unmöglich, es wäre denn notwendig, daß alle Bürger eines trefflichen Staates auch gut seien. Überdies besteht der Staat aus ungleichen Elementen, denn geradeso wie ein lebendiges Wesen aus Seele und Leib und die Seele aus Vernunft und Begierde und die Familie aus Mann und Weib und der Besitz aus Herrn und Sklaven, ebenso ist auch der Staat aus allen diesen und zudem noch anderen ungleichartigen Bestandteilen zusammengesetzt; und auch daraus folgt mit 429 3. Grundbegriffe Notwendigkeit, daß nicht die Tugend aller Bürger eine und dieselbe sein kann, wie auch im Chor nicht die des Chorführers und die des Statisten. Weshalb also nicht schlechthin Bürger- und Mannestugend einerlei sein können, ist hieraus klar; es fragt sich aber, ob nicht bei einem bestimmten Bürger die erstere mit der letzteren zusammenfällt. Nämlich von einem tüchtigen Regenten verlangen wir ja doch, daß er auch ein tüchtiger und einsichtiger sei, der Bürger dagegen muß nicht notwendig einsichtig sein. Ja, manche nehmen sogar auch eine von Haus aus andere Erziehung für den Regenten in Anspruch, wie denn ja auch die Söhne der Könige eine besondere Vorbildung in der Reitkunst und der Kriegskunst zu erhalten pflegen, und Euripides sagt: „Nicht lehrt sie prunken mir mit geist‘gem Flittertand! / Nein, was der Staat bedarf“, um damit zu bezeichnen, daß es eine besondere Erziehung für den Regenten gibt. Wenn nun hiernach die Tugend eines guten Regenten und die eines guten Mannes dieselbe, Bürger aber auch derjenige ist, der regiert wird, so kann die des Bürgers mit der des Mannes nicht schlechthin einerlei sein, wohl aber die eines bestimmten Bürgers; und das war es auch wohl, was den Jason zu der Äußerung bewog, er müßte hungern, wenn er nicht Tyrann wäre, indem er damit meinte, er verstehe es nicht, als Privatmann zu leben. Nun wird es aber doch andererseits wieder gerühmt, daß man zu regieren und regiert zu werden verstehe, und gilt für die Tugend des Bürgers, daß er sowohl gut regieren als auch gut regiert werden könne. Wenn wir nun aber die Tugend des guten Mannes als diejenige setzen, welche im Regieren sich zeigt, die des Bürgers aber in beidem, dann könnte ja nicht beides gleichermaßen rühmlich sein. Da es also scheint, daß beide Verschiedenes und nicht der Regierende und der Regierte dasselbe lernen müßten, wohl aber der Bürger beides verstehen und an beidem teilhaben, so wird man das Richtige aus folgendem abnehmen. Es gibt eine Herrenherrschaft, und diese dreht sich um die unentbehrlichen Dinge, welche der Regierende nicht ausführen zu können, sondern eher nur zu benutzen braucht; vielmehr würde das andere ihn selber sklavisch machen, ich meine, wenn er selber solche niedrigen Dienste zu verrichten vermöchte. Nun gibt es aber viele Arten von Dienern, da die Dienstverrichtungen eben mehrere sind, und einen Teil von ihnen machen auch die Handarbeiter aus, dies aber sind, wie auch schon der Name anzeigt, diejenigen Leute, welche von ihrer [1277b] 430 V. Politik Hände Arbeit leben, zu denen auch die Handwerker gehören. Deshalb waren in manchen Staaten voralters die Gewerbetreibenden auch von der Teilnahme an den Staatsämtern ausgeschlossen und blieben es, bis die äußerste Demokratie eintrat. Die Verrichtungen von Leuten nun, welche Regierte in diesem Sinne sind, braucht weder der gute Staatsmann noch der gute Bürger ausüben zu lernen, es sei denn einmal aus Not zum eigenen Gebrauch; denn hier tritt der Fall nicht mehr ein, daß man bald Herr und bald Diener ist. Es gibt aber eine Herrschaft, vermöge derer man über freie Leute und seinesgleichen regiert, und dies ist eben die Herrschaft des Staatsmannes, und wer sie ausüben soll, muß sie lernen, indem er regiert wird, wie der Reiteroberst erst selbst unter einem anderen Reiterobersten und der Feldherr erst selbst unter einem anderen Feldherrn gedient haben und erst Taxiarch und Lochag (Major und Hauptmann) gewesen sein muß; und hier gilt daher das Wort und gilt mit Recht, daß keiner gut regieren kann, der nicht sich gut hat regieren lassen. Die Tugend in beidem ist nun freilich eine verschiedene, aber der gute Bürger muß beides verstehen und beides können, regieren und regiertwerden, und das eben ist die Tugend des Bürgers, das Regieren der Freien in beiden Richtungen zu verstehen. Aber auch die des guten Mannes umfaßt eben beides. Und wenn eine andere Art von Besonnenheit und Gerechtigkeit diejenige ist, die im Regieren sich zeigt, und diejenige, welche der Regierte, aber dabei freie Bürger zu entwickeln hat, so erhellt daraus nur, daß die sittliche Tugend, wie z. B. die Gerechtigkeit, nicht bloß eine ist sondern in zwei Arten zerfällt, die eine, vermöge deren man gut regiert, und die andere, vermöge deren man sich gut regieren läßt, gerade wie ja auch die Besonnenheit und die Tapferkeit des Mannes eine andere ist als die des Weibes, denn ein Mann würde noch als feig erscheinen, wenn er nur so tapfer wäre wie ein tapferes Weib, und ein Weib noch als sehr geschwätzig, wenn sie nur so zurückhaltend wäre wie ein tüchtiger Mann. So ist auch die Haushaltungskunst eine andere beim Mann und bei der Frau, denn seine Aufgabe ist, zu erwerben, die ihre aber, zu erhalten. Die Einsicht ist die einzige Tugend, die dem Regierenden ausschließlich eigentümlich ist, denn während alle anderen, wie hieraus ersichtlich, den Regierten mit den Regierenden gemeinsam sein müssen, kann sich dagegen im Regiertwerden keine besondere Einsicht zeigen, sondern eine richtige Meinung, denn der Regierte ist wie der 431 3. Grundbegriffe Flötenmacher, der Regierende aber wie der Flötenspieler, der das Instrument gebraucht. Ob nun also die Tugend des guten Mannes und des guten Bürgers dieselbe oder eine andere und inwiefern sie dieselbe, inwiefern eine andere sei, ist hiernach klar. (Pol. III 3-4) [1278b6] Nachdem aber dies festgestellt ist, schließt sich hier zunächst die weitere Untersuchung an, ob man mehrere Verfassungen oder nur eine anzunehmen hat, und wenn mehrere, welche dies sind und wieviele und welches ihre Unterschiede sind. Nun ist ja Verfassung die Ordnung des Staates in bezug auf die Staatsämter und vor allem in bezug auf das oberste von allen, denn das oberste von allen ist die Regierung, und diese wiederum ist die Verfassung. Zum Beispiel in den demokratischen Verfassungen ist das Volk oberste Staatsgewalt, in den Oligarchien dagegen die Wenigen, und eben deshalb nennen wir dort die Verfassung eine andere als hier, und ganz nach demselben Gesichtspunkt werden wir auch über alle anderen Verfassungen urteilen. Demgemäß muß denn nun die Grundlage fürs erste der Zweck ausmachen, um dessentwillen der Staat sich gebildet hat, und sodann die Frage, wieviel Arten des Regierens es für den Menschen und seine Lebensgemeinschaft gibt. Da haben wir aber in den Anfängen unserer ganzen Erörterung, in denen die Bestimmungen über die Hausverwaltung und das Verhältnis des Herrn zum Sklaven getroffen wurden, auch gesagt, daß der Mensch von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen ist. Und aus diesem Grunde treibt es denn die Menschen, auch ganz abgesehen von dem Bedürfnis gegenseitiger Unterstützung, zum Zusammenleben. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß nicht auch der gemeinsame Nutzen sie zusammenführt, insoweit einem jeden sein Teil zukommt an der Vollendung des Lebens. Vielmehr ist dies gerade das eigentliche Ziel, das sie alle gemeinsam und jeder einzelne für sich dabei verfolgen, jedoch auch schon um der bloßen Erhaltung des Lebens willen treten sie zusammen und halten an der staatlichen Gemeinschaft fest. Denn im Leben liegt, wie es scheint, eben schon selber ein Teil des Guten, solange nicht die Art, wie man lebt, allzu drückende Lasten mit sich bringt. Sieht man doch, daß die große Mehrzahl der Menschen aus Liebe zum Leben viel Ungemach zu ertragen bereit ist, so daß doch wohl in demselben schon ein gewisses Glück und eine natürliche Süßigkeit liegen muß. 432 V. Politik Aber auch die in Frage stehenden Arten des Regierens sind nicht schwer zu unterscheiden, denn schon im gewöhnlichen Verkehr pflegen wir häufig die Bestimmungen über sie zu treffen. Die Herrschaft des Herrn über den Sklaven nämlich, obwohl in Wahrheit der Vorteil des Sklaven von Natur und des Herrn von Natur derselbe ist, wird dennoch im eigentlichen Sinne zum Vorteil des Herrn und zu dem des Sklaven nur zufällig ausgeübt, nämlich nur insofern, als die Herrschaft nicht aufrechterhalten werden kann, wenn der Sklave zugrunde geht. Die Regierung dagegen über Weib und Kind und das ganze Haus, die wir die Hausverwaltung nennen, besteht um der Regierten oder, wenn man lieber sagen will: um des gemeinsamen Wohles beider Teile willen, doch an sich nur um desjenigen der Regierten und nur abgeleiteterweise auch um der Regierenden willen, wie wir ja ein ähnliches Verhältnis auch bei anderen [1279a] Künsten, wie z. B. der Heilkunst und der Gymnastik wahrnehmen. Denn nichts hindert ja den Gymnastikmeister, zuweilen auch selber einer von den Athleten zu sein, so gut wie der Schiffsführer immer auch zugleich selber einer der Schiffsleute ist; Gymnastikmeister und Schiffsführer haben nun aber das Wohl derer, die sie regieren, im Auge; sofern sie aber selbst einer von diesen sind, kommt in abgeleiteter Weise der Vorteil derselben auch ihnen mit zugute, denn der eine ist eben auch ein Schiffsmann und der andere wird, obwohl er Gymnastikmeister ist, doch selber einer der Athleten. Hiernach war denn auch in bezug auf die Regierungsämter im Staat, wo derselbe auf der Ebenbürtigkeit und Gleichheit der Bürger gegründet ist, das Verlangen der letzteren, daß die Bekleidung der Ämter unter ihnen abwechsele, früher der Natur der Sache entsprechend darauf gerichtet, daß man abwechselnd dem Staate diene und daß für das Wohl eines jeden auch wieder einmal ein anderer sorge, gleichwie er selbst vorher als Regierender für das Beste dieses anderen gesorgt habe; jetzt aber möchte jeder wegen der Vorteile, die ihm aus Staatsmitteln durch sein Amt erwachsen, gern für immer an der Regierung bleiben, und es ist gerade, wie wenn die Leute alle kränklich wären und der Besitz der Ämter ihnen die Gesundheit brächte, denn dann würden sie sich auch wohl nicht mehr um sie reißen. Hieraus erhellt denn nun, daß alle diejenigen Verfassungen, welche den gemeinsamen Nutzen im Auge haben, richtige sind nach dem Recht schlechthin, diejenigen dagegen, welche nur den eigenen Vorteil der Regierenden, fehlerhafte und sämtlich bloße Abarten der richtigen Verfassungen, denn 433 3. Grundbegriffe sie sind despotisch, während doch der Staat eine Gemeinschaft von freien Leuten ist. An diese Feststellungen schließt sich nun unmittelbar jene Betrachtung selber an, wieviele Verfassungen es gibt und welches dieselben sind. Und zwar beginnen wir dabei mit den richtigen Verfassungen, denn sind diese erst festgestellt, so müssen sich daraus auch ihre Abarten ergeben. Da nun Staatsverfassung und Staatsregierung ein und dasselbe bedeuten, die Staatsregierung aber die oberste Gewalt der Staaten ist, so muß diese Gewalt entweder von einem oder von wenigen oder von der Mehrzahl des Volkes repräsentiert werden. Wenn dieser eine oder diese wenigen oder die Mehrzahl des Volkes bei ihrer Regierung das allgemeine Wohl im Auge haben, so ergeben sich in allen drei Fällen richtige Verfassungen, wenn aber nur den eigenen Nutzen des einen oder der wenigen oder der großen Mehrzahl, dann bloße Abarten, denn entweder verdienen die Teilnehmer gar nicht den Namen von Staatsbürgern, oder aber sie müssen auch alle Anteil an den Vorteilen haben. Diejenige Art von Alleinherrschaft nun aber, welche auf das Gemeinwohl ihr Augenmerk richtet, pflegen wir Königtum zu nennen, die Herrschaft von wenigen, aber doch immer von mehr als einem Aristokratie, sei es nun, daß dies heißen soll Herrschaft der Besten oder daß es bedeutet, ihr Zweck sei das Beste des Staates und der Gemeinschaft; wenn endlich die Mehrzahl des Volkes den Staat mit Rücksicht auf das Gemeinwohl verwaltet, so wird dies mit dem gemeinsamen Namen aller Verfassungen, nämlich Politeia benannt. Dies mit Recht: denn daß ein einzelner oder eine Minderzahl sich durch besondere Tugend auszeichnet, kann leicht vorkommen, daß aber eine größere Zahl es zu [1279b] jeder Art von Tugend im strengen Sinne bringt, ist schon eine schwierige Sache, und am ehesten ist dies noch möglich in bezug bloß auf die kriegerische Tüchtigkeit, denn das ist eine Tugend der Massen. Daher ist auf Grund dieser Verfassung die oberste Staatsgewalt bei der wehrhaften Bevölkerung, und diejenigen, welche an den Staatsrechten teilhaben, sind hier die Waffentragenden. Die Abarten der genannten Verfassungen sind nun aber: vom Königtum die Tyrannis, von der Aristokratie die Oligarchie und von der Politeia die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine solche Art von Alleinherrschaft, welche lediglich zum Vorteil des Monarchen, Oligarchie eine solche Herrschaft, welche zu dem der Reichen, und Demokratie eine 434 V. Politik solche, welche zu dem der Armen geführt wird, und auf das, was dem ganzen Gemeinwesen frommt, sieht keine von ihnen. Wir müssen indessen etwas ausführlicher angeben, was eine jede dieser Staatsverfassungen ist, denn es hat noch sehr seine Bedenken. Wer nämlich bei irgendwelchen Untersuchungen sein Thema philosophisch behandelt und nicht bloß auf das Praktische sein Augenmerk richten will, dem kommt es zu, nichts zu übersehen oder unberührt zu lassen, sondern die Wahrheit über ein jedes zutage zu fördern. Zunächst ist also, wie gesagt, die Tyrannis eine Allein- und Gewaltherrschaft über die staatliche Gemeinschaft, eine Oligarchie ferner findet statt, wenn die Vermögenden im Besitz der obersten Staatsgewalt sind, und eine Demokratie, wenn nicht die, welche viel Vermögen besitzen, sondern vielmehr die Armen; und da ist denn nun das erste Bedenken gegen diese Abgrenzung gerichtet. Denn gesetzt, die Mehrzahl, die im Besitz der Staatsgewalt ist, bestände aus Reichen, da doch dort, wo die große Menge dieselbe in Händen hat, wohl Demokratie ist, oder es käme irgendwo vor, daß die Armen von geringerer Zahl als die Reichen, aber doch stärker und dadurch zum Besitz der Staatsgewalt gelangt wären, da doch dort, wo die Minderzahl dieselbe hat, die Verfassung als Oligarchie bezeichnet zu werden pflegt, so scheint hiernach unsere Abgrenzung dieser Verfassungen gegeneinander nicht richtig getroffen zu sein. Wollte man indessen auch beide Bestimmungen miteinander verbinden, indem man zum Reichtum noch die Minderzahl und zur Armut noch die Mehrzahl hinzufügte, und danach beide Verfassungen so benennen, Oligarchie sei da, wo die Reichen, in der Minderzahl befindlich, die Staatsämter innehaben, und Demokratie da, wo die Armen, in der Mehrzahl befindlich, so würde damit nur eine andere Schwierigkeit entstehen. Denn zu welcher Verfassung soll man dann die beiden angegebenen Fälle rechnen, daß die Reichen, in der Mehrzahl, und die Armen, in der Minderzahl befindlich, die Staatsgewalt haben, wenn anders es neben den vorhin genannten Verfassungen doch keine weitere gibt? Diese Erwägung scheint klarzumachen, daß es nur eine zufällige Bestimmung ist, ob diejenigen, welche die oberste Staatsgewalt ausüben, die Minderzahl oder die Mehrzahl bilden, und zwar das erstere eine zufällige Bestimmung für die Oligarchie und das letztere für die Demokratie, insofern der reichen Leute überall wenige 435 3. Grundbegriffe und der armen viele zu sein pflegen, aus welchem Grund denn auch die beiden eben genannten Fälle keine Verfassungsunterschiede hervorrufen, und daß dagegen dasjenige, was den Unterschied zwischen Demokratie und Oligarchie ausmacht, Armut und Reichtum [1280a] ist und daß überall da, wo auf Grund des Reichtums regiert wird, gleichviel ob von einer Minder- oder von einer Mehrzahl, dies notwendig als Oligarchie gelten muß, und wo die Armen regieren, als Demokratie. Wogegen, wie gesagt, es nur ein Zufall ist, daß jene die Minderzahl und diese die Mehrzahl sind; denn der Reichtum pflegt nur wenigen zuzukommen, an der Freiheit aber nehmen alle teil, aus welchem Grunde beide die Verfassungsmäßigkeit für sich in Anspruch nehmen. (Pol. III 6-8) [1280a31] Nun haben sie sich aber doch zum Staat vereinigt nicht um des bloßen Lebens, sondern vielmehr um des vollkommenen Lebens willen - denn sonst müßten auch Sklaven und Tiere einen Staat bilden können, so aber können sie es nicht, weil sie weder an der Glückseligkeit noch an einem Leben auf Grund freier Entscheidung beteiligt sind -, und auch nicht nur um eines Schutzbündnisses willen, zur Abwehr jeder ungerechten Beeinträchtigung, und ebensowenig um des Handelsverkehrs und des gegenseitigen Nutzens willen, denn sonst müßten ja auch die Tyrrhener und Karthager und überhaupt alle die Völker, zwischen denen Handelsverträge bestehen, Bürger eines Staates sein, denn Vereinbarungen über Einfuhrartikel und Abkommen zum Schutz vor gegenseitiger Beeinträchtigung und schriftliche Bestimmungen über Kriegsbündnisse gibt es auch bei ihnen, aber es bestehen zu diesem Zweck keine allen [1280b] gemeinsame Staatsämter, sondern jeder Staat hat seine eigenen, noch sorgt ein Teil um die Eigenschaften, welche die anderen haben sollen, und dafür, daß keiner der Vertragsgenossen ungerecht wird und in keine Schlechtigkeit verfällt, sondern nur dafür, daß man einander gegenseitig kein Unrecht antue. Vielmehr aber gerade die politische Tugend haben alle diejenigen im Auge, welche auf gute gesetzliche Ordnung bedacht sind, und daraus ist denn bereits klar, daß ein Staat, der in Wahrheit so zu heißen verdient und es nicht bloß dem Namen nach ist, sich die Tugend zur angelegentlichen Sorge machen muß, denn sonst wird aus der Gemeinschaft ein bloßes Kriegsbündnis, das sich von jenen anderen, die mit entfernter wohnenden Bundesgenossen geschlossen werden, nur durch die Örtlichkeit unterscheidet, und aus dem Gesetz 436 V. Politik ein bloßer Vertrag und das, als was es der Sophist Lykophron bezeichnete, ein bloßer „Bürge der gegenseitigen Gerechtsame“, und nicht wohnt dann in ihm die Kraft, die Bürger gut und gerecht zu machen. Und offen zutage liegt es, daß sich die Sache so verhält. Denn gesetzt auch man verbände die verschiedenen Wohnorte ineins, so daß der Staat der Megarer und der der Korinther mit den Mauern einander berührten, so würde dadurch noch nicht aus beiden ein Staat werden, und ebensowenig, wenn sie das Recht zu gegenseitigen Eheverbindungen aufgerichtet hätten, sosehr dies auch ein dem Staate eigentümliches Verbindungsmittel ist, und desgleichen auch, wenn eine Zahl von Leuten zwar gesondert voneinander wohnte, aber doch nicht so weit voneinander entfernt, daß nicht eine Gemeinschaft zwischen ihnen bestehen könnte, sie vielmehr auch Gesetze hätten, einander in ihrem Tauschverkehr kein Unrecht zu tun; und gesetzt, die einen von ihnen wären Zimmerleute, die anderen Landwirte, noch andere Schuster und was weiter dahin gehört, und es wären ihrer zehntausend, aber es bestände unter ihnen keine weitere Gemeinschaft als die angegebene von Tauschverkehr und Kriegsbündnis, so würde auch so noch kein Staat entstehen. Und aus welchem Grunde denn nicht? Doch wohl deshalb nicht, weil die Teilnehmer einander nicht nahe genug sind. Denn gesetzt, sie zögen nun auch in eine Gemeinschaft zusammen, jeder betrachtete dabei aber sein eigenes Haus als einen Staat für sich und sich selbst nur als Mitglied eines Schutzbündnisses, indem sie einander nur gegen Beeinträchtigung Beistand leisteten, so würde auch so, wenn man die Sache genau betrachtet, kein Staat unter ihnen bestehen, sofern sie ja so nach dem Zusammenzug nicht anders miteinander verkehrten, als da sie noch getrennt wohnten. Und hieraus ist denn ersichtlich, daß der Staat nicht eine bloße Gemeinschaft des Wohnorts ist oder nur zur Verhütung gegenseitiger ungerechter Beeinträchtigungen und zur Förderung des Tauschverkehrs da ist, sondern daß zwar dies alles vorhanden sein muß, wenn ein Staat entstehen soll, aber wenn es auch alles da ist, hiermit doch kein Staat vorhanden, sondern daß ein solcher erst die Gemeinschaft von Familien und Geschlechtern in einem guten Leben ist, zum Zweck eines vollendeten und sich selbst genügenden Lebens. Freilich ist eine solche nicht möglich, wo man nicht einen und denselben Ort bewohnt und Ehebündnisse miteinander schließt, und daher entstanden in den Staaten Schwägerschaften und Geschlechtsverbände sowie Opfergenossenschaften und Formen des Zu- 437 3. Grundbegriffe sammenlebens. Dies alles aber ist ein Werk der Freundschaft, denn Freundschaft ist nichts anderes als die freie Entscheidung, miteinander zu leben. Das Endziel des Staates jedoch ist die Vollkommenheit des Lebens, und jenes alles sind nur Mittel zum Zweck. Ein Staat ist also eine Gemeinschaft von Geschlechtern und [1281a] Dorfgemeinden zum Zweck eines vollendeten und sich selbst genügenden Lebens, ein solches aber besteht, wie wir behaupten, in einem glückseligen und guten Leben. Als eine Gemeinschaft in guten Handlungen müssen wir mithin die staatliche Gemeinschaft bezeichnen und nicht im bloßen Zusammenleben. Und daraus folgt denn, daß die, welche am meisten zu dieser Art von Gemeinschaft beitragen, auch den meisten Anteil am Staat haben und mehr als die, welche an freier Geburt und an Geschlecht ihnen gleichstehen oder noch überlegen sind, aber an staatlicher Tugend nicht gleichkommen, und als die, welche zwar an Reichtum sie übertreffen, aber an Tugend von ihnen übertroffen werden. Daß nun also in dem Streit über Verfassungen alle mit ihren Behauptungen nur einen Teil des Rechten treffen, liegt hiermit zutage. (Pol. III 9) [1281a39] Über alle anderen Fälle wollen wir hernach genauer handeln, die Ansicht aber, daß doch vielmehr die Volksmenge als die Minderzahl der Tüchtigsten die oberste Staatsgewalt besitzen müsse, läßt sich, wie es scheint, nunmehr beurteilen, und zwar scheint sie manche Bedenken gegen sich, aber auch eine gewisse Wahrheit für sich zu haben. Denn es ist ja möglich, daß die große Volksmasse, wenn auch die einzelnen, aus denen sie besteht, keine [1281b] besonders tüchtigen Leute sind, doch in ihrem Zusammentreten besser ist als eben diese besonders tüchtigen Leute, wenn man eben dabei nicht auf die einzelnen als solche, sondern auf die Gesamtheit sieht, geradeso wie ein Schmaus, zu dem viele beigetragen haben, besser sein kann, als der, welcher auf Kosten eines einzigen veranstaltet wird. Denn da eben diese viele sind, kann ja jeder einzelne von ihnen seinen Teil an Tugend und Einsicht besitzen, und gleichwie nun, wenn sie alle zusammenkommen, dadurch die Menge gleichsam ein einziger Mensch werden kann, mit vielen Füßen und Händen und mit vielen Sinnen, ebenso kann es ja auch in bezug auf die Sittlichkeit und den Verstand zugehen. Daher beurteilen ja auch die Vielen die Werke von Musikern und Dichtern am besten, nämlich der eine diese, der andere jene Seite an denselben und alle zusammen das Ganze. Die einzel- 438 V. Politik nen tüchtigen Leute unterscheiden sich notwendig von einem jeden aus der Menge durch das gleiche, wodurch, wie man sagt, sich von den nicht schönen Menschen die schönen und die gezeichneten Gegenstände von den wirklichen unterscheiden, dadurch nämlich, daß die hier unter viele zerstreuten Vorzüge dort ineins verbunden sind, wobei unter den zerstreuten durchaus hier das Auge und dort ein anderer Körperteil schöner sein kann als bei der Zeichnung. Ob nun freilich bei jedem Volk und jeder Volksmenge es möglich ist, daß der Unterschied der großen Masse von den wenigen besonders tüchtigen Leuten eben dieser sei, ist fraglich, oder vielmehr es steht außer Frage, daß bei manchen Völkern dies unmöglich ist, denn dann müßte dieselbe Rede auch für die Tiere gelten; denn geradezu gesagt: was ist denn für ein Unterschied zwischen manchen Völkern und den Tieren! Aber für die Menge gewisser Völker steht nichts im Wege, daß das Gesagte richtig ist. So läßt sich denn hiermit die vorige Streitfrage erledigen und dazu noch die weitere, sich unmittelbar an sie anschließende: worüber nämlich die Freien und die Volksmenge, d. h. alle diejenigen, welche weder reich sind noch sich durch den Vorzug besonderer Tüchtigkeit auszeichnen, Gewalt haben sollen. Daß nämlich solche Leute auch an den höchsten Staatsämtern Anteil haben, würde eine sehr unsichere Sache sein, denn aus Mangel an Gerechtigkeit und Einsicht müßten sie notwendig hier Unrecht und dort Mißgriffe begehen. Sie dagegen ganz von allen Staatsrechten auszuschließen ist gefährlich, denn wenn eine Menge armer und aller Ehrenrechte beraubter Leute in einem Staat sich befindet, so ist dieser eben damit voll von Feinden. Es bleibt also nur übrig, daß sie an der beratenden und richterlichen Gewalt teilnehmen. Daher haben denn auch Solon und andere Gesetzgeber das Volk zwar zur Wahl und zur Rechenschaftsabnahme der Beamten bestellt, aber eben untersagt, daß solche Menschen als einzelne regieren. Denn alle verbunden besitzen zuverlässigen Sinn, und wenn sie mit den Besseren vermischt sind, nützen sie dem Staat in ähnlicher Weise, wie die nichtnahrhafte Speise mit der nahrhaften vereinigt das Ganze für den Körper gedeihlicher macht, als wenn ihm der wenige Teil an nahrhafter allein geboten wird, dagegen jeder einzelne für sich ist unfähig zur Entscheidung. Freilich hat nun diese Art von Staatsordnung zunächst dies Bedenken gegen sich, daß es scheinen könnte, als ob die Entscheidung darüber, wer einen Kranken richtig behandelt habe, auch nur dem zustehe, der selbst 439 3. Grundbegriffe einen solchen zu behandeln und ihn von der vorliegenden Krankheit zu befreien versteht, und das ist der Arzt, und als ob es ähnlich [1282a] mit allen anderen Künsten und Fertigkeiten stehe, so daß also, wie der Arzt nur von Ärzten, so überhaupt jeder nur von seinesgleichen zur Rechenschaft gezogen werden könne. Nur freilich ist Arzt nicht bloß der Praktiker für einzelne Fälle und derjenige, welcher das ganze Gebiet dieser Wissenschaft beherrscht, sondern zum dritten auch der in der Heilkunst überhaupt Ausgebildete, denn auch solche gibt es wohl so ziemlich in allen Künsten, und wir schreiben solchen gebildeten Menschen nicht minder ein Urteil zu als den eigentlichen Sachverständigen. Ebenso könnte es nun hinsichtlich der Wahl der Beamten zu stehen scheinen. Denn auch richtig zu wählen scheint ja lediglich Sache der Fachleute zu sein, so daß z. B. nur Geometer die richtige Wahl eines Geometers und Steuermänner die eines Steuermanns zu treffen wissen; und wenn in einzelnen Werken und Künsten wirklich auch manche Laien dazu imstande sind, an der Wahl teilzunehmen, so doch nicht in höherem Grade als die Sachverständigen. Nach diesem Gesichtspunkt also könnte es unrichtig erscheinen, wenn man dem Volk die Gewalt erteilt, sich selbst seine Beamten zu wählen und sie zur Verantwortung zu ziehen. Vielleicht ist jedoch diese Schlußfolgerung nicht so ganz richtig, erstens wegen der früheren Erwägung, vorausgesetzt, daß die Volksmenge nicht gar zu sklavenartig ist, denn jeder einzelne wird ein schlechterer Richter sein als die Sachverständigen, wenn sie sich aber alle zusammentun sind sie besser oder doch nicht schlechter, und indem fürs zweite in manchen Dingen der Verfertiger weder der alleinige noch auch der beste Richter ist, nämlich dort, wo man die Werke verstehen kann, ohne selber die Kunst ihrer Herstellung zu besitzen. So kann z. B. von einem Haus nicht nur derjenige, der es gebaut hat, etwas verstehen, sondern es wird der, der es in Gebrauch genommen hat, nämlich der Hausverwalter, selber noch besser darüber urteilen, und ebenso der Steuermann über das Steuer noch besser als der Schiffszimmermann und über ein Essen der Gast und nicht der Koch. Dies Bedenken also scheint hiermit hinlänglich behoben zu sein, aber es reiht sich an dasselbe noch ein anderes an. Es scheint nämlich doch widersinnig zu sein, daß die schlechteren Leute über bedeutendere Angelegenheiten mehr entscheidende Gewalt haben sollen als die tüchtigen. Nun sind aber die Wahl der Beamten und die Verantwortung, zu der sie 440 V. Politik gezogen werden, die bedeutendsten von allen, und diese sind, wie gesagt, in machen Verfassungen dem Volk selbst übertragen, und in allen diesen Dingen ist die Volksversammlung die oberste Gewalt; und doch nehmen an der Volksversammlung und an dem Rat und an den Gerichten auch Leute von geringster Schatzung und beliebigem Alter teil, während zum Schatzungs- und Kriegsamt und überhaupt zu den höchsten Staatsämtern nur Leute von höherer Schatzung gewählt werden dürfen. Indessen möchte sich auch dies Bedenken wohl ähnlich beseitigen lassen und diese Anordnung doch in ihrem guten Recht sein. Denn nicht der einzelne Richter, das Ratsmitglied oder das Mitglied der Volksversammlung ist ein Regierender, sondern erst das ganze Gericht, der ganze Rat und das Volk, und davon ist jeder der genannten, nämlich das Ratsmitglied, das Mitglied der Volksversammlung und der Richter, ein Teil. Mit Recht also hat die Volksmenge über bedeutendere Angelegenheiten Gewalt, weil eben erst aus jener großen Vielheit sich das Volk, der Rat und das Gericht zusammensetzt. Auch betragen die Einschätzungen aller dieser zusammen mehr als die Einschätzungen derer, die einzeln oder nur zu wenigen die hohen Staatsämter verwalten. So wäre denn also diese [1282b] Streitfrage zu entscheiden, aus der ihr vorangehenden aber geht nichts so klar hervor als dies, daß die oberste Staatsgewalt den Gesetzen zukommen muß, vorausgesetzt, daß diese wohlgeordnet sind, der Regierende aber, mag er einer sein oder mehrere, nur über das Gewalt haben soll, was die Gesetze nicht genau zu bestimmen vermögen, weil nicht leicht über alles sich zutreffende allgemeine Regeln geben lassen. Von welcher Beschaffenheit aber freilich die wohlgeordneten Gesetze sein müssen, ist damit noch durchaus nicht klar, vielmehr bleibt in dieser Hinsicht die oben aufgeworfene Frage stehen. Wenn indessen doch je nach der Beschaffenheit der verschiedenen Verfassungen selbst notwendig auch die ihnen entsprechenden Gesetze gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht sind, so ist klar, daß die nach den richtigen Verfassungen entworfenen notwendig gerecht und die nach den abgearteten ungerecht sind. (Pol. III 11) [1288a32] Nun aber stellten wir drei richtige Verfassungen auf, und von diesen muß notwendig wieder diejenige die beste sein, bei welcher der Staat von den besten Leuten verwaltet wird, und dieser Fall tritt da ein, wo ein einzelner oder ein ganzes Geschlecht oder aber eine Menge alle 441 4. Verfassungen; Demokratie übrigen zusammen an Tugend überbietet, vorausgesetzt, daß die einen in der Lage sind, sich regieren zu lassen, und die anderen, zu regieren mit Rücksicht auf die Erreichung des wünschenswertesten Lebens; im Anfang dieser Untersuchung endlich wurde gezeigt, daß notwendig die Tugend des Mannes und die des Bürgers im besten Staat dieselbe sei; und aus diesem allen geht denn hervor, daß es dieselbe Weise und dieselben Mittel sind, durch welche einer zum tüchtigen Manne wird und durch welche man den Staat aufs beste einrichtet, sei es in Form der Aristokratie oder aber des Königtums, so daß mithin auch [1288b] Erziehung und Sitten etwa dieselben sind, welche den tüchtigen Mann und welche den tüchtigen Staatsmann und König bilden. Nachdem aber dies festgestellt ist, müssen wir nunmehr den Versuch machen, von der besten Staatsverfassung zu reden und die naturgemäße Art, wie sie ins Leben gerufen und eingerichtet werden muß, anzugeben. (Pol. III 18) 4. Verfassungen; Demokratie [1288b10] In allen Künsten und Wissenschaften, die sich nicht nur auf den einen oder anderen Teil beschränken, sondern eine bestimmte Gattung vollständig umfassen, ist es Sache einer und derselben Wissenschaft, das dieser Gattung Angemessene nach jeder Richtung zu betrachten; z. B. ebensowohl, welche Übung einem so und welche einem so beschaffenen Körper angemessen ist, wie auch, welches die beste ist, indem ja diese keine andere als die dem durch Naturbegabung und günstige Umstände am besten beschaffenen angemessene sein kann, und welches die durchschnittlich beste für die meisten ist, denn auch dies letztere zu bestimmen ist Aufgabe der Gymnastik; und wenn endlich einer nicht nach der hinreichenden Geschicklichkeit und nach dem Wissen begehrt, welche die Wettkämpfe erfordern, wird es um nichts weniger immer noch Sache des Gymnastiklehrers und des Meisters der Leibesübungen sein, ihm auch diesen Grad von Fertigkeit zu verschaffen. Gleiches sehen wir auch bei der Arzneikunde, beim Schiffsbau, bei der Kleidermacherei und bei jeder anderen Kunst zutreffen. Hieraus erhellt denn nun, daß es auch Sache derselben Wissenschaft ist zu untersuchen, welches die beste Verfassung und wie beschaffen sie am wünschenswertesten sein möchte, falls keine äußeren Umstände es hindern, und welche Verfassung für welche 442 V. Politik Menschen paßt, indem es vielen wohl unmöglich sein möchte, die beste zu erlangen, und so dem tüchtigen Gesetzgeber und wahren Staatsmann neben der schlechthin besten Verfassung auch die nach den Umständen beste nicht verborgen bleiben darf und drittens auch diejenige nicht, welche auf gegebenen Voraussetzungen beruht, indem er auch von ihr in Betracht zu ziehen verstehen muß, wie sie wohl ins Leben gerufen werden und, wenn schon bestehend, auf welche Weise sie wohl möglichst lange Zeit erhalten werden möchte - insofern es ja vorkommt, daß es einem Staat nicht nur nicht zuteil wird, nach der besten Verfassung verwaltet zu werden und mit den notwendigen Mitteln ausgestattet zu sein, sondern auch nicht die nach der vorhandenen Sachlage möglichst beste zu erlangen, sondern eine schlechtere -, und nicht minder erhellt, daß endlich zu dem allen der Staatsmann auch noch die Aufgabe hat, die für alle Staaten am besten passende Verfassung zu kennen. Die meisten nämlich, die sich über Verfassungen geäußert haben, wenn sie auch sonst viel Richtiges sagen, verfehlen doch das Anwendbare. Denn nicht bloß die beste Staatsverfassung muß man ins Auge fassen, sondern auch die mögliche und dazu die, zu welcher sich am leichtesten und allgemeinsten von allen Staaten aus gelangen läßt; sie aber suchen entweder bloß nach der trefflichsten und vieler günstiger Bedingungen bedürftigen, oder wenn sie eine mehr allgemein erreichbare vorführen, so glauben sie, nur so einfach die bestehenden Verfassungen über den Haufen werfen und die lakonische [1289a] oder sonst eine andere anpreisen zu können, während man doch eine solche Ordnung einzuführen suchen muß, zu welcher von den bestehenden Verfassungen aus die Bürger sich am leichtesten bereden lassen und überzugehen imstande sind, indem man es nicht für eine geringere Aufgabe halten darf, der bestehenden Staatsverfassung aufzuhelfen, als von Hause aus eine neue zu begründen, geradeso wenig, wie das Umlernen eine geringere als das Lernen ist, daher denn der Staatsmann zu dem Gesagten auch den bestehenden Verfassungen aufzuhelfen verstehen muß wie dies auch vorhin schon bemerkt wurde. Dies ist aber unmöglich wenn er nicht weiß, wieviele Arten von Verfassung es gibt; nun aber meinen einige, es gebe nur eine Art Demokratie und nur eine Art Oligarchie; das aber ist nicht richtig. Und so darf denn auch dies dem Staatsmann nicht unklar bleiben, welches die Unterschiede unter den Verfassungen sind und wie vielfach die Möglichkeit ihrer Zusammensetzung ist. 443 4. Verfassungen; Demokratie Mittels eben dieser nämlichen Einsicht hat er endlich aber auch zu bestimmen, welches die besten und welches die jeder Verfassung gemäßen Gesetze sind. Denn nach den Verfassungen müssen sich die Gesetze richten und richten sich alle auch wirklich nach ihnen und nicht die Verfassungen nach den Gesetzen. Denn Verfassung ist die Ordnung der Staaten in bezug auf die Regierungsämter, wie sie zu verteilen sind, und die Bestimmung der obersten Regierungsgewalt im Staate wie auch des Endziels der jeweiligen Gemeinschaft, Gesetze aber sind dasjenige, wodurch zu jenen Verfassungsbestimmungen noch eine gesonderte Anweisung dafür hinzugefügt wird, wie jene Regierenden regieren und allen Übertretern wehren sollen. Und hieraus erhellt denn nun, daß man die verschiedenen Verfassungsarten und die Zahl einer jeden Art auch zum Zweck der Gesetzgebung innehaben muß, indem die nämlichen Gesetze nicht für alle Oligarchien und ebenso nicht für alle Demokratien ersprießlich sein können, wenn anders es mehrere Arten und nicht nur eine Demokratie oder Oligarchie gibt. (Pol. IV 1) [1289b27] Davon nun, daß es mehrere Verfassungen gibt, ist die Ursache dies, daß jeder Staat aus mehreren Teilen besteht. Zuvörderst nämlich sehen wir alle Staaten aus Familien bestehen und sodann wieder diese ganze Menge mit Notwendigkeit in Arme, Reiche und einen Mittelstand zerfallen und wieder diese Reichen und Armen in Waffenführende und Waffenlose. Und das Volk sehen wir in Bauern, Kaufleute und Handwerker sich scheiden, und auch bei den Vornehmen bestehen Unterschiede einmal nach Reichtum und Größe des Besitzes, etwa in der Zucht von Pferden, denn das können sie nicht leicht bewerkstelligen, wenn sie nicht reich sind, und daher bestanden denn in alten Zeiten in allen denjenigen Staaten, deren Hauptstärke in der Reiterei lag, auch oligarchische Verfassungen, es bedienten sich aber der Reiterei zu den Kriegen gegen ihre Nachbarn z. B. die Eretrier, die Chalkidier, die Bürger von Magnesia am Maiandros und von vielen anderen Städten in Asien; zu diesen Unterschieden an Vermögen kommen aber sodann noch der an Geburt und der [1290a] an Tugend, und was wir sonst noch als Teil des Staates aufgeführt haben in den Erörterungen über Aristokratie, denn dort haben wir auseinandergesetzt, aus wievielen notwendigen Teilen ein jeder Staat besteht. Von diesen Teilen nun aber haben entweder alle oder die Minder- oder die Mehrzahl an den Verfassungsrechten An- 444 V. Politik teil, und daraus ergibt sich denn, daß es notwendig mehrere Staatsverfassungen geben muß, welche der Art nach verschieden sind, da sich jene Teile selber der Art nach voneinander unterscheiden. Denn Staatsverfassung ist die Ordnung der Regierungsämter, und diese verteilen alle entweder nach der Macht der Teilnehmenden oder nach einer bestimmten ihnen gemeinsamen Gleichheit, z. B. Armut oder Reichtum, oder nach einer anderen gemeinsamen Gleichheit. Notwendig gibt es also so viele Verfassungen, wie es Arten der Ordnung nach den Vorzügen und Unterschieden der Teile gibt. Hauptsächlich aber nimmt man gewöhnlich zwei an, gleichwie zwei Hauptwinde, Nord und Süd, indem man alle anderen Winde nur als Abarten von diesen betrachtet. So soll es auch nur zwei Hauptverfassungen geben, Demokratie und Oligarchie, indem man die Aristokratie nur als eine Art von Oligarchie ansieht und die sogenannte Politie als eine Art von Demokratie, geradeso wie den Westwind als eine Art von Nordwind und den Ostwind von Südwind. Und auch mit den Tonarten soll es nach der Meinung einiger ähnlich stehen, sofern es auch von ihnen nur zwei Hauptarten gebe, die dorische und phrygische, indem alle anderen Tonverhältnisse teils als solche von dorischer Art, teils als solche von phrygischer Art bezeichnet werden. So also pflegen die meisten Leute zu denken, richtiger und besser aber ist unsere Einteilung, nach welcher eine oder zwei wohl eingerichtet sind, alle anderen aber Abarten von der wohlgefügten Tonart wie von der besten Verfassung, und zwar so, daß die strafferen und despotischeren Verfassungen oligarchische, die lockeren und schlaffen demokratische Abarten sind. Man darf aber nicht, wie heutzutage manche pflegen, so schlechthin da eine Demokratie setzen, wo die Menge die oberste Staatsgewalt innehat, denn auch in Oligarchien und überall kann die Mehrzahl die oberste Staatsgewalt haben, und ebensowenig da eine Oligarchie, wo eine geringe Zahl die oberste Staatsgewalt hat. Denn gesetzt, die Gesamtzahl betrüge dreizehnhundert, und von diesen wären tausend reich, und diese tausend gäben den übrigen dreihundert, die arm sind, aber freie Leute und ihnen im übrigen in allen Stücken gleich, keinen Anteil an der Staatsregierung, so würde niemand behaupten, daß dieser Staat demokratisch verwaltet werde, und desgleichen, wenn umgekehrt jene geringe Zahl von Armen dennoch die Mehrzahl der Reichen beherrschte, so daß 445 4. Verfassungen; Demokratie diese von allen Ehrenrechten ausgeschlossen wäre, so würde niemand diesen Zustand eine Oligarchie nennen. Man muß also vielmehr sagen, daß [1290b] eine Demokratie dann vorhanden ist, wenn die Freien, und eine Oligarchie, wenn die Reichen die oberste Staatsgewalt innehaben, und es ist nur ein hinzutretender Umstand, daß die einen in der Mehrzahl und die anderen in der Minderzahl sind, sofern der freien Leute viele, der reichen aber wenige sind. Denn auch wenn man etwa nach der Körpergröße den Anteil an der Staatsregierung abmessen wollte, wie einige sagen, daß es in Äthiopien geschieht, oder nach der Schönheit, würde dies sonst eine Oligarchie sein, denn gering ist die Zahl der Leute von besonderer Körpergröße und Schönheit. Trotzdem indessen reicht diese Bestimmung beider Verfassungen allein auch nicht aus. Da vielmehr sowohl die Demokratie wie die Oligarchie eine Mehrzahl von Bestandteilen in sich schließt, muß man in der Unterscheidung von beiden noch etwas weitergehen und sagen, daß weder, wo eine Minderzahl von bloß freien Leuten über eine Mehrzahl regiert - wie dies z. B. in Apollonia am Ionischen Meer und in Thera der Fall war, indem in diesen beiden Staaten alle Ehrenrechte ausschließlich in den Händen jener wenigen unter vielen waren, welche durch edle Geburt hervorragten und die ersten Gründer dieser Kolonien waren -, Demokratie vorliegt, noch, wo die Reichen, nur weil sie in der Mehrzahl sind, das Übergewicht haben, Oligarchie - wie sich dieser Fall einst in Kolophon ereignete, denn hier war die Mehrzahl der Bürger zu großem Vermögen gelangt, bevor der Krieg gegen die Lyder eintrat -, sondern daß vielmehr Demokratie dann gegeben ist, wenn die Freien und Armen, in der Mehrzahl befindlich, die oberste Staatsgewalt besitzen, Oligarchie aber, wenn die Reichen und Edleren als Minderheit regieren. Daß es nun also mehrere Verfassungen gibt und aus welcher Ursache, ist hiermit dargelegt, daß es aber auch mehr als jene angegebenen gibt, und welche und aus welchem Grunde, das wollen wir jetzt von dem vorhin bereits genommenen Ausgangspunkt aus dartun. Wir gingen nämlich von dem allgemein anerkannten Satz aus, daß jeder Staat nicht nur einen, sondern mehrere Teile hat. Folglich müssen wir nun bei dieser Frage ebenso zu Werke gehen, als wenn wir uns vorgesetzt hätten, alle Tierarten festzustellen. Wir würden nämlich dann doch zunächst zu bestimmen suchen, welches die einem jeden Tier notwendigen Organe sind, nämlich gewisse Sinneswerkzeuge, die Organe zur Aufnahme und 446 V. Politik Verarbeitung von Speisen oder mit anderen Worten Mund und Bauch, und endlich die für die Bewegung erforderlichen Glieder. Gesetzt nun sodann, es sollte überall nur diese Organe geben, aber verschiedene Arten eines jeden derselben, also von Mund, Bauch, Sinnes- und Bewegungswerkzeugen, so wird jede beliebige Zahl irgendwelcher Verbindungen von verschiedenen Arten des einen Organs mit verschiedenen der anderen stets mehrere Arten von Tieren ergeben, da es ja unmöglich ist, daß dasselbe Tier zugleich verschiedene Arten von Mund, Ohren usw. an sich tragen kann; wenn man daher alle möglichen Verbindungen nimmt, so werden daraus die Tierarten entstehen, und zwar gerade so viele, wie eben Verbindungen der notwendigen Teile möglich sind. Wie gesagt also, auf dieselbe Weise verhält es sich auch mit dem Genannten, nämlich den Verfassungen, denn auch die Staaten bestehen nicht aus einem, sondern aus mehreren Teilen, wie wiederholt gesagt wurde. Einer derselben nun ist der, welcher die Nahrungsmittel produziert, der sogenannte Bauern[1291a]stand, ein zweiter der sogenannte Handwerkerstand, der sich mit denjenigen Künsten beschäftigt, ohne welche der Staat nicht bestehen kann, indem die einen für das schlechthin Unentbehrliche vorhanden sein müssen und die anderen für den Luxus und die Verschönerung des Lebens, ein dritter sodann der Handelsstand, d. h. alles, was sich mit Verkauf und Einkauf und mit Großwie mit Kleinhandel beschäftigt, ein vierter der Tagelöhnerstand, ein fünfter der Wehrstand, der um nichts minder notwendig als alle jene Teile ist, wenn anders der Staat nicht in die Knechtschaft eines jeden fallen soll, der ihn angreift; und in Wahrheit, es würde ein Ding der Unmöglichkeit sein, daß ein Staat seinen Namen verdiente, wenn er so von Natur dazu geeignet wäre, sich knechten zu lassen, denn der Staat ist etwas Selbständiges, nichts Knechtisches aber ist selbständig. Und daher klingt dasjenige zwar recht artig, ist aber doch nicht befriedigend, was Sokrates darüber im ,Staat‘ sagt, nämlich aus vier Arten von Leuten müsse der notdürftigste Staat bestehen, und das seien die Weber, Ackerbauern, Lederarbeiter und Baumeister; und bald setzt er denn auch wieder, in dem Gefühl, daß diese allein doch noch nicht miteinander autark sind, den Schmied und die Hüter der unentbehrlichen Arten von Herdenvieh hinzu und dann noch den Kaufmann und Krämer, und mit diesen allen insgesamt soll nun die Zahl der Mitglieder des ersten Staates voll sein, gerade als ob ein jeder Staat um des Notwendigen und nicht um der Vervollkommnung willen be- 447 4. Verfassungen; Demokratie stände und gleich sehr der Bauern wie der Lederarbeiter bedürfte. Die Entstehung des Wehrstandes dagegen läßt er nicht früher eintreten, als bis der Staat durch Erweiterung seines Gebietes und Berührung mit den Nachbarn in Krieg gerät. Aber auch unter den vieren, oder wieviele es sonst sein mögen, die zu einer Gemeinschaft zusammentreten, muß doch notwendig auch jemand da sein, der Recht spricht und urteilt. Wenn anders man nun aber von einem lebendigen Wesen doch die Seele für einen wesentlicheren Teil hält als den Leib, so muß man auch von den Staaten für wesentlichere Bestandteile als die, welche bloß auf die Befriedigung der unentbehrlichen Bedürfnisse hinarbeiten, diese halten: den Krieger- und Richterstand, und dazu die Beratenden, in deren Aufgabe die Staatsklugheit zur Geltung kommt. Ob aber diese Tätigkeiten als gesonderte Stände auftreten oder von demselben Stand ausgeübt werden, macht für das Argument keinen Unterschied, denn ebenso sind ja auch in vielen Staaten die Bauern zugleich die Krieger. Wenn nun diese Stände so gut wie jene als Teile des Staates zu setzen sind, so ist klar, daß auch der Kriegerstand einen notwendigen Teil des Staates darstellt. Den siebenten Teil machen sodann diejenigen aus, welche mit ihrem Vermögen die Staatslasten tragen, also die sogenannten Wohlhabenden, den achten die Verwalter der öffentlichen Angelegenheiten und diejenigen, welche die Lasten der Regierungsämter tragen, sofern ja ohne Staatsbeamte kein Staat bestehen kann, daher es denn notwendig Leute im Staat geben muß, welche denselben zu regieren befähigt sind und diese Dienste für den Staat entweder ununterbrochen oder miteinander abwechselnd leisten. Und dann bleiben endlich noch die beiden eben bereits bestimmten Stände, nämlich der beratende und der, welcher die Rechtsstreitigkeiten entscheidet. Wenn also diese Geschäfte in den Staaten besorgt und gut und gerecht besorgt werden müssen, [1291b] so bedarf es notwendig auch solcher Leute, welche die Tüchtigkeit echter Staatsmänner besitzen. Alle diese Fähigkeiten nun lassen nach der Meinung vieler sich in denselben Personen vereinigen, so daß also dieselben Leute zugleich Krieger, Bauern und Gewerbetreibende sind und dazu auch Ratsherren und Richter, und selbst auf die Tugend machen alle Anspruch, und die meisten glauben, Regierungsämter verwalten zu können. Daß dagegen dieselben Leute auch zugleich reich und arm seien, ist unmöglich. Und daher eben scheinen dies die wesentlichsten Teile des Staates zu sein, nämlich die Armen und die Reichen, und da überdies noch gewöhnlich 448 V. Politik die Reichen die Minder- und die Armen die Mehrzahl bilden, scheinen nur diese beiden Teile des Staates wirklich entgegengesetzte Teile desselben zu sein, so daß sie denn auch die Verfassungen nur, je nachdem einer dieser beiden Teile das Übergewicht hat, unterscheiden und zwei Verfassungen zu bestehen scheinen, Demokratie und Oligarchie. Daß es nun mehrere Verfassungen gibt und aus welchen Ursachen, ist schon früher dargelegt worden, daß es aber auch mehrere Arten von Demokratie und Oligarchie gibt, haben wir jetzt zu entwickeln. Indessen erhellt auch dies aus dem schon Dargelegten. Denn es gibt mehrere Arten sowohl des Volkes als der sogenannten Vornehmen. Eine Art des Volkes nämlich sind die Bauern, eine andere die Gewerbetreibenden, eine dritte das Handelsvolk, d. h. alles, was mit Kauf und Verkauf zu tun hat, eine vierte die Seeleute, und diese selbst zerfallen wieder in Krieger, Kauffahrer, Fährleute und Fischer, und jede dieser Arten hat gewisse Orte, an denen sie zahlreich ist, so die Fischer in Tarent und Byzanz, die Kriegsmatrosen in Athen, die Kauffahrer in Aigina und Chios, die Fährleute in Tenedos, und zu allen diesen Leuten kommen dann ferner noch die Tagelöhner, die wegen ihrer dürftigen Lage sich keine Muße gönnen dürfen, ferner diejenigen, welche zwar frei sind, aber nicht beiderseits von Staatsbürgern abstammen, und was es etwa sonst noch für ähnliche Arten von Leuten gibt. Die Unterschiede zwischen den vornehmen Leuten aber bestehen in Reichtum, Adel, Tugend, Bildung, und was weiter für Unterschiede von gleicher Art wie diese geltend gemacht werden. Die erste Art von Demokratie nun ist die, welche vorzugsweise auf Gleichheit beruht. Als Gleichheit nämlich bestimmt das Gesetz dieser Demokratie, daß um nichts mehr die Armen oder die Reichen den Vorrang haben und daß weder die einen noch die anderen die oberste Staatsgewalt besitzen, sondern sich gleichstehen. Denn wenn die Freiheit vorzugsweise in der Demokratie zu suchen ist, wie manche meinen, und die Gleichheit, so dürfte eine solche wohl am meisten da zu finden sein, wo wirklich alle gleichen Anteil an den Verfassungsrechten haben; und da doch immer das Volk die Mehrzahl bildet und hier auch immer die Beschlüsse der Mehrzahl gelten, so muß diese Staatsform Volksherrschaft sein. Das ist also eine Art der Demokratie; eine andere ist es, wenn die Regierungsämter auf Grund der Vermögensschätzung zugeteilt werden. Das erforderliche Vermögen ist klein, und jeder, der es erwirbt, hat auch das Recht der Teilnahme an den Ämtern, jeder aber, der es verliert, darf 449 4. Verfassungen; Demokratie nicht mehr daran teilnehmen. [1292a] Eine andere Art von Demokratie besteht darin, daß alle Bürger von unbescholtener Geburt an den Ämtern teilhaben, dabei aber das Gesetz regiert; eine andere aber darin, daß jemand nur noch Bürger zu sein braucht, um zu allen Staatsämtern gelangen zu können, dabei aber das Gesetz regiert; und eine weitere ist die, in welcher es im übrigen ebenso zugeht, aber die Menge die oberste Entscheidung hat und nicht das Gesetz. Dies aber ist der Fall, wenn alles nach Volksbeschlüssen entschieden wird und nicht nach dem Gesetz; und daß es dahin kommt, geschieht durch die Volksführer. Denn in solchen Demokratien, in welchen das Gesetz herrscht, kommt kein Demagog auf, sondern die tüchtigsten unter den Bürgern sind die Stimmführer, wo aber die Gesetze nicht entscheiden, da stehen Demagogen auf. Dort nämlich wird das Volk Alleinherrscher, wenn auch ein aus vielen einzelnen zusammengesetzter, da die vielen nicht jeder für sich, sondern als Gesamtheit die Regierungsgewalt ausüben. Ob übrigens Homer, wenn er von der „Vielherrschaft“ spricht, die „nimmer Gedeihen bringt“, damit diese Art von Vielherrschaft gemeint hat oder die, bei welcher mehrere, jeder für sich genommen, Regierende sind, steht dahin. Eine solche Art von Volk, da es Alleinherrscher ist, sucht unumschränkt zu gebieten, indem es sich von den Gesetzen nicht regieren läßt, und wird so zu einem Despoten, so daß denn auch die Schmeichler bei ihm zu Ehren kommen, und es entspricht eine solche Volksherrschaft der Tyrannenherrschaft unter den Monarchien. Darum ist denn auch der Charakter beider derselbe, und beide herrschen despotisch über alle Besseren, und die Volksbeschlüsse spielen hier die nämliche Rolle wie dort die Befehle; auch Demagog und Schmeichler entsprechen einander genau, und beide haben bei beiden am meisten Einfluß, der Schmeichler beim Tyrannen und der Demagog bei einem solchen Volk. Die Demagogen nun sind schuld daran, daß alles nach Volksbeschlüssen und nicht nach den Gesetzen entschieden wird, indem sie alles vors Volk ziehen. Denn dadurch werden sie mächtig, daß das Volk alles selbst entscheidet und sie nun eben wieder die Meinung des Volkes bestimmen, indem sie es ja sind, denen die Menge gehorcht. Dazu kommt nun aber noch, daß alle, welche Beschwerde gegen irgendwelche Staatsbeamten führen, sich auf die Entscheidung des Volkes berufen. Dies nun nimmt eine solche Berufung bereitwillig an, und so lösen sich alle Ämter auf. Mit Recht nun darf man dieser Art von Demokratie vorwerfen, daß sie gar keine Verfassung 450 V. Politik ist. Denn wo nicht die Gesetze regieren, da ist auch keine Verfassung. Denn das Gesetz muß über das Ganze gebieten, die Regierenden dagegen über die einzelnen Fälle, und nur wo dies geschieht, kann die Rede von einer Verfassung sein. Wenn also auch die Demokratie eine von den Verfassungen sein soll, so ist offenbar ein solcher Zustand, in welchem alles durch Volksbeschlüsse regiert wird, eigentlich auch keine Demokratie. Denn kein Volksbeschluß kann allgemeiner Natur sein. Damit dürften die Arten der Demokratie festgestellt sein. (Pol. IV 3-4) 5. Politie [1293b22] Nun aber bleibt uns noch übrig, von der sogenannten Politie zu reden und von der Tyrannenherrschaft. Und zwar haben wir diese Anordnung, obschon weder die erstere noch die eben genannten Aristokratien bloße Abarten sind, deshalb gewählt, weil sie doch immerhin wirklich von dem Wege der richtigsten Verfassung alle bereits abirren, sodann weil sie gewöhnlich unter die Abarten gezählt werden, die letzteren sind aber eigentlich Abarten von ihnen, wie wir schon in den Anfängen unserer Darstellung bemerkt haben. Was aber die Tyrannenherrschaft anlangt, so ist es vernünftig, sie zuletzt in Betracht zu ziehen, weil sie von allen Verfassungen am wenigsten eine ist, unsere Untersuchung sich ja aber eben um Verfassungen dreht. Das ist also der Grund, weshalb wir diese Art von Anordnung getroffen haben, jetzt aber wollen wir von der Politie handeln, denn ihr Charakter wird nun klarer, nachdem über die Oligarchie und die Demokratie die nötigen Bestimmungen getroffen sind, denn die Politie ist eben, kurz gesagt, eine Mischung von Oligarchie und Demokratie. Freilich pflegt man gewöhnlich die Formen, die mehr zur Demokratie neigen, Politien zu nennen, und diejenigen, die mehr zur Oligarchie neigen, Aristokratien, weil mit dem größeren Reichtum auch Bildung und Adel eher verbunden zu sein pflegen. Überdies geht man von der Ansicht aus, daß ja die Reichen das schon besitzen, um dessentwillen man das Unrecht begeht; deshalb nennt man sie auch die guten, edlen und vornehmen Männer. Und da nun die Aristokratie bestrebt ist, den besten unter den Bürgern den Vorrang zu erteilen, meint man demgemäß, daß auch die Oligarchien eher aus guten und edlen Männern bestehen. Nun [1294a] scheint es aber ein Ding der Unmög- 451 5. Politie lichkeit zu sein, daß sich in einem wohlgesetzlichen Zustand ein Staat befinde, der nicht von den Besten, sondern von Schlechten regiert wird, und desgleichen auch, daß ein nicht in wohlgesetzlichem Zustand befindlicher Staat doch von den Besten regiert werden könne, und Wohlgesetzlichkeit ist da nicht vorhanden, wo zwar gute Gesetze bestehen, aber nicht befolgt werden. Man muß daher zwei Arten von Wohlgesetzlichkeit annehmen, die eine, daß die bestehenden Gesetze befolgt werden, und die andere, daß die bestehenden Gesetze, an die man sich hält, gut sind (denn man kann auch schlechten bestehenden Gesetzen Folge leisten), und bei diesen sind wieder zwei Fälle möglich: sie sind entweder die für diese Bürger bestmöglichen oder die besten schlechthin. Es dürfte aber allem Anschein nach Aristokratie vorzugsweise darin bestehen, daß die Ehrenrechte je nach der Tüchtigkeit verteilt sind. Denn das bestimmende Merkmal der Aristokratie ist Tugend, das der Oligarchie Reichtum, das der Demokratie Freiheit; daß dagegen die Mehrheit entscheidet, ist allen gemeinsam, denn in Oligarchie, Aristokratie und Demokratien, überall hat das verbindliche Kraft, was die Mehrzahl derer, welche an den Verfassungsrechten teilnehmen, beschlossen hat. Daher wird denn also jene Art von Verfassung mit Unrecht in den meisten Staaten Aristokratie genannt - denn die Mischung geht ja hier bloß auf wohlhabend und dürftig, Reichtum und Freiheit -, weil in der Ansicht der meisten Leute die Reichen auch schon den Platz der Guten und Edlen ausfüllen; da es vielmehr drei Dinge sind, welche den Anspruch auf Gleichheit der Staatsrechte begründen, Freiheit, Reichtum, Tugend - denn das vierte, welches man Adel nennt, geht in den beiden letzteren auf, Adel ist nämlich altvererbte Tugend und Wohlhabenheit -, so ist offenbar, daß man die Mischung der beiden Elemente, der Reichen und Armen, Politie nennen muß, die aller drei aber vorzugsweise vor allen anderen Aristokratie, nächst jener eigentlich wahren und ersten. Daß es nun also noch andere Arten von Verfassung gibt außer der Monarchie, der Demokratie und Oligarchie, ist hiermit dargetan, und nicht minder liegt zutage, welche dies sind und wie sich, sowohl die Aristokratien voneinander als auch die Politien von der Aristokratie unterscheiden und daß diese beiden Formen nicht weit auseinanderliegen. Auf welche Weise nun aber neben der Demokratie und Oligarchie die sogenannte Politie entsteht und wie man bei der Einführung derselben 452 V. Politik zu verfahren hat, darüber haben wir jetzt im Anschluß an das bisherige zu reden. Zugleich aber wird dabei zutage treten, welches die Merkmale sind, nach denen man die Demokratie und nach denen man die Oligarchie bestimmt, denn eben den Unterschied beider muß man zunächst feststellen, um dann aus jeder von beiden gleichsam eine Halbmarke zu entnehmen zu der neuen Zusammensetzung. Es gibt nun drei Formen dieser Zusammensetzung und Mischung. Entweder nämlich nimmt man die gesetzlichen Bestimmungen von beiden zusammen, wie z. B. in bezug auf das Richten. Denn hier pflegt man in den Oligarchien für die Reichen eine Strafe darauf zu setzen, wenn sie sich der richterlichen Tätigkeit entziehen, den Armen aber keinen Sold für dieselbe zu bewilligen, in den Demokratien umgekehrt den Armen Sold dafür zu geben und über die Wohlhabenden keine Strafe zu verhängen; der gemeinsame Mittelweg nun aber ist, daß man beides miteinander verbindet, und daher paßt dies auch [1294b] für die Politie, denn man erhält so eine aus beiden gemischte Form. Dies wäre denn also die eine Art von Verknüpfung, eine zweite aber ist die, daß man zwischen den beiderseitigen Ordnungen ein Mittleres nimmt, wie wenn z. B. die Teilnahme an der Volksversammlung dort von einer geringen oder von gar keiner Schatzung abhängig gemacht ist, hier aber von einer hohen, dann ist das Gemeinsame, daß man keines von beidem tut, sondern einen Vermögenssatz zur Bedingung macht, der zwischen diesen beiden Sätzen die Mitte hält. Die dritte Möglichkeit endlich ist, daß man von beiden Ordnungen etwas nimmt, das eine aus dem oligarchischen Gesetz, das andere aus dem demokratischen. Es gilt z. B. für demokratisch, die Staatsämter durchs Los, und für oligarchisch, sie durch Wahl zu besetzen, und für demokratisch, die Befähigung zu ihnen an keine Schatzung zu binden, für oligarchisch aber, sie von einer solchen abhängig zu machen; folglich entspricht es der Aristokratie und Politie, aus beiden je eins zu entnehmen, aus der Oligarchie die Ernennung der Beamten durch Wahl und aus der Demokratie die Befreiung dieser Ernennung von der Rücksicht auf eine Schatzung. Dies ist also die Art und Weise der Mischung. Das Zeichen aber davon, daß die Mischung von Demokratie und Oligarchie wohlgelungen ist, dürfte dies sein: wenn es möglich ist, eine und dieselbe Verfassung zugleich Demokratie und Oligarchie zu nennen. Denn dazu kommt es bei denen, die sie so nennen, offenbar darum, weil die Mischung gut 453 6. Umwälzungen erfolgt ist; so geht es ja überhaupt dem Mittleren, weil in ihm die beiden Extreme zur Erscheinung kommen. Eben dies trifft nun zu bei der Verfassung der Lakedaimonier. Denn viele wollen von ihr reden als von einer Demokratie, weil diese Staatsordnung viel Demokratisches in sich hat, wie vor allem die Einrichtung der Kindererziehung, indem die Kinder der Reichen geradeso wie die der Armen auferzogen werden und dieselbe Art von Bildung, welche die ersteren erhalten, auch den Kindern der Armen möglich gemacht wird; und ganz dieselbe Weise erstreckt sich auf das nächstfolgende Alter und die Zeit, wenn sie Männer geworden sind, denn in nichts zeichnet sich der Reiche vor dem Armen aus, so sehr ist die Kost für alle dieselbe in den gemeinsamen Mahlzeiten, und eine solche Kleidung tragen die Reichen, wie sie auch von den Armen ein jeglicher sich anschaffen kann. Außerdem wird von den beiden höchsten Staatsämtern das eine durch Volkswahl besetzt, und an dem anderen nimmt das Volk teil; denn den Rat der Alten wählt das Volk und am Ephorenamt ist es beteiligt. Andere dagegen bezeichnen diese Verfassung vielmehr als eine Oligarchie, weil sie viel Oligarchisches an sich hat, wie zum Beispiel, daß alle Staatsbeamten durch Wahl ernannt werden und keiner durch Los und daß die Entscheidung über Tod und Verbannung in den Händen von wenigen liegt, und vieles derartige mehr. Es muß also in einer wohlgemischten Politie beides zu erkennen sein und doch wieder keines von beidem, und sie muß sich durch sich selbst erhalten und nicht bloß durch äußere Umstände, und zwar durch sich selbst nicht nur insoweit, daß diejenigen, welche ihren Fortbestand wollen, in der Mehrzahl sind, denn das könnte auch in einer schlechten Verfassung sich ereignen, sondern in der Weise, daß überhaupt keiner von den Teilen des Staates eine andere Verfassung will. In welcher Weise man denn also bei der Einrichtung einer Politie und ebenso auch der sogenannten Aristokratien verfahren muß, ist hiermit dargelegt. (Pol. IV 8-9) 6. Umwälzungen [1302a16] Da wir nun aber untersuchen, woraus die Empörungen und Verfassungsänderungen entspringen, müssen wir zunächst ihre Gründe und Ursachen im allgemeinen erkennen. Man könnte sagen, daß ihrer 454 V. Politik wohl drei an der Zahl sind, von denen wir eine jede für sich zunächst umrißweise feststellen müssen. Denn es gilt zu erkennen, in welcher inneren Verfassung sich die Menschen befinden, die zum Aufruhr schreiten, und zu welchem Zweck sie es tun und drittens, welches die Gründe der staatlichen Erschütterungen und der Streitigkeiten der Menschen gegeneinander sind. Als Ursache nun, welche die Menschen zu Verfassungsänderungen geneigt macht, muß man im allgemeinen vorzugsweise diejenige bezeichnen, welche wir bereits besprochen haben. Die einen nämlich empören sich aus dem Anspruch auf Gleichberechtigung, indem sie sich den Bevorrechteten gleichstellen und sich doch hinter ihnen zurückgesetzt sehen, die anderen, weil sie nach Ungleichheit trachten und nach Überlegenheit, indem sie glauben, obwohl sie ungleich sind, doch nicht mehr zu haben, sondern gleich viel oder gar weniger. Ein solches Streben kann gerecht aber auch ungerecht sein; denn die einen erregen Aufruhr, um von der Minderzur Gleichberechtigung, diese, um von der Gleichzur Mehrberechtigung zu gelangen. Welcherlei innere Verfassung die Leute zum Aufruhr treibt, ist also gesagt; die Gegenstände aber, worüber sie streiten, sind Gewinn und Ehre und ihr Gegenteil, denn auch um der Unehre und Strafe zu entgehen oder sie von ihren Freunden abzuwehren, erregen die Leute Unruhen in den Staaten. Die Ursachen und Gründe der Bewegungen aber, durch welche die Menschen in die geschilderte Stimmung versetzt werden und die auf das Genannte hinzielen, sind in gewisser Hinsicht sieben an der Zahl, in anderer aber noch mehr. Zwei von ihnen sind dieselben wie die eben genannten, aber nicht in dem bisherigen Sinne. Denn um des Gewinnes oder der Ehre willen zürnen sie gegeneinander, aber nicht um dies für sich selbst zu erwerben, wie vorhin gesagt wurde, sondern [1302b] weil man sieht, daß andere teils gerecht, teils ungerecht sich in einen Mehrbesitz dieser Güter setzen. Die ferneren Ursachen sind Maßlosigkeit, Furcht, Überlegenheit, Verachtung, unverhältnismäßiges Wachstum, in anderer Hinsicht aber noch Amtserschleichung, Nachlässigkeit, Geringfügigkeiten, Ungleichartigkeit. Welchen Einfluß nun die Maßlosigkeit und Gewinnsucht haben, und in welchem Sinne sie Ursachen sind, liegt wohl offen zutage. Denn sind die Regierenden übermütig und habsüchtig, so erheben sich die Staatsbürger 455 6. Umwälzungen gegeneinander sowie gegen die Verfassung, die ihnen dazu die Macht gibt. Die Habsucht kann sich im übrigen sowohl gegen das Privatgut als gegen das Staatsvermögen richten. Klar aber ist es auch von der Ehre, sowohl, welchen Einfluß sie ausübt, als auch, wie sie der Anlaß zum Aufruhr wird, denn der Anblick der Ehre anderer beim eigenen Mangel an Ehre reizt dazu; und in der Tat geschieht ja ein Unrecht, wenn wider Verdienst und Würdigkeit Bevorzugung und Zurücksetzung stattfindet, sonst aber beide berechtigt sind. Überlegene Macht eines einzigen oder mehrerer bringt dann Staatsumwälzungen hervor, wenn sie größer ist, als es sich mit den Verhältnissen des Staates und der Macht der Regierung verträgt, denn es pflegt daraus dann eine Alleinherrschaft oder eine Dynastenherrschaft zu entstehen. Daher pflegt man denn an manchen Orten, wie in Argos und Athen, solche Männer durch das Scherbengericht zu entfernen; jedoch besser ist es, darauf zu sehen, daß sie überhaupt gar nicht aufkommen, als dies erst ruhig geschehen zu lassen und dann hinterher den Schaden zu heilen. Aus Furcht erregen diejenigen Aufstände, welche Unrecht begangen haben und nun eine Strafe fürchten müssen, und ebenso diejenigen, welche Unrecht zu leiden fürchten und nun dem zuvorkommen wollen, wie sich z. B. in Rhodos die Vornehmen gegen das Volk zusammentaten wegen der ihnen angehängten Prozesse. Verachtung führt zu Auflehnung und Angriff namentlich in Oligarchien, wenn die an den Verfassungsrechten nicht Beteiligten in der Mehrzahl sind, indem sie dann die Stärkeren zu sein glauben, und in Demokratien, wenn den Wohlhabenden alle Achtung verlorengeht wegen der Unordnung und Gesetzlosigkeit, wie sowohl in Theben die Demokratie infolge ihrer schlechten Staatsverwaltung zugrunde ging, und zwar nach der Schlacht bei Denophyta, als auch die in Megara, indem die Demokraten infolge der Unordnung und Anarchie unterlagen, und die in Syrakus vor der Tyrannenherrschaft des Gelon und die in Rhodos vor dem Aufstand bestehende Demokratie. Auch das unverhältnismäßige Emporwachsen kann Verfassungsänderungen erzeugen. Denn gleichwie der Leib aus Teilen besteht, die im Verhältnis zueinander wachsen müssen, damit die Symmetrie bleibe, sonst aber zugrunde geht, wie wenn z. B. der Fuß vier Ellen und der übrige Leib zwei Spannen lang würde oder wohl auch in die Gestalt eines anderen lebenden Wesens sich umwandeln müßte, wenn nämlich das 456 V. Politik unverhältnismäßige Wachstum nicht bloß in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht vor sich gehen sollte, so besteht auch der Staat [1303a] aus Teilen, von denen oft einzelne unvermerkt anwachsen, wie z. B. die Masse der Mittellosen in den Demokratien und Politien. Dies kann zuweilen durch zufällige Umstände geschehen. So entstand in Tarent infolge der Niederlage gegen die Japygen, bei der viele Vornehme gefallen waren, kurze Zeit nach den Perserkriegen Demokratie aus Politie; und in Argos war man genötigt, nachdem viele in der Schlacht am Siebenten wider den Lakonen Kleomenes gefallen waren, einen Teil der Hintersassen in die Bürgerschaft aufzunehmen; und in Athen wurden infolge der unglücklichen Landschlachten die Reihen der Vornehmen gelichtet, indem während des lakonischen Krieges Mann für Mann nach der Liste dienen mußte. Dies geschieht - freilich seltener - auch in den Demokratien: wenn die Zahl der Wohlhabenden wächst oder wenn das Vermögen zunimmt, schlagen sie in Oligarchien und Dynastenherrschaften um. Ferner kommen Verfassungsänderungen auch ohne Aufruhr infolge von Amtserschleichungen durch Wahlumtriebe vor, wie in Heraia - wo man an die Stelle der Ämterbesetzung durch Wahl die durchs Los deshalb treten ließ, weil nur solche Leute gewählt worden waren, die es durch schlechte Umtriebe dazu brachten -, und infolge von Nachlässigkeit, indem man nämlich solche Leute in die wichtigsten Staatsämter eindringen läßt, welche der Verfassung feindlich gesinnt sind. So ward in Oreos die Oligarchie dadurch gestürzt, daß Herakleodoros unter die regierenden Beamten gelangte, welcher aus derselben eine Politie und eine Demokratie machte. Ein gleiches geschieht auch durch das, was im kleinen eintritt, ich meine damit, daß oft unvermerkt allmählich eine große Veränderung der gesetzlichen Zustände vor sich gegangen ist, weil man nicht darauf achtete, wie sie sich im kleinen vollzog. So war die zu Staatsämtern berechtigende Schatzung in Ambrakia eine geringe, schließlich aber kamen Leute ohne alles Vermögen zur Regierung, als ob zwischen dem Wenig und dem Nichts nur ein unbedeutender oder gar kein Unterschied wäre. Zu Aufständen geneigt macht aber auch die Stammesverschiedenheit, bis eine Verständigung eintritt. Denn ebensowenig wie aus jeder beliebigen Volksmasse ein Staat wird, ebensowenig auch nicht innerhalb jeder beliebigen Zeit, und daher haben denn auch die meisten von denjenigen 457 6. Umwälzungen Staaten, die gleich zu Anfang Mitbewohner hatten oder später zugewanderte Ansiedler aufnahmen, an inneren Unruhen zu leiden gehabt. So gründeten Achaier mit Troizeniern zusammen Sybaris, als dann aber die ersteren zahlreicher geworden waren, vertrieben sie die letzteren, wodurch der Fluch über die Sybariten kam. Und auch in Thurioi gerieten die Sybariten mit ihren Miteinwohnern in Streit, indem diese geltend machten, daß ihnen das Land gehöre, und sie auf Grund dessen höhere Ansprüche machten, was denn zu ihrer Vertreibung führte. Ferner wurden in Byzanz die Ansiedler darüber ertappt, daß sie Umtriebe gegen die Byzantiner machten, und dafür gleichfalls durch Waffengewalt vertrieben, und die Antissaier, die flüchtige Chier aufgenommen hatten, trieben dieselben durch Waffengewalt wieder aus. Umgekehrt wurden die Zanklaier selbst von den Samiern vertrieben, welche sie aufgenommen hatten. Die Bewohner von Apollonia am Schwarzen Meere gerieten in Aufstände, seitdem sie Ansiedlern den Zugang gestattet hatten. Ebenso hatten die Syrakuser nach den Zeiten der Tyrannenherrschaft Aufruhr seitens der [1303b] Fremden und Söldner, die sie zu Bürgern gemacht hatten, und es kam zur Schlacht; von den Amphipoliten wurden die meisten durch die chalkidischen Ansiedler vertrieben, die sie unter sich aufgenommen hatten. Genauer aber sind es in den Oligarchien die Volksmassen, welche aufstehen, indem sie sich beeinträchtigt fühlen, weil sie, obwohl den anderen gleich, nicht der gleichen Rechte teilhaftig sind, wie vorhin bemerkt wurde, in den Demokratien aber die Vornehmen, weil sie mit denen gleiche Rechte haben, welchen sie doch ungleich sind. Zuweilen kommt es in den Staaten auch wegen der Örtlichkeit zu inneren Zwistigkeiten, wenn das Land nämlich nicht günstig gelegen ist, um zu einem einzigen Staat zusammengefaßt zu werden, wie z. B. in Klazomenai ein solcher Gegensatz zwischen den Bewohnern des Chytron und denen der Insel und in Kolophon zwischen den Kolophoniern und den Notiern bestand. Und auch in Athen fehlt es nicht an einem solchen Widerstreit, vielmehr sind die Bewohner des Peiraieus demokratischer gesinnt als die der Stadt. Gleichwie nämlich im Krieg die Überschreitung auch der kleinsten Gräben die Truppen aus Reih und Glied bringt, so erzeugt offenbar auch im Staat jeder Unterschied ein Auseinandergehen. Das stärkste Auseinandergehen nun findet zwischen Tugend und Schlechtigkeit statt, dann folgt das zwischen Reichtum und Armut, 458 V. Politik und so ist denn immer noch wieder eins stärker als das andere; auch das eben Erwähnte aber gehört hierher. (Pol. V 2-3) 7. Demokratie [1316b31] Wieviele und welche verschiedenen Formen der beratenden und der obersten Staatsgewalt sowie Ordnungen der Staatsämter und desgleichen der Gerichtshöfe es gibt und welche Art Einrichtung für diese und welche für jene Verfassung paßt und welches die Ursachen des Untergangs und die Mittel zur Erhaltung der verschiedenen Verfassungen sind, ist denn nun im vorigen abgehandelt worden. Da es aber mehrere Arten von Demokratie und desgleichen von den übrigen Verfassungen gibt, so wird es nicht schaden, einerseits, was etwa von diesen zu sagen noch übrig ist, in Betracht zu ziehen, und andererseits, die einer jeden Verfassung eigentümliche und ersprießliche Form anzugeben; überdies aber sind auch noch bei jenen schon abgehandelten Gegenständen die möglichen Verbindungen aller jener [1317a] Formen in Betracht zu ziehen, denn solche Verbindungen erzeugen gewisse Kreuzungen der Verfassungen, so daß z. B. Aristokratien entstehen mit oligarchischem und Politien mit einem mehr demokratischen Anstrich. Ich verstehe nämlich unter solchen Paarungen, wie sie in Betracht gezogen werden müssen und bisher noch nicht gezogen sind, z. B. dies: wenn die beratende Staatsgewalt und die Beamtenwahl oligarchisch geordnet sind, die Gerichte aber aristokratisch oder diese und die beratende Gewalt oligarchisch, die Beamtenwahl aber aristokratisch, oder wenn in irgendeiner anderen Weise nicht alles vereinigt ist, was einer einzigen Staatsform eigentümlich ist. Welche Art von Demokratie nun für einen so oder so beschaffenen Staat und welche Art von Oligarchie für eine so oder so beschaffene Volksmasse und für welche Leute diese oder jene von den übrigen Verfassungen gedeihlich sei, ist denn freilich schon früher ausgeführt worden; doch da es nicht bloß klar sein muß, was für eine von diesen Verfassungen die beste für den jeweiligen Staat ist, sondern auch darzulegen ist, in welcher Weise man sie und alle andern einzuführen hat, so wollen wir das letztere in Kürze tun. Und zwar beginnen wir mit der Demokratie, denn damit werden wir auch über die entgegengesetzte Verfassung ins klare kommen, nämlich über die, welche man Oligarchie nennt. 459 7. Demokratie Für diese Untersuchung haben wir nun alle demokratischen und als Folge einer Demokratie angesehenen Einrichtungen aufzusuchen, denn aus ihrer verschiedenartigen Zusammensetzung ergeben sich die verschiedenen Arten von Demokratie und entspringt dieser Umstand selbst, daß es eben mehr als eine Art von Demokratie gibt und daß diese Arten verschieden sind. Denn zwei Ursachen sind es, welche diese Vielheit hervorrufen, fürs erste die früher angegebene: weil die Bevölkerungen verschieden sind, indem die Menge bald aus Bauern, bald aus Handwerkern und Tagelöhnern besteht, wovon denn die Folge ist, daß, wenn in einer Demokratie zu der ersten Art von Bevölkerung die zweite und dann wieder zu beiden die dritte kommt, dadurch nicht bloß der Unterschied eintritt, daß die Demokratie besser oder schlechter wird, sondern auch der, daß sie gar nicht mehr dieselbe bleibt. Die zweite Ursache aber ist die, von welcher wir eben jetzt sprechen: die als Folge der Demokratie erscheinenden und als dieser Verfassung eigentümlich angesehenen Einrichtungen machen je nach der Art ihrer Zusammensetzung miteinander die Demokratien zu anderen, indem ein geringerer Teil dieser Einrichtungen die eine Art, ein größerer die andere und alle insgesamt die dritte begleiten werden. Eben darum nun aber ist es erforderlich, jede einzelne derselben zu kennen sowohl zur Einführung derjenigen Art von Demokratie, welche man ins Leben rufen will, als auch zur Verbesserung einer schon bestehenden. Denn jene, die Verfassungen gründen wollen, versuchen, alle Einrichtungen, die der gesetzten Grundlage angemessen sind, ohne Ausnahme miteinander zu verbinden; doch damit begehen sie einen Fehler, wie in den Erörterungen über Untergang und Erhaltung der Verfassungen dargelegt worden ist. Setzen wir denn jetzt die Grundsätze, Charaktere und Strebensziele der Verfassungen auseinander. Grundlage der demokratischen Verfassung ist die Freiheit: ist es doch dies, was man immer im Munde zu führen pflegt, als ob man allein in dieser Verfassung [1317b] an der Freiheit teilhätte, denn das, sagt man, sei das Ziel einer jeden Demokratie. Von der Freiheit nun aber ist zunächst ein Stück, daß das Regieren und Regiertwerden reihum geht. Denn das demokratische Recht ist die Gleichheit nach der Zahl und nicht nach der Würdigkeit. Wo aber dies für das Recht gilt, da muß notwendig die große Menge die entscheidende Gewalt haben, und was die Mehrzahl beschließt, das muß das Endziel und das muß das Recht sein, 460 V. Politik wenn anders wirklich, wie verlangt wird, jeder Staatsbürger mit dem anderen gleiches Recht haben soll. Daraus folgt aber, daß in den Demokratien die Armen größere Gewalt besitzen als die Reichen, denn sie bilden die Mehrzahl, und was diese beschließt, hat die bindende Gewalt über alle. Das ist denn das eine Merkmal der Freiheit, welches alle Demokratien als Grundbestimmung dieser Verfassung hinstellen, das zweite aber ist, leben zu können, wie man will; sie behaupten nämlich, dies sei die wirkliche Aufgabe der Freiheit, wenn es die Eigentümlichkeit des Sklaven ist, nicht leben zu können, wie er will. Aus dieser Bestimmung der Freiheit folgt nun aber wieder, daß man sich nicht regieren läßt, und zwar am liebsten von niemandem, soweit aber dies unmöglich ist, nur abwechslungsweise, und so trifft denn hierin dies zweite Merkmal der Freiheit wieder mit dem ersten, nämlich der Gleichheit zusammen. Aus solchen Grundlagen und aus einem solchen Prinzip ergeben sich denn nun als demokratisch folgende Einrichtungen: daß alle Staatsbeamten aus allen gewählt werden; daß alle über jeden, aber auch wiederum jeder, wenn an ihn die Reihe kommt, über alle regiert; daß die Staatsämter durchs Los besetzt werden, entweder alle oder doch diejenigen, zu denen es keiner besonderen Erfahrung und Fachkenntnis bedarf; daß zu ihrer Bekleidung gar keine oder nur eine sehr geringe Schatzung erforderlich ist; daß mit Ausnahme der Kriegsämter keins von ihnen oder doch nur wenige zweimal von demselben oder daß sie wenigstens nicht viel öfter als einmal bekleidet werden dürfen; daß die Dauer der Amtsführung kurz ist entweder bei allen Ämtern oder doch bei allen, bei welchen es angeht; daß die Richter von allen und aus allen ernannt werden und über alle Fälle oder doch über die meisten, bedeutendsten und entscheidendsten abzuurteilen haben, wie z. B. über die Rechenschaftsabnahme, über Verfassungsfragen und Privatverträge; daß die Volksversammlung die Entscheidung über alle oder doch die wichtigsten Gegenstände hat und keine Behörde über irgendwelche oder doch nur sehr wenige. Von allen Behörden aber ist am meisten demokratisch der Rat, wo nicht die Mittel vorhanden sind, um Sold an alle zu zahlen, denn wo dies der Fall ist, da entzieht man auch dieser Behörde die Gewalt, indem in diesem Falle das Volk alle Entscheidungen an sich selbst reißt, wie schon in der vorangehenden Untersuchung gesagt wurde. Denn das ist eine fernere demokratische Einrichtung, die Besoldung aller Staatsgewalten, der Volksversammlung, der Gerichtshöfe und Staatsämter; wo 461 8. Verfassung aber dies nicht ausführbar ist, wenigstens der Staatsbeamten, Gerichtshöfe und regelmäßigen Volksversammlungen, und zwar, wenn nicht aller Beamten, so doch derjenigen, die zusammen speisen müssen. Wenn die Oligarchie durch edles Geschlecht, Reichtum und Bildung bestimmt wird, so gilt demgemäß für demokratisch das Gegenteil hiervon, niedrige Geburt, Armut und niedriger Bildungsstand der Handarbeiter. Für die Staatsämter ferner gilt, daß keines lebenslänglich sein darf; [1318a] bleibt aber von einer früheren Verfassungsänderung ein solches übrig, dann soll seine Macht eingeschränkt und an Stelle seiner Besetzung durch Wahl die durchs Los eingeführt werden. Das sind nun also die gemeinsamen Merkmale aller Demokratien. Aus dem als demokratisch anerkannten Recht (nämlich, daß alle das Gleiche, der Zahl nach, haben) ergibt sich eben jene Staatsform, die am meisten Volksherrschaft und Volksstaat zu sein scheint. Denn die Gleichheit scheint darin zu bestehen, daß nicht etwa die Reichen im höheren Grade an der Regierung beteiligt sind als die Armen - oder gar allein die Staatsgewalt haben -, sondern alle gleichmäßig nach der Zahl: und so allein, meinen sie, besitze der Staat Gleichheit und Freiheit. (Pol. VI 1- 2) 8. Verfassung [1328a21] Da nun aber überhaupt bei allem, was ein Zusammengesetztes von Natur ist, nicht all das auch schon wirkliche Teile der ganzen Zusammensetzung sind, ohne welches dies Ganze nicht bestehen kann, so darf man offenbar auch als wirkliche Teile des Staates nicht alles dasjenige hinstellen, was für die Staaten unentbehrlich ist, wie z. B. nicht Nahrungsmittel, ein bestimmtes Maß von Land, und was dergleichen mehr ist, noch darf man bei irgendeiner anderen Gemeinschaft so verfahren, aus welcher wirklich eine Einheit der Gattung nach hervorgehen soll. Denn dann muß vielmehr den Mitgliedern der Gemeinschaft auch irgendwie ein und dasselbe gemeinsam sein, mögen sie alle einen gleichen oder auch einen ungleichen Anteil an demselben haben. Wenn nun aber von zwei Dingen das eine Mittel und das andere Zweck ist, so haben beide gar nichts weiter gemein, als daß das eine wirkt und das andere diese Wirkung empfängt. Dies ist z. B. das Verhältnis jedes Werkzeugs 462 V. Politik und ebenso des Werkmeisters zu dem Werk, das hervorgebracht werden soll; bei dem Haus z. B. und dem Baumeister gibt es nichts, was für sie ein Gemeinsames sein könnte, sondern die Kunst der Baumeister ist um des Hauses willen da. Folglich bedarf es zwar wohl des Besitzes für die Staaten, aber der Besitz ist kein Teil des Staates; Teile des Besitzes sind aber auch viele Lebewesen. Der Staat nun aber ist eine Gemeinschaft von Ähnlichkeiten, und zwar zum Zweck des möglichst besten Lebens. Da indessen Glückseligkeit das Beste ist, und diese in der Verwirklichung und vollendeten Ausübung der Tugend besteht und da endlich die Umstände es so mit sich bringen, daß nur ein Teil der Menschen an der Tugend teilzuhaben vermag und ein anderer dagegen wenig oder gar nicht, so liegt offenbar hierin der Grund davon, weshalb mehrere verschiedene Arten von Staat und Staatsverfassung entstehen. Denn indem eben die Menschen auf verschiedene Weise und mit [1328b] verschiedenen Mitteln jenem Zweck nachjagen, rufen sie dadurch auch eine Verschiedenheit der Lebensformen und der Staatsverfassungen hervor. Allerdings muß man andererseits auch untersuchen, was alles dasjenige ist, ohne welches der Staat nicht bestehen kann, denn zu ihm gehört ja auch das, was wir als wirkliche Teile des Staates bezeichnen und was daher notwendig vorhanden sein muß. Wir müssen also die Zahl der Staatsaufgaben ermitteln, denn aus diesen wird auch jenes klar werden. Das erste Erfordernis nun ist Nahrung; das zweite sind die Kunstfertigkeiten, denn das menschliche Leben bedarf einer Fülle von Werkzeugen; das dritte sind die Waffen, denn die Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft bedürfen der Handhabung derselben ebenso nach innen, um die Herrschaft gegen diejenigen aufrechtzuhalten, welche nicht gehorchen wollen, wie nach außen zur Abwehr feindlicher Angriffe; ferner aber bedarf es eines gewissen Vorrats von Geldmitteln, um mit denselben sowohl die Bedürfnisse des inneren Staatslebens als auch die des Kriegswesens zu bestreiten; das fünfte sodann und dem Range nach das erste Erfordernis ist die Besorgung des Gottesdienstes oder des sogenannten Kultus; das sechste endlich, der Zahl nach, aber der Sache nach das allernotwendigste ist die Entscheidung über das, was den Bürgern heilsam und was Rechtens ist unter denselben. Das sind nun also die Verrichtungen, deren geradezu ein jeder Staat bedarf. Denn Staat ist nicht jede beliebige Menschenmenge, sondern eine solche, wie gesagt, die ein sich selbst genügendes Leben zu führen imstande ist; und fehlt eins von den 463 8. Verfassung genannten Stücken, so ist es unmöglich, daß die Gemeinschaft schlechterdings sich selbst genüge. Folglich muß der Staat notwendig vollständig nach den genannten Verrichtungen gegliedert sein. Es muß also eine gewisse Zahl von Ackerbauern da sein, um die Nahrung zu beschaffen, sodann von Handwerkern, ferner eine streitbare Macht, eine Zahl wohlhabender Leute, Priester und endlich Männer, welche die Entscheidung darüber zu fällen haben, was Rechtens und was heilsam ist. Nachdem nun aber dies festgestellt ist, bleibt noch zu untersuchen, ob jeder, der im Staate lebt, an allen diesen Verrichtungen teilhaben soll - denn möglich wäre es ja, daß alle insgesamt zugleich Ackerbauern, Handwerker, Mitglieder des Rates und Richter wären - oder ob für jede der genannten Verrichtungen ein besonderer Stand anzusetzen ist oder ob endlich ein Teil von ihnen von besonderen Ständen, ein anderer aber von allen gemeinsam ausgeübt werden muß. Nun geht es damit aber nicht in allen Verfassungen auf gleiche Weise zu. Denn, wie gesagt, es ist möglich, daß alle im Staat an allen jenen Verrichtungen teilhaben, es ist aber auch möglich, daß dies nicht der Fall ist, sondern für bestimmte auch bestimmte Leute da sind, und dies ist es nun eben, was auch die Staatsverfassungen unterscheidet, denn in den Demokratien haben alle an allem teil, in den Oligarchien aber steht es damit entgegengesetzt. Hier ist nun aber unsere Untersuchung auf die beste Verfassung gerichtet, das aber ist diejenige, durch welche der Staat am meisten glückselig wird, Glückseligkeit endlich, so wurde vorhin bemerkt, ist ohne Tugend unmöglich, und hieraus ergibt sich denn, daß in dem aufs schönste verwalteten Staat, dessen Bürger gerechte Männer schlechthin und nicht bloß bedingungsweise sind, dieselben weder das Leben eines Handwerkers noch das eines Kaufmanns führen dürfen, denn ein solches ist unedel und der Tugend zuwider, und daß auch Ackerbauern diejenigen nicht sein dürfen, welche hier Staatsbürger sein [1329a] wollen, denn es bedarf voller Muße zur Ausbildung der Tugend und zur Besorgung der Staatsgeschäfte. Nun sind aber außerdem im Staate noch vorhanden, und zwar als diejenigen, welche offenbar den meisten Anspruch darauf haben, seine eigentlichen Teile zu sein, die Krieger und diejenigen, welche die beratende und die richterliche Gewalt ausüben, und es fragt sich also: soll man auch diese beiden Aufgaben trennen oder beide denselben Leuten zuweisen? Auch die Antwort auf diese Frage ist klar: in gewisser 464 V. Politik Weise denselben, in gewisser aber wiederum verschiedenen, insofern nämlich beide für ein verschiedenes Lebensalter passen und die eine Einsicht, die andere aber Kraft fordert, verschiedenen; insofern es aber ein Ding der Unmöglichkeit ist, daß diejenigen, welche imstande sind, Gewalt und Widerstand zu üben, es sich gefallen lassen sollten, beständig beherrscht zu werden, insofern wieder denselben. Denn diejenigen, welche die Waffen in Händen haben, die haben auch das Bestehen oder Nichtbestehen der Verfassung in Händen. Es bleibt also nur übrig, daß die Verfassung dies beides denselben Leuten überträgt, aber nicht zu gleicher Zeit, sondern die Natur bringt es mit sich, daß Kraft der Jugend, Einsicht aber dem Alter zukommt, wenn also demgemäß die Aufgaben auf beide Lebenszeiten verteilt werden, so ist dies ebenso zweckmäßig wie auch gerecht, indem bei dieser Verteilung jede von beiden erhält, was ihr gebührt. Aber auch der Besitz muß in den Händen der nämlichen Leute sein, denn für die Staatsbürger ist Wohlhabenheit erforderlich, Staatsbürger aber sind eben diese Leute. Denn die Handwerker haben ja nicht am Bürgerrecht teil und kein anderer Teil der Bevölkerung, dessen Tätigkeit die Tugend nicht fördert. Dies ergibt sich aus der Voraussetzung: Glückseliges Leben ist notwendig mit Tugend verbunden, glückselig aber darf man einen Staat nicht nennen mit Rücksicht nur auf einen seiner Teile, sondern auf alle Staatsbürger. Soll nun aber trotzdem der Besitz in den Händen dieser letzteren sein, so erhellt hieraus ferner, daß die Ackerbauern Sklaven oder die Hintersassen Barbaren sein müssen. Und so bleibt denn von allen vorhin aufgezählten Klassen nur noch der Priesterstand übrig. Auch die ihm zu gebende Ordnung ist klar. Denn natürlich wird man keinen Bauern oder Handwerker zum Priester bestellen, vielmehr ziemt es sich, daß Staatsbürger es sind, welche den Göttern ihre Ehren erweisen; da nun aber die Bürgerschaft in zwei Teile zerfällt, in die bewaffnete Macht und die Berater des Staates, und es sich wohl ziemt, daß diejenigen, welche ihres hohen Alters wegen von diesen beiden Aufgaben bereits entbunden sind, den den Göttern gebührenden Dienst versehen und hierin einen angemessenen Ruheposten finden, so muß man diesen die Priestertümer übertragen. Hiermit ist denn nun über alles das, ohne welches der Staat lediglich nicht bestehen kann, und über alles das, was eigentliche Teile des Staates bildet, gehandelt. Denn Ackerbauern, Handwerker und jede Art von Lohnarbeitern sind zwar unentbehrlich für die Staaten, aber Teile des 465 8. Verfassung Staates sind nur der Wehrstand und die Berater des Staates; jedes dieser Elemente besteht für sich, und in manchen Fällen bleiben sie für immer getrennt, in anderen aber nur für bestimmte Zeit. (Pol. VII 8-9) [1331b24] Nun ist von der Verfassung selbst zu reden und festzustellen, aus welchen und wie beschaffenen Staatsbürgern derjenige Staat bestehen muß, welcher glückselig sein und wohl verwaltet werden soll. Nun gibt es aber zwei Dinge, auf denen das Wohlgelingen in allen Verhältnissen beruht. Das eine ist, daß Zweck und Ziel der Tätigkeit richtig bestimmt sind, das andere aber besteht darin, die zu diesem Endziel führenden Handlungen zu finden. Denn es ist möglich, daß diese beiden Erfordernisse in Widerspruch und daß sie in Übereinstimmung miteinander stehen. Zuweilen hat man sich zwar das richtige Ziel gesetzt, aber beim Handeln verfehlt man das Treffen; zuweilen trifft man alle zum Endziel führenden Mittel richtig, aber man hat sich das falsche Ziel gesetzt. Zuweilen kann man aber auch beides verfehlen, wie zuweilen Ärzte weder richtig beurteilen, wie ein gesunder Körper beschaffen sein muß, noch auch zu dem ihnen vorschwebenden Zweck die wirksamen Mittel ergreifen. So muß man denn also in allen Künsten und Wissenschaften dieser beiden mächtig sein: des Endziels und der zum Endziel führenden Handlungen. Daß nun ferner alle nach dem Wohlergehen und der Glückseligkeit streben, unterliegt keinem Zweifel, aber den einen ist es möglich dies Ziel zu erreichen, den anderen bleibt es durch Zufall oder ihre Natur versagt; denn um glückselig zu leben, [1332a] bedarf es stets äußerer Hilfsmittel, jedoch für die besser Gearteten in geringerem und für die Schlechteren in höherem Grade. Es gibt auch noch andere, die gleich von vornherein die Glückseligkeit nicht auf die richtige Weise suchen, obwohl sie dazu die Möglichkeit haben. Unsere Aufgabe nun aber ist hier die Bestimmung der besten Verfassung, das aber ist diejenige, vermöge derer ein Staat am besten verwaltet wird, und am besten verwaltet wird der Staat vermöge derjenigen Verfassung, welche es ihm am meisten ermöglicht, zur Glückseligkeit zu gelangen. Und hieraus folgt denn, daß es uns nicht im unklaren bleiben darf, worin denn eigentlich die Glückseligkeit besteht. Nun behaupten wir aber und haben dies in der Ethik, wenn anders unsere dort gegebenen Erörterungen etwas nütze sind, genauer dargetan, daß sie in der vollendeten Verwirklichung und Anwendung der Tugend bestehe, und zwar nicht in einem bedingten, 466 V. Politik sondern im absoluten Sinne. Was ich hier aber in einem bedingten Sinne nenne, bezieht sich auf das bloß Unentbehrliche, was im absoluten dagegen, auf das Gute. Bei der Ausübung der Gerechtigkeit z. B. entspringen die gerechten Strafen und Züchtigungen zwar aus der Tugend, aber sie sind notwendig und nur wegen ihrer Notwendigkeit sind sie gut (denn wünschenswerter wäre es ja, wenn weder der einzelne noch der Staat dergleichen bedürfte); dagegen sind die gerechten Handlungen, die sich auf Ehrenauszeichnungen oder auf den Wohlstand beziehen, in unbedingtem Sinne gut. Denn eine Tätigkeit der ersteren Art ist nur die Hinwegschaffung eines Übels, eine der letzteren im Gegenteil die wirkliche Herbeischaffung und Erzeugung eines Gutes. Gewiß wird ein tüchtiger Mann sich auch in Armut, Krankheit und ähnlichen Unglücksfällen schön verhalten, aber das Beseligende liegt doch im Gegenteil derselben. Denn auch das ist in der Ethik ausgeführt worden, daß der Tüchtige ein solcher ist, für den wegen seiner Tugend das schlechthin Gute auch für ihn gut ist, und daraus folgt denn notwendig, daß auch die Art, wie er die Güter anwendet, in absolutem Sinne tugendhaft und schön ist. Daher meinen denn die Leute, daß die äußeren Güter Ursachen der Glückseligkeit seien, das ist aber geradeso, wie wenn man für die Ursache eines schönen Zitherspiels nicht so sehr die Kunst ansehen wollte als vielmehr das Instrument. Aus dem Gesagten ergibt sich nun mit Notwendigkeit, daß gewisse Erfordernisse schon vorhanden sein müssen, während für die Herbeischaffung anderer der Gesetzgeber zu sorgen hat, und darum bleibt uns in bezug auf das, worüber das Glück entscheidet (denn daß es über gewisse Dinge entscheidet, setzen wir voraus) nur zu wünschen übrig, daß der von uns zu bildende Staat desselben teilhaftig werden möge, daß aber der Staat tüchtig werde, das ist nicht mehr Sache des Glücks, sondern des Wissens und Vorsatzes. Tüchtig nun aber kann ein Staat nur dadurch werden, daß alle diejenigen Staatsbürger, welche an den Verfassungsrechten teilhaben, tüchtig sind, an unserem Staat aber wollen alle Bürger Teilhaber sein. Das also ist die Frage, wie ein Mann tüchtig wird. Denn wenn es auch möglich ist, daß die Gesamtheit der Staatsbürger es ist, ohne daß jeder einzelne es zu sein braucht, so ist es doch vorzuziehen, daß auch das letztere der Fall ist, denn ist es jeder einzelne, so ist es eben damit auch die Gesamtheit. Gut und tüchtig nun wird man durch dreierlei, Naturanlage, Gewöhnung und Vernunft. Denn zunächst muß man eine bestimmte Natur haben, 467 8. Verfassung z. B. die eines Menschen und nicht die eines anderen Lebewesens, und sodann eine bestimmte Beschaffenheit des Körpers und der Seele. Bei gewissen Dingen aber wiederum hilft die bloße Naturanlage [1332b] nicht, denn die Gewöhnung kann sie verändern. Manches nämlich ist von Natur entgegengesetzter Ausbildung fähig, und hier ist es denn also die Gewöhnung, welche dasselbe entweder zum Schlechteren oder zum Besseren hinleitet. Die anderen Lebewesen endlich leben zwar vorzugsweise nur nach der Natur und nur einige in einigen wenigen Stücken auch nach der Gewöhnung, aber der Mensch auch nach der Vernunft, denn nur er besitzt Vernunft. So muß dies alles miteinander übereinstimmen; vieles nämlich tun die Menschen auch wider ihre Gewohnheiten und ihre Naturanlage durch die Vernunft, wenn sie sich davon überzeugen, daß es anders besser sei. Von welcher Naturanlage nun diejenigen sein müssen, die für den Gesetzgeber wohl zu lenken sein sollen, haben wir zuvor schon auseinandergesetzt, alles übrige ist aber bereits Sache der Erziehung, denn wir lernen es zum Teil durch Gewöhnung und zum Teil durch Unterricht. (Pol. VII 13) [1334a11] Da nun das Endziel der Menschen sowohl in ihrer Gemeinschaft wie auch jedes einzelnen für sich allein als das gleiche erscheint und dieselbe Bestimmung notwendigerweise dem besten Manne und der besten Staatsverfassung zugrunde liegt, so ist klar, daß die Tugenden der Muße den Vorrang haben müssen, denn eben, wie wiederholt gesagt, der Krieg hat im Frieden und die Arbeit in der Muße ihr Endziel. Nur sind freilich für die Muße und das freie Leben nicht nur diejenigen Tugenden vonnöten, die ihren Wirkungskreis in der Muße, sondern auch solche, die ihn in der Arbeit haben, denn es muß viel Notwendiges schon vorhanden sein, damit man sich der Muße hingeben könne. Und daher ist es denn erforderlich, daß der Staat Enthaltsamkeit und Tapferkeit und Ausdauer besitze. Denn, wie das Sprichwort sagt: „Muße ist nicht für Sklaven“, Staaten aber, deren Staatsbürger nicht tapfer die Gefahr zu bestehen vermögen, werden die Sklaven des ersten besten, der sie angreift. Man bedarf also der Tapferkeit und der Ausdauer zur Arbeit, der Philosophie zur Muße, der Enthaltsamkeit und Gerechtigkeit aber zu beiden Zeiten, und besonders im Frieden und in der Muße. Denn der Krieg zwingt schon von selbst dazu, Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit zu 468 V. Politik üben, der Genuß des Glücks und die Muße des Friedens aber machen eher übermütig; und eines ganz besonderen Grades von Gerechtigkeit und von Enthaltsamkeit bedürfen daher gerade diejenigen, welche für die glücklichsten gelten und im Genuß alles desjenigen leben, um dessentwillen man gewöhnlich Menschen als selig preist, wie etwa die Bewohner der Insel der Seligen, wovon die Dichter erzählen; diese nämlich bedürfen am allermeisten der Philosophie, der Enthaltsamkeit und der Gerechtigkeit, weil sie so sehr in der Fülle jener Güter in Muße leben. Gerade hieraus aber ist klar, warum ein Staat, der glückselig und tüchtig sein soll, dieser Tugenden teilhaftig sein muß. Denn wenn es überhaupt schon schimpflich ist, sich auf den rechten Gebrauch der Güter nicht zu verstehen, so ist es noch schimpflicher, sich auf den Genuß der Muße nicht zu verstehen, sondern in Krieg und Arbeit sich tüchtig zeigen, in Frieden und Muße aber knechtisch. Und so soll man denn nicht so wie der Staat der Lakedaimonier die Tugend üben. Diese unterscheiden sich nämlich nicht dadurch von den an[1334b]deren, daß sie nicht dieselben Güter wie die letzteren für die höchsten halten, sondern nur dadurch, daß sie meinen, diese würden den Menschen durch eine gewisse bestimmte Tugend eher zuteil. Da sie nun aber diese Güter für höhere halten als die Tugenden und ihren Genuß für einen höheren als den der letzteren, so erhielten sie sich nur, solange ihre Kriege dauerten, und gingen zugrunde, nachdem sie die Oberherrschaft erlangt hatten. Daß man nun also die Tugend vor allem in der Muße üben muß, und zwar um ihrer selbst willen, ist hieraus klar, wie und wodurch man aber zu ihr gelangt, ist jetzt zu untersuchen. Nun haben wir vorher auseinandergesetzt, daß es zu diesem Zweck der Natur, der Gewöhnung und der Vernunft bedarf, und wie die Menschen von Natur beschaffen sein müssen, ist früher erörtert worden. Es bleibt also noch übrig zu untersuchen, ob bei der Erziehung die Vernunftbildung oder die Gewöhnung vorangehen muß, denn soviel ist gewiß, daß beide in den vollkommensten Einklang miteinander gebracht werden müssen, weil es ebensosehr möglich ist, daß die Vernunft das beste Grundprinzip verfehlt, wie daß man durch die Gewöhnung in gleicher Weise irregeleitet wird. Hier ist nun zunächst deutlich, daß wie überall, so auch hier die Entstehung bei einem Ausgangspunkt beginnt und das Ende wiederum Anfang für ein anderes Ende ist; die Vernunft und das Einsehvermögen sind aber das Endziel unserer Natur, folglich muß man auf diese hin das Werden des 469 8. Verfassung Menschen und die Bemühung um die Gewohnheiten richten. Ganz in derselben Weise ferner, wie Seele und Leib zweierlei sind, unterscheiden wir wiederum in der Seele zwei Teile, den unvernünftigen und den vernunftbegabten, und die Verhaltensweisen beider, Streben und Einsehen; und geradeso wie der Körper seiner Entstehung nach früher ist als die Seele, so ist auch der unvernünftige Teil der letzteren früher als der vernunftbegabte. Auch dies liegt offen zutage, denn Erregung und Wollen sowie die Begierde sind bei den Kindern gleich nach der Geburt vorhanden, Überlegen und Einsehen aber entwickeln sich naturgemäß nach und nach mit zunehmendem Alter. Also muß die Sorge für den Körper der für die Seele notwendig vorangehen, und dann muß zunächst die richtige Pflege des Strebevermögens nachfolgen, so jedoch, daß man bei der Ausbildung des Körpers die der Seele und bei der des Strebevermögens die des Einsehvermögens als Ziel im Auge hat. (Pol. VII 15) VI. Rhetorik und Poetik Einleitung Dank seiner enzyklopädischen Neugier und wissenstheoretischen Toleranz widmet sich Aristoteles auch zwei von vielen Philosophen vernachlässigte Disziplinen, der Rhetorik und der Poetik. Deren Gegenstände, die öffentliche Rede und die Dichtung, hier insbesondere die attische Tragödie, sind Phänomene des öffentlichen Lebens. Ihre Untersuchung gehört daher in den weiteren Rahmen einer politischen Philosophie. Wie der griechische Titel, Poetik, von poiêsis: Herstellen, Machen, anzeigt, wird die Dichtkunst allerdings in Analogie zur Handwerkskunst verstanden, so daß sie ebenso wie die Rhetorik zusätzlich zur poietischen Wissenschaft zählt. Rhetorik Heute versteht man unter Rhetorik, wörtlich: Redekunst, sowohl die Kunst der wohlformulierten Rede als auch die methodische Anleitung dazu, gelegentlich allerdings auch eine Technik des Überredens, die mehr aufs Gefühl als auf sachliche Argumente setzt. Aristoteles dagegen verpflichtet die Rede in kognitiver Hinsicht auf das jeweils Glaubhafte (Rhet. I 1, 1355b11, II 1, 1355b25f.) und in praktischer Hinsicht auf das Glück (I 5, 1360b4ff.), das er hier freilich mehr empirisch, als das generell anerkannte Lebensziel, denn normativ, als Kriterium für Gut und Schlecht, versteht. Die erste Verpflichtung plaziert die Rhetorik in Aristoteles’ vielschichtige Theorie der Rationalität und des Wissens, die zweite Verpflichtung dagegen in die Theorie von Ethik und Politik. Platon stand der im klassischen Athen blühenden Redekunst mit einem Mißtrauen gegenüber, das Aristoteles nicht teilt. Dieser wendet sich zwar gegen eine Rhetorik, die durch unsachliche Argumente und eine zynische Orientierung bloß am Gefühl die Urteilsfähigkeit der Angesprochenen zerrüttet. Platons Forderung aber, daß die Rhetorik auf Wissen gegründet sein müsse und mittels der (Platonischen) Dialektik die Wahrheit der Dinge erkennen solle (Phaidros 266b f., 276e f.), daß also wahre Redner zu Philosophen werden sollten, lehnt Aristoteles ab. Er 472 VI. Rhetorik und Poetik hält die Redekunst vielmehr für eine Fähigkeit, die von jedem Bürger gelernt werden kann, in gewisser Weise auch gelernt werden soll. Modernisierend gesagt verhilft ein wichtiger Teil der Rhetorik dem mündigen Bürger einer Demokratie zur aktiven Teilnahme am öffentlichen Leben. Um den Begriff und die Aufgabe der betreffenden Fähigkeit, das jeweils Mögliche und Glaubhafte zu erkennen und deren Hauptanwendungsarten zu klären, untersucht Aristoteles die logischen und ethischen, die psychologischen, auch ästhetischen Grundlagen, mit deren Hilfe die Urteilsfähigkeit geweckt und die Zustimmung der Zuhörer für eine Sache gewonnen werden können. Ein guter Redner braucht nach Aristoteles drei Überzeugungsmittel: einen glaubwürdigen Charakter (êthos), eine genaue Kenntnis der menschlichen Leidenschaften oder Affekte (pathê), verbunden mit der Fähigkeit, sie gezielt einzusetzen; zusätzlich muß er mit der für die Rhetorik einschlägigen Rede (logos) vertraut sein. Denn der Rhetorik stehen zwar im Prinzip dieselben zwei Argumentationsmittel wie der beweisenden Wissenschaft zur Verfügung, die Induktion und der Schluß (Syllogismus). Beide werden aber auf die spezifischen Zwecke zugeschnitten, sowohl auf Prägnanz und Kürze als auch auf das nur wahrscheinlich Wahre. Infolgedessen verwendet der Redner statt der gewöhnlichen Induktion lieber ein treffendes Beispiel (paradeigma), das in drei Formen auftritt: als mythisches oder historisches Beispiel, als Gleichnis und als Tierfabel. Mit der Maßgabe, aus Einzelfällen einen gültigen Rat abzuleiten, ist das Beispiel vor allem in der Beratungsrede gefragt. Das zweite, argumentativ strengste und von Affekten so gut wie freie rhetorische Mittel, das Enthymem, ist der für die Rhetorik charakteristische Schluß. Insbesondere vor Gericht gefragt, behandelt er Sachverhalte, die nicht notwendig gelten und daher eines Sich-Beratens bedürfen. Beim Enthymen, wörtlich: Einfall, Gedanke, bleibt ein Teil des Schlusses unausgesprochen. Der Redner setzt entweder eine der Prämissen als bekannt voraus oder er läßt, um der besseren Wirkung willen, den Zuhörer selbst den Schluß auf den vorliegenden Einzelfall ziehen. Jedenfalls bleibt, was sich von selbst versteht, unausgesprochen. Auf die Etymologie - en thymô: im Herzen - beruft sich Aristoteles aber nicht. Mit ihrer Einheit von Ethos, Pathos und Logos reicht die Rhetorik weit über pragmatische Ratschläge eines bloßen Praktikers hinaus. An einem Ratgeber im Sinne eines Rezeptbuches für gelungene Rede ist Ari- 473 Einleitung stoteles nicht interessiert. Indem seine Rhetorik die subjektiven und die objektiven Komponenten erörtert und die gesellschaftliche Verflechtung der Rede mitberücksichtigt, ist sie für eine Sprach-, eine Kommunikationstheorie und Medientheorie, für eine Sprachpragmatik sowie die Psycho- und die Soziolinguistik bis heute aktuell. Als eine Theorie des Sich-Beratens reicht die Bedeutung der Rhetorik über diese naheliegenden Aktualisierungen weit hinaus. Mit konkreten Fällen und der Aufgabe befaßt, konkurrierende Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen, bietet die rhetorische Rede ein Muster für Debatten, die unter nichtidealen Bedingungen stattfinden und zwischen interessierten und von Leidenschaften mitgeprägten Teilnehmern verlaufen. So enthält Aristoteles’ Schrift Bausteine zur Theorie eines „Bürgerdiskurses“, nämlich zu einer Theorie der Rede und Gegenrede unter (gleichberechtigten) Bürgern. Wegen der Verpflichtung auf das Glaubhafte kann man die Rhetorik einer „Theorie lebensweltlicher Rationalität“ zuordnen, wobei die Lebenswelt in der aus Ethik und Politik gespeisten Praxis bestünde. Allerdings muß man vier Qualifikationen hinzusetzen. Erstens fehlt Aristoteles’ Rhetorik jede anti-wissenschaftliche Spitze. Zweitens legt sie nicht auf die Rationalität allein wert, sondern zusätzlich auf den Charakter, nämlich auf jene Haltungen von Klugheit, Tugend und Wohlwollen, die den Redner glaubwürdig machen (II 1, 1378a8). Ferner braucht es das Pathos, hier als die Fähigkeit verstanden, bei den Zuhörern Liebe und Haß sowie Zuversicht und Furcht zu erregen. Nicht zuletzt befaßt sich die Rhetorik mit der Lebenswelt, aber nicht mit der gesamten, sondern mit einem Ausschnitt, den drei Gattungen öffentlicher Rede (I 4-15). Die drei Einleitungskapitel, eine Allgemeine Rhetorik, erörtern unter anderem die genannten drei Überzeugungsmittel und die dreigliedrige Grundbeziehung von Redner, Gegenstand der Rede und Hörer. Die sehr ausführliche Besondere Rhetorik beginnt mit der beratenden Rede (symbouleutikos logos: Rhet. I 4-8). Sie spricht über Nutzen und Schaden und sucht die Zuhörer einer Volksversammlung von einem bestimmten Beschluß zu überzeugen. Die Lob- und Festrede (epideiktikos logos: I 9) stellt eine Person oder ein Handlung, eventuell auch ein Lebenswerk als vorbildlich oder aber erbärmlich heraus. Die Gerichtsrede (dikanikos logos: I 10-15) schließlich soll Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ausweisen. 474 VI. Rhetorik und Poetik In die entsprechenden Erörterungen fließen Bausteine einer angewandten Ethik und einer angewandten Psychologie ein. Mit ihren Themen wie Glück und Tugend, äußere Güter, Lust und Freundschaft bieten die Kapitel I 5-7, auch I 9 den Abriß einer Ethik; Kapitel I 8 enthält den Abriß einer Verfassungslehre und Kapitel I 10-12 Bausteine einer Zurechnungslehre (Kriminalpsychologie); im Anschluß an allgemeine Überlegungen zu den Leidenschaften bzw. Affekten, Emotionen in Kapitel II 1 werden in den nächsten zehn Kapiteln einzelne Affekte behandelt wie Zorn, Liebe, Furcht und Mitleid; Kapitel II 12-14 entfaltet eine nuancenreiche Psychologie der Lebensalter. Und da im Vorübergehen die Kenntnisse eines guten Redners ausgebreitet werden, gewinnt man Einblick in die damaligen sozialen, gerichtlichen und politischen Verhältnisse: Für eine Sozialgeschichte Griechenlands bietet sich die Rhetorik als eine wahre Fundgrube an. Das ursprünglich wohl selbständige Buch III untersucht in den ersten zwölf Kapiteln Elemente einer Stilkunde und handelt danach über die Gliederung einer Rede (III 13-19). Aristoteles fordert Klarheit, Gefälligkeit, auch Originalität; er spricht über Stilfehler, Sprachreinheit (hellênismos), Esprit (asteia) und betont den Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Darstellung. Besondere Aufmerksamkeit erfährt die übertragene Wortverwendung, die Metapher (z.B. Rhet. III 2, 4, 6 und 10-11; s. auch Poet. 21). Aristoteles hebt deren erkenntniserschließende Kraft hervor. Wer etwa das Greisenalter eine Stoppel, also einen abgeernteten Halm, nennt, bewirkt durch Verfremdung einen Lernprozeß. Ähnliches geschieht beim Witz und beim Rätsel: Das Aufspüren der Pointe macht Freude und gewährt zugleich Belehrung (Rhet. III 11, 1412a24 und b22). In ihrer thematischen Breite und vor allem ihrer philosophischen Intention steht Aristoteles’ Rhetorik weit über den Werken seiner Vorgänger, etwa der Sophisten Gorgias von Leontinoi (480-380 v. Chr.), Lysias (459/ 58-380) und Thrasymachos von Chalcedon (5. Jhd.) und dem Verfasser einer formal-stilistischen Rhetorik, Isokrates (436/ 35-338). Und während sich die Vorgänger auf den virtuosen Einsatz pathoserregender Mittel konzentrieren, legt Aristoteles größeren Wert auf den Logos und nimmt in Anspruch, dessen für die Rhetorik eigentümliches Element, das Enthymen, entdeckt zu haben (I 1, 1354a11ff.) Andererseits überschätzt er den Wert der Rhetorik nicht. Ciceros These, es sei ein 475 Einleitung Zeichen vollkommener Philosophie, über die wichtigsten Fragen wortreich und schön zu reden („copiose…ornateque dicere“: Gespräche in Tusculum 17), würde Aristoteles nicht unterschreiben. Poetik Platon hat trotz aller Liebe zur Poesie und seiner Verehrung für Homer die Dichtung aus moralischen, überdies politischen und ontologischen Gründen verworfen. Sie erzeuge nämlich falsche Vorstellungen über die Götter und über Recht und Unrecht, zudem steigere sie unsere Begierde und Leidenschaft (Politeia Bücher II-III und X 599b-c; Sophistes 235e ff.; Nomoi VII 816d-817e). Schließlich verdunkle sie, indem sie Begierden und Leidenschaften steigere, den klaren Verstand. Nach dem Sophisten Gorgias (Fragment 8, 10 und 11) darf die Dichtung sogar betrügen und wie Zauberei und Magie wirken. Aristoteles setzt sich sowohl von Platon als auch von den Sophisten ab. In Übereinstimmung mit der griechischen Tradition gehören für ihn die Dichter zu den besten Lehrern des Volkes; starke emotionale Wirkungen herbeizuführen gilt geradezu als ihre Aufgabe. Gemäß seiner wissenstheoretischen Toleranz gehören auch die Rhetorik und die Dichtkunst in den großen Kosmos menschlicher Rationalität. Ohne den besonderen Rang der Philosophie zu relativieren, stimmt Aristoteles dem Aischylos-Vers tô pathei mathos „Lernen aus Leiden“ zu (Agamemnon, V. 177): Aus der Erfahrung von Konflikten der Affekte und ihren Katastrophen kann man durchaus lernen, freilich weniger in einem intellektuellen, als einem affektiven Sinn. Ähnlich wie die Rhetorik gehört Aristoteles’ Abhandlung über die Dichtung, die Poetik (Dichtkunst), zu den bis heute einflußreichsten Werken ihrer Art. Nach der wörtlichen Bedeutung des Titels sucht der Philosoph einen Beitrag zur herstellenden Kunst (poiêtikê). Er bestimmt das Wesen der Dichtung und ihrer Gattungen und stellt Kriterien auf, aber keine Rezepte, wohl aber ziemlich formale Maßstäbe, mit deren Hilfe sich gute von schlechter Dichtung unterscheiden läßt. Nicht vornehmlich, aber doch mitlaufend geht es ihm um Beurteilungskriterien für literarische Kunstwerke, um Literaturkritik, auch um Bausteine für eine allgemeine Literaturtheorie. 476 VI. Rhetorik und Poetik Diese Aufgaben geben die Disposition vor: Nach fünf Kapiteln einer allgemeinen Grundlegung werden die damals wichtigsten Literaturgattungen behandelt; Aristoteles’ Poetik ist vor allem eine Gattungspoetik. Allerdings gibt es nur wenige Bemerkungen zur Komödie (Kap. 5), die im verloren gegangenen zweiten Buch ausführlicher behandelt sein dürfte. Im überlieferten Text nimmt die Tragödie den weitaus größten Platz ein (Kap. 6-22). Aristoteles beginnt mit einer Grundlegung (Kap. 6), in der er die sechs konstitutiven Funktionselemente, die sogenannten „qualitativen Teile“ der Tragödie vorstellt. Den Ursprung und „gewissermaßen die Seele der Tragödie“ sieht er im Mythos. Er versteht darunter den Handlungsverlauf, also die Geschichte bzw. Fabel; manche übersetzen mit dem Fremdwort „Plot“. Die nächstwichtigen Teile bilden die Charaktere (êthê), die Sprachform (lexis) und das Denken oder die Gedankenführung (dianoia). Auf die Tragödientheorie folgen die epische Dichtung (Kap. 23-24), (Homer-)Probleme (Kap. 25) und ein Vergleich von Epos und Tragödie, bei dem die Tragödie den Vorzug erhält (Kap. 26).Weil die Sprachform der Tragödie zu den qualitativen Teilen gehört, skizziert Aristoteles in den Kapiteln 20-22 eine elementare Grammatik, spricht über Glosse, Metapher und Analogie sowie über guten Stil. Lyrik, Chorlyrik und Elegie bleiben weitgehend außer Betracht. Der wirkungsmächtige Grundbegriff der Aristotelischen Poetik, mimêsis, Nachahmung, klingt nach einer vormodernen Literaturtheorie. Denn was für die Maler und Bildhauer möglich sein mag - Weintrauben so täuschend echt zu machen, daß selbst Vögel an ihnen herumpicken -, sollen weder Epos, Tragödie und Komödie vornehmen noch die Musik, für die die Mimesis-Forderung ebenfalls erhoben wird (Poet. 1, 1447a13- 16; vgl. Pol. VIII 5, 1340a39). Die Mimesis verlangt vom Künstler weder, wie im naturalistischen Illusionstheater, die Realität widerzuspiegeln noch klassischen Vorbildern nachzueifern. Offen für die Fiktionalität von Dichtung (vgl. Poet. 9, 1450a36-38), setzt sie diese sowohl gegen die in Versen verfaßten Naturlehren als auch gegen die Geschichtsschreibung ab. Nicht zuletzt besagt „Mimesis“, daß der Künstler nicht aus dem puren Nichts erschafft, seine Werke haben vielmehr Verweischarakter. Dichtungen sind Schöpfungen einer fiktionalen, aber aus inneren Gründen der menschlichen (psychologischen, sozialen und politischen) Welt neu hervorgebrachten Welt. 477 Einleitung Kaum etwas, das Aristoteles in all seinen Schriften sonst sagt, hat seit der Renaissance eine so gewaltige Literatur hervorgerufen wie ein weiterer, aber nicht näher erläuterter Grundbegriff der Poetik, der der tragischen Lust (tragôdias hêdonê: 13, 1453a35f.; vgl. 14, 1453b12). Mit ihm interessiert sich Aristoteles’ Gattungspoetik des näheren für eine Rezeptionsästhetik. Und bei ihr steht wiederum, wenn man die spätere Alternative „Lehr- oder Vergnügungstheater“ heranzieht, die zweite Option im Vordergrund. Primär soll der Zuschauer weder einen moralischen noch einen intellektuellen Gewinn davontragen, vielmehr eine Lust (hêdonê) besonderer Art, einen ästhetischen Genuß. Die Tragödie soll nämlich mit Hilfe von Mitleid und Furcht (di’ eleou kai phobou: 6, 1449b27 u. 1453b12f.) eine Reinigung (katharsis) eben dieser Affekte herbeiführen. Bei den Affekten handelt es sich nicht etwa um oberflächliche, sondern um substantielle, nämlich bis zum Kern menschlicher Existenz reichende Empfindungen: Man bemitleidet den Protagonisten wegen des enormen Unglücks, das ihn heimsucht, und fürchtet, ein ähnliches Schicksal erleiden zu können. So macht das tragische Schicksal eines Ödipus offenbar, daß es zum Menschen gehört, trotz eines nur begrenzten Fehlers in äußerstes Leid zu stürzen. Hier rückt die Tragödie in die Nähe des Absurden. Ob religiös oder nicht religiös begründet: Die Tragödie zeigt, daß von einem erfreulichen oder tröstlichen Sinn des Ganzen keine Rede sein kann. Im Wissen, die Weltläufe nicht wirklich zu verstehen, entwickelt sie, worauf Aristoteles aber nicht zu sprechen kommt, eine Sprache des Nichtverstehens, bestehend aus Klage, Gebet, Trauer, Jammern und Erschrecken. Wie man die Reinigung von den zwei Affekten zu verstehen hat, ist umstritten. Vor Aristoteles hatte der Begriff sowohl eine religiöse als auch eine medizinische Bedeutung. Dort ist eine liturgische Reinigung, hier sind Abführmittel gemeint. Versteht man die Katharsis der Tragödie im medizinischen Sinn, so sollen in einer Tragödie die beiden Affekte, sowohl das Mit-Leiden mit einem nur in Grenzen verdientem Leid als auch die Furcht vor einem Scheitern trotz bester Absichten, so gesteigert werden, daß die Erregung wie eine physische Krankheit im wörtlichen Sinn zum Austragen, nämlich zunächst zum Ausbruch und schließlich zum Abklingen, kommt. Das am Ende gewonnene innere Gleichgewicht wird dann als Genuß wahrgenommen. 478 VI. Rhetorik und Poetik Es bestehen gute Gründe zur Annahme, daß die Hauptbegriffe der Aristotelischen Poetik, die zur Fiktionalität hin offene Mimesis und die Verbindung von Mitleid und Furcht mit Katharsis, ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren haben. Ob Bühnenwerk oder Film - wenn sie in ihren großen Beispielen exemplarische Lebensmöglichkeiten zur Darstellungen bringen, begnügen sie sich weder mit einfacher Unterhaltung, noch wollen sie eine moralische Botschaft vermitteln. Sie führen vielmehr große Leidenschaften vor, zwingen uns mitzuleiden und gewähren bei entsprechendem Mit-Leiden am Ende eine - Erleichterung. 479 1.1 Allgemeines 1. Rhetorik 1.1 Allgemeines [1354a1] Die Rhetorik ist ein Gegenstück zur Dialektik; beide handeln nämlich von solchen Dingen, die zu erkennen auf gewisse Weise allen gemeinsam und nicht Sache einer begrenzten Wissenschaft ist. Deswegen haben auch alle auf gewisse Weise an beiden Anteil; alle haben nämlich zu einem gewissen Grad damit zu tun, ein Argument zu prüfen und zu stützen, sich zu verteidigen und anzuklagen. Von der Menge tun dies nun die einen aufs Geratewohl, die anderen aufgrund einer zur Charaktereigenschaft gewordenen Gewohnheit. Da es aber auf beiderlei Weise möglich ist, müßte dies offenbar auch aufgrund einer Methode zu leisten sein. Es ist nämlich möglich, den Grund zu untersuchen, warum manche aufgrund von Gewohnheit, andere von selbst ihr Ziel erreichen. Alle aber würden zustimmen, daß solches bereits die Aufgabe einer Kunst ist. Nun haben die, die bisher die rhetorischen Lehrbücher verfaßt haben, nur einen geringen Teil von ihr zuwege gebracht. Denn nur das Überzeugen ist der Kunst gemäß, das andere sind Zugaben. Über die Enthymeme aber, die den Leib der Überzeugung bilden, haben sie nichts gesagt, sondern größtenteils handeln sie über das außerhalb der Sache Liegende. Beschuldigung nämlich, Mitleid, Zorn und solche Emotionen der Seele gehören nicht zur Sache, sondern zielen auf den Richter; so daß sie, wenn alle richterlichen Urteile so wie jetzt in einigen Städten, und zwar vorzüglich in denen mit guter Gesetzgebung, geregelt wären, nichts hätten, was sie sagen könnten. Denn alle meinen, daß die Gesetze dies verlangen sollten, und einige machen davon auch Gebrauch und verbieten - ganz zu Recht -, außerhalb der Sache zu sprechen, wie es auch im Areopag der Fall ist. Denn man soll nicht den Richter verdrehen, indem man ihn zu Zorn, Neid oder Mitleid verleitet. Das nämlich ist ähnlich, wie wenn jemand das, was er als Meßlatte gebrauchen will, zuvor verbiegt. Ferner kommt es offensichtlich den Prozessierenden nicht zu, etwas anderes zu tun, als den Sachverhalt aufzuzeigen, daß etwas der Fall ist oder nicht der Fall ist, daß (etwas) geschehen oder nicht geschehen ist. Ob es aber groß oder klein oder ob es gerecht oder ungerecht ist, muß, insoweit der Gesetzgeber es nicht bestimmt hat, irgendwie der Richter selbst erkennen und darf es nicht von den Prozessierenden lernen. (…) 480 VI. Rhetorik und Poetik [1355a20] Nützlich aber ist die Rhetorik, weil das, was wahr und gerecht ist, von Natur aus stärker ist als die Gegenteile (davon), so daß man, wenn die Urteile nicht dem sich Gebührenden entsprechend ausfallen, notwendig durch sich selbst unterliegt; und dies verdient Tadel. Auch wäre es gegenüber manchen (Zuhörern), selbst wenn wir das genaueste Wissen besäßen, nicht leicht, aufgrund von jenem durch die Rede zu überzeugen. Eine Belehrung nämlich ist das dem Wissen entsprechende Argument, dies aber ist unmöglich; vielmehr ist es notwendig, mit Hilfe von gemeinsamen (Meinungen) die Überzeugungsverfahren und Argumente zu bilden, wie wir auch in der Topik über die Begegnung mit der Menge sagten. (…) [1355b7] Daß also die Rhetorik nicht zu einem einzigen begrenzten Gegenstandsbereich gehört, sondern so ist wie die Dialektik, und daß sie nützlich ist, ist somit klar, und daß nicht das Überzeugen ihre Aufgabe ist, sondern (daß ihre Aufgabe darin besteht,) an jeder Sache das vorhandene Überzeugende zu sehen, wie das auch bei allen anderen Künsten der Fall ist - es ist nämlich nicht Sache der Heilkunst, Gesundheit herzustellen, sondern sie, soweit es eben möglich ist, voranzubringen; denn es ist möglich, auch diejenigen, die die Gesundheit nicht wiedererlangen können, dennoch gut zu pflegen -; außerdem (ist klar,) daß es Sache derselben (Fähigkeit) ist, das Überzeugende und das nur scheinbar Überzeugende zu sehen, wie auch bei der Dialektik die Deduktion und die nur scheinbare Deduktion: Die Sophistik liegt nämlich nicht in der Befähigung, sondern in der Absicht. Hier wird indessen der eine gemäß dem Wissen Redner, der andere gemäß seiner Absicht, dort aber Sophist gemäß seiner Absicht, Dialektiker aber wird man nicht gemäß einer Absicht, sondern gemäß der Befähigung. Über die Methode selbst wollen wird jetzt versuchen zu reden, wie und woraus wir das uns Vorgenommene werden erreichen können. Nachdem wir daher wieder wie von vorn beginnend definiert haben, was sie (die Rhetorik) ist, werden wir das Übrige sagen. Es sei also die Rhetorik eine Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende zu betrachten. Dies ist nämlich die Aufgabe keiner anderen Kunst; denn jede andere belehrt und überzeugt von dem ihr zugrunde liegenden Gegenstand, wie zum Beispiel die Heilkunst vom Gesunden und Ungesunden, die Geometrie von den Eigenschaften, die 481 1.1 Allgemeines den Größen zukommen, und die Arithmetik von den Zahlen, ähnlich aber ist es auch bei den übrigen Künsten und Wissenschaften. Die Rhetorik aber scheint, sozusagen bei dem, was ihr vorgelegt wird, das Überzeugende untersuchen zu können. Deswegen sagen wir auch nicht von ihr, daß sie über irgendeine begrenzte eigentümliche Gattung Fachwissen habe. Von den Überzeugungsmitteln sind die einen kunstfremd, die anderen kunstgemäß. ,Kunstfremd‘ nenne ich alle die, die nicht durch uns zustande gebracht worden sind, sondern (schon) zuvor bestanden haben, wie Zeugen, Folterungen, Verträge und was es dergleichen mehr gibt; ,kunstgemäß‘ aber nenne ich solche, die durch die Methode und durch uns zuwege gebracht werden können; daher muß man von diesen die einen (richtig) [1356a] gebrauchen, die anderen dagegen finden. Von den Überzeugungsmitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Formen: Die ersten nämlich liegen im Charakter des Redners, die zweiten darin, den Zuhörer in einen bestimmten Zustand zu versetzen, die dritten in dem Argument selbst, durch das Beweisen oder das scheinbare Beweisen. Durch den Charakter also (erfolgt die Überzeugung), wenn die Rede so gehalten wird, daß sie den Redner glaubwürdig macht; denn wir glauben den Tugendhaften in höherem Maße und schneller - und zwar im allgemeinen bei jeder Sache, vollends aber bei solchen Fällen, in denen es nichts Genaues, sondern geteilte Meinungen gibt. Dies muß sich aber durch die Rede ergeben, und nicht durch eine vorab bestehende Meinung darüber, was für ein Mensch der Redner ist; es verhält sich nämlich nicht so, wie einige der Rhetoriklehrer in ihren Lehrbüchern behaupten, daß die Tugendhaftigkeit des Redners zur Überzeugungskraft nichts beiträgt, vielmehr verfügt der Charakter beinahe sozusagen über den wichtigsten Aspekt der Überzeugung. Durch die Hörer (erfolgt die Überzeugung), wenn sie durch die Rede in einen emotionalen Zustand versetzt werden; wir fällen unsere Urteile nämlich nicht in gleicher Weise, wenn wir trauern und wenn wir uns freuen oder wenn wir lieben und wenn wir hassen; ausschließlich dafür versuchen, wie wir behaupten, die derzeitigen Rhetoriklehrer Abhandlungen auszuarbeiten. Diese Dinge werden im einzelnen dargelegt werden, wenn wir über die Emotionen reden werden. Durch die Argumente ist man überzeugt, wenn wir das Wahre oder scheinbar (Wahre) aus dem an jedem betreffenden Fall Überzeugenden beweisen. 482 VI. Rhetorik und Poetik Da nun die Überzeugungen durch diese erfolgen, ist klar, daß diese zu erfassen die Sache von jemandem ist, der in der Lage ist, Deduktionen aufzustellen und den Charakter, die Tugenden und als drittes die Emotionen zu untersuchen, was eine jede von den Emotionen ist und wie sie beschaffen sind und woher sie kommen und wie. So ergibt sich, daß die Rhetorik so etwas wie ein Seitenzweig der Dialektik und der Untersuchung über den Charakter ist, welche zu Recht auch als politische Wissenschaft bezeichnet wird. Deswegen schlüpft die Rhetorik auch in die Form der politischen Wissenschaft, so wie auch diejenigen, die einen Anspruch auf diese erheben, teils aus mangelnder Bildung, teils aus Großtuerei und anderen menschlichen Gründen; sie ist nämlich ein bestimmter Teil der Dialektik und ihr ähnlich, wie wir zu Beginn sagten. Keine von beiden nämlich ist die Wissenschaft davon, wie sich etwas Begrenztes verhält, sondern sie sind gewisse Fähigkeiten, Argumente zu beschaffen. Über die Fähigkeiten von ihnen und darüber, wie sie sich zueinander verhalten, ist jetzt ungefähr genug gesagt. Bei den durch das Beweisen oder scheinbare Beweisen erfolgenden Überzeugungen ist es, wie es auch in der [1356b] Dialektik erstens die Induktion, zweitens die Deduktion und drittens die scheinbare Deduktion gibt, ebenso auch hier: Es ist nämlich das Beispiel eine Induktion, das Enthymem aber eine Deduktion (das scheinbare Enthymem aber eine scheinbare Deduktion). Ich bezeichne nämlich die rhetorische Deduktion als Enthymem, die rhetorische Induktion aber als Beispiel. (…) [1357a13] Daher handeln die Enthymeme und Beispiele notwendigerweise von solchen Dingen, die meistens dazu in der Lage sind, sich auch anders zu verhalten, und (werden gefolgert) - das Beispiel induktiv und das Enthymem deduktiv - aus wenigen (Prämissen) und oftmals aus weniger (Prämissen) als die, woraus die erste Deduktion erfolgt. Wenn nämlich eine von diesen bekannt ist, braucht man nichts zu sagen, selbst nämlich ergänzt dies der Zuhörer: wie es zum Beispiel dafür, daß Dorieus einen Kranzwettstreit gewonnen hat, ausreichend ist zu sagen, daß er die Olympischen Spiele gewonnen hat. Daß aber die Olympischen Spiele einen Kranz als Preis haben, braucht man nicht hinzuzufügen, denn das ist allen bekannt. (…) [1358a36] Die Arten der Rhetorik sind drei der Zahl nach. Denn ebenso viele Arten von Zuhörern der Reden gibt es auch. Aus dreierlei nämlich 483 1.1 Allgemeines ist die Rede zusammengesetzt: aus einem Redner, [1358b] dem Gegenstand, über den er redet, und jemandem, zu dem er redet; und das Ziel (des Redens) bezieht sich auf diesen letzteren, ich meine den Hörer. Notwendig aber ist der Zuhörer entweder einer, der betrachtet, oder einer, der urteilt - und zwar einer der entweder über Geschehenes oder über Zukünftiges urteilt. Einer, der über Zukünftiges urteilt, ist zum Beispiel das Mitglied der Volksversammlung, einer der über Geschehenes urteilt, ist zum Beispiel der Richter. Derjenige, der über die Fähigkeit urteilt, ist der Betrachtende. Daher wird es wohl notwendig drei Gattungen der rhetorischen Rede geben: die beratende, die gerichtliche und die vorführende. Die Beratung ist einesteils zuratend und andernteils abratend; denn immer tun diejenigen, die entweder im Privaten Ratschläge geben oder öffentlich als Redner auftreten, eines von diesen beiden. Vor Gericht gibt es einesteils Anklage und andernteils Verteidigung; denn eines von beiden tun die streitenden Parteien notwendigerweise. Bei der Vorführung gibt es einesteils Lob und andernteils Tadel. Die Zeitstufen von jeder von diesen sind: dem Beratenden das Zukünftige - denn über das, was sein wird, berät er, indem er entweder zurät oder abrät -, dem vor Gericht Redenden das Vergangene - denn immer behandelt der, der anklagt oder verteidigt, die schon eingetretenen Tatsachen -, dem Vorführenden zwar vorzüglich das Gegenwärtige, denn das Vorliegende loben oder tadeln alle, oft aber ziehen sie auch das Vergangene heran, indem sie daran erinnern, oder das Zukünftige, indem sie es ausmalen. Das Ziel für jede dieser Gattungen ist verschieden, und zwar sind es drei, weil es sich um drei Gattungen handelt: Für den beratenden Redner ist es das Nützliche und Schädliche - der Zuratende empfiehlt es als Besseres, der Abratende rät als von einem Schlechteren ab -, das Übrige aber, ob es gerecht oder ungerecht, schön oder schändlich ist, nimmt er zu diesem nur akzidentell mit hinzu. Für die vor Gericht Redenden ist es das Gerechte und Ungerechte, das Übrige nehmen auch sie nur akzidentell zu diesem mit hinzu. Den Lobenden und Tadelnden ist es das Schöne und Schändliche, auch sie bringen das Übrige nur mit Beziehung auf dieses mit ein. (Rhet. I 1-3) 484 VI. Rhetorik und Poetik 1.2 Beratende Rede [1359a30] Zuerst gilt es festzustellen, über was für welche Güter und Übel der Beratende berät, da er ja nicht über alles berät, sondern nur über das, was geschehen kann oder auch nicht. Was aber notwendig ist oder sein wird, oder was unmöglich jetzt oder künftig sein kann, darüber wird keine Beratung stattfinden; und auch nicht über alles, was möglich ist: Von den Gütern, die möglicherweise eintreten oder auch nicht, gibt es manche, die von Natur aus und aus Zufall eintreten, über die es keinen Sinn hat zu beraten. Aber worüber die Beratung stattfindet, ist offenbar: Es sind alle solche Dinge, die natürlicherweise auf uns zurückgeführt werden können und von denen der Ursprung ihrer Entstehung bei uns liegt. Denn wir überlegen nur [1359b] bis zu dem Punkt, an dem wir herausfinden, ob es für uns möglich oder unmöglich ist zu handeln. Im Einzelnen nun genau diejenigen Dinge aufzuzählen und in Arten aufzuteilen, über die wir gewöhnlich verhandeln, und ferner über sie - soweit es möglich ist - wahrheitsgemäße Definitionen aufzustellen, dies dürfen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht untersuchen, weil dies nicht Sache der rhetorischen Kunst, sondern einer verständigeren und wahreren (Disziplin) ist, und weil ihr auch jetzt viel mehr als die ihr eigentümlichen Untersuchungsobjekte übertragen wird. Was wir nämlich auch früher schon beiläufig erwähnten, ist wahr, nämlich daß die Rhetorik aus der analytischen und der von den Charakteren handelnden Wissenschaft zusammengesetzt ist und daß sie der Dialektik und den sophistischen Argumentationen ähnlich ist. Aber je mehr einer versuchen wird, die Dialektik oder diese (die Rhetorik) nicht als Fähigkeiten, sondern als Wissenschaften einzurichten, um so mehr wird er unbewußt ihre eigentliche Natur vernichten, indem er dazu übergeht, sie als Wissenschaften von bestimmten zugrunde liegenden Gegenständen zu etablieren, anstatt allein von Reden. Dennoch werden wir jetzt so viel darüber sagen, wie es für das Projekt von Nutzen ist, darüber hinaus aber bleibt die Untersuchung der politischen Wissenschaft vorbehalten. Die so ziemlich wichtigsten Gegenstände, über die alle beratschlagen und von denen auch die beratenden Redner handeln, sind fünf an der Zahl, nämlich über die Finanzen sowie über Krieg und Frieden, ferner über Landesverteidigung, über Einfuhr und Ausfuhr und über Gesetzgebung. 485 1.2 Beratende Rede Daher sollte jemand, der im Begriff ist, über die Finanzen der Stadt zu beraten, die Einnahmen kennen, welche und wie viele es sind, damit eine Einnahme, wenn sie ausgelassen worden ist, ergänzt und, wenn sie zu gering ist, aufgestockt werden kann. (…) [1359b34] Was Krieg und Frieden angeht, so muß man die Streitkraft der Stadt kennen, nämlich wie groß sie bereits ist und wie groß sie gemacht werden kann, und von welcher Beschaffenheit die bestehende Streitkraft ist und die, die hinzugefügt werden kann, außerdem muß man die Kriege kennen, die sie schon geführt hat, nämlich wie sie geführt wurden und welche es waren. Nicht nur von der eigenen Stadt, sondern auch von den Nachbarn muß man dies wissen; und zwar besonders von solchen Nachbarn, mit denen ein Krieg wahrscheinlich ist, damit man mit den Stärkeren in Frieden lebt [1360a] und damit es an einem selbst liegt, Krieg gegen die Schwächeren zu führen. (…) [1360a7] Was ferner die Landesverteidigung angeht, so sollte nicht verborgen bleiben, auf welche Weise es verteidigt wird, vielmehr muß man die Größe der Verteidigungskraft und ihre Art kennen sowie die Positionen der Verteidigungsposten - dies aber ist unmöglich, wenn man sich nicht im Land auskennt -, damit die Verteidigungskraft vergrößert werden kann, falls sie zu klein ist, und verringert werden kann, falls sie überflüssig ist, und damit man die strategisch geeigneten Positionen in höherem Maße bewacht. Was die Versorgung mit Lebensmitteln angeht, (muß man wissen), welche Menge für die Stadt ausreichend ist und von welcher Art die vor Ort entstehende Nahrung ist und von welcher Art die eingeführte, und welche (Nahrungsmittel) ausgeführt und welche eingeführt werden müssen, damit mit diesen Verträge eingegangen und Abkommen geschlossen werden können. Es ist notwendig, dafür Sorge zu tragen, daß die Mitbürger gegenüber zweierlei (Städten) keinen Anlaß zum Vorwurf bieten, nämlich gegenüber den stärkeren und gegenüber denen, die nützlich für diese Dinge sind. Zwar ist es für die Sicherheit erforderlich, daß man alle diese Dinge beachten kann, aber nicht zuletzt ist notwendig, daß man sich mit der Gesetzgebung auskennt; in den Gesetzen nämlich liegt die Erhaltung der Stadt, so daß es notwendig ist zu wissen, wie viele Arten von Verfassungen es gibt, welcherlei Dinge jeder Verfassungsart zuträglich sind und unter Einfluß von welchen Faktoren - sowohl von solchen, die der Stadt 486 VI. Rhetorik und Poetik intern sind als auch von feindlichen - sie natürlicherweise vernichtet werden. (Rhet. I 4) 1.3 Festrede [1366a23] Nach diesem wollen wir über Tugend und Laster, über das Schöne und Schändliche sprechen. Diese nämlich sind für den Lobenden und den Tadelnden die Gegenstände, auf die er abzielt. Indem wir nämlich über diese Dinge sprechen, wird sich zugleich Klarheit über jene Aspekte einstellen, aufgrund derer wir als Menschen von einer bestimmten Charakterqualität angesehen werden, worin, wie wir sagten, das zweite Überzeugungsmittel besteht; aufgrund derselben Dinge nämlich werden wir uns selbst und einen anderen mit Blick auf die Tugend glaubwürdig machen können. Weil es sich aber ergibt, daß wir sowohl ohne Ernst als auch ernsthaft oftmals nicht nur einen Menschen oder Gott, sondern auch Unbeseeltes und ein beliebiges anderes Lebewesen loben, müssen auch Sätze über diese auf dieselbe Weise erfaßt werden; daher wollen wir auch über diese Dinge, soweit es als Beispiel dient, reden. Schön also ist das, was aufgrund seiner selbst gewählt wird und dabei lobenswert ist, oder das, was gut und dabei aufgrund des Gutseins angenehm ist. Wenn also dies das Schöne ist, dann ist notwendigerweise die Tugend schön; sie ist nämlich gut und dabei lobenswert. Tugend aber ist, wie es scheint, eine Fähigkeit, Güter zu beschaffen und zu bewahren, sowie eine Fähigkeit, viele und große Wohltaten zu erweisen, und zwar alle [1366b] Arten von Wohltaten bei allen Dingen. Die Teile der Tugend sind Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Großgeartetheit, Großgesinntheit, Freigebigkeit, Sanftmut, Klugheit, Weisheit. Notwendigerweise aber sind die größten Tugenden diejenigen, die den anderen in höchstem Maße nützlich sind, wenn die Tugend eine Fähigkeit ist, Wohltaten zu erweisen. Deswegen ehrt man die Gerechten und die Tapferen am meisten: Die letztere Tugend nämlich ist im Krieg, die erstere im Frieden anderen nützlich. Dann folgt die Freigebigkeit; denn sie (die Freigebigen) sind aufopfernd und wetteifern nicht um das Geld, wonach die anderen am meisten trachten. (Rhet. I 9) 487 1.4 Gerichtsrede 1.4 Gerichtsrede [1368b1] Über Anklage und Verteidigung zu sprechen, aus wie vielen und was für Dingen man die Deduktionen bilden muß, sollte jetzt wohl folgen. Man muß also dreierlei erfassen. Erstens, um welcher und wie vieler Dinge willen man Unrecht tut, zweitens, in welchem Zustand man sich befindet, und drittens, was für Leuten man Unrecht tut und in welchem Zustand die sich befinden. Über diese Dinge wollen wir (der) Reihe nach sprechen, nachdem wir ,Unrechttun‘ definiert haben. ,Unrechttun‘ soll also definiert sein als: freiwillig jemandem gegen das Gesetz schaden. ,Gesetz‘ ist einmal das eigentümliche, das andere Mal das gemeinsame. ,Eigentümlich‘ nenne ich das geschriebene Gesetz, dem gemäß man in einer Stadt lebt, ,gemeinsam‘ nenne ich dasjenige, über das bei allen, obwohl es ungeschrieben ist, Übereinstimmung zu bestehen scheint. ,Freiwillig‘ tut man alles das, was man wissentlich und ohne Zwang tut. Was man also freiwillig tut, das tut man nicht alles aufgrund einer Entscheidung, aber was man aufgrund einer Entscheidung tut, das tut man alles wissentlich; denn keiner befindet sich in Unkenntnis über das, wofür er sich entscheidet. Die Ursachen, weswegen man sich entscheidet, gegen das Gesetz zu schaden und Schlechtes zu tun, sind Schlechtigkeit und Unbeherrschtheit. Denn wenn Leute eine oder mehrere schlechte Eigenschaften aufweisen, dann tun sie mit Bezug auf die Dinge, hinsichtlich deren sie gerade schlecht sind, auch Unrecht, wie zum Beispiel der Geizige mit Bezug auf das Geld, der Zügellose mit Bezug auf die körperlichen Lüste, der Verweichlichte mit Bezug auf das Bequeme, der Feige mit Bezug auf die Gefahren [denn aus Furcht lassen sie ihre Gefährten in Gefahren zurück], der Ehrgeizige wegen der Ehre, der Jähzornige aus Zorn, der, der auf Sieg aus ist, wegen des Sieges, der Grausame wegen der Vergeltung, der Unvernünftige, weil er über das Gerechte und Ungerechte getäuscht wird, der Schamlose aus Vernachlässigung des guten Ansehens. Ebenso verhält sich jeder der Übrigen mit Bezug auf jedes der zugrunde liegenden Dinge. Aber über diese Dinge besteht Klarheit, zum einen aufgrund der Ausführungen über die Tugenden, zum anderen aus dem, was noch über die Emotionen gesagt werden wird. Es bleibt also noch übrig zu sagen, um 488 VI. Rhetorik und Poetik welcher Dinge willen und in welchem Zustand man Unrecht tut, sowie welchen man Unrecht tut. Zuerst also wollen wir unterscheiden, nach welchen Dingen man strebt und was für Dinge man zu vermeiden sucht, wenn man es unternimmt, Unrecht zu tun. Es ist nämlich offenbar, daß der Anklagende prüfen muß, was für welche und wie viele dieser Dinge, nach denen alle streben, wenn sie ihren Nächsten Unrecht tun, auf den Prozeßgegner zutreffen, der Verteidigende aber, was für welche und wie viele der Dinge nicht zutreffen. Alle also tun alles einesteils nicht von sich selbst aus, anderenteils von sich selbst aus. Von dem also, was sie nicht von sich selbst aus tun, tun sie das eine aufgrund von Zufall, das andere aufgrund von Notwendigkeit, von dem, was sie aufgrund von Notwendigkeit tun, geschieht das eine durch Gewalt, das andere von Natur aus. Daher ist alles, was sie nicht von sich selbst aus tun, entweder aufgrund von Zufall, von Natur aus oder durch Gewalt. Alles aber, was sie von sich selbst aus tun und wofür [1369a] sie selbst etwas können, tun sie einesteils aus Gewohnheit und andernteils aufgrund von Streben, und zwar einesteils aufgrund von vernünftigem und andernteils aufgrund von vernunftlosem Streben. Das eine ist das Wollen, (das Wollen aber ist) ein Streben nach Gutem - keiner nämlich will etwas, wenn er nicht meint, daß es gut sei; unvernünftiges Streben aber ist Zorn und Begierde. Daher tun sie alles, was sie tun, notwendigerweise aus einem von sieben Gründen, aufgrund von Zufall, von Natur aus, durch Gewalt, aus Gewohnheit, aufgrund von Überlegung, aus Wut und aus Begierde. (…) [1370a19] Um es daher zusammenfassend zu sagen: Das, was man von sich selbst aus tut, dies ist alles entweder ein Gut oder ein scheinbares Gut, oder angenehm oder scheinbar angenehm. Weil man nämlich das, was man von sich selbst aus tut, freiwillig tut, nicht freiwillig aber, was man nicht von sich selbst aus tut, dürfte dies alles sein, was man freiwillig tut: entweder gut oder scheinbar gut oder angenehm oder scheinbar angenehm. Ich setze nämlich auch die Abwehr der Übel oder der scheinbaren Übel oder die Vertauschung eines größeren gegen ein geringeres Übel zu den Gütern, denn irgendwie sind sie wählenswert und die Abwehr von Schmerzlichem oder dem scheinbar Schmerzlichen oder die Vertauschung eines größeren Schmerzes gegen einen geringeren ebenso. 489 1.5 Überzeugungskraft des Redners Es ist also von dem, was nützlich und angenehm ist, zu erfassen, um wie viele und was für Dinge es sich handelt. Über das Nützliche wurde nun schon früher bei den Beratungsreden gesprochen, über das Angenehme wollen wir jetzt sprechen. Von den vorgelegten Definitionen sollte man annehmen, sie seien ausreichend, wenn sie über einen jeden Gegenstand weder unklar noch zu genau sind. (Rhet. I 10) 1.5 Überzeugungskraft des Redners [1377b21] Weil es aber in der Rhetorik um ein Urteil geht - denn man urteilt über das in den Versammlungen Verhandelte und auch ein Gerichtsentscheid stellt ein Urteil dar -, ist es notwendig, nicht nur auf das Argument zu sehen, auf daß es beweisend und glaubhaft sein wird, sondern auch darauf, als was für ein Mensch man selbst erscheint, sowie darauf, denjenigen, der das Urteil fällt, vorzubereiten; denn es bedeutet einen großen Unterschied für die Überzeugung, vor allem in den Versammlungen, dann aber auch in den Gerichtsverhandlungen, daß der Redner eine bestimmte Art von Mensch zu sein scheint und daß (die Hörer) annehmen, er sei ihnen gegenüber auf eine bestimmte Weise eingestellt, sowie außerdem, wenn sie (die Hörer) sich selbst gerade in einem bestimmten Zustand befinden. (…) [1378a7] Dafür, daß die Redner selbst glaubwürdig erscheinen, gibt es drei Ursachen; so viele Gründe nämlich gibt es außer den Beweisen, weswegen wir etwas glauben. Es sind dies Klugheit, Tugend und Wohlwollen. Man wird nämlich über das, was sie sagen oder raten, entweder wegen aller diesen Faktoren oder wegen eines einzigen davon getäuscht. Entweder vertreten sie aus Dummheit nicht die richtige Meinung, oder sie sagen, obwohl sie die richtige Meinung vertreten, wegen ihrer Schlechtigkeit nicht das, was ihnen (richtig) erscheint, oder sie sind zwar vernünftig und tugendhaft, aber nicht wohlwollend, weshalb es möglich ist, daß sie nicht das Beste raten, obwohl sie es kennen. Und außer diesen gibt es keine weiteren Möglichkeiten. Notwendigerweise wird derjenige, der dies alles zu haben scheint, den Zuhörern glaubwürdig sein. Wodurch man also vernünftig und rechtschaffen erscheinen könnte, das muß aus den zu den Tugenden gemachten Unterscheidungen genommen werden. Aus denselben Dingen kann man nämlich sowohl einen anderen als auch sich selbst als einen so 490 VI. Rhetorik und Poetik Beschaffenen hinstellen. Über Wohlwollen und Freundschaft muß aber in den Ausführungen über die Emotionen gesprochen werden. Die Emotionen sind die Dinge, durch welche sich (die Menschen), indem sie sich verändern, hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und welchen Lust oder Schmerz folgt, wie zum Beispiel Zorn, Mitleid, Furcht und was es sonst noch Derartiges gibt sowie die Gegenteile von diesen. Man muß aber bei jedem in dreierlei Hinsicht unterscheiden. Ich meine das wie zum Beispiel beim Zorn, in welchem Zustand sich die Zürnenden befinden, wem sie für gewöhnlich zürnen und aufgrund welcher Dinge. Wenn wir nämlich das eine oder zwei davon hätten, nicht aber alle, wäre es unmöglich, den Zorn hervorzubringen; ebenso aber auch bei den anderen (Emotionen). Wie wir also auch bei dem zuvor Gesagten die Sätze aufgezählt haben, so werden wir es auch mit Bezug auf diese Dinge machen und unsere Unterscheidungen auf die besagte Weise treffen. (Rhet. II 1) 1.6 Emotionen [1378a30] Es soll also Zorn ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung sein für eine vermeintliche Herabsetzung einem selbst oder einem der Seinigen gegenüber von solchen, denen eine Herabsetzung nicht zusteht. Wenn dies also Zorn ist, dann ist es notwendig, daß der Zürnende immer einem Einzelnen zürnt, wie zum Beispiel dem Kleon, nicht aber dem Menschen, und zwar weil der Betreffende einem selbst oder einem der [1378b] Seinigen etwas getan hat oder etwas tun wollte; auch (ist notwendig, daß) jedem Zorn eine gewisse Lust folgt, welche aus der Hoffnung auf Vergeltung herrührt; denn es ist angenehm zu meinen, daß man das erreichen wird, wonach man strebt, keiner aber strebt nach dem, was für ihn unmöglich zu erreichen ist. [Der Zürnende aber strebt nach für ihn Möglichem]. Deswegen ist es gut gesagt, wenn es vom Zorn heißt: „Der viel süßer als Honig, wenn er hinuntergleitet, in der Brust der Männer aufschwillt.“ Es folgt nämlich deswegen eine gewisse Lust, und auch weil man in Gedanken bei der Vergeltung verweilt: Die dann entstehende Vorstellung nämlich bringt Lust hervor, wie die der Träume. 491 1.6 Emotionen Weil aber die Herabsetzung die Aktualisierung einer Meinung über das, was nichts wert zu sein scheint, ist - denn wir halten sowohl gute als auch schlechte Dinge sowie auch das, was zu ihnen beiträgt, der ernsthaften Beachtung für würdig, was aber nichts oder nur geringfügig ist, halten wir für nichtswürdig -, gibt es drei Formen der Herabsetzung: Verachtung, Boshaftigkeit und übermütige Mißhandlung. (…) [1378b26] Der Grund für die Lust, die die übermütig Mißhandelnden haben, ist, daß sie meinen, durch die schlechte Behandlung selbst noch in höherem Maße überlegen zu sein. Deswegen gehören die Jungen und die Reichen zu denen, die übermütige Mißhandlung begehen; denn sie meinen durch die übermütige Mißhandlung überlegen zu sein. Ausdruck des Übermuts aber ist die Entehrung; der aber, der jemanden entehrt, verhält sich herabsetzend: Das, was nämlich nichts wert ist, weder für Gutes noch für Schlechtes, hat keine Ehre. (Rhet. II 2) [1380b34] Welche man aber liebt und haßt und warum, wollen wir sagen, nachdem wir die Freundschaftlichkeit und das Lieben definiert haben. Es sei also das Lieben: für jemanden das zu wollen, was man für Güter hält, um jener Person, aber nicht um seiner selbst willen, [1381a] und nach Möglichkeit dafür tätig zu sein. Der Freund aber ist der, der liebt und dessen Liebe erwidert wird. Es meinen aber diejenigen, Freunde zu sein, die der Ansicht sind, daß sie sich auf diese Weise zueinander verhalten. Legt man dies zugrunde, dann muß notwendigerweise der ein Freund sein, der sich über die guten Dinge mitfreut und über die schmerzlichen Dinge mitleidet, nicht wegen einer anderen Sache, sondern jener Person wegen. Denn wenn das geschieht, was man will, freuen sich alle, wenn das Gegenteil eintritt, empfinden sie Schmerz, so daß Schmerz- und Lustempfindungen ein Zeichen für das Wollen sind. Auch (die sind Freunde), denen dieselben Dinge als gut oder schlecht gelten; [auch die (sind Freunde), die die Freunde von einem als Freunde und die Feinde von einem als Feinde haben] es ist nämlich für diese notwendig, daß sie dasselbe wollen, so daß der, der für sich dasselbe will wie für einen anderen, für diesen ein Freund zu sein scheint. Auch liebt man die, die einem Wohltaten erwiesen haben, entweder einem selbst oder denen, um die wir uns kümmern; sei es, daß sie eine große Wohltat erwiesen haben oder es bereitwillig taten oder bei solchen 492 VI. Rhetorik und Poetik Gelegenheiten und um seinetwillen, oder wenigstens die, von denen man meint, sie wollen einem eine Wohltat erweisen. Auch (liebt man) die Freunde der Freunde sowie die, welche die lieben, die man selbst liebt. Auch (liebt man die), die von denen geliebt werden, die man selbst liebt. Auch (liebt man die), die den eigenen Feinden feindlich sind und die diejenigen hassen, die man selbst haßt. Auch (liebt man die), die von denen gehaßt werden, die man selbst haßt; allen diesen nämlich scheinen dieselben Dinge gut zu sein wie einem selbst, so daß sie das wollen, was für einen selbst gut ist - was, wie wir sagten, das Wesen des Freundes ist. Auch (liebt man die), die im Hinblick auf Geldfragen und auf die eigene Rettung wohltätig sind; deswegen ehrt man die Freigebigen und Tapferen. Auch liebt man die Gerechten; für solche hält man diejenigen, die nicht von anderen leben; solche aber sind die, die vom Arbeiten leben, und von diesen besonders die, die von der Landwirtschaft oder von den übrigen die, die aus eigener Hand leben. Auch (liebt man) die Besonnenen, weil sie nicht ungerecht sind, und die, die Streit vermeiden, (liebt man) aus demselben Grund. Auch (liebt man die), denen wir Freund sein wollen, wenn sie es zu wollen scheinen; solche sind aber die, die hinsichtlich der Tugend gut sind, und die, die angesehen sind, entweder bei allen oder bei den Besten und bei den von einem selbst Bewunderten oder bei denen, die einen selbst bewundern. Auch (liebt man die), mit denen umzugehen und den Tag zu verbringen angenehm ist. Solche sind die, die heiter sind und es nicht darauf abgesehen haben, solche zu kritisieren, die Fehler begehen, und nicht streitsüchtig und nicht zänkisch sind; denn alle solche suchen die Auseinandersetzung, wer aber die Auseinandersetzung sucht, scheint das Gegenteil zu wollen. Auch (liebt man die), die bereit sind, einen Spaß zu machen oder einen Spaß zu verstehen; denn in beiden Fällen bemühen sie sich um dasselbe wie ihr Nächster, indem sie in der Lage sind, einen Spaß auf ihre Kosten zu verstehen und einen wohlwollenden Spaß zu machen. Auch (liebt man die), welche die bei einem vorhandenen Vorzüge loben, und von diesen am meisten das, wovon man fürchtet, daß es [1381b] einem nicht zukommt. Auch (liebt man die), die tadellos sind hinsichtlich ihres Aussehens, hinsichtlich ihrer Kleidung sowie hinsichtlich ihrer ganzen Lebensführung. Auch (liebt man die), die nicht auf Fehlern und erwiesenen Wohltaten herumreiten; denn beide sind auf Kritik aus. Auch 493 1.6 Emotionen (liebt man die), die weder nachtragend sind noch Tadel gut im Gedächtnis behalten, sondern die sich leicht versöhnen lassen; so nämlich, wie man annimmt, daß sie gegenüber anderen sind, so glaubt man, daß sie auch einem selbst gegenüber sind. Auch (liebt man die), die nicht schlecht über einen sprechen und nicht die Nachteile der Nächsten oder von einem selbst bemerken, sondern die Vorzüge; der Gute nämlich tut dies. Auch (liebt man die), die sich nicht den Zürnenden und den sich Ereifernden widersetzen; solche nämlich sind auf Auseinandersetzung aus. Auch (liebt man die), die sich einem gegenüber irgendwie bemüht verhalten, wie zum Beispiel die, die einen bewundern oder einen als bedeutend ansehen oder Freude an einem haben; und dies besonders, wenn sie diesen Eindruck bei solchen Dingen erlangt haben, hinsichtlich deren man selbst besonders bewundert werden oder bedeutend erscheinen oder angenehm sein will. Auch (liebt man) die Ähnlichen und die, die sich mit denselben Dingen beschäftigen, wenn sie einem nicht im Weg sind und der Lebensunterhalt nicht aus demselben herrührt; denn so ist es ein Fall von „Der Töpfer (grollt) dem Töpfer.“ Auch (liebt man die), die dieselben Dinge begehren, von denen es möglich ist, daß man zugleich an ihnen teilhat; wenn aber nicht, dann ergibt sich auch so dasselbe. Auch (liebt man die), zu denen man sich so verhält, daß man sich nicht gegenüber der öffentlichen Meinung schämt, weil man sie nicht verachtet. Auch (liebt man die), gegenüber denen man sich schämt hinsichtlich der Wahrheit. Auch (liebt man die), gegenüber denen man sich ehrgeizig verhält, und die, von denen man bewundert und nicht beneidet werden will; diese liebt man oder man möchte ihr Freund sein. Auch (liebt man die), mit denen man Gutes zusammen tun möchte, wenn sich für einen nicht größere Übel dadurch einstellen. Auch (liebt man die), die auf gleiche Weise die Abwesenden und die Anwesenden lieben; deswegen liebt man auch alle die, welche gegenüber den Toten derartige sind. Und überhaupt (liebt man die), die ihre Freunde sehr lieben und sie nicht im Stich lassen; am meisten nämlich liebt man von den guten Menschen die, die als Freunde gut sind. Auch (liebt man die), die sich einem gegenüber nicht verstellen; solche sind aber die, die ihre Laster auf der Zunge tragen. Es wurde nämlich gesagt, daß wir uns hinsichtlich der Freunde nicht gegenüber der öffentlichen Meinung schä- 494 VI. Rhetorik und Poetik men; wenn also der sich Schämende nicht liebt, dann gleicht der, der sich nicht schämt, einem Liebenden. Auch (liebt man die), die nicht furchterregend und gegenüber denen wir zuversichtlich sind; keiner nämlich liebt den, den er fürchtet. Formen der Freundschaft sind: Kameradschaft, vertrauter Umgang, Verwandtschaft und was es dergleichen noch gibt. Dinge, die Freundschaft hervorbringen, sind das Erweisen von Gefälligkeiten, und dies zu tun, ohne daß man darum gebeten wird, und es nicht an die große Glokke zu hängen, wenn man es getan hat; denn so scheint es seinetwegen und nicht wegen eines anderen zu sein. Über die Feindseligkeit und das Hassen [1382a] muß man offenbar die Betrachtung aus den Gegenteilen anstellen. Dinge, die Feindseligkeit hervorbringen, sind: Zorn, Boshaftigkeit, Beschuldigung. Zorn also entsteht aus Dingen, die auf einen selbst bezogen sind, Haß aber entsteht auch, ohne daß es auf einen selbst bezogen ist. Wenn wir nämlich annehmen, daß jemand einer von einer bestimmten Beschaffenheit sei, hassen wir ihn. Auch (bezieht sich) der Zorn immer auf Einzelnes, wie zum Beispiel auf Kallias oder Sokrates, Haß aber (bezieht sich) auch auf Gattungen; den Dieb nämlich und den Verleumder haßt jeder. Auch ist ersteres durch Zeit heilbar, letzteres ist nicht durch Zeit heilbar. Auch ist ersteres ein Streben nach Schmerz, letzteres ein Streben nach Übel; der Zürnende nämlich will, daß man es wahrnimmt, für den anderen macht es keinen Unterschied. Es ist nämlich das Schmerzliche durchweg wahrnehmbar, die größten Übel aber, Ungerechtigkeit und Unverstand, sind am wenigsten wahrnehmbar; die Anwesenheit von Übeln fügt nämlich durchaus keinen Schmerz zu, das erstere (Zorn) aber ist mit Schmerz verbunden, das letztere (Haß) ist nicht mit Schmerz verbunden; denn der Zürnende empfindet Schmerz, der Hassende nicht. Der eine nämlich dürfte, wenn viel geschehen ist, Mitleid empfinden, der andere aber unter keinen Umständen. Der eine nämlich möchte, daß der, dem er zürnt, ein ausgleichendes Leid erfährt, der andere aber will, daß der Gehaßte nicht existiert. Aus diesem also ist offenbar, daß es möglich ist, Feinde und Freunde als solche zu erweisen, wenn sie es sind, und wenn sie es nicht sind, sie dazu zu machen, und die, die (das Gegenteil) behaupten, zu widerlegen, und durch Zorn oder Feindseligkeit die Vertreter der Gegenmeinung zu dem zu führen, was auch immer man sich vornimmt. 495 1.6 Emotionen Wie die Dinge aber beschaffen sind, vor denen man sich fürchtet, und vor welchen Personen und in welchem Zustand man sich dabei befindet, das wird folgendermaßen offenbar. Es sei also Furcht eine Art von Schmerz oder Beunruhigung, herrührend aus der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzlichen Übels; man fürchtet nämlich nicht alle Übel, wie zum Beispiel, daß man ungerecht sein wird oder schwerfällig, sondern alle die, welche große Schmerzen und Verderben bewirken können. Und diese (fürchtet man nur), wenn sie nicht weit entfernt, sondern nahe zu sein scheinen, so daß sie unmittelbar bevorstehen; denn das sehr Entfernte fürchtet man nicht. Alle wissen nämlich, daß sie sterben werden, aber weil es nicht nahe ist, kümmert man sich nicht darum. Wenn also die Furcht dies ist, dann sind notwendigerweise alle solche Dinge furchterregend, die eine große Macht zu haben scheinen, entweder zu vernichten oder Schäden zuzufügen, welche sich auf einen großen Schmerz beziehen. Deswegen sind auch die Anzeichen von derartigem furchterregend; nahe nämlich erscheint dann das Furchterregende. Dies aber ist Gefahr: das Näherkommen von Furchterregendem. Derartig aber sind der Haß und der Zorn von solchen, die etwas bewirken können; denn offensichtlich wollen sie, so daß sie nahe daran sind, es zu bewirken. Auch Ungerechtigkeit, die über Macht verfügt, (ist derartig); durch die Entscheidung nämlich ist der Ungerechte ungerecht. Auch Tugend (ist derartig), [1382b] die übermütig behandelt wurde, wenn sie über die Macht dazu verfügt; denn offensichtlich entscheidet man sich immer dazu, wenn man übermütig behandelt wird, nun hat man auch noch die Macht dazu. Auch Furcht von solchen, die dazu in der Lage sind, etwas zu bewirken, (ist derartig); denn ein solcher ist notwendigerweise immer gerüstet. Weil aber die meisten eher schlecht, vom Gewinnstreben abhängig und feige in Gefahren sind, ist es in der Regel furchterregend, wenn man von einem anderen abhängig ist, so daß die Mitwisser von einem, der etwas Schreckliches getan hat, die Furcht erwecken, ihn entweder zu verraten oder ihn im Stich zu lassen. Auch die, die dazu fähig sind, Unrecht zu tun, (sind furchterregend) für die, denen Unrecht getan werden kann; denn in der Regel tun die Menschen Unrecht, wenn sie es können. Auch die, die Unrecht erlitten haben oder es zu erleiden meinen, (sind furcht- 496 VI. Rhetorik und Poetik erregend); immer nämlich lauern sie auf die rechte Gelegenheit. Auch die, die Unrecht getan haben, sind, wenn sie die Macht haben, furchterregend, weil sie fürchten, daß sie Vergeltung erleiden; es wurde nämlich zugrunde gelegt, daß solches furchterregend ist. Auch die Konkurrenten um die Dinge, von denen es nicht möglich ist, daß sie beiden zugleich zukommen, (sind furchterregend); immer nämlich befindet man sich solchen gegenüber in einem Kriegszustand. Auch wer für die, die stärker sind als man selbst furchterregend sind, (sind furchterregend); in noch höherem Maße nämlich könnten sie einem schaden, wenn sie schon den Stärkeren schaden können. Auch welche von denen, die stärker sind als man selbst, tatsächlich gefürchtet werden, (sind) aus demselben Grund (furchterregend). Auch die, welche diejenigen, die stärker sind als man selbst, besiegt haben, (sind furchterregend). Auch die, welche denjenigen, die schwächer sind als man selbst, nachstellen, (sind furchterregend), denn entweder sind sie schon furchterregend oder werden es sein, nachdem sie noch stärker geworden sind. Von denen, welchen Unrecht getan wurde, und von Feinden und Gegnern (sind) nicht die Jähzornigen und Freimütigen sondern die Sanftmütigen, Ironischen und Listigen (furchterregend); es ist nämlich nicht klar, ob sie nahe sind, so daß es niemals offensichtlich ist, daß sie fern sind. (…) [1382b35] Es meinen aber diejenigen, nichts zu erleiden, die sich entweder in großem [1383a] Glück befinden oder zu befinden scheinen - deswegen sind sie übermütig, herablassend und frech; zu solchen machen einen Reichtum, Stärke, zahlreiche Freunde und Macht -, andererseits auch diejenigen, die schon alles Schreckliche erlitten zu haben meinen und hinsichtlich des Zukünftigen abgestumpft sind, so wie auch die, die schon vor der Hinrichtung stehen. Vielmehr muß es eine gewisse Hoffnung auf Rettung vor dem geben, wovor man sich fürchtet; ein Zeichen dafür ist: Die Furcht treibt zur Überlegung an, und doch überlegt sich keiner die Dinge, die hoffnungslos sind. Daher muß man, wann immer es besser erscheint, daß sie sich fürchten, (die Zuhörer) in einen solchen Zustand versetzen, daß sie glauben, sie seien solche, die etwas erleiden; denn auch andere Bedeutendere haben es schon erlitten; und man muß zeigen, daß Ähnliche es erleiden oder schon erlitten haben und zwar von solchen, von denen man es nicht glaubte, und dies (nicht glaubte) und zu Zeitpunkten, von denen man es nicht glaubte. (Rhet. II 4-5) 497 1.6 Emotionen [1385b13] Es sei also Mitleid eine Art von Schmerz aufgrund eines vermeintlichen Übels, das verderblich oder schmerzlich ist, bei jemandem, der es nicht verdient hat, daß ihm derartiges widerfährt, und von dem man erwarten kann, daß man es selbst oder einer der Seinigen erleidet, und dies ist der Fall, wenn es nahe scheint; denn offensichtlich muß derjenige, der Mitleid empfinden soll, der Meinung sein, es sei ein Übel von der Art vorhanden, wie er selbst oder einer der Seinigen es erleiden kann, und daß es sich um ein Übel von der Art handeln muß wie in der Definition gesagt oder ein ähnliches oder dem sehr nahekommendes. Daher empfinden weder die ganz im Unglück Befindlichen Mitleid - sie meinen nämlich, nichts mehr zu erleiden, weil sie schon alles erlitten haben - noch die, die meinen, sich ganz und gar im Glück zu befinden, sondern sie verhalten sich übermütig; wenn man nämlich meint, daß einem alle Güter zur Verfügung stehen, dann (meint man) offensichtlich auch, es sei nicht möglich, daß man irgendein Übel erleide; denn auch dies gehört zu den Gütern. Solche Leute, die meinen, etwas erleiden zu können, sind die, die bereits etwas erlitten haben und davongekommen sind, und die Älteren wegen der vernünftigen Einschätzung und Erfahrung, die Schwachen und die eher Feigen, sowie die Gebildeten; denn sie sind solche, die sich die Dinge gut überlegen. Auch die (meinen, etwas erleiden zu können), die Eltern oder Kinder oder Frauen haben; denn die gehören einem und sind von der Art, daß sie die besagten Dinge erleiden können. Auch die (meinen, etwas erleiden zu können), die sich weder in einer der tapferen Emotionen, wie zum Beispiel Zorn oder Zuversicht, befinden - diese sind nämlich solche, die nicht überlegen, was künftig sein wird -, noch in einem übermütigen Zustand befinden - denn auch sie sind solche, die sich nicht überlegen, daß sie künftig etwas erleiden werden -, und sich auch nicht übermäßig fürchten - denn die, die vor Angst außer sich sind, empfinden kein Mitleid, weil sie auf die eigene Emotion gerichtet sind -, vielmehr (meinen) diejenigen, (etwas erleiden zu können), die sich in der Mitte zwischen diesen befinden. Auch (empfindet man Mitleid), wenn man meint, daß bestimmte Personen zu den Tugendhaften gehören; wer nämlich meint, daß niemand dazugehört, der wird der Ansicht sein, daß alle das Übel [1386a] verdient haben. Und überhaupt (empfindet man Mitleid), wenn man 498 VI. Rhetorik und Poetik sich so verhält, daß man sich daran erinnert, daß einem selbst oder einem der Seinigen derartiges widerfahren ist, oder so, daß man erwartet, daß es einem selbst oder einem der Seinigen geschehen wird. In welchem Zustand also sich die befinden, die Mitleid empfinden, ist gesagt, worüber man Mitleid empfindet, ist aufgrund der Definition offenbar: Denn was vom Schmerzlichen und Betrüblichen [verderblich] ist, ist alles mitleiderregend. Auch das (ist mitleiderregend), was zerstörend ist, sowie diejenigen Übel, deren Ursache der Zufall ist, wenn sie bedeutend sind. Betrübliche und verderbliche Übel aber sind Todesfälle, Mißhandlungen, körperliche Leiden, Alter, Krankheiten, Mangel an Nahrung; Übel aber, von denen der Zufall die Ursache ist, sind Entbehren und Knappheit von Freunden, - deswegen ist auch das Getrenntwerden von Freunden und Verwandten mitleiderregend -, Häßlichkeit, Schwachheit und Verkrüppelung. Auch das (ist mitleiderregend), wenn sich aus dem, was etwas Gutes hätte sein sollen, ein Übel ergibt; auch (ist es mitleiderregend), wenn derartiges oftmals geschieht. Auch das (ist mitleiderregend), wenn ein Gut (erst) eintritt, nachdem der Betreffende etwas erlitten hat, wie zum Beispiel dem Diopeithes die Geschenke vom König erst geschickt worden sind, als er schon gestorben war. Auch das (ist mitleiderregend), wenn sich (für jemanden) entweder gar kein Gut einstellt oder es sich zwar einstellt, nicht aber der Genuß daran. Worüber man also Mitleid empfindet, ist dieses und das Derartige. Man bemitleidet aber diejenigen, die einem bekannt sind, wenn sie nicht der eigenen Verwandtschaft zu nahe stehen; bei diesen nämlich befindet man sich im selben Zustand, wie bei einem selbst, wenn man etwas erleiden soll. Deswegen hat auch Amasis, wie man sagt, nicht geweint, als man seinen Sohn zum Sterben wegführte, jedoch weinte er über den Freund, als der ihn anbettelte; dies nämlich ist mitleiderregend, jenes aber schrecklich. Das Schreckliche ist nämlich vom Mitleiderregenden verschieden, verdrängt das Mitleid und ist oftmals dem Gegner von Nutzen; man empfindet (nämlich nicht) Mitleid, wenn einem das Schreckliche nahe ist. Auch (empfindet man Mitleid) für die, die einem ähnlich sind hinsichtlich des Alters, des Charakters, der Einstellungen, der Position und der Abstammung; in allen diesen Fällen scheint es nämlich in höherem Maße auch einem selbst zukommen zu können. Überhaupt nämlich 499 1.7 Beispiel und Enthymem muß man auch hier erfassen, daß man über die Dinge, welche man für sich selbst fürchtet, Mitleid empfindet, wenn sie bei anderen geschehen. Da die Widerfahrnisse, die nahe erscheinen, mitleiderregend sind, man aber über das, was im Abstand von zehntausend Jahren geschehen ist oder geschehen wird und was man weder erwartet noch in Erinnerung hat, kein Mitleid empfindet, sind notwendigerweise diejenigen, die ihren Auftritt durch Gesten, durch die Stimme, durch die Kleidung und überhaupt durch den Vortrag verstärken, in höherem Maße mitleiderregend - denn sie bewirken, daß das Übel nahe zu sein scheint, indem sie es vor Augen führen entweder als bevorstehend oder als vergangen. Auch [1386b] das gerade Geschehene oder das, was in Kürze geschehen wird, ist in höherem Maße mitleiderregend; deswegen (sind) auch die Zeichen (davon mitleiderregend) [und die Handlungen], wie zum Beispiel Kleidungsstücke und dergleichen mehr von solchen, die etwas erlitten haben, sowie Worte und was es sonst noch alles gibt von solchen, die sich im Leid befinden, wie zum Beispiel von denen, die gerade im Sterben begriffen sind; alles dies nämlich bewirkt in höherem Maße das Mitleid dadurch, daß das Erleiden nahe erscheint. Und in höchstem Maße mitleiderregend ist, wenn sich tugendhafte Menschen in derartigen Situationen befinden, weil sie unverdientermaßen (in derartigen Situationen) sind und weil das Leiden offen vor allen Augen liegt. (Rhet. II 8) 1.7 Beispiel und Enthymem [1393a22] Es bleibt also noch übrig, über die für alle gemeinsamen Überzeugungsweisen zu sprechen, weil über die eigentümlichen schon gesprochen worden ist. Von den gemeinsamen Überzeugungsmitteln gibt es zwei Gattungen: Beispiel und Enthymem; die Sentenz ist nämlich ein Teil des Enthymems. Zuerst also wollen wir über das Beispiel sprechen; denn das Beispiel ist der Induktion ähnlich, die Induktion aber ist ein Anfang. Von den Beispielen gibt es zwei Arten. Die eine Art des Beispiels nämlich ist, früher geschehene Dinge zu berichten. Die andere Art besteht darin, sie selbst zu erfinden. Davon wiederum ist die eine Art der Vergleich, die andere besteht in den Fabeln, wie zum Beispiel die Äsopische und die Libysche. Das Berichten von geschehenen Dingen ist so, wie wenn man sagen würde, daß man gegen den Großkönig rüsten muß und nicht zulassen 500 VI. Rhetorik und Poetik soll, daß er Ägypten unterwirft, denn auch früher ist Dareios nicht (nach Griechenland) herübergekommen, bevor er Ägypten [1393b] eingenommen hat; hatte er es aber eingenommen, kam er herüber; und Xerxes wiederum hat früher nicht angegriffen, bevor er (Ägypten) eingenommen hat; hatte er es aber eingenommen, kam er herüber. Daher wird auch dieser, wenn er (Ägypten) eingenommen hat, herüberkommen; deswegen darf man es nicht zulassen. Ein Vergleich ist (wie) die Sokratischen Argumente, wie zum Beispiel: wenn einer argumentiert, daß nicht die durch das Los Ausgewählten regieren sollen; denn das sei ähnlich, wie wenn einer als Athleten nicht die, die zum Wettkampf befähigt sind, sondern die, welche das Losglück haben, durch das Los bestimmen würde, oder wenn man einen von den Seeleuten durch das Los zum Steuermann bestimmen würde, so als ob man den, der das Losglück hat, und nicht den, der etwas davon versteht, auswählen müsse. Eine Fabel aber ist so[: ] (…) [1393b24] Äsop aber erzählte, als er auf Samos einen auf den Tod angeklagten Volksführer verteidigte, ein Fuchs sei, als er einen Fluß überquerte, in eine Spalte abgetrieben worden. Weil er sich aber nicht befreien konnte, sei es ihm lange Zeit schlecht ergangen und viele Hundsläuse hätten sich an ihm festgesetzt. Als ihn ein herumirrender Igel sah, habe er ihn mitleidig gefragt, ob er ihm die Hundsläuse entfernen solle; der aber habe es nicht zugelassen. Auf die Frage, warum nicht, (habe er gesagt): „Diese sind schon voll von meinem Blut und saugen (nur noch) wenig Blut. Wenn du aber diese entfernst, werden andere, hungrige kommen und mir das restliche Blut austrinken.“ „Aber auch bei euch, ihr Männer von Samos“, sagte (Äsop), „wird dieser keinen Schaden mehr anrichten - er ist nämlich schon reich. Wenn ihr aber diesen [1394a] tötet, werden andere, arme kommen, die euch den öffentlichen Besitz stehlen und aufzehren werden.“ Die Fabeln sind für die Rede vor der Menge geeignet, und sie haben den Vorteil, daß es schwierig ist, ähnliche Dinge, die tatsächlich geschehen sind, zu finden, Fabeln (zu erfinden) aber einfach. Man muß sie nämlich wie die Vergleiche bilden, wenn einer in der Lage ist, das Ähnliche zu sehen, was aufgrund der philosophischen Bildung leichter ist. Leichter verfügbar sind also die durch Fabeln erbrachten Beispiele, nützlicher für das Beraten sind aber die Beispiele aufgrund von tatsächlich 501 1.7 Beispiel und Enthymem Geschehenem; in der Regel ist nämlich das, was künftig geschehen wird, dem schon Geschehenen ähnlich. Man muß aber die Beispiele wie Beweise gebrauchen, wenn man keine Enthymeme zur Verfügung hat - die Überzeugung erfolgt nämlich durch diese -, wenn man aber welche zur Verfügung hat, muß man sie wie Zeugen gebrauchen, indem man sie als Nachsatz zu den Enthymemen gebraucht. Werden sie vorangestellt, gleichen sie der Induktion, zur rhetorischen Argumentation paßt die Induktion aber nicht außer in wenigen Fällen; wenn man sie aber an den Schluß stellt, gleichen sie Zeugen, der Zeuge aber ist überall überzeugend. Deswegen muß der, der sie voranstellt, notwendig viele nennen, für den aber, der sie an den Schluß stellt, genügt aber eines. Denn auch ein einziger glaubwürdiger Zeuge ist nützlich. Wie viele Arten von Beispielen es gibt und wie und wann man sie gebrauchen muß, ist somit gesagt. (Rhet. II 20) [1395b20] Wir wollen allgemein über Enthymeme reden, auf welche Weise man sie suchen muß, und danach die Topen behandeln: die Art von jedem dieser beiden ist nämlich verschieden. Daß also das Enthymem eine Art Deduktion ist, wurde früher schon gesagt, und inwiefern es eine Deduktion ist und was es von den dialektischen Deduktionen unterscheidet; man darf die Schlußfolgerungen nämlich weder von weither ziehen noch, indem man alles aufgreift. Das eine ist nämlich unklar wegen der Länge, das andere ist geschwätzig, weil man Selbstverständliches sagt. Denn dies ist auch der Grund dafür, daß die Ungebildeten bei der Menge überzeugender sind als die Gebildeten, wie auch die Dichter sagen, daß die Ungebildeten für die Menge eher musisch sprechen. Die einen nämlich sprechen das Gemeinsame und Allgemeine aus, die anderen aufgrund der (einzelnen) Dinge, die sie kennen, und das Naheliegende. Daher darf man nicht aufgrund der Meinungen von allen, sondern soll man aufgrund der Meinungen einer bestimmten Gruppe sprechen, wie zum Beispiel (aufgrund der Meinung) von den Urteilenden und von denen, welchen sie Glauben schenken. [1396a] Und dies, daß es sich nämlich so zu verhalten scheint, muß offenbar mit Bezug auf alle oder auf die meisten zutreffen. Auch muß man die Schlußfolgerungen nicht nur aus den notwendigen Dingen ziehen, sondern auch aus dem, was sich in der Regel so verhält. 502 VI. Rhetorik und Poetik Zuerst muß man verstehen, daß man von der Sache, über die man reden und Deduktionen bilden soll, sei es (in) der politischen Versammlung oder in sonst einer, notwendigerweise über die zu dieser Sache vorhandenen Tatsachen verfügen muß, entweder über alle oder über einige; denn wenn man über keine davon verfügt, dann hättest du wohl nichts, woraus du Schlußfolgerungen bilden könntest. Ich meine das so: Wie könnten wir den Athenern raten, ob sie Krieg führen sollen oder nicht, wenn wir nicht wüßten, welches die Streitmacht von ihnen ist, ob sie aus einer Flotte oder aus Fußsoldaten oder aus beidem besteht und wie groß sie ist, welches die Einkünfte sind, welches die Freunde und welches die Feinde sind, welche Kriege Athen geführt hat und auf welche Weise und entsprechend für die übrigen Dinge. Oder wie könnten wir die Athener loben, wenn wir keine Kenntnis von der Seeschlacht von Salamis hätten oder von der Schlacht von Marathon oder von den für die Herakliden vollbrachten Taten oder von anderem derartigen. Alle bilden nämlich das Lob aus den vorhandenen oder scheinbar vorhandenen schönen Taten. Und ebenso tadeln alle aus dem Gegenteil, indem sie darauf schauen, ob ihnen etwas derartiges (Schändliches) zukommt oder zuzukommen scheint, wie zum Beispiel, daß die Athener die Griechen unterjocht haben und die Einwohner von Aigina und Potidaia, die Bundesgenossen gegen die Barbaren waren und sich dabei ausgezeichnet haben, zu Sklaven machten und die anderen derartigen Dinge, und (man schaut darauf ), ob sich bei ihnen ein anderer derartiger Fehler findet. Auf dieselbe Weise schauen auch die Ankläger und Verteidiger auf die vorhandenen Taten und bilden daraus ihre Anklage oder ihre Verteidigung. Es bedeutet aber keinen Unterschied, ob man eben dies mit Blick auf die Athener oder auf die Lakedaimonier oder mit Blick auf einen Menschen oder auf einen Gott tut. Denn selbst wenn man dem Achill rät und ihn lobt und tadelt, ihn anklagt und verteidigt, muß man bei ihm das Vorhandene und das, was vorhanden zu sein scheint, erfassen, damit wir, wenn wir loben oder tadeln, auf der Grundlage davon sprechen, ob etwas Schönes oder Schändliches vorhanden ist, wenn wir anklagen oder verteidigen, ob etwas Gerechtes oder Ungerechtes vorhanden ist, wenn wir beraten, ob etwas Nützliches oder Schädliches vorhanden ist. Ebenso wie bei diesen Fällen verhält es sich mit jedem anderen Gegenstand auch; darüber zum Beispiel, ob die Gerechtigkeit gut ist oder nicht gut, (muß 503 1.8 Klarheit des Stils man) auf der Grundlage von dem (sprechen), was der Gerechtigkeit und dem Guten zukommt. (Rhet. II 22) 1.8 Klarheit des Stils [1404b1] Jenes soll also als behandelt gelten, und es soll die Vortrefflichkeit der sprachlichen Form dadurch definiert sein, daß sie klar ist - die Rede ist nämlich ein sprachliches Zeichen, so daß sie, wenn sie ihren Gegenstand nicht klar macht, ihre Aufgabe nicht erfüllt -, und nicht zu banal und nicht über die Maßen erhaben, sondern angemessen. Die sprachliche Form der Dichtung nämlich ist vielleicht nicht banal, jedoch für die Rede nicht angemessen. Von den Nomen und Aussagewörtern machen die üblichen Ausdrükke (die Rede) klar; nicht banal aber, sondern geschmückt wird sie durch die anderen Ausdrücke, von denen in der Poetik die Rede war; denn das Abweichen erweckt den Anschein des Erhabeneren. Was nämlich den Menschen gegenüber den Fremden und den Mitbürgern widerfährt, dasselbe erfahren sie auch hinsichtlich der sprachlichen Form. Deswegen muß man die gebräuchliche Sprache fremdartig machen. Man ist nämlich Bewunderer der entlegenen Dinge, das Bewundernswerte aber ist angenehm. Bei der gebundenen Rede bewirkt vieles dies, und dort paßt es - es ragen nämlich die Dinge und die Personen, von denen die Rede ist, mehr hervor; weil es auch dort, wenn ein Sklave schöne Worte macht oder ein zu junger Mensch, eher unpassend wäre, oder wenn man es über zu geringfügige Dinge tut, hat vielmehr auch bei diesen das Angemessene mit dem Zusammenziehen und dem Erweitern zu tun -, in der ungebundenen Rede aber gibt es viel weniger, denn der zugrundeliegende Gegenstand ist viel geringer. Deswegen muß man (die Rede) unmerklich komponieren und nicht den Anschein des gekünstelten, sondern des natürlichen Redens erwecken - diese nämlich ist überzeugend, jenes aber das Gegenteil, denn (die Zuhörer) lehnen es ab, wie gegenüber jemandem, der etwas im Schilde führt, wie bei den gemischten Weinen -, so ergeht es zum Beispiel der Stimme des Theodoros im Vergleich mit den Stimmen der anderen Schauspieler. Die nämlich scheint die Stimme des Redenden zu sein, die anderen aber fremde. Es ist gut verborgen, wenn man durch Auswahl aus der gewöhnlichen Sprache die Rede zusammenstellt, was Euripides auch bei der Dichtung macht und als erster aufgenommen hat. 504 VI. Rhetorik und Poetik Weil es Nomen und Aussagewörter sind, aus denen die Rede besteht, die Nomen aber so viele Arten haben wie in der Poetik behandelt, muß man von diesen die fremdartigen Ausdrücke, die zusammengesetzten Nomen und die erfundenen Wörter selten und bei wenigen Gelegenheiten gebrauchen - bei welcher Gelegenheit werden wir später sagen, das Warum wurde bereits gesagt: Es weicht nämlich vom Angemessenen allzu sehr ab -, der übliche und der eigentümliche Ausdruck sowie die Metapher sind als einzige für die sprachliche Form der ungebundenen Rede nützlich. Ein Zeichen dafür ist, daß alle allein diese gebrauchen; alle nämlich unterreden sich mit Metaphern und den eigentümlichen und üblichen Ausdrücken. Wenn daher einer die Rede gut macht, wird sie offensichtlich fremdartig sein und (dabei) in der Lage, es zu verbergen, und sie wird klar sein. Dies nämlich war, wie wir sagten, die Vortrefflichkeit der rhetorischen Rede. (Rhet. III 2) 1.9 Gattung und Form; Aufbau [1413b2] Man darf aber nicht vergessen, daß zu jeder Gattung eine andere sprachliche Form paßt. (…) [1414a7] Die sprachliche Form der politischen Rede gleicht völlig der Schattenmalerei: je größer nämlich die Menge ist, um so entfernter muß der Betrachterstandpunkt sein; deswegen erscheint in beidem die Bemühung um Genauigkeit überflüssig und schlechter. Die Gerichtsrede dagegen ist genauer, und noch mehr die (vor) einem einzigen Richter; (letztere) ist am wenigsten eine Sache der rhetorischen Mittel; es kann nämlich leichter beobachtet werden, was der Sache eigentümlich ist und was ihr fremd ist. Auch fehlt die Kontroverse, so daß das Urteil rein ist. Deswegen kommen nicht dieselben Redner in allen diesen Gattungen gleich gut an; wo es aber am meisten auf den mündlichen Vortrag ankommt, dort ist am wenigsten Genauigkeit enthalten. (Rhet. III 12) 2. Poetik 2.1 Systematische Grundlegung [1447a8] Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen 505 2.1 Systematische Grundlegung muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln, indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist. Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie - größtenteils - das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen. Denn wie manche mit Farben und mit Formen, indem sie Ähnlichkeiten herstellen, vielerlei nachahmen - die einen auf Grund von Kunstregeln, die anderen durch Übung - und andere mit ihrer Stimme, ebenso verhält es sich auch bei den genannten Künsten: sie alle bewerkstelligen die Nachahmung mit Hilfe bestimmter Mittel, nämlich mit Hilfe des Rhythmus und der Sprache und der Melodie, und zwar verwenden sie diese Mittel teils einzeln, teils zugleich. Zum Beispiel verwenden das Flöten- und Zitherspiel - sowie andere Künste, welche dieselbe Wirkung haben, etwa das Spiel der Syrinx - nur Melodie und Rhythmus, die Tanzkunst allein den Rhythmus ohne Melodie; denn auch die Tänzer ahmen mit Hilfe der Rhythmen, die die Tanzfiguren durchdringen, Charaktere, Leiden und Handlungen nach. Diejenige Kunst, die allein die Sprache, in Prosa oder in Versen - in [1447b8] Versen, indem sie entweder mehrere Maße miteinander vermischt oder sich mit einem einzigen Maß begnügt -, verwendet, hat bis jetzt keine eigene Bezeichnung erhalten. Denn wir können keine Bezeichnung angeben, die folgendes umgreift: die Mimen des Sophron und Xenarchos, die sokratischen Dialoge sowie - wenn jemand mit diesen Mitteln die Nachahmung bewerkstelligen will - die jambischen Trimeter oder elegischen Distichen oder sonstigen Versmaße. Allerdings verknüpft eine verbreitete Auffassung das Dichten mit dem Vers, und man nennt die einen Elegien-Dichter, die anderen Epen-Dichter, wobei man sie nicht im Hinblick auf die Nachahmung, sondern pauschal im Hinblick auf den Vers als Dichter bezeichnet. Denn auch, wenn jemand etwas Medizinisches oder Naturwissenschaftliches in Versen darstellt, pflegt man ihn so zu nennen. Homer und Empedokles haben indes außer dem 506 VI. Rhetorik und Poetik Vers nichts Gemeinsames; daher wäre es richtig, den einen als Dichter zu bezeichnen, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter. Umgekehrt muß man jemanden, der Nachahmung bewerkstelligt, selbst wenn er hierbei alle Versmaße miteinander vermischt, wie etwa Chairemon den „Kentauren“ als eine aus allen Versmaßen gemischte Rhapsodie gedichtet hat, als Dichter bezeichnen. Diese Dinge lassen sich also auf diese Weise voneinander abgrenzen. Es gibt nun Künste, die alle die oben genannten Mittel verwenden, ich meine den Rhythmus, die Melodie und den Vers, wie z. B. die Dithyramben- und Nomendichtung und die Tragödie und Komödie. Diese Künste unterscheiden sich dadurch, daß sie die genannten Mittel teils von Anfang bis Ende, teils abschnittsweise verwenden. Dies sind die Unterschiede der Künste, die durch die Mittel bedingt sind, mit deren Hilfe die Nachahmung bewerkstelligt wird. [1448a] Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter eine dieser beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir. So halten es auch die Maler: Polygnot hat schönere Menschen abgebildet, Pauson häßlichere, Dionysios ähnliche. Es ist nun offenkundig, daß von den genannten Arten der Nachahmung jede diese Unterschiede hat und daß sie dadurch je verschieden ist, daß sie auf die beschriebene Weise je verschiedene Gegenstände nachahmt. Denn auch beim Tanz sowie beim Flöten- und Zitherspiel kommen diese Ungleichheiten vor, und ebenso in der Prosa und in gesprochenen Versen. So hat Homer bessere Menschen nachgeahmt, Kleophon uns ähnliche und Hegemon von Thasos, der als erster Parodien dichtete, sowie Nikochares, der Verfasser der „Deilias“, schlechtere. Dasselbe gilt für die Dithyramben und die Nomen; man könnte nämlich ebenso nachahmen, wie Timotheos und Philoxenos die Kyklopen nachgeahmt haben. Auf Grund desselben Unterschiedes weicht auch die Tragödie von der Komödie ab: die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen. 507 2.1 Systematische Grundlegung Nun zum dritten Unterscheidungsmerkmal dieser Künste: zur Art und Weise, in der man alle Gegenstände nachahmen kann. Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten - in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht - oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen. Die Nachahmung überhaupt läßt also, wie wir zu Anfang sagten, nach diesen drei Gesichtspunkten Unterschiede erkennen: nach den Mitteln, nach den Gegenständen und der Art und Weise. Daher ist Sophokles in der einen Hinsicht ein Nachahmer von derselben Art wie Homer (denn beide ahmen gute Menschen nach), in der anderen Hinsicht wie Aristophanes (denn beide ahmen Handelnde und sich Betätigende nach). Daher werden, wie einige meinen, ihre Werke „Dramen“ genannt: sie ahmen ja sich Betätigende (drôntes, von dran) nach. Aus eben diesem Grunde beanspruchen die Dorer sowohl die Tragödie als auch die Komödie. Die Komödie wird nämlich von den Megarern beansprucht, von den hiesigen mit der Begründung, sie sei dort zur Zeit der bei ihnen herrschenden Demokratie entstanden, und von den sizilischen, weil von dort der Dichter Epicharmos stammt, der viel früher gelebt hat als Chionides und Magnes. Die Tragödie wiederum wird von einigen Städten in der Peloponnes beansprucht. Die Dorer führen hierbei die Bezeichnung als Beweis an. Denn sie selbst, so sagen sie, nennten die Vororte „kômai“ die Athener hingegen „dêmoi“, und die Komödianten hätten ihren Namen nicht vom Umherschwärmen (kômazein), sondern davon, daß sie, als Ehrlose aus der Stadt vertrieben, durch die Vororte gezogen seien. [1448b] Ferner heiße das Handeln bei ihnen selbst „dran“, bei den Athenern jedoch „prattein“. Soviel über die Zahl und Beschaffenheit der Unterschiede in der Nachahmung überhaupt. Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren - es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten 508 VI. Rhetorik und Poetik Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt - als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen. Ursache hiervon ist folgendes: Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z. B. daß diese Gestalt den und den darstelle. (Wenn man indes den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat, dann bereitet das Werk nicht als Nachahmung Vergnügen, sondern wegen der Ausführung oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft.) Da nun das Nachahmen unserer Natur gemäß ist, und ebenso die Melodie und Rhythmus - denn daß die Verse Einheiten der Rhythmen sind, ist offenkundig -, haben die hierfür besonders Begabten von den Anfängen an allmählich Fortschritte gemacht und so aus den Improvisationen die Dichtung hervorgebracht. Die Dichtung hat sich hierbei nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigentümlich waren. Denn die Edleren ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die Gewöhnlicheren jedoch die von Schlechten, wobei sie zuerst Rügelieder dichteten, die anderen hingegen Hymnen und Preislieder. Aus vorhomerischer Zeit können wir von niemandem ein derartiges Gedicht nennen, doch hat es sicherlich viele Dichter gegeben. Von Homer an hingegen ist uns das möglich, wie es z. B. von ihm selbst den „Margites“ und Ähnliches gibt. In jenen Rügen kam in angemessener Weise der jambische Vers auf; er wird noch jetzt „Spottvers“ (iambeion) genannt, weil sich die Leute in diesem Versmaß zu verspotten (iambizein) pflegten. So dichteten die Alten teils in heroischen, teils in jambischen Versen. Wie nun Homer für das Edle der vorzüglichste Dichter war - denn er hat als einziger nicht nur gut gedichtet, sondern auch dramatische Nachahmungen hervorgebracht -, so hat er auch als erster die Form der Komödie angedeutet, indem er nicht Rügen, sondern das Lächerliche dra- 509 2.1 Systematische Grundlegung matisierte. Denn wie sich die „Ilias“ [1449a] und die „Odyssee“ zu den Tragödien verhalten, so verhält sich der „Margites“ zu den Komödien. Nachdem die Tragödie und die Komödie aufgekommen waren, bemächtigten sich die Dichter je nach ihrer Eigenart einer der beiden Gattungen, und die einen wurden statt Jambikern Komödiendichter, die anderen statt Epikern Tragiker, weil diese Formen großartiger und angesehener waren als jene. Zu untersuchen, ob die Tragödie hinsichtlich ihrer Elemente bereits einen hinlänglichen Entwicklungsstand erreicht hat oder nicht und hierüber an und für sich und im Hinblick auf die Aufführungen zu befinden, ist ein anderes Problem. Sie hatte ursprünglich aus Improvisationen bestanden (sie selbst und die Komödie: sie selbst von seiten derer, die den Dithyrambos, die Komödie von seiten derer, die die Phallos-Umzüge, wie sie noch jetzt in vielen Städten im Schwange sind, anführten); sie dehnte sich dann allmählich aus, wobei man verbesserte, was bei ihr zum Vorschein kam, und machte viele Veränderungen durch. Ihre Entwicklung hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte. Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht. Sophokles hat den dritten Schauspieler und die Bühnenbilder hinzugefügt. Was ferner die Größe betrifft, so gelangte die Tragödie aus kleinen Geschichten und einer auf Lachen zielenden Redeweise - sie war ja aus dem Satyrischen hervorgegangen - erst spät zu Feierlichkeit, und hinsichtlich des Versmaßes ersetzte der jambische Trimeter den trochäischen Tetrameter. Denn zunächst hatte man den Tetrameter verwendet, weil die Dichtung satyrspielartig war und dem Tanze näher stand; als aber der gesprochene Dialog aufkam, wies die Natur selbst auf das geeignete Versmaß. Denn der Jambus ist unter allen Versen der zum Sprechen geeignetste. Ein Beweis hierfür ist, daß wir in der Konversation des Alltags sehr oft in Jamben reden, jedoch selten in Hexametern und nur, indem wir uns vom üblichen Tonfall entfernen. Die Zahl der Episoden schließlich und alles übrige, womit die Tragödie, wie es heißt, im einzelnen ausgestattet wurde, wollen wir auf sich beruhen lassen; denn es wäre wohl eine umfangreiche Aufgabe, diese Dinge Punkt für Punkt durchzugehen. 510 VI. Rhetorik und Poetik Die Komödie ist, wie wir sagten, Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Häßlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz. Die Veränderungen der Tragödie, und durch wen sie bewirkt wurden, sind wohlbekannt. Die Komödie hingegen wurde nicht [1449b] ernst genommen; daher blieben ihre Anfänge im dunkeln. Denn erst spät bewilligte der Archon einen Komödienchor; zuvor waren es Freiwillige. Erst als die Komödie einigermaßen bestimmte Formen angenommen hatte, wurde die Erinnerung an ihre bedeutenderen Dichter bewahrt. Wer die Masken oder die Prologe oder die Zahl der Schauspieler, und was dergleichen mehr ist, aufgebracht hat, ist unbekannt. Der Gedanke, Handlungen zu erfinden, kam ursprünglich aus Sizilien; in Athen begann Krates als erster, die jambische Art aufzugeben und zusammenhängende Handlungen von allgemeiner Bedeutung zu erfinden. Die Epik stimmt mit der Tragödie insoweit überein, als sie Nachahmung guter Menschen in Versform ist; sie unterscheidet sich darin von ihr, daß sie nur ein einziges Versmaß verwendet und aus Bericht besteht. Ferner in der Ausdehnung: die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen; das Epos verfügt über unbeschränkte Zeit und ist also auch in diesem Punkte anders - obwohl man es hierin ursprünglich bei den Tragödien ebenso gehalten hatte wie bei den Epen. Die Teile sind teils bei Epos und Tragödie dieselben, teils Eigentümlichkeiten der Tragödie. Daher vermag, wer eine gute von einer schlechten Tragödie unterscheiden kann, dasselbe auch bei den Epen. Denn was die Epik enthält, ist auch in der Tragödie vorhanden, doch was die Tragödie enthält, ist nicht alles in der Epik vorhanden. (Poet. 1-5) 2.2 Tragödie [1449b20] Von derjenigen Kunst, die in Hexametern nachahmt, und von der Komödie wollen wir später reden; jetzt reden wir von der Tragödie, wobei wir die Bestimmung ihres Wesens aufnehmen, wie sie sich aus dem bisher Gesagten ergibt. Die Tragödie ist Nachahmung einer guten 511 2.2 Tragödie und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden - Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt. Ich bezeichne die Sprache als anziehend geformt, die Rhythmus und Melodie besitzt; ich meine mit der je verschiedenen Anwendung der formenden Mittel die Tatsache, daß einiges nur mit Hilfe von Versen und anderes wiederum mit Hilfe von Melodien ausgeführt wird. Da handelnde Personen die Nachahmung vollführen, ist notwendigerweise die Inszenierung der erste Teil der Tragödie; dann folgen die Melodik und die Sprache, weil dies die Mittel sind, mit denen die Nachahmung vollführt wird. Ich verstehe unter Sprache die im Vers zusammengefügten Wörter und unter Melodik das, was seine Wirkung ganz und gar im Sinnlichen entfaltet. Nun geht es um Nachahmung von Handlung, und es wird von Handelnden gehandelt, die notwendigerweise wegen ihres Charakters und ihrer Erkenntnisfähigkeit eine bestimmte Beschaffenheit haben. (Es sind ja diese Gegebenheiten, auf Grund deren wir auch den [1450a] Handlungen eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, und infolge der Handlungen haben alle Menschen Glück oder Unglück.) Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse, unter Charakteren das, im Hinblick worauf wir den Handelnden eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, unter Erkenntnisfähigkeit das, womit sie in ihren Reden etwas darlegen oder auch ein Urteil abgeben. Demzufolge enthält jede Tragödie notwendigerweise sechs Teile, die sie so oder so beschaffen sein lassen. Diese Teile sind: Mythos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik. Die Mittel, mit denen nachgeahmt wird, sind zwei; die Art, wie nachgeahmt wird, ist eine; die Gegenstände, die nachgeahmt werden, sind drei; und darüber hinaus gibt es nichts. Nicht wenige bedienen sich dieser Teile, um gewissermaßen selbständige Arten daraus zu machen; immerhin besteht jedes Stück in gleicher Weise aus Inszenierung, Charakteren, Mythos, Sprache, Melodik und Erkenntnisfähigkeit. Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit. (Auch Glück und Unglück beruhen 512 VI. Rhetorik und Poetik auf Handlung, und das Lebensziel ist eine Art Handlung, keine bestimmte Beschaffenheit. Die Menschen haben wegen ihres Charakters eine bestimmte Beschaffenheit, und infolge ihrer Handlungen sind sie glücklich oder nicht.) Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. Ferner könnte ohne Handlung keine Tragödie zustandekommen, wohl aber ohne Charaktere. Denn die Tragödien der Neueren sind größtenteils ohne Charaktere, und überhaupt ist dies bei vielen Dichtern der Fall. Ebenso verhält sich unter den Malern Zeuxis zu Polygnot; Polygnot war nämlich ein guter Maler von Charakteren, die Gemälde von Zeuxis hingegen zeigen keine Charaktere. Ferner, wenn jemand Reden aneinanderreihen wollte, die Charaktere darstellen und sprachlich wie gedanklich gut gelungen sind, dann wird er gleichwohl die der Tragödie eigentümliche Wirkung nicht zustandebringen. Dies ist vielmehr weit eher bei einer Tragödie der Fall, die in der genannten Hinsicht Schwächen zeigt, jedoch einen Mythos, d. h. eine Zusammenfügung von Geschehnissen, enthält. Außerdem sind die Dinge, mit denen die Tragödie die Zuschauer am meisten ergreift, Bestandteile des Mythos, nämlich die Peripetien und die Wiedererkennungen. Ein weiterer Beweis ist, daß Anfänger in der Dichtung eher imstande sind, in der Sprache und den Charakteren Treffendes zustandezubringen, als die Geschehnisse zusammenzufügen. Dies ist auch bei den ersten Dichtern fast ausnahmslos der Fall. Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos. An zweiter Stelle stehen die Charaktere. Ähnlich verhält es sich ja auch [1450b] bei der Malerei. Denn wenn jemand blindlings Farben aufträgt, und seien sie noch so schön, dann vermag er nicht ebenso zu gefallen, wie wenn er eine klare Umrißzeichnung herstellt. Die Tragödie ist Nachahmung von Handlung und hauptsächlich durch diese auch Nachahmung von Handelnden. Das dritte ist die Erkenntnisfähigkeit, d. h. das Vermögen, das Sachgemäße und das Angemessene auszusprechen, was bei den Reden das Ziel der Staatskunst und der Rhetorik ist. Denn die Alten ließen die 513 2.2 Tragödie Personen im Sinne der Staatskunst reden, die Jetzigen lassen sie rhetorisch reden. Der Charakter ist das, was die Neigungen und deren Beschaffenheit zeigt. Daher lassen diejenigen Reden keinen Charakter erkennen, in denen überhaupt nicht deutlich wird, wozu der Redende neigt oder was er ablehnt. Die Erkenntnisfähigkeit zeigt sich, wenn die Personen darlegen, daß etwas sei oder nicht sei, oder wenn sie allgemeine Urteile abgeben. Das vierte ist die Sprache. Ich verstehe unter Sprache, wie oben gesagt, die Verständigung durch Worte. Sie dient dem gleichen Zweck, ob es sich nun um Verse oder um Prosa handelt. Von den restlichen Teilen trägt die Melodik am meisten zur anziehenden Formung bei. Die Inszenierung vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun. Denn die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande. Außerdem ist für die Verwirklichung der Inszenierung die Kunst des Kostümbildners wichtiger als die der Dichter. (Poet. 6) [1451a36] Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der [1451b] Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt - man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse -; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut - eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen gibt. Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist ihm zugestoßen. Bei der Komödie hat sich das schon deutlich herausgestellt. Denn ihre Dichter fügen die Fabel nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit zusam- 514 VI. Rhetorik und Poetik men und geben den Personen erst dann irgendwelche Namen, d. h. sie gehen nicht so vor wie die Jambendichter, deren Dichtung um Individuen kreist. Bei der Tragödie halten sich die Dichter an die Namen von Personen, die wirklich gelebt haben. Der Grund ist, daß das Mögliche auch glaubwürdig ist; nun glauben wir von dem, was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne weiteres, daß es möglich sei, während im Falle des wirklich Geschehenen offenkundig ist, daß es möglich ist - es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre. Immerhin verhält es sich auch bei den Tragödien so, daß in einigen nur ein oder zwei Namen zu den bekannten gehören, während die übrigen erfunden sind, in anderen sogar kein einziger Name bekannt ist, wie im „Antheus“ des Agathon. In diesem Stück sind nämlich die Namen in derselben Weise frei erfunden wie die Geschehnisse, und es bereitet gleichwohl Vergnügen. Demzufolge muß man nicht unbedingt bestrebt sein, sich an die überlieferten Stoffe, auf denen die Tragödien beruhen, zu halten. Ein solches Bestreben wäre ja auch lächerlich, da das Bekannte nur wenigen bekannt ist und gleichwohl allen Vergnügen bereitet. Hieraus ergibt sich, daß sich die Tätigkeit des Dichters mehr auf die Fabeln erstreckt als auf die Verse: er ist ja im Hinblick auf die Nachahmung Dichter, und das, was er nachahmt, sind Handlungen. Er ist also, auch wenn er wirklich Geschehenes dichterisch behandelt, um nichts weniger Dichter. Denn nichts hindert, daß von dem wirklich Geschehenen manches so beschaffen ist, daß es nach der Wahrscheinlichkeit geschehen könnte, und im Hinblick auf diese Beschaffenheit ist er Dichter derartiger Geschehnisse. Unter den einfachen Fabeln und Handlungen sind die episodischen die schlechtesten. Ich bezeichne die Fabel als episodisch, in der die Episoden weder nach der Wahrscheinlichkeit noch nach der Notwendigkeit aufeinanderfolgen. Solche Handlungen werden von den schlechten Dichtern aus eigenem Unvermögen gedichtet, von den guten aber durch Anforderungen der Schauspieler. Denn wenn sie Deklamationen dichten und die Fabel über ihre Wirkungsmöglichkeiten hinaus in die Länge ziehen, [1452a] dann sind sie oft gezwungen, den Zusammenhang zu zerreißen. Die Nachahmung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles. 515 2.2 Tragödie Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen. So haben sie nämlich mehr den Charakter des Wunderbaren, als wenn sie in wechselseitiger Unabhängigkeit und durch Zufall vonstatten gehen (denn auch von den zufälligen Ereignissen wirken diejenigen am wunderbarsten, die sich nach einer Absicht vollzogen zu haben scheinen - wie es bei der Mitys-Statue in Argos der Fall war, die den Mörder des Mitys tötete, indem sie auf ihn stürzte, während er sie betrachtete; solche Dinge scheinen sich ja nicht blindlings zu ereignen). Hieraus folgt, daß Fabeln von dieser Art die besseren sind. (Poet. 9) [1452b28] Was man beim Zusammenfügen der Fabeln erstreben und was man dabei vermeiden muß und was der Tragödie zu ihrer Wirkung verhilft, das soll nunmehr, im Anschluß an das bisher Gesagte, dargetan werden. Da nun die Zusammensetzung einer möglichst guten Tragödie nicht einfach, sondern kompliziert sein und da sie hierbei Schaudererregendes und Jammervolles nachahmen soll (dies ist ja die Eigentümlichkeit dieser Art von Nachahmung), ist folgendes klar: 1. Man darf nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag vom Glück ins Unglück erleben; dies ist nämlich weder schaudererregend noch jammervoll, sondern abscheulich. 2. Man darf auch nicht zeigen, wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben; dies ist nämlich die untragischste aller Möglichkeiten, weil sie keine der erforderlichen Qualitäten hat: sie ist weder menschenfreundlich [1453a] noch jammervoll noch schaudererregend. 3. Andererseits darf man auch nicht zeigen, wie der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt. Eine solche Zusammenfügung enthielte zwar Menschenfreundlichkeit, aber weder Jammer noch Schaudern. Denn das eine stellt sich bei dem ein, der sein Unglück nicht verdient, das andere bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, der Jammer bei dem unverdient Leidenden, der Schauder bei dem Ähnlichen. Daher ist dieses Geschehen weder jammervoll noch schaudererregend. So bleibt der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins 516 VI. Rhetorik und Poetik Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers - bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück genießen, wie Ödipus und Thyestes und andere hervorragende Männer aus derartigen Geschlechtern. Die gute Fabel muß also eher einfach sein als - wie es einige wollen - zwiefach, und sie darf nicht vom Unglück ins Glück, sondern sie muß vielmehr vom Glück ins Unglück umschlagen, nicht wegen der Gemeinheit, sondern wegen eines großen Fehlers entweder eines Mannes, wie er genannt wurde, oder eines besseren oder schlechteren. Ein Beweis dafür ist, was eingetreten ist. Denn zuerst haben die Dichter beliebige Stoffe abgehandelt. Jetzt aber werden die besten Tragödien über eine kleine Anzahl von Geschlechtern zusammengesetzt, wie z. B. über Alkmeon, Ödipus, Orestes, Meleager, Thyestes und Telephos und wer sonst noch Schreckliches erlitt oder tat. Die im Hinblick auf die Kunst beste Tragödie ist also auf diese Weise zusammengefügt. Daher befinden sich die Tadler des Euripides in demselben Irrtum, wenn sie ihm vorwerfen, daß er sich in seinen Tragödien an den genannten Grundsatz hält, d. h. daß diese meistens unglücklich enden. Denn das ist ja, wie gesagt, richtig. Der beste Beweis ist dieser: bei den dramatischen Wettkämpfen erweisen sich derartige Tragödien als die tragischsten, wenn sie erfolgreich aufgeführt werden, und Euripides erweist sich als der tragischste unter den Dichtern, wenn er auch die anderen Dinge nicht richtig handhabt. Die zweitbeste Tragödie, die von manchen für die beste gehalten wird, ist die mit einer zwiefach zusammengefügten Fabel, wie die „Odyssee“, d. h. in der die Guten und die Schlechten ein entgegengesetztes Ende finden. Sie gilt als die beste, weil sie der Schwäche des Publikums entgegenkommt. Denn die Dichter richten sich nach den Zuschauern und lassen sich von deren Wünschen leiten. Doch diese Wirkung ist nicht das Vergnügen, auf das die Tragödie zielt; sie ist vielmehr eher der Komödie eigentümlich. Denn dort treten die, die in der Überlieferung die erbittertsten Feinde sind, wie Orestes und Aigisthos, schließlich als Freunde von der Bühne ab, und niemand tötet oder wird getötet. [1453b] Nun kann das Schauderhafte und Jammervolle durch die Inszenierung, es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse selbst bedingt sein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. Denn die Handlung muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur 517 2.2 Tragödie hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammer empfindet. So ergeht es jemandem, der die Geschichte von Ödipus hört. Diese Wirkungen durch die Inszenierung herbeizuführen, liegt eher außerhalb der Kunst und ist eine Frage des Aufwandes. Und wer gar mit Hilfe der Inszenierung nicht das Schauderhafte, sondern nur noch das Grauenvolle herbeizuführen sucht, der entfernt sich gänzlich von der Tragödie. Denn man darf mit Hilfe der Tragödie nicht jede Art von Vergnügen hervorzurufen suchen, sondern nur die ihr gemäße. Da nun der Dichter das Vergnügen bewirken soll, das durch Nachahmung Jammer und Schaudern hervorruft, ist offensichtlich, daß diese Wirkungen in den Geschehnissen selbst enthalten sein müssen. Wir wollen nunmehr betrachten, welche Ereignisse als furchtbar und welche als bejammernswert erscheinen. Notwendigerweise gehen derartige Handlungen entweder unter einander Nahestehenden oder unter Feinden oder unter Personen vor sich, die keines von beidem sind. Wenn nun ein Feind einem Feinde etwas derartiges antut, dann ruft er keinerlei Jammer hervor, weder wenn er die Tat ausführt noch wenn er sie auszuführen beabsichtigt - abgesehen von dem schweren Leid als solchem. Dasselbe gilt für Personen, die einander nicht nahestehen, ohne miteinander verfeindet zu sein. Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb von Naheverhältnissen ereignet (z. B.: ein Bruder steht gegen den Bruder oder ein Sohn gegen den Vater oder eine Mutter gegen den Sohn oder ein Sohn gegen die Mutter; der eine tötet den anderen oder er beabsichtigt, ihn zu töten, oder er tut ihm etwas anderes derartiges an) - nach diesen Fällen muß man Ausschau halten. Es ist nun nicht gestattet, die überlieferten Geschichten zu verändern; ich meine z. B., daß Klytaimestra von Orestes getötet werden muß und Eriphyle von Alkmeon. Man muß derartiges selbst erfinden oder das Überlieferte wirkungsvoll verwenden. Was wir unter wirkungsvoll verstehen, wollen wir etwas genauer darlegen. Die Handlung kann sich so vollziehen wie bei den alten Dichtern, d. h. mit Wissen und Einsicht des Handelnden, wie auch Euripides verfährt, wenn er Medea ihre Kinder töten läßt. Ferner kann man handeln, ohne die Furchtbarkeit der Handlung zu erkennen, und erst später Einsicht in das Naheverhältnis erlangen, wie es beim „Ödipus“ des Sophokles der Fall ist. Dort spielt sich das Furchtbare außerhalb der Bühnenhandlung ab, in der Tragödie selbst hingegen z. B. beim „Alkmeon“ des 518 VI. Rhetorik und Poetik Astydamas oder bei Telegonos im „Verwundeten Odysseus“. Außerdem gibt es auch eine dritte Möglichkeit: Die Person beabsichtigt aus Unkenntnis, etwas Unheilbares zu tun, erlangt jedoch Einsicht, bevor sie die Tat ausführt. Weitere Möglichkeiten außer den genannten gibt es nicht. Denn notwendigerweise führt man entweder die Tat aus oder nicht, und zwar wissentlich oder nicht wissentlich. Unter diesen Möglichkeiten ist die, daß die Person die Tat wissentlich beabsichtigt und sie dann nicht ausführt, die schlechteste. Denn darin ist zwar etwas Abscheuliches enthalten, jedoch nichts Tragisches; es tritt nämlich kein schweres Leid ein. Daher verfaßt niemand [1454a] eine derartige Dichtung, es sei denn ausnahmsweise, z. B. in der „Antigone“, wo sich Haimon dem Kreon gegenüber so verhält. An zweiter Stelle steht der Fall, in dem die Person die Tat auch ausführt. Noch besser ist der Fall, daß die Person die Tat ohne Einsicht ausführt und Einsicht erlangt, nachdem sie sie ausgeführt hat. Denn die Tat hat nichts Abscheuliches an sich, und die Wiedererkennung ruft Erschütterung hervor. Das Beste ist die letzte Möglichkeit, z. B.: Im „Kresphontes“ beabsichtigt Merope, ihren Sohn zu töten, sie tötet ihn jedoch nicht, sondern erkennt ihn wieder, und in der „Iphigenie“ verhält sich die Schwester dem Bruder gegenüber ebenso, und in der „Helle“ beabsichtigt der Sohn, die Mutter an die Feinde auszuliefern, und erkennt sie zuvor noch wieder. Aus diesem Grunde befassen sich die Tragödien, wie oben gesagt, nur mit wenigen Geschlechtern. Denn die Dichter gingen auf die Suche, und es gelang ihnen - nicht durch Kunst, sondern zufällig -, in den überlieferten Geschichten von derartigen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, und so sind sie denn gezwungen, sich nur noch mit den Geschlechtern zu befassen, denen derartige schwere Fälle von Leid zugestoßen sind. Über die Zusammenfügung der Geschehnisse und darüber, wie die Handlungen beschaffen sein müssen, haben wir jetzt genug gesagt. (Poet. 13-14) 2.3 Vergleich von Epos und Tragödie [1461b26] Man kann sich die Frage stellen, welche Art der Nachahmung die bessere sei, die epische oder die tragische. Wenn nämlich die weniger vulgäre die bessere und wenn das stets diejenige ist, die sich an das bessere Publikum wendet, dann ist klar, daß diejenige, die alles nachahmt, in 519 2.3 Vergleich von Epos und Tragödie hohem Maße vulgär ist. Denn die Schauspieler befinden sich, in der Annahme, das Publikum könne nicht folgen, wenn sie nicht von sich aus etwas hinzutun, in ständiger Bewegung - wie die schlechten Flötenspieler, die sich drehen, wenn sie einen fliegenden Diskus nachahmen sollen, und den Chorführer mit sich reißen, wenn sie die „Skylla“ vorspielen. Die Tragödie träfe dann ein ähnlicher Vorwurf, wie er den späteren Schauspielern von den früheren gemacht wurde; denn Mynniskos nannte Kallippides einen Affen, weil er allzu sehr übertreibe, und in demselben Ruf hat auch Pindaros [1462a] gestanden. Wie sich nun diese Schauspieler zu ihren Vorgängern verhalten, so verhielte sich hiernach die tragische Kunst überhaupt zur Epik. Diese wendet sich, so wird behauptet, an ein gebildetes Publikum, das der Gesten nicht bedarf, die tragische Kunst hingegen an ein ungebildetes. Wenn sie nun in dieser Weise vulgär ist, dann ist sie offensichtlich die geringere Kunst. Doch erstens richtet sich dieser Vorwurf nicht gegen die Dichtkunst, sondern gegen die Kunst des Interpreten. Denn Übertreibungen in den Ausdrucksmitteln sind auch beim Vortrag eines Epos möglich, wie im Falle des Sosistratos, und beim Wettsingen, wie im Falle des Mnasitheos von Opus. Man darf auch nicht jede Art von bewegter Darstellung für verwerflich halten, da ja auch der Tanz nicht verwerflich ist, sondern nur die von schlechten Darstellern ausgeführte. Dies hat man auch dem Kallippides vorgeworfen und jetzt anderen: sie seien nicht imstande, edle Frauen darzustellen. Zudem tut die Tragödie auch ohne bewegte Darstellung ihre Wirkung, wie die Epik. Denn schon die bloße Lektüre kann ja zeigen, von welcher Beschaffenheit sie ist. Wenn sie nun in den anderen Punkten überlegen ist, dann kommt es bei ihr auf die schauspielerische Darstellung nicht an: diese braucht überhaupt nicht vorhanden zu sein. Zweitens enthält die Tragödie alles, was auch das Epos enthält - sie kann sogar dessen Versmaß verwenden -, und außerdem als nicht geringen Teil die Melodik, die in sehr auffälliger Weise Vergnügen bereitet. Sie hat ferner das Merkmal der Eindringlichkeit, und zwar sowohl bei der Lektüre als auch bei der Aufführung. Außerdem erreicht sie das Ziel der Nachahmung [1462b] mit einer geringeren Ausdehnung. Das stärker Zusammengefaßte bereitet nämlich mehr Vergnügen als dasjenige, das sich auf eine lange Zeit hin verteilt - nehmen wir z. B. an, jemand wollte den „Ödipus“ des Sophokles zu ebensovielen Versen erweitern, wie sie die „Ilias“ enthält. Ferner bildet die Nachahmung in Epen weniger eine 520 VI. Rhetorik und Poetik Einheit (ein Beweis hierfür ist, daß aus jeder beliebigen epischen Nachahmung mehrere Tragödien hervorgehen können). Die Folge ist: wenn sich die epischen Dichter nur eine einzige Handlung vornehmen wollten, dann nähme sich diese entweder kümmerlich aus, wenn sie gedrängt dargestellt wäre, oder wässerig, wenn sie die dem Epos angemessene Länge erhielte. Ich rede hier von einem Epos, das aus mehreren Handlungen zusammengesetzt ist, wie ja die „Ilias“ viele derartige Teile enthält, und auch die „Odyssee“, Teile, deren jeder für sich genommen eine bestimmte Größe hat. Diese Dichtungen sind indes so vollkommen wie möglich zusammengefügt und in höchstem Maße die Nachahmung einer einzigen Handlung. Wenn sich nun die Tragödie in allen diesen Dingen auszeichnet und überdies noch in der von der Kunst angestrebten Wirkung - Epos und Tragödie sollen ja nicht ein beliebiges Vergnügen hervorrufen, sondern das erwähnte -, dann ist klar, daß sie dem Epos überlegen ist, da sie ihre Wirkung besser erreicht als jenes. Soviel sei über die Tragödie und das Epos im allgemeinen gesagt, sowie über deren Arten und Teile, wie viele es sind und worin sie sich unterscheiden, und über die Ursachen des Gelingens und Mißlingens und über mögliche Vorwürfe und deren Widerlegung. (Poet. 26) Quellenverzeichnis Hinweis : Aus Gründen der Einheitlichkeit wurden die Übersetzungen hinsichtlich der Rechtschreibung, der Verwendung von Klammern, Alternativübersetzungen und griechischen Begriffen sowie hinsichtlich der Bekker-Paginierung einander angeglichen. Die Bekker- Paginierung erfolgt in diesem Lesebuch nach der Editio Altera. Teil I, Kap. 1.1 [S. 18], Kap. 1.4 [S. 20], Kap. 5 [S. 62-85] aus: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 3/ II: Analytica posteriora, übersetzt u. erläutert v. Wolfgang Detel, Akademie Verlag, Berlin 2009 Teil I, Kap. 4 [S. 46-62] aus: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 3/ I.1: Analytica priora, Buch I, übersetzt u. erläutert v. Theodor Ebert u. Ulrich Nortmann, Akademie Verlag, Berlin 2008 Teil III, Kap. 1 [S. 219-227] aus: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 1/ I: Kategorien, übersetzt u. erläutert v. Klaus Oehler, 4. Auflage, Akademie Verlag, Berlin 2006 Teil I, Kap. 1.3 [S. 20]; Teil II, Kap. 3.4 [S. 175-177]; Teil III, Kap. 2-8 [S. 227-284] aus: Aristoteles, Metaphysik, herausgegeben v. Ursula Wolf, übersetzt von Herrmann Bonitz, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1966, 1994 Teil I, Kap. 1.2 [S. 18], Kap. 1.3 [S.18-19]; Teil IV [S. 296-405] aus: Aristoteles, Nikomachische Ethik, herausgegeben u. übersetzt v. Ursula Wolf, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2006 Teil I, Kap. 2 [S. 23-36] aus: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 1/ II: Peri hermeneias, übersetzt u. erläutert v. Herrmann Weidemann, 2., veränderte Aufl., Akademie Verlag, Berlin 2002 Teil I, Kap. 1.3 [S. 19-20]; Teil II, Kap. 1 [S. 98-147] aus: Aristoteles, Physik, übersetzt v. Roman Eisele, unveröffentlicht Teil VI, Kap. 2 [S. 504-520] aus: Aristoteles, Poetik, übersetzt v. Manfred Fuhrmann, griech.-dt., Reclam Verlag, Stuttgart 1982 Teil V [S. 414-469] aus: Aristoteles, Politik, herausgegeben von Ursula Wolf, Deutsche Übersetzung von Franz Susemihl, bearbeitet u. mit einem Vorwort sowie Anmerkungen versehen v. Wolfgang Kullmann, Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1965, 1994 522 VI. Rhetorik und Poetik Teil VI, Kap. 1 [S. 479-504] aus: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 4: Rhetorik, übersetzt u. erläutert v. Christof Rapp, Akademie Verlag, Berlin 2002 Teil I, Kap. 3 [S. 36-46], Kap. 6 [S. 85] aus: Aristoteles, Topik, übersetzt v. Tim Wagner u. Christof Rapp, Reclam Verlag, Stuttgart 2004 Teil II, Kap. 2 [S. 148-161] aus: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 12/ III: Über den Himmel, übersetzt u. erläutert v. Alberto Jori, Akademie Verlag, Berlin 2009 Teil II, Kap. 4.5 [S. 199-205] aus: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 17/ II-III. Zoologische Schriften II. Über die Bewegung der Lebewesen, übersetzt u. erläutert v. Jutta Kollesch, Akademie Verlag, Berlin 1985 Teil II, Kap. 4.1-4.5 [S. 177-199] aus: Aristoteles, Über die Seele, herausgegeben v. Horst Seidl, Einleitung u. Übersetzung nach Willy Theiler, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1998 Teil I, Kap. 1.5 [S. 21], Kap. 1.6 [S. 21-23]; Teil II, Kap. 3.1 [S. 161- 170] aus: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 17/ I: Zoologische Schriften II. Über die Teile der Lebewesen, übersetzt u. erläutert v. Wolfgang Kullmann, Akademie Verlag, Berlin 2007 Teil II, Kap. 3.2-3.3 [S. 170-175] aus: Aristoteles, Fünf Bücher von der Zeugung und Entwicklung der Tiere (Aristoteles Werke, Band 3). Griechisch u. deutsch mit sacherklärenden Anmerkungen. Herausgegeben v. Hermann Aubert u. Friedrich Wimmer, Scientia Verlag, Aalen 1978. Neudruck der Ausgabe von 1860. Zur Physik -Übersetzung Die Auszüge aus der Physik sowie Über Entstehung und Vergehen wurden von Roman Eisele neu übertragen. Angestrebt wurde eine textnahe Übersetzung, die dem Leser keine falsche Sicherheit vorspielt, sondern die oft knappe und teilweise sprachlich mehrdeutige Argumentation des Originals möglichst genau wiedergibt. Daher stehen syntaktisch oder zum Verständnis nötige Zusätze, gelegentlich auch erklärende Alternativausdrücke in (einfachen Klammern). Folgende konventionelle Ergänzungen wurden nur in Zweifelsfällen markiert: unbetonte Formen von ‚sein‘, ‚etwas‘, ‚Ding‘, ‚Sache‘ u. ä.; komparatives ‚als‘; anknüpfendes ‚so‘; unbetonte Personal- und Possessivpronomina; Ergänzungen (und selten Änderungen) von Artikeln und Demonstrativpronomina; die zur Auflösung von Partizipial- und Infinitivkonstruktionen nötigen Ergänzungen ‚daß‘, ‚indem‘, ‚als‘, ‚nachdem‘, ‚weil‘, ‚während‘, ‚obwohl‘ etc. - In 〈 spitzen Klammern 〉 stehen editorische Zusätze zum griechischen Original, in [[doppelten eckigen Klammern]] Passagen, die vielleicht nicht von Aristoteles stammen oder Parallelfassungen bilden, in [einfachen eckigen Klammern] unechte Passagen (einige kurze störende Einschübe wurden ganz ausgelassen). Der Text folgt der Edition von W. D. Ross (Oxford 2 1955) mit folgenden Abweichungen: 196b35: τοῦτο 〈τὸ〉 τοῦ Charlton; 197b23: μὴ γένηται τῷ ἕνεκα ἄλλου ἐκεῖνο οὗ ἕνεκα Prantl, Charlton; 201b7: αὕτη Prantl, Hussey; 204a6: [ ἢ πέρας ] Hussey; 207a11: τὸ κυρίως [, οἷον τὸ ] ὅλον , οὗ Hussey; 211b3: διῃρημένον , 〈ὡς ἐν τόπῳ〉 οἷον Ross 572; 219b12: μερίζει Ross App.; 219b19: ἡ στιγμὴ Owen, Waterfield; 220a21f.: ᾗ μὲν οὖν … ᾗ δ’ ἀριθμεῖ[, ἀριθμός ] (ohne †…†) Waterfield mit Philoponos und Simplikios. Husseys verständlicher Zweifel an der Echtheit von 202a7-9 (vgl. schon Prantl) und 202b26-28 kann hier nicht entschieden, soll aber mit [[…]] markiert werden; umgekehrt stehen in 204a11 und 15f. [[…]] statt […], da Mansfeld diese Passagen verteidigt. Das Kapitel aus Über Entstehung und Vergehen wurde nach der Edition von Harold H. Joachim (Oxford 1922) übersetzt. Abweichungen: 319b23: διαφανῆ ἢ 〈ὑγρά, ἀλλ’ οὐ〉 ψυχρά Williams; 319b29f.: bei [[ διὸ ἀνθρώπου … φθορά ]] dürfte es sich um eine Parallelfassung oder Glosse handeln. Besonderer Dank gilt Stephan Herzberg für hilfreiche Hinweise. Literatur 1. Werke und Hilfsmittel 1.1 Griechische Werk- und Einzelausgaben Die klassische Ausgabe der gesammelten Werke, nach deren Seiten- und Zeilenzahl bis heute zitiert wird, ist: Bekker, I. (Hrsg.): Aristotelis Opera, 5Bde., Berlin 1831-1870 (Bde. I-II: griech. Text, Bd. III: lat. Renaissance-Übersetzungen, Bd. IV: Scholia, Bd. V: Fragmente). Eine Sammlung der erhaltenen Fragmente: Rose, V.: Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta, Leipzig 1886. Einzelausgaben in der Reihe „Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis“ (Oxford Classical Texts) 1894ff.: - Analytica Priora et Posteriora (W. D. Ross/ L. Minio-Paluello), Oxford 1964. - Ars Rhetorica (W. D. Ross), Oxford 1959. - Atheniensium Respublica (F. G. Kenyon), Oxford 1963. - Categoriae et Liber de Interpretatione (L. Minio-Paluello), Oxford 1961. - De Anima (W. D. Ross), Oxford 1961. - De Arte Poetica (R. Kassel), Oxford 1965. - De Caelo, (D. J. Allan), Oxford, 1955. - De Generatione Animalium (H. J. Drossaart Lulofs), Oxford 1965. - Ethica Eudemia (R. R. Walzer/ J. M. Mingay), Oxford 1991. - Ethica Nicomachea (I. Bywater), Oxford 1949. - Fragmenta Selecta (W. D. Ross), Oxford 1958. - Metaphysica, 2 Bde. (W. Jaeger), Oxford 1957. - Physica (W. D. Ross), Oxford 1936. - Politica (W. D. Ross), Oxford 1962. - Topica et Sophistici Elenchi (W. D. Ross), Oxford 1955. 1.2 Übersetzungen und Kommentare The Complete Works of Aristotle. The Revised Oxford Edition, hrsg. v. J. Barnes, 2 Bde., Princeton 1984. 525 Literatur Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung (mit historisch-philologischen und philosophischen Kommentaren), begründet von E. Grumach, fortgeführt von H. Flashar, hrsg. v. Ch. Rapp, Berlin, bisher: - Kategorien (K. Oehler), 4 2006. - Peri hermeneias (H. Weidemann), 2 2002. - Analytica priora, Buch I (Th. Ebert, U. Nortmann), 2007; Buch II (N. Strobach, M. Malink), vorauss. 2010. - Analytica posteriora, 2 Bde. (W. Detel), 2 2009. - Rhetorik, 2 Bde. (Ch. Rapp), 2002. - Poetik (A. Schmitt), 2008. - Nikomachische Ethik (E. Dirlmeier), 10 1999 (Neubearbeitung in Vorbereitung). - Eudemische Ethik (E. Dirlmeier), 4 1985. - Magna Moralia (E. Dirlmeier), 5 1983. - Politik, Buch I (E. Schütrumpf), 1991; Buch II und III (E. Schütrumpf), 1991; Buch IV-VI (E. Schütrumpf / H.-J. Gehrke), 1996; Buch VII-VIII (E. Schütrumpf), 2005. - Staat der Athener (M. Chambers), 1990. - Oikonomika, (R. Zoepffel), 2006. - Physikvorlesung (H. Wagner), 5 1995. - Meteorologie, Über die Welt (H. Strohm), 3 1984. - Über den Himmel (A. Jori), 2009. - Über Entstehen und Vergehen (Th. Buchheim), 2009. - Über die Seele (W. Theiler), 8 2006. - Parva Naturalia II: De memoria et reminiscentia (R. A. H. King), 2004. - Parva Naturalia III: De insomniis, De devinatione per somnum (Ph. J. van der Eijk), 1994. - Zoologische Schriften I: Über die Teile der Lebewesen (W. Kullmann), 2007. - Zoologische Schriften II und III: Über die Bewegung der Lebewesen, Über die Fortbewegung der Lebewesen (J. Kollesch), 1985. - Opuscula I: Über die Tugend (E. A. Schmidt), 3 1986. - Opuscula II und III: Mirabilia (H. Flashar) und De Audibilibus (U. Klein), 3 l990. - Opuscula IV: De plantis (B. Herzhoff), vorauss. 2010. - Opuscula V: De coloribus (G. Wöhrle), 2000. - Opuscula VI: Physiognomonica (S. Vogt), 2000. - Problemata Physica (H. Flashar), 4 1991. - Fragmente I: Fragmente zu Philosophie, Rhetorik, Poetik, Dichtung (H. Flashar, U. Dubielzig, B. Breitenberger), 2006. 526 VI. Rhetorik und Poetik - Fragmente II: Über die Lehrmeinung der Pythagoreer (O. Primavesi), vorauss. 2010. - Fragmente III: Historische Fragmente (M. Hose), 2002. - Fragmente IV: Naturwissenschaftliche Fragmente (O. Hellmann), vorauss. 2010. In der „Bibliothek der Alten Welt“ in Übersetzung mit Einleitung und Anmerkungen von O. Gigon, später wiederabgedruckt beim Deutschen Taschenbuchverlag, München: - Einführungsschriften, 2 1987 (Zürich 1961). - Vom Himmel, von der Seele, von der Dichtkunst, 1983 (Zürich 1950). - Die Nikomachische Ethik, 7 2006 (Zürich 2 1967). - Politik, 10 2006 (Zürich 2 1971). In der „Philosophischen Bibliothek Meiner“, Hamburg: - Kategorien. Lehre vom Satz (E. Rolfes), 9 1974. - Lehre vom Schluß oder Erste Analytik (E. Rolfes, neu eingeleitet von H. G. Zekl), 1992. - Lehre vom Beweis oder Zweite Analytik (E. Rolfes; neu eingeleitet mit Bibliogr. v. O. Höffe), 11. verbesserte Neuauflage 1990. - Metaphysik (H. Seidl), 2 Bde., griech.-dt., 3 1989 und 3 1991. - Nikomachische Ethik (E. Rolfes; hrsg. von G. Bien), 4 1985. - Organon, Bd. 1: Topik; Topik, neuntes Buch oder Über die sophistischen Widerlegungsschlüsse, hrsg., übers., mit Einl. und Anm. von H. G. Zekl, griech.-dt., 1997. - Organon, Bd.2: Kategorien; Hermeneutik, hrsg., übers., mit Einl. und Anm. von H. G. Zekl, griech.-dt., 1998. - Organon, Bd. 3/ 4: Erste Analytik/ Zweite Analytik, hrsg., übers., mit Einl. und Anm. von H. G. Zekl, griech.-dt., 1998. - Physik (H. G. Zekl), 2 Bde., griech.-dt., 1995 und 1988. - Politik (E. Rolfes; neu eingeleitet v. G. Bien), 4 1990. - Sophistische Widerlegungen (E. Rolfes), 13 1968. - Topik (E. Rolfes; neu eingeleitet von H. G. Zekl), 1992. - Über die Seele (übers. von W. Theiler [1959], überarbeitet v. H. Seidl), griech.dt., 1998. Übersetzungen in Reclams Universalbibliothek, Stuttgart: - Kategorien (I. W. Rath), griech.-dt., 1998. - Kleine naturwissenschaftliche Schriften (E. Dönt), 1997. - Metaphysik (F. F. Schwarz), 1970. Literatur 527 Literatur - Nikomachische Ethik (E. Dirlmeier; Anmerkungen von E. A. Schmidt), 1969. - Poetik (M. Fuhrmann), griech.-dt., 1982. - Politik (F. F. Schwarz), 1989. - Rhetorik (G. Krapinger), 1999. - 77 Tricks zur Steigerung der Staatseinnahmen. Oikonomika II (K. Brodersen), griech.-dt., 2006. - Der Staat der Athener (M. Dreher), 1986. - Topik (T. Wagner/ Ch. Rapp), 2004. - Über die Welt (O. Schönberger), 1991. In der Reihe „Klassiker Auslegen“, herausgegeben von O. Höffe, Berlin: - Metaphysik. Die Substanzbücher (Hrsg. Ch. Rapp), 1996. - Nikomachische Ethik (Hrsg. O. Höffe), 2 2006. - Politik (Hrsg. O. Höffe), 2001. - Poetik (Hrsg. O. Höffe), 2009. Einzelübersetzungen mit Kommentaren: - Prior Analytics, übersetzt und kommentiert von R. Smith, Indianapolis 1991. - De motu animalium, übersetzt und kommentiert von M. C. Nußbaum, Princeton 1978. - Metaphysik, übersetzt von H. Bonitz [1890], neu hrsg. v. U. Wolf, Hamburg 1994. - Metaphysik, übersetzt von E. Bassenge, Berlin 1960. - Metaphysik, übersetzt und eingeleitet von Th. A. Szlezák, Berlin 2003. - La décision du sens. Le livre Gamma de la Metaphysique. Einführung, Text. Übersetzung und Kommentar von B. Cassin und M. Narcy, Paris 1989. - Les réfutations sophistiques, Einführung, Übersetzung u. Kommentar v. L.-A. Dorion, Paris 1995. - Metaphysik Z, übersetzt und kommentiert von M. Frede und G. Patzig, München 1988. - Metaphysik XII, übersetzt und kommentiert v. H.-G. Gadamer, griech.-dt., Frankfurt a. M. 5 2004. - L’Étique à Nicomaque, übersetzt und kommentiert von R. A. Gauthier und J. Y. Jolif, 4 Bde., Löwen 2 1970. - Nicomachean Ethics, übersetzt und kommentiert von T. Irwin, Indianapolis 2 1999. 528 VI. Rhetorik und Poetik - Nicomachean Ethics, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von S. Broadie und Ch. Rowe, Oxford 2002. - Nikomachische Ethik, übers. u. hrsg. v. U. Wolf, Hamburg 2006. - Nikomachische Ethik VI, übersetzt und kommentiert v. H.-G. Gadamer, griech.-dt., Frankfurt a. M. 1998. - Politik, übersetzt von F. Susemihl [1879], bearbeitet von N. Tsouyopoulos, hrsg. v. U. Wolf, Hamburg 1994. - Politics, übersetzt und kommentiert von C. D. C. Reeve, Indianapolis 1998. - On Rhetoric, A Theory of Civic Discourse, Newly Translated with Introduction, Notes, and Appendices by G. A. Kennedy, New York/ Oxford 1991. - Protreptikos, übersetzt und kommentiert v. I. Düring, Frankfurt a. M. 2 1993. Textnahe Übersetzungen mit systematisch-kritischen Anmerkungen bietet die „Clarendon Aristotle Series“, hrsg. v. J. L. Ackrill, Oxford: - Categories and De Interpretatione (J. L. Ackrill), 2 1975. - Posterior Analytics (J. Barnes), 2 1994. - Topics I and VIII (R. Smith), 1997. - Physics I and II (W. Charlton), 2 1984; III and IV (E. Hussey), 1983; VIII (D. W. Graham), 1999. - De Generatione et Corruptione (C. J. E. Williams), 1982. - De Anima II and III (D. W. Hamlyn), 2 1993. - De Partibus Animalium I and De Generatione Animalium I (D. M. Balme), 2 1992. - On the Parts of Animals I-IV (J. G. Lennox), 2002. - Metaphysics III and XI 1-2 (A. Madigan), 2000; IV-VI (C. Kirwan), 2 1993; VII and VIII (D. Bostock), 1994; IX (S. Makin), 2006; XIII-XIV (J. Annas), 2 1988. - Nikomachean Ethics II-IV (C. C. W. Taylor), 2006; VIII and IX (M. Pakaluk), 1999. - Eudemian Ethics I, II and VIII (M. Woods), 2 1992. - Politics I and II (T. J. Saunders), 1995; III and IV (R. Robinson), 2 1996; V and VI (D. Keyt), 1999; VII and VIII (R. Kraut), 1998. 1.3 Lexika Bonitz, H.: Index Aristotelicus, Neuausgabe besorgt von O. Gigon, Berlin 1960; Einzelausgabe des Index Aristotelicus: Graz 2 1955. Höffe, O. (Hrsg.) 2005: Aristoteles-Lexikon, Stuttgart. Literatur 529 Literatur 2. Sekundärliteratur 2.1 Allgemeine Darstellungen und Sammelbände Barnes, J. (Hrsg.) 1994: The Cambridge Companion to Aristotle, Cambridge. Buchheim, Th./ Flashar, H./ King, R. A. H. (Hrsg.) 2003: Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? , Hamburg. Flashar, H. 2 2004: Aristoteles, in: ders. (Hrsg.), Grundriß der Geschichte der Philosophie, Die Philosophie der Antike (Ueberweg), Bd. 3, Basel/ Stuttgart, 175-457. Höffe, O. 3 2006: Aristoteles, München (Beck’sche Reihe Denker). Ross, W. D. 1949: Aristotle, London. Rapp, Ch. 2001: Aristoteles, Hamburg. 2.2 Wissen und Wissenschaft Barnes,J./ Schofield, M./ Sorabji, R. (Hrsg.) 1975: Articles on Aristotle, Bd. 1: Science, London. Berti, E. (Hrsg.) 1981: Aristotle on Science. The ‚Posterior analytics‘, Padua. Crivelli, P. 2004: Aristotle on Truth, Cambridge. Deslauriers, M. 2007: Aristotle on Definition, Leiden. Irwin, T. 1989: Aristotle‘s First Principles, Oxford. Łukasiewicz, J. 1958: Aristotle‘s Syllogistic from the Standpoint of Modern Formal Logic, Oxford. McKirahan, R. D. 1992: Principles and Proofs. Aristotle‘s Theory of Demonstrative Science, Princeton. Modrak, D. 2001: Aristotle‘s Theory of Language and Meaning, Cambridge. Oehler, K. 1962: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung des Bewußtseinsproblems in der Antike, München. Patzig, G. 1969: Die aristotelische Syllogistik. Logisch-philologische Untersuchungen über das Buch A der „Ersten Analytiken“, Göttingen. Primavesi, O. 1996: Die Aristotelische Topik. Ein Interpretationsmodell und seine Erprobung am Beispiel von Topik B. Sfendoni-Mentzou, D. (Hrsg.) 2000: Aristotle and Contemporary Science, New York. 2.3 Naturphilosophie Althoff, J. 1991: Warm, Kalt, Flüssig, Fest bei Aristoteles, Stuttgart. Barnes, J./ Schofield, M./ Sorabji, R. (Hrsg.), 1979: Articles on Aristotle, Bd.4: Psychology and Aesthetics, New York. 530 VI. Rhetorik und Poetik Corcilius, K. 2007: Streben und Bewegen. Aristoteles‘ Theorie der animalischen Ortsbewegung, Berlin. Craemer-Ruegenberg, I. 1980: Die Naturphilosophie des Aristoteles, Freiburg/ München. Devereux, D./ Pellegrin, P. (Hrsg.) 1990: Biologie, logique et métaphysique chez Aristote, Paris. Everson, S. 1997: Aristotle on Perception, Oxford. Gotthelf, A./ Lennox, J. (Hrsg.) 1987: Philosophical Issues in Aristotle‘s Biology, Cambridge. Herzberg, S. 2009: Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles. Zur epistemologischen Funktion der Wahrnehmung, Berlin/ New York. 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Bordt, M. 2006: Aristoteles’ „Metaphysik XII“, Darmstadt (Werkinterpretationen). Burnyeat, M. 2001: A Map of Metaphysics Zeta, Pittsburgh. Fine, G. 1993: On Ideas. Aristotle‘s Criticism of Plato‘s Theory of Forms, Oxford. Frede, M./ Charles, D. (Hrsg.) 2000: Aristotle‘s Metaphysics Lambda, Oxford. Gill, M. L. 1989: Aristotle on Substance. The Paradox of Unity, Princeton. Graeser, A. (Hrsg.) 1987: Mathematics and Metaphysics in Aristotle. Mathematik und Metaphysik bei Aristoteles, Bern. Literatur 531 Literatur Lewis, F. A. 1991: Substance and Predication in Aristotle, Cambridge. Mesch, W. 1994: Ontologie und Dialektik bei Aristoteles, Göttingen. Owens, J. 3 1978: The Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics, Toronto. Preus, A./ Anton, J. P. (Hrsg.) 1992: Aristotle‘s Ontology, Albany. Radice, R. 2 1997: La ‚Metafisica‘ di Aristotele nel XX secolo, Mailand. Reale, G. 6 1994: Il concetto di filosofia prima e l‘unità della Metafisica di Aristotele, Mailand. Scaltsas, T./ Charles, D./ Gill, M. L. (Hrsg.) 1994: Unity, Identity, and Explanation in Aristotle‘s Metaphysics, Oxford. Steinfath, H. 1991: Selbständigkeit und Einfachheit. Zur Substanztheorie des Aristoteles, Frankfurt a. M. Tugendhat, E. 5 2003: TI KATA TINOS. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg i. Br. Wedin, M. V. 2000: Aristotle‘s Theory of Substance. The Categories and Metaphysics Zeta, Oxford. Witt, Ch. 1989: Substance and Essence in Aristotle, Ithaca/ London. 2.5 Ethik Annas, J. 1993: The Morality of Happiness, Oxford. Baracchi, C. 2008: Aristotle’s Ethics as First Philosophy, Cambridge. Barnes, J./ Schofield, M. / Sorabji, R. (Hrsg.) 1978: Articles on Aristotle, Bd. 2: Ethics and Politics, New York. Bostock, D. 2000: Aristotle‘s Ethics, Oxford. Broadie, S. W. 1991: Ethics with Aristotle, New York. Buddensiek, F. 1999: Die Theorie des Glücks in Aristoteles‘ „Eudemischer Ethik“, Göttingen. Charles, D. 1984: Aristotle‘s Philosophy of Action, London. Gordon, J.-S. 2007: Aristoteles über Gerechtigkeit. Das V. Buch der Nikomachischen Ethik, Freiburg/ München. Höffe, O. 3 2008: Praktische Philosophie — Das Modell des Aristoteles, Berlin (München/ Salzburg 1971). Jedan, Ch. 2000: Willensfreiheit bei Aristoteles? , Göttingen. Joachim, H. H. 2 1962: Aristotle. The Nicomachean Ethics, Oxford. Kenny, A. 1992: Aristotle on the Perfect Life, Oxford. Kraut, R. (Hrsg.) 2005: The Blackwell guide to Aristotle’s Nicomachean Ethics, Oxford. Rorty, A. O. (Hrsg.) 1980: Essays on Aristotle‘s Ethics, Berkeley/ Los Angeles/ London. 532 VI. Rhetorik und Poetik v. Siemens, N. 2007: Aristoteles über Freundschaft. Untersuchungen zur Nikomachischen Ethik VIII und IX, Freiburg/ München. Wolf, U. 2 2007: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, Darmstadt. 2.6 Politik Bodeüs, R. 1996: Aristote, La justice et la cité, Paris. Keyt, D./ Miller, E. D. (Hrsg.) 1991: A Companion to Aristotle‘s Politics, Cambridge. Kraut, R. 2002: Aristotle. Political Philosophy, Oxford. — (Hrsg.) 2005: Aristotle’s Politics. Critical Essays, Lanham. Meikle, S. 1995: Aristotle‘s Economic Thought, Oxford. Miller Jr., E. D., 1995: Nature, Justice and Rights in Aristotle‘s Politics, Oxford. Patzig, G. (Hrsg.) 1990: Aristoteles‘ „Politik“. Akten des XI. Symposium Aristotelicum, Göttingen. Simpson, P. 1998: A Philosophical Commentary on the Politics of Aristotle, Chapel Hill. Yack, B. 1993: The Problems of a Political Animal. Community, Justice, and Conflict in Aristotelian Political Thought, Berkeley/ Los Angeles/ London. 2.7 Rhetorik und Poetik Cole, T. 1991: The Origins of Rhetoric in Ancient Greece, Baltimore. Else, G. 1957: Aristotle‘s Poetics. The Argument, Cambridge. Fuhrmann, M. 2 1992: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt. Furley, D. J./ Nehamas, A. (Hrsg.) 1994: Aristotle‘s Rhetoric. Philosophical Essays. 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Anlage s. dynamis. anthrôpos (Mensch), 23, 40, 49, 100, 120, 219, 267, 302f., 344, 355, 416f., 467. apeiron (unendlich, unbegrenzt) 67, 116, 124-130, 266, 421f. aporia (Schwierigkeit, Problem), 36, 38f., 42-47, 82f., 120, 135. archê (Anfang, Ursprung, Prinzip, Regierung, Amt), 176, 235-237, 239, 241, 246, 259, 261, 264, 267f., 273-279, 299, 344, 346f., 368, 371, 430-432, 438, 440, 443f., 424f., 447, 449f., 452, 455f., 460. aretê (Tugend, Gutheit), 300-310, 324, 327, 330, 340, 343f., 351-358, 374, 378, 400-404, 417, 427-431, 435, 451, 463-468, 481f., 486, 492, 495. Art s. eidos. Besonnenheit s. sôphrosynê. Betrachtung s. theôria. Bewegung s. kinêsis. Bildung s. paideia. bios (Leben, Lebensform), 41, 298-303, 397-405, 431, 462. Buchstabe s. stoicheion. Bürger s. politês. Charakter s. êthos. Deduktion s. syllogismos. dianoia (Verstand, Denken), 62, 84, 106f., 188, 197, 200, 233, 271, 283, 343-345, 415. dikaiosynê (Gerechtigkeit), 327-341, 430, 466. Disposition s. dynamis. doxa (Meinung, Ansicht), 84, 150, 199, 272, 282f., 320, 348, 430. dynamis (Möglichkeit, Vermögen, Anlage, Disposition), 120, 125, 181-183, 188-190, 193-196, 262-272, 275f., 278, 307f., 328, 417, 455. eidos (Art, Gestalt, Form), 100-102, 111, 176f., 180-182, 185f., 191-193, 196, 246f., 255-259, 262f., 268f. eikos (wahrscheinlich), 513. das Eine s. hen. Element s. stoicheion. Emotion s. pathos. empeiria (Erfahrung), 228f. energeia (Wirklichkeit, Tätigkeit, Verwirklichung), 119, 188, 263, 265- 272, 275f., 393-405, 464. entelecheia (Entelechie, Wirklichkeit, Tätigkeit, Vollendung), 116, 178, 181- 190, 265, 270, 284. Entscheidung s. prohairesis. enstehen s. genesis. epagôgê (Induktion), 45f., 62f., 74, 77, 345, 482, 499. epistêmê (Wissen, Wissenschaft), 18-22, 38, 46f., 64-67, 69, 72-76, 79f., 84f., 177, 229-243, 255, 283, 296f., 328, 345, 347f., 441, 464, 479f., 484. Erfahrung s. empeiria. 534 VI. Rhetorik und Poetik ergon (Werk, Leistung, Aufgabe, Fähigkeit, Verrichtung, Wirkung, Tat), 179, 263, 268, 276, 294, 302f., 330, 405, 417, 428, 430, 442, 460, 467, 503, 506, 512f., 515. Erkenntnis s. theôria. Erziehung s. paideia. ethos (Gewohnheit, Gewöhnung), 229, 306f., 374, 467f., 488. êthos (Charakter), 305f., 319, 344, 481, 486, 505f., 511f. eudaimonia (Glück, Glückseligkeit), 298, 301-303, 329, 352, 397-405, 462- 468, 511. Fähigkeit s. dynamis. Form s. morphê. Freundschaft s. philia. Gattung s. genos. Gemeinschaft s. koinonia. genesis (Entstehen, Werden, Ausbildung), 21, 117, 150, 255, 262, 416. genos (Gattung, Geschlecht, Volk), 41, 98, 101, 119, 156, 178, 220-225, 256, 427, 437, 441, 443, 446, 461. Genuß s. hêdonê. Gerechtigkeit s. dikaiosynê. Geschlecht s. genos. Gesetz s. nomos. Gestalt s. eidos / idea / morphê. Gewohnheit, Gewöhnung s. ethos. Glück, Glückseligkeit s. eudaimonia. Gott s. theos. gut s. agathon / kalon. Gutheit s. aretê. Haltung s. hexis. Handlung s. praxis. Handwerk s. technê. Haus, Haushalt s. oikia. hêdonê (Lust, Vergnügen, Genuß, Begehren), 185f., 199, 229, 277f., 362, 367f., 372, 379, 386-401, 517. hen (das Eine), 78, 156, 182, 237, 239. Herstellungswissen s. technê. hexis (Haltung, Verhaltensweise, Disposition), 190, 306-314, 320, 325-330, 340f., 343-346, 381-386, 393, 397f. hylê (Materie, Stoff ), 100, 114, 133, 161, 177, 180-182, 186, 195, 205, 246f., 254-256, 258, 260-270, 275, 282. hypokeimenon (zugrundeliegend, Substrat), 100, 130, 181, 219-225, 246. hypothesis (Hypothese, Voraussetzung), 66f., 72f., 371. idea (Idee, Form, Gestalt), 279. Induktion s. epagôgê. Intellekt s. nous. kakia (Schlechtigkeit), 332, 355, 362f., 370, 435, 487. kalon (schön, gut, edel), 200, 278, 438, 450f., 505, 508. katêgoria (Kategorie), 40, 116, 154, 177, 238, 240, 244, 248, 251f., 254, 271. katharsis (Reinigung), 511. katholou (allgemein), 19f., 28-31, 33, 42, 45, 47f., 51-63, 73f., 77, 116, 190, 230, 311, 317, 342, 345, 360, 440, 450, 453, 501. kinêsis (Bewegung), 98, 116-123, 136f., 143, 148, 157f., 184, 189, 200, 266, 270, 274-279, 389, 391. Klugheit s. phronêsis. koinonia (Gemeinschaft), 329, 338, 414- 417, 419, 428, 431, 435, 437, 443. kontinuierlich s. syneches. kosmos (Universum), 124, 152, 349. Kunst, Kunstfertigkeit s. technê. Leben s. zôê / bios. Lebensweise s. bios. Liebe s. philia. logos (Vernunft, Rede, Sprache, Begriff, Definition, das Gesagte, Argument), 26, 100, 116, 118, 120, 122, 124, 140, 136, 242, 252, 263, 282, 352, 304, 360, 405, 416f, 435,438, 481, 483, 503-505, 506, 509. Lust s. hêdonê. machen s. poiêsis. Sachregister 535 Sachregister Mangel s. sterêsis. Materie s. hylê. Mehrhabenwollen s. pleonexia. Meinung s. doxa. Mensch s. anthrôpos. meson (das Mittlere), 308-314, 333, 336. metabolê (Veränderung, Wandel), 117- 122, 136f., 264, 509. methexis (Teilhabe, Teilnahme), 262. methodos (Methode, Vorgehen, Verfahren, Thema, Untersuchung), 19, 21, 38, 42, 116, 178, 232, 294, 327, 414, 505. mimêsis (Nachahmung), 505-520. das Mittlere s. meson. morphê (Gestalt, Form), 100, 112, 114, 117, 181, 185, 263, 455. Möglichkeit s. dynamis. Nachahmung s. mimêsis. Natur s. physis. nomos (Gesetz), 295, 329, 342, 417, 440, 443, 448-451, 479, 485, 487. notwendig s. anankaion. nous (Geist, Vernunft, Verstand, Intellekt), 42, 84, 105-112, 114, 141, 184f., 187, 193-198, 204, 277f., 282f., 298, 301-305, 315, 321, 343, 348, 366, 368, 390, 401f., 405, 497. oikia (Haus, Haushalt), 415, 417f., 432. on (seiend, Seiendes), 106, 113f., 116- 118, 121, 135, 147, 178, 181-183, 189f., 194, 196, 235-240, 243-254, 269-273, 276f., 279, 299, 343. orexis (Streben), 185f., 197, 200f., 296, 343, 488. organon (Werkzeug, Organ), 196, 415. Ort s. topos. ousia (Wesen, Substanz, Wesenheit), 21, 23, 98f., 112, 117, 124, 126f., 135, 176f., 222-225, 239, 245-247, 249, 253, 255-259, 268f., 273-279, 283. paideia (Erziehung, Bildung), 448, 450. pathos (Affekt, Affektion, Emotion, Leid), 179f., 238, 247, 296, 307f., 310f., 314, 318, 355-357, 360f., 365, 369, 382, 402, 481f., 490, 497f., 505. philia (Freundschaft, Liebe, Freundlichkeit), 234, 313, 374-386., 437, 494. philosophia (Philosophie), 200, 237-239, 280, 467, 500. phronêsis (Klugheit), 305, 346-354, 373, 387, 402, 417, 489. physis (Natur, der Sache gemäß), 19, 65, 72, 98f., 110, 113, 116, 128f., 136, 141, 160, 167, 195, 243f., 246, 248, 252-254, 261, 264, 275, 297, 304- 306, 308, 339, 346, 364, 374, 415f., 423, 431f., 464f., 488, 508f. pleonexia (Mehrhaben(wollen)), 329. poiêsis (Machen, Wirken, Herstellung, Werktätigkeit, Dichtung), 98, 120, 255, 345f., 505, 509, 513. polis (Polis, (Stadt-)Staat), 416-418, 423- 437, 441, 445f., 457, 462-467. politeia ((Staats-)Verfassung), 423, 425- 428, 431-435, 437, 440-446, 448- 456, 458-467. politês (Bürger, Staatsbürger), 330, 424, 441, 443, 445, 448f., 457, 462, 464- 467, 472, 485, 503. praxis (Handlung, Tätigkeit), 197, 201, 228, 266, 296, 297, 303, 310, 314f., 319, 338, 343, 347, 350, 352f., 370f., 379, 399, 403, 511. Prinzip s. archê. Privation s. sterêsis. Problem s. aporia. prohairesis (Entscheidung, Absicht, Vorsatz, Vorhaben), 201, 296, 310, 319, 352, 370f., 403. psychê (Seele), 23, 170-172, 177-188, 190, 193, 195-200, 203-205, 220, 246, 255f., 263, 269, 276, 303-305, 307, 326, 343, 345, 348, 351f., 361, 384f., 399, 428, 469, 512. Rede s. logos. Regierung s. archê. 536 VI. Rhetorik und Poetik Reinigung s. katharsis. Schlechtigkeit s. kakia. Schluß, Schlußfolgerung, s. syllogismos. schön s. kalon. Schwierigkeit s. aporia. Seele s. psychê. seiend, Seiendes s. on. sophia (Weisheit), 229f., 233, 238f., 305, 345, 348f., 351f., 354, 400. sôphrosynê (Besonnenheit, Mäßigkeit, beherrscht), 347, 372, 430, 486. Sprache s. logos. Staat s. polis. sterêsis (Mangel, Privation, Beraubung), 117, 130, 237, 255f. Stoff s. hylê. stoicheion (Element, Buchstabe), 19, 78, 152, 234, 260f., 274. Streben s. orexis. Subjekt, Substrat s. hypokeimenon. Substanz s. ousia. syllogismos (Syllogismus, Schluß, Deduktion), 46-48, 51-62, 78, 176, 345, 352, 482, 487. syneches (kontinuierlich, zusammenhängend, stetig, beständig), 116, 129, 138, 141, 158, 334, 393, 399. Tätigkeit s. energeia / entelecheia / praxis. technê (Handwerk, Kunstfertigkeit, Kunst, Herstellungswissen), 62, 84, 98-100, 114, 116, 175f., 195, 228, 254, 282, 296f., 390, 422, 439, 441, 446, 464, 466, 479, 505, 518. Teilhabe s. methexis. telos (Ziel), 102, 112, 200, 232f., 266, 268, 281, 296f., 315, 326f., 416, 421, 431, 437, 443, 459, 464, 468f., 479, 483, 512, 519. Thema s. methodos. theos (Gott, das Göttliche, Gottheit), 155, 232, 278, 282, 349, 355, 399, 405, 416. theôria (Betrachtung, Erkenntnis, (theoretische) Einsicht), 21f., 116. Tier s. zôon. topos (Topos, Ort, Platz, Örtlichkeit), 116, 132-134, 152, 193, 426, 435. Tugend s. aretê. tychê (Zufall), 32, 79, 104-110, 113, 115, 228, 255, 321, 346, 435, 456, 464, 484, 488, 498, 515, 518. Unbeherrschtheit s. akrasia. unendlich, unbegrenzt s. apeiron. Untersuchung s. methodos. Ursache s. aitia. Ursprung s. archê. Veränderung s. metabolê. Verfahren, Vorgehen s. methodos. Verfassung s. politeia. Vergnügen s. hêdonê. Vermögen s. dynamis. Vernunft s. logos / nous. Verstand s. dianoia / nous. Verwirklichung s. energeia. Volk s. genos. Vollendung s. entelecheia. Voraussetzung s. hypothesis. Wahrheit s. alêtheia. Wahrnehmung s. aisthêsis. wahrscheinlich s. eikos. Wandel s. metabolê. Weisheit s. sophia. Werden s. genesis. Werk s. ergon. Werkzeug s. organon. Wesen, Wesenheit s. ousia. Willensschwäche s. akrasia. Wirken s. poiêsis. Wirklichkeit s. energeia / entelecheia. Wirkung s. dynamis. Wissen, Wissenschaft s. epistêmê. Ziel s. telos. zôê (Leben), 278, 303, 394, 431, 437. zôon (Tier, Lebewesen), 197-205, 227, 445-447. Zufall s. tychê. zugrundeliegend s. hypokeimenon. Sachregister