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Kriminalitätsgeschichte

2000
978-3-8649-6366-7
UVK Verlag 
Andreas Blauert
Gerd Schwerhoff

Die Forschung in den Archiven der Justiz hat unser Wissen über den Zusammenhang von Herrschaft, Gesellschaft und Kultur im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit stark erweitert. Gerichtsakten dienen als Ausgangspunkt, um das breite Spektrum abweichenden Verhaltens oder die verschiedenen Formen sozialer Kontrolle und strafrechtlicher Sanktionen zu beleuchten. Der Band enthält zum einen Berichte zum Stand der internationalen historisch-kriminologischen Forschung. Zum anderen dokumentiert er Ansätze und Ergebnisse der deutschsprachigen Kriminalitätsforschung und bietet methodische und theoretische Beiträge zur Weiterentwicklung des Wissenschaftsfeldes, z.B. durch die konsequente Einbeziehung der geschlechterhistorischen Perspektive, oder indem der engere Bereich der Kriminalitätsforschung verlassen wurde, um der vormodernen Erinnerungskultur nachzuspüren.

Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Andreas Blauert, Martin Dinges, Mark Häberlein, Doris Kaufmann, Ulinka Rublack, Gerd Schwerhoff Band 1 Andreas Blauert Gerd Schwerhoff (Hg.) Kriminalitätsgeschichte Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kriminalitätsgeschichte : Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne / Hrsg.: Andreas Blauert; Gerd Schwerhoff - Konstanz : UVK, Univ.-Verl. Konstanz, 2000 (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven ; 1) ISBN 3-87940-688-X ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-86496-366- © UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH, Konstanz 2000 Einbandentwurf: Riester & Sieber, Konstanz UVK Universitätsverlag Konstanz Schützenstr. 24 · D- 78462 Konstanz Tel. 07531- 9053- 0 · Fax 07531- 9053- 98 www.uvk.de 7 Dank Allen an der Entstehung des vorliegenden Bandes Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt: Zunächst Dieter Bauer von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der es ermöglicht hat, daß der Arbeitskreis »Historische Kriminalitätsforschung« seit zehn Jahren in Stuttgart-Hohenheim zusammenkommen kann. Dann den ebenso engagierten wie geduldigen Autorinnen und Autoren, von denen die meisten den Arbeitskreis über lange Jahre mitgetragen haben. Schließlich dem Verlag, namentlich Patricia Knoop und Britta Carlsson für ihre umfassende Betreuungs- und Lektoratsarbeit sowie vor allem Artur Göser als verantwortlichem Lektor, ohne dessen Hartnäckigkeit der Band niemals zustande gekommen wäre. Jena und Bielefeld, im Herbst 1999 Andreas Blauert Gerd Schwerhoff 7 Inhalt Andreas Blauert, Gerd Schwerhoff Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Historische Kriminalitätsforschung in Europa Gerd Schwerhoff Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum. Zum Profil eines »verspäteten« Forschungszweiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Peter Wettmann-Jungblut Von Robin Hood zu Jack the Ripper. Kriminalität und Strafrecht in England vom 14. bis 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 69 Henrik Halbleib Kriminalitätsgeschichte in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Xavier Rousseaux Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg (14. bis 18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Peter Blastenbrei Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 1500 - 1800: Tendenzen und Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Jens Chr. V. Johansen Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern. . . . . . . . . . . . 175 Christoph Schmidt Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz (16. bis 18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 II. Theoretische Perspektiven Andrea Griesebner, Monika Mommertz Fragile Liebschaften? Methodologische Anmerkungen zum Verhältnis zwischen historischer Kriminalitätsforschung und Geschlechtergeschichte . . . . . . . 205 Michael Maset Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse für kriminalitätshistorische Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Inhalt 8 III. Kriminalquellen - Sprache und Wissen Klaus Graf Das leckt die Kuh nicht ab. »Zufällige Gedanken« zu Schriftlichkeit und Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Gabriela Signori Ein »ungleiches Paar«: Reflexionen zu den schwankhaften Zügen der spätmittelalterlichen »Gerichtsrealität«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Ralf-Peter Fuchs Gott läßt sich nicht verspotten. Zeugen im Parteienkampf vor frühneuzeitlichen Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Heike Talkenberger Bürger oder Außenseiter? Normerfüllung und Normverletzung in der Autobiographie des Luer Meyer (1850) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 IV. Funktionsweisen der Justiz: Dorf, Stadt und frühmoderner Staat Peter Schuster Richter ihrer selbst? Delinquenz gesellschaftlicher Oberschichten in der spätmittelalterlichen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Steffen Wernicke Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit. Die Regensburger Urfehdebriefe im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Erika Münster-Schröer »Grave gegen Düren«. Zaubereianklage und Schöffenurteil, Feme und Reichskammergericht im frühen 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Gudrun Gersmann Konflikte, Krisen, Provokationen im Fürstbistum Münster. Kriminalgerichtsbarkeit im Spannungsfeld zwischen adeliger und landesherrlicher Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Jens Chr. V. Johansen Das nahe Gericht. Über Kriminalität und das Rechtsbewußtsein dänischer Bauern in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Karl Härter Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Inhalt 9 Gerhard Sälter Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung. Die Praxis der Inhaftierung durch die Polizei in Paris am Beispiel des Zaubereidelikts (1697-1715) . . . . . . . . . . 481 V. Formen der Aneignung und Umgehung von Justiz Martin Dinges Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Francisca Loetz L’infrajudiciaire. Facetten und Bedeutung eines Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Carl A. Hoffmann Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten als vertikale und horizontale soziale Kontrolle im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 VI. Geistliches Gericht und Kirchenzucht Heinrich Richard Schmidt Elsli Tragdenknaben. Niklaus Manuels Ansicht des geistlichen Gerichts . . . . . . . . . 583 Frank Konersmann Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation. Das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken im 16. und 17. Jahrhundert . 603 Harriet Rudolph Kirchenzucht im geistlichen Territorium. Das Fürstbistum Osnabrück vom Westfälischen Frieden bis zu seiner Auflösung (1648 - 1802) . . . . . . . . . . . . . . . 627 VII. Delinquenz und Geschlecht Katharina Simon-Muscheid Täter, Opfer und Komplizinnen - geschlechtsspezifische Strategien und Loyalitäten im Basler Mortthandel von 1502. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Joachim Eibach Böse Weiber und grobe Kerle. Delinquenz, Geschlecht und soziokulturelle Räume in der frühneuzeitlichen Stadt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Sylvie Steinberg Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt: Frauen in Männerkleidern vor der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 689 Inhalt 10 VIII. »Social Crimes« - Imagination und Realität Winfried Freitag Das Netzwerk der Wilderei. Wildbretschützen, ihre Helfer und Abnehmer in den Landgerichten um München im späten 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Eva Wiebel Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹. Leben und Lebensbeschreibungen zweier berüchtigter Gaunerinnen des 18. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 Otto Ulbricht Rätselhafte Komplexität: Jugendliche Brandstifterinnen und Brandstifter in Schleswig-Holstein ca. 1790 - 1830 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Andreas Blauert Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion. Abenteurer und Piraten auf Madagaskar im 17. und 18. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . 831 Zusammenfassungen / Summaries / Résumés . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911 11 Andreas Blauert, Gerd Schwerhoff Einleitung Im Juli 1991 trafen sich in Stuttgart-Hohenheim erstmals rund fünfundzwanzig Frauen und Männer, um über ›Historische Kriminalitätsforschung‹ zu diskutieren. Aus der Perspektive der etablierten Geschichtsforschung konnte das Treffen selbst, wie ein Teilnehmer bemerkte, wenn nicht als »kriminell«, dann doch zumindet als »abweichend« erscheinen: Handele es sich im Fall der Kriminalität doch um ein exotisches und bisher kaum eigenständiges Thema historischer Forschung. Offen sei nur, mit welcher kriminologischen Theorie die Zusammenkunft am besten analysiert werden könne. Naheliegend sei eine Adaption der Subkulturtheorie, die in den Vereinigten Staaten maßgeblich von Soziologen entwickelt wurde, die jugendliche Straßenbanden erforschten. Sie gingen davon aus, daß Subkulturen von gemeinsamen Normen und Werten zusammengehalten werden, die von denen der etablierten Gesellschaft abweichen. Die Mitglieder einer Subkultur verhalten sich also durchaus normkonform, wenn auch nicht konform mit den Werten der offiziellen Kultur. Eine andere Möglichkeit der Interpretation böte der Etikettierungsansatz (labeling-approach), der die Definition abweichenden Verhaltens durch die Instanzen sozialer Kontrolle herauskehrt; als deviant erscheinen demzufolge nur diejenigen Verhaltensweisen, die von der Umwelt dazu erklärt werden. In dieser Perspektive würde der »abweichende« Charakter der Kriminalitätsforschung allerdings auch klar als deutsche Eigenheit erkennbar; allein im deutschsprachigen Raum erscheine diese Forschungsrichtung noch exotisch und fremdartig; in Frankreich, in England und Amerika ebenso wie in Skandinavien oder den Benelux-Staaten sei sie schon längst in den anerkannten Fächerkanon aufgenommen. Von daher sei leicht zu prognostizieren, daß es mit der Devianz der Kriminalitätsforschung bald vorbei sein würde. Die ebenso kokette wie selbstironische Prognose, so läßt sich aus der Rückschau am Ende des Jahrzehnts konstatieren, hat sich weitgehend erfüllt. Eine Flut von Aufsätzen und Forschungsberichten und eine ganze Reihe von Monographien (vorwiegend Dissertationen und Habilitationen) zeugen ebenso wie die weitere Geschichte des Stuttgarter Arbeitskreises davon, daß die Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum zu den produktivsten Forschungsfeldern der neunziger Jahre gezählt werden darf. Der Arbeitskreis ›Historische Kriminalitätsforschung in der Vormoderne‹ trifft sich seit 1991 regelmäßig einmal im Jahr und erfreut sich weiterhin eines wachsenden Zuspruchs; der Kreis der Interessierten umfasst inzwischen weit über einhundert vorwiegend jüngere Wissenschaftler(innen). Aus der Rückschau läßt sich deutlich erkennen, warum ausgerechnet am Beginn der 90er Jahre ein wachsendes Bedürfnis nach Diskussionen und Austausch auf dem Feld der Kriminalitätsgeschichte bestand. Schaut man sich die Teilnehmer des »Gründungs«-Workshops an, so hatte fast die Hälfte von ihnen zuvor auf dem Gebiet der Hexenforschung gewirkt und zum Teil umfangreiche Arbeiten vorgelegt. Sönke Lorenz und Dieter Bauer hatten 1985 den ›Arbeitskreis für interdisziplinäre Hexenforschung‹ (AKIH) aus der Taufe gehoben, dessen Jahrestreffen seitdem unter der Ägide der Ka- Einleitung 12 tholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Hohenheim stattfinden . 1 Der AKIH stellte denn auch eine Art Vorbild für den kriminalitätsgeschichtlichen Arbeitskreis dar, der ebenfalls bei der Akademie Gastrecht genießt. Die Verbindungen zwischen Hexenforschung und Kriminalitätsgeschichte in Deutschland sind jedoch nicht nur formal-organisatorischer Natur. Eine Besonderheit der neueren Hexenforschung gegenüber ihren traditionelleren Vorläufern war, daß sie anstelle der gelehrten Traktatliteratur die jeweilige Prozeßüberlieferung zu ihrer Quellengrundlage machte. Entgegen dem Verdikt von Joseph Hansen, der 1900 von der »schaurigen Einförmigkeit« der Hexenprozesse gesprochen hatte, entdeckte eine jüngere Historikergeneration im Spiegel der Gerichtsakten eine erstaunliche Vielfalt von historischen Phänomenen. Auf der Grundlage dieser Akten entstanden regionale Fallstudien, die unser Bild vom Hexenwesen und der Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit revolutioniert haben. 2 Es lag daher nur nahe, die Erfahrungen, die mit diesem speziellen Delikt gesammelt wurden, auf das gesamte Feld der Kriminalität zu übertragen. Auch hier waren ja bisher die Quellen der ›Justizpraxis‹ zugunsten der Rechtsnormen vernachlässigt worden. Neben den Hexenforscher(innen) hatten sich aber auch zeitgleich die Vertreter(innen) anderer Forschungsrichtungen - etwa der Kirchenzucht, der Volkskunde und der Rechtsgeschichte - für die Gerichtsakten zu interessieren begonnen. Im Juni 1991 lagen bereits die ersten Arbeiten von »Gründungsmitgliedern« gedruckt 3 oder als Manuskript 4 vor; andere hatten bereits Vorstudien zu größeren Projekten publiziert. 5 Die Zeit war erkennbar reif für eine Vernetzung. So einigte die »Faszination Kriminalquelle« alle am Forschungsfeld Interessierten - und eint sie bis heute, wie eine gleichnamige Sektion auf der letzten Tagung des Arbeitskreises im Mai 1999 beweist. Dennoch kann nur sehr bedingt von Kriminalhistorikern als einer einheitlichen »Subkultur« mit gemeinsamen Werten und Interessen gesprochen werden. Wie verschieden die Themen und Schwerpunksetzungen sind, erweist nicht zuletzt der Blick auf die bisherigen Arbeitskreistreffen. 6 Neben Studien, die sich mit bestimmten Delikten wie Raubkriminalität, Wilderei, Gewalt, Mord, Blasphemie etc. beschäftigen, existieren solche, die Justiz und Kriminalität in einer bestimmten 1 Vgl. »Hexenforschung«. Eine Einführung zur Reihe, in: Sönke Lorenz/ Dieter R. Bauer (Hg.): Das Ende der Hexenverfolgung, Stuttgart 1995, IX-XVI. 2 Andreas Blauert: Die Epoche der europäischen Hexenverfolgungen, in: Gisela Wilbertz u.a. (Hg.): Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich, Bielefeld 1994, 27 - 43; Eva Labouvie: Hexenforschung als Regionalgeschichte. Probleme, Grenzen und neue Perspektiven, in: ebd., 45 - 60; Wolfgang Behringer: Zur Geschichte der Hexenforschung, in: Sönke Lorenz (Hg.): Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten, Ostfildern 1994, 93 - 146 (zweite, erweiterte Auflage in Vorbereitung! ); Gerd Schwerhoff: Vom Alltagsverdacht zur Massenverfolgung. Neuere deutsche Forschungen zum frühneuzeitlichen Hexenwesen, in: GWU 46 (1995), 359 - 380. 3 Susanna Burghartz: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990; Otto Ulbricht: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990. 4 Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/ Berlin 1991; Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln 1997. 5 Heinrich R. Schmidt: Die Christianisierung des Sozialverhaltens als permanente Reformation. Aus der Praxis der reformierten Sittengerichte in der Schweiz während der frühen Neuzeit, in: Peter Blickle/ Johannes Kunisch (Hg.): Kommunalisierung und Christianisierung, Berlin 1989, 113- 163; Wolfgang Behringer: Mörder, Diebe, Ehebrecher. Verbrechen und Strafen in Kurbayern vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle, Frankfurt/ M. 1990, 85- 132; Peter Wettmann-Jungblut: »Stelen in rechter hungersnodtt«. Diebstahl, Eigentumsschutz und strafrechtliche Kontrolle im vorindustriellen Baden 1600 - 1850, in: ebd., 133- 177. Einleitung 13 Region in ihrer ganzen Breite zu erfassen suchen. Methodische oder theoretische Beiträge stehen empirisch ausgerichteten Werkstattberichten über die Arbeit mit einen bestimmten Quellencorpus gegenüber. Vorträge, die langfristigen Entwicklungstrends nachspüren, finden sich ebenso wie Mikrostudien, die detailliert die Geschichte einer Gemeinde, einer Familie oder gar die Biographie einer Person rekonstruieren. Nur ein Teil der mit Gerichtsakten arbeitenden Forscher(innen) beschäftigt sich dabei ausschließlich mit Kriminalität; ein anderer nutzt Gerichtsakten in einem viel weiteren Sinn als Sonde zur Erforschung vergangener Lebenswelten. Trotz der angesprochenen Vielfalt läßt sich - mit aller Vorsicht - ein eigenständiges Profil der deutschen kriminalhistorischen Forschung erkennen. Die Kriminalitätsgeschichte zeigt sich stark von den methodischen und theoretischen Diskussionen um Historische Anthropologie und Mikrogeschichte beeinflußt, und sie hat ihrerseits versucht, an diesen Diskussionen zu partizipieren. Unlängst wurde die Kriminalitätsgeschichte an der Schnittstelle von (alter) Sozialgeschichte und (neuer) Kulturgeschichte verortet. 7 Der Untertitel des vorliegenden Bandes hat dies in programmatischer Absicht aufgenommen. Die inhaltlichen Konsequenzen eines solchen Profils können hier nur kurz angedeutet werden. 8 Eine gewisse Skepsis gegenüber quantifizierenden Verfahren gehört ebenso dazu wie die intensive Erforschung kleinerer Delikte (»petty crimes«) wie Beleidigungen oder Verstöße gegen die guten Sitten. Unter dem Einfluß der Geschlechtergeschichte hat sich zudem das Interesse für frauen- und männerspezifische Delikte ebenso wie für Ehe- und andere Streitigkeiten zwischen den Geschlechtern verstärkt. Fragen nach den Funktionsweisen der Justiz wurden nicht ausgeblendet, aber doch in charakteristischer Weise aufgenommen und umgeformt; Justiz wird hier nicht mehr als ein anonymer Repressionsapparat begriffen, sondern als ein Angebot zur Konfliktregulierung, das mit anderen gesellschaftlichen Techniken (Stichwort: Infrajustiz) in Zusammenhang gesehen werden muß. Bei aller thematischen Breite blieb der Stuttgarter Arbeitskreis ein vergleichsweise unaufwendiges und bescheidenes Unternehmen. Seine Beschränkung auf die »alteuropäische« Phase der Geschichte, also die Zeit vom 13./ 14. Jahrhundert bis zum Ausgang des Ancien Régime - mit dem Begriff »Vormoderne« eher ungelenk umschrieben -, hat viel mit seinen Wurzeln in der Hexenforschung zu tun, aber auch damit, daß Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag selten geblieben sind. Einen dezidiert interdisziplinären Anspruch hat der Kreis trotz der selbstverständlichen Teilnahme von Volkskundler(inne)n oder Rechtshistoriker(inne)n ebensowenig erhoben 9 wie einen internationalen, obwohl auf fast jeder Tagung Kriminalhistoriker(innen) aus Frankreich oder dem angelsächsischen Bereich anwesend waren. Auf die Einwerbung 6 Vgl. Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Crime and History. The German Workshop »Historische Kriminalitätsforschung in der Vormoderne«, in: Crime, Histoire et Sociétés 2 (1998), 137 - 140 mit einer Übersicht über die ersten sieben Treffen des Arbeitskreises. Aktuelle Programme werden jetzt abrufbar sein auf der Webside der ›Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart‹, Fachreferat Geschichte (Dieter R. Bauer): http: / / www.kirchen.de/ akademie/ rs/ 34.htm. 7 Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: HZ 263 (1996), 681- 715 8 Vgl. dazu eingehender den Forschungsbericht von Gerd Schwerhoff im vorliegenden Band. 9 Interdisziplinär ist dagegen der von Martin Dinges und Fritz Sack initiierte Arbeitskreis von Wissenschaftlern aus den Bereichen Kriminologie und Geschichte angelegt, der demnächst einen ersten gemeinsamen Band vorlegen wird: Martin Dinges/ Fritz Sack: Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz 2000. Einleitung 14 von Tagungsgeldern wurde bewußt ebenso verzichtet wie auf die Formulierung allzu einengender Tagungstitel - Maßnahmen, die einen höheren Grad an Formalisierung, Institutionalisierung und möglicherweise eine Selektion des Teilnehmerkreises erforderlich gemacht hätten. Auch wenn die letzten beiden Tagungen zum Teil thematisch gegliederte Sektionen enthielten, um Diskussionen zu bündeln, sollen die Stuttgarter Workshops auch in Zukunft als offene Foren des Austauschs dienen; weiterhin soll es möglich sein, laufende Arbeiten in Form von Werkstattberichten vorzustellen. Diese Konzeption beinhaltet auch den Verzicht auf jegliche Verpflichtung zur Publikation. Fast naturgemäß wuchs im Verlauf der gemeinsamen Diskussionen dann aber doch das Bedürfnis nach einer schriftlichen Zusammenführung und Bündelung der vielfältigen Forschungsergebnisse. Eine erste - eher indirekte - Frucht der Arbeit des Arbeitskreises erschien 1993. 10 In den vorliegenden Band nun wurden etliche der in Stuttgart- Hohenheim gehaltenen Vorträge in überarbeiteter Form aufgenommen; viele andere Beiträge wurden eigens für ihn konzipiert und verfasst. So kann er durchaus als eine Art Zwischenbilanz der in den letzten fast zehn Jahren geleisteten kriminalitätshistorischen Arbeit im deutschsprachigen Bereich gelesen werden. Zugleich will er - wie im Untertitel angedeutet - Anstöße geben für eine innovative, sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung. Zu den Beiträgen Die 33 Beiträge des Bandes gruppieren sich zu acht Sektionen, die im folgenden kurz vorgestellt werden sollen. Die Forschungsberichte der ersten Sektion bilden so etwas wie die Einleitung des Buches; sie zeichnen zugleich die Geschichte der Historischen Kriminalitätsforschung in Europa nach und stecken den Horizont künftiger Forschungen ab. Das besondere Profil der Historischen Kriminalitätsforschung in Deutschland, wie es bereits oben angedeutet wurde, beleuchtet der Aufsatz von G ERD S CHWER - HOFF . Die anschließenden Überblicke über die englische und die französische Forschung von P ETER W ETTMANN -J UNGBLUT bzw. H ENRIK H ALBLEIB erschließen gleichsam das klassische Terrain der Kriminalitätsgeschichte und legen damit wichtige Quellen der Inspiration auch für die deutsche Forschung frei. Pioniercharakter darf auch die kriminalitätsgeschichtliche Forschung in den Benelux-Ländern, insbesondere in den Niederlanden, beanspruchen. Sie ist international freilich weniger bekannt und zum Teil auch bibliographisch schlecht erschlossen; um so erfreulicher ist es, daß mit dem Beitrag von X AVIER R OUSSEAUX jetzt erstmals ein Forschungsbericht vorgeliegt. Wie der deutschsprachige Raum so lag bis vor kurzem auch Italien eher an der Peripherie kriminalitätsgeschichtlicher Forschungen. Jedenfalls gilt das für die einschlägigen frühneuzeitlichen Forschungen, mit denen der Aufsatz von P ETER B LASTENBREI vertraut machen will, weniger für die Arbeiten über die spätmittelalterlichen Stadtstaaten, für die eine beneidenswert dichte Quellenüberlieferung und zahlreiche einschlägige Studien existieren. 11 Entsprechend den speziellen Überlieferungssituationen der jeweiligen Länder und ihrer historiographischen Traditionen haben sich auch im Norden und Osten Europas eigene Ausprägungen der Kriminalitätsgeschichte entwickelt, wie 10 Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Frankfurt/ M. 1993. Einleitung 15 die Forschungsberichte von J ENS C HRISTIAN V. J OHANSEN über Skandinavien und von C HRISTOPH S CHMIDT über Polen deutlich machen. Die Beiträge der zweiten Gruppe diskutieren die besonderen Erkenntnismöglichkeiten und den Ertrag einer geschlechtergeschichtlich bzw. diskursanalytisch informierten Kriminalitätsgeschichte. A NDREA G RIESEBNER und M ONIKA M OMMERTZ warnen davor, die doppelte Konstruktion von Kriminalität und Geschlecht, die uns schon in den Quellen begegnet, zu reproduzieren. Aufgabe der Forschung muß es dagegen sein, die spezifischen Konstruktions- und Wirkungsbedingungen der betreffenden Konzepte zu entschlüsseln, was die beiden Autorinnen am Beispiel eigener Fallstudien exemplifizieren. M ICHAEL M ASET skizziert ausgehend vom Werk Michel Foucaults ein Instrumentarium zur Analyse von Macht, das die Historische Kriminalitätsforschung in die Lage versetzen soll, gleichermaßen struktur- und handlungstheoretische Perspektiven einzunehmen. Durchgängig einen methodischen Zug haben ebenfalls die Aufsätze der dritten Gruppe, die allesamt um Erkenntnismöglichkeiten und den Aussagewert kriminalhistorischer Quellen kreisen. Natürlich überwiegen dabei die Gerichtsakten als ›genuine‹ kriminalhistorische Quellen. Zugleich verweisen die Beiträge jedoch mehr oder minder eindringlich auf andere Quellengattungen, die alternativ oder ergänzend herangezogen werden können, um den zeitgenössischen Kriminalitätsdiskursen auf die Spur zu kommen. So befaßt sich K LAUS G RAF nicht nur mit den spätmittelalterlichen »schwarzen Büchern«, in denen die Namen und Taten der Delinquenten für die Nachwelt festgehalten wurden; zugleich bezieht er mit den Schanddenkmälern Relikte der materiellen Kultur mit in die Analyse ein, um seinem Ziel, einer interdisziplinären Erforschung der Erinnerungskultur der Strafjustiz, näher zu kommen. G ABRIELA S IGNORI dagegen geht mit ihrer Untersuchung über ein ›ungleiches Paar‹ in Basel am Ausgang des Mittelalters den Weg der mikrohistorischen Analyse. Dabei bezieht sie nicht nur Quellen ›zivil-‹ und ›strafrechtlicher‹ Provenienz ein und kommt damit einem häufig erhobenen, aber selten realisierten Postulat nach. Irritierend sind vor allem die fließenden Grenzen zwischen literarischen Imaginationen und aktenkundigen Wahrnehmungs- und Argumentationsweisen, eine Tatsache, die die oft selbstverständliche Annahme von Kriminalitätshistorikern, im Spiegel der Gerichtsakten gesellschaftliche ›Wirklichkeit‹ erfassen zu können, in Frage stellt. Einen anderen Zugang sucht R ALF -P ETER F UCHS mit seiner Untersuchung frühneuzeitlicher Zeugenverhöre. Er skizziert sehr genau den gerichtlichen Kontext, die strategischen Argumentationsweisen und die interessegeleiteten Blindstellen derartiger Verhöre; sein Hauptaugenmerk richtet er gleichwohl auf die Formen des »sozialen Wissens« über Gesellschaft, Herrschaft und Religion, die in den Zeugenverhören en passant artikuliert werden. Mit der Autobiographie eines Straftäters um 1850 wählt H EIKE T ALKENBERGER ebenfalls eine Quellengattung aus dem Feld der ›Ego-Dokumente‹ als Untersuchungsgegenstand. Der Text führt hinein in ein Spannungsfeld konkurrierender Normensysteme, die auf den Protagonisten einwirken und die keineswegs in die Ausprägung einer eindeutigen Identität münden. Im Selbstbild des Luer Meyer gehen vielmehr Bürgerlichkeit und abweichendes Verhalten eine komplexe Mischung ein. 11 Sie sind am besten über die zahlreichen Arbeiten von Andrea Zorzi zu erschließen, vgl. zuletzt Andrea Zorzi: La politique criminelle en Italie (XIIIe -XVIIe siècles), in: Crime, Histoire et Sociétés 2 (1998), 91 - 110, und die dort nachgewiesene Literatur. Einleitung 16 Die Beiträge der vierten Gruppe wenden sich der Funktionsweise der Justiz in der vormodernen Gesellschaft zu, sei es in Dorf, Stadt oder Territorium. P ETER S CHUSTER untersucht die Rechtsprechung im spätmittelalterlichen Konstanz ausgehend von der Beobachtung, daß auch vermögende Bürger in überraschend großer Zahl vor Gericht erscheinen mußten. Deviantes Verhalten war eben ein Phänomen aller sozialen Schichten. Soziale Ausgrenzung war indessen nicht das Ziel der Rechtsprechung; harte Strafen hatten vor allem Stadtfremde zu gewärtigen. S TEFFEN W ERNICKE schildert auf der Grundlage von Regensburger Urfehden die zeittypischen Formen abweichenden Verhaltens in der spätmittelalterlichen Stadt und die Praxis städtischer Gerichte. Ihr Ziel, Ausgleich und Friedenswahrung in der Stadt, erreichten sie vor allem durch ein wohlabgewogenes System umfangreicher Gnadengewährung. E RIKA M ÜNSTER -S CHRÖER charakterisiert Johann Grave, der zu Anfang des 16. Jahrhunderts in Düren zwei Frauen der Zauberei verdächtigte, als einen Rechtssucher in einer Zeit sich wandelnder Rechtsvorstellungen. Grave schöpfte alle ihm zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten aus, scheiterte aber - für ihn unfaßbar - in seinem Bemühen, Gerechtigkeit zu erlangen. Eine Welle von Hexenprozessen im 17. Jahrhundert bildet den Fluchtpunkt des Beitrags von G UDRUN G ERSMANN über das Spannungsverhältnis von adeliger Patrimonialgerichtsbarkeit und Landesherrschaft im Fürstbistum Münster. Die exzessive Ausübung der Justiz kann nach der Interpretation der Autorin als eine machtpolitisch motivierte Verteidigungsmaßnahme der angestammten patrimonialen Gerichtsherrlichkeit gegen landesherrliche Zudringlichkeiten verstanden werden. Wiederum eher von den bäuerlichen ›Justiznutzern‹ her erklärt J ENS C HRISTIAN V. J OHANSEN seine empirischen Befunde über dänische Dörfer des 17. Jahrhunderts. Je weiter die Orte vom Sitz des jeweiligen Gerichts entfernt lagen, desto seltener wurden aus ihnen Klagen vor die Justiz gebracht. Offenbar fanden es die Akteure nicht lohnend, wegen kleinerer Diebstähle oder Schlägereien den weiten Weg zum Gericht auf sich zu nehmen. Das wiederum wirft die interessante Frage nach den alternativen Konfliktregelungsmechanismen dieser Dorfgemeinschaften auf. Wie sehr die neuere Forschung unser Bild vom frühneuzeitlichen Strafverfahren verändert hat, zeigt K ARL H ÄRTER in seiner idealtypischen Analyse dieses Feldes, das bislang als Stiefkind der kriminalhistorischen Forschung gelten mußte. Prägte die ältere rechtshistorische Literatur eher das Bild eines »Zweikampfes« zwischen Richtern und Angeklagten, so wird in diesem Beitrag die Vielzahl der beteiligten Personen und Institutionen und deren vielfältige Möglichkeiten zur Intervention - z.B. in Gestalt von Suppliken - deutlich. G ERHARD S ÄL - TER schließlich untersucht an französischen Quellen vom Anfang des 18. Jahrhunderts das neue polizeiliche Sanktionsmittel der Inhaftierung am Beispiel der Repression des Zaubereidelikts. Der damit einhergehende, teilweise Übergang von Repressionsfunktionen der Gerichte auf die Polizei wird mit der Schwächung informeller Kontrollmechanismen der zeitgenössischen Gesellschaft erklärt, die die Polizei zu kompensieren trachtete. Die fünfte Gruppe von Aufsätzen führt die in den letzten Jahren intensiv geführte Diskussion um die neben und teilweise in Konkurrenz zu den klassischen juristischen Instanzen der Konfliktregulierung bestehenden Mechanismen der Konfliktaustragung fort. Aus der Perspektive der ›Justiznutzer‹, so macht M ARTIN D INGES in seinem grundlegenden Beitrag zum Thema ›soziale Kontrolle‹ klar, stellte die Inanspruchnahme der Gerichte nur eine Option neben anderen Handlungsmöglichkeiten dar, um die eigenen Interessen durchzusetzen; häufig stellte der Gang zum Gericht den letzten Einleitung 17 Schritt im Konfliktszenarium oder eine Drohgebärde dar, um einen vorteilhafteren außergerichtlichen Vergleich zu schließen. Das Konzept der ›Justiznutzung‹ trägt so zur Abkehr von einer einseitig etatistischen Betrachtungsweise bei. Ähnliche Ziele verfolgt der Beitrag von F RANCISCA L OETZ , die das französische Konzept der infrajudiciaire vorstellt. Dabei schlägt die Autorin vor, verschiedene Formen außergerichtlicher Konfliktlösung auseinanderzuhalten, um das jeweilige Zusammenspiel von formellen Rechtsverfahren und informellen Praktiken schärfer fassen zu können. Außergerichtliche Einigungen stehen auch im Mittelpunkt des Aufsatzes von C ARL A. H OFFMANN , der sich mit süddeutschen Städten des 16. Jahrhunderts befaßt. Sie stehen nach seiner Auffassung am Schnittpunkt zwischen horizontaler sozialer Kontrolle der Akteure untereinander und vertikaler sozialer Kontrolle, sprich Disziplinierung durch die Obrigkeiten. Daß sich das Verhältnis zwischen ›privater‹ Einigung und ›öffentlicher‹ Strafe im Verlauf des 16. Jahrhunderts verschieben konnte, zeigt Hoffmann z.B. am Delikt des Totschlags. Die Beiträge der sechsten Gruppe schlagen die Brücke zur in Deutschland intensiv geführten Konfessionalisierungsforschung. H EINRICH R. S CHMIDT beleuchtet ausgehend von einem Stück, daß der Berner Niklaus Manuel 1530 verfaßt hat, das grundlegende reformatorische Anliegen, daß wie die Kirche, so auch die Welt gereinigt werden müsse. Verbrechen stellen in dieser Perspektive immer auch Sünden wider Gott dar. Dieser sakralen Dimension von »crimen« müsse in der Forschung Rechnung getragen werden. F RANK K ONERSMANN analysiert den Anteil der Kirchengemeinden am konfessionellen Verkirchlichungsprozeß im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken des 16. und 17. Jahrhunderts. Dabei gelingt es ihm zu zeigen, daß sich infolge von Kirchenvisitationen und Kirchenzucht vor Ort Formen von Öffentlichkeit ausbildeten, die sowohl von der Landeskirche als auch von den Presbyterien und Kirchengemeinden für ihre Zwecke genutzt wurden. H ARRIET R UDOLPH widmet sich in ihrem Beitrag dem konkurrierenden Verhältnis von weltlicher und geistlicher Zucht sowie deren Bedeutung für den Disziplinierungsprozeß im geistlichen Staat der Frühen Neuzeit am Beispiel des Hochstifts Osnabrück. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, daß die Kirchenzucht trotz bestimmter entgegenstehender Verfassungsstrukturen auch im geistlichen Territorium den säkularen Disziplinierungsprozeß unterstützt habe. Beiträge, die einen geschlechtergeschichtlichen Schwerpunkt setzen, führt die siebte Gruppe zusammen. 1502 fiel in Basel ein einflußreiches Mitglied der Metzgerzunft einem von langer Hand geplanten Mordanschlag zum Opfer. K ATHARINA S IMON - M USCHEID beschreibt ausgehend von Verhören, die im Umfeld der dem Gericht bekannten, aber flüchtigen Täter geführt wurden, die Strategien, die die Verhörten entwickelten, um ihre Mitwisserschaft an dem Verbrechen gleichsam zu verschleiern und sich in den Augen des Gerichts zu entlasten. Dafür griffen sie auf gesellschaftlich akzeptierte Rollenmuster und auf geschlechtsspezifische Stereotype zurück. J OACHIM E IBACH untersucht die geschlechtsspezifischen Dimensionen städtischer Kriminalität im 18. Jahrhundert und konzentriert sich dabei auf Eigentums- und Gewaltdelikte. Ähnlich wie Simon-Muscheid kommt er zu dem Ergebnis, daß sowohl Männer als auch Frauen vor Gericht in strategischer Absicht geschlechtsspezifische Rollenbilder einsetzen - eine Strategie, die jedoch von den Gerichten häufig durchkreuzt wurde. S YLVIE S TEINBERG geht in ihrem Beitrag den Spuren von etwa einhundert Frauen nach, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts wegen des Tragens von Männerkleidern vor Gericht kamen. Manche dieser Frauen suchten sich mit Hilfe erfundener Lebensgeschichten Einleitung 18 aus der Affäre zu ziehen, die populäre literarische Motive aufgriffen und die so ihre Maskerade als sittlich motiviert erscheinen lassen sollte. Der Sammelband wird in der achten Gruppe mit einer Reihe von Beiträgen geschlossen, die in gewisser Weise zu den Anfängen kriminalitätsgeschichtlicher Forschung in Deutschland zurückkehren, indem sie kritisch an die Diskussion um das ›Sozialbanditentum‹ anknüpfen. Der Beitrag von W INFRIED F REITAG setzt sich mit dem Delikt der Wilderei im frühneuzeitlichen Bayern auseinander. Die Wilderer stammten, von Ausnahmen abgesehen, aus der Mitte der Gesellschaft, und sie konnten sich auf ein breites Netzwerk von Helfern und Abnehmern stützen, das bis in die Beamtenschaft, den Klerus und den Adel hineinreichte. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung und der Widerstand gegen die landesherrliche Jagdgesetzgebung; das unerlaubte Jagen wurde daher kaum als schweres Verbrechen angesehen. E VA W IEBEL setzt sich kritisch mit der Lebensgeschichte und dem Nachruhm zweier bekannter südwestdeutscher Gaunerinnen vom Ende des 18. Jahrhunderts auseinander. Zwei biographische Skizzen rekapitulieren zunächst den Lebensweg der beiden Frauen. Es folgen rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zur späteren Legendenbildung um diese Frauen, die nach den spezifischen Auslassungen, Umdeutungen und Umdichtungen in diesem Prozeß fragen. O TTO U LBRICHT untersucht Fälle von Brandstiftungen in den Herzogtümern Schleswig und Holstein in den Jahren 1790 - 1830, die einen hohen Anteil weiblicher Brandstifterinnen aufweisen, allesamt junge Dienstmägde. Es werden verschiedene Erklärungsansätze herausgearbeitet und kritisch diskutiert. So kann Brandstiftung als Ausdruck des Wunsches der Mädchen verstanden werden, in ihre Familien zurückkehren zu können. Brandstiftung kann aber auch Protest gegen die Verweigerung des Erwachsenenstatus im Diensthaushalt gewesen sein. Im 19. Jahrhundert veränderte sich die gerichtsmedizinische Beurteilung der jungen Brandstifterinnen, was mildere Strafen zur Folge hatte. A NDREAS B LAUERT rekonstruiert die Geschichte der Abenteurer und Piraten auf der Insel Madagaskar im 17. und 18. Jahrhundert. Diese Rekonstruktionsarbeit verlangt immer wieder die textkritische Lektüre der einschlägigen, semi-fiktionalen Quellen und mündet in eine Auseinandersetzung mit dem nahezu zeitunabhängigen ›abenteuerlichen‹ Piraten unserer Imaginationen. I. Historische Kriminalitätsforschung in Europa 21 Gerd Schwerhoff Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum Zum Profil eines »verspäteten« Forschungszweiges 1 Zu Beginn der 90er Jahre zogen die Kriminalitätshistoriker in Europa Zwischenbilanz. Das Centre d’études historiques sur la criminalité et les déviances (L’Université de Bourgogne, Dijon) rief im Oktober 1991 rund 50 francophone Historikerinnen und Historiker zusammen, um über die Kriminalität in der Geschichte zu diskutieren. Die behandelte Zeitspanne reichte von der Antike bis zur neuesten Zeit, jedoch lag ein deutlicher Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit und hier besonders auf dem 18. Jahrhundert »comme une époque charnière« (Garnot 1992: 26). Auch die International Association for the History of Crime and Criminal Justice blickte 1991 auf zwölf Jahre einer regen Forschungs- und Tagungsaktivität zurück. In ihrem regelmäßig erscheinenden Bulletin 2 wurden zu diesem Anlaß Artikel publiziert, die aus verschiedenen Perspektiven den Forschungsstand reflektieren sollten. Daß die angesprochenen Zwischenbilanzen weitestgehend ohne Beteiligung aus den deutschsprachigen Ländern gezogen wurden, ist kein Zufall. An der Wende zu den 1990er Jahren war die historische Kriminalitätsforschung in Deutschland, ungeachtet einiger Pionierstudien, erst im Begriff, sich zu konstituieren. Gegen Ende des Jahrzehnts hat sich die Szene grundlegend geändert, die Anregungen aus dem Ausland wurden inzwischen fruchtbar aufgegriffen: »Die 90er Jahre sind im Begriff, eine Hochzeit der Kriminalitätshistoriographie zu werden« (Eibach 1996: 683). Eine Vielzahl unterschiedlicher Aufsätze und eine Reihe von Monographien signalisieren, daß sich die historische Kriminalitätsforschung auch in Deutschland entfaltet hat - Grund genug für eine Zwischenbilanz, die das besondere Profil der neueren deutschen Forschung herauszuarbeiten versucht. 3 1. Später Aufbruch: Fragmentierte Quellen und rechtsgeschichtliche Traditionen Zunächst ist nach den Gründen für die späte Entwicklung der historischen Kriminalitätsforschung in Deutschland zu fragen. Hier wäre zum einen die Quellenlage zu nen- 1 Der folgende Forschungsbericht konzentriert sich vornehmlich auf deutsche, österreichische und deutschschweizerische Beiträge zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit seit ca. 1980 und greift nur ausnahmsweise auf die ältere Literatur zurück; der Konzeption des Sammelbandes entsprechend werden die Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert ebenfalls nur am Rande berührt. - Für Rat und Hilfe danke ich den Kollegen Andreas Blauert, Martin Dinges und Peter Wettmann-Jungblut. 2 IAHCCJ Bulletin No.14, October 1991. - Inzwischen hat sich dieses informelle Bulletin übrigens zu einer internationalen Zeitschrift gemausert: Crime, Histoire & Sociétés, ed. René Levy (Paris), deren erster Jahrgang 1997 in Genf (Librairie Droz) erschienen ist. 3 Vgl. die - sehr unterschiedliche Akzente setzenden - Überblicks- und Forschungsberichte von Blasius (1988); Romer (1992); Thome (1992); Schwerhoff (1992); Eibach (1996); Lüdtke/ Reinke (1996); Schüßler (1996); für eine rechtshistorische Sicht Stolleis (1985); für eine kritisch-kriminologische Perspektive Sack (1987); als Einführung in die internationale Forschung können die Arbeiten von Rousseaux (1992, 1997) gelesen werden. - Vgl. für eine monographische Einführung in das Forschungsfeld jetzt Schwerhoff (1999). Gerd Schwerhoff 22 nen, zum anderen die allgemeine »Verspätung« der deutschen Sozialgeschichte und die Beharrungskraft der alten Rechtsgeschichte. Die Quellenüberlieferung im Reich zeichnet sich im Vergleich zu anderen Ländern durch ihren hohen Fragmentierungsgrad aus. Weder gibt es in nennenswertem Umfang »zentralstaatliche« Gerichts- und Kriminalquellen wie in England oder Frankreich - zu erinnern ist hier nur an die von Natalie Davis oder Claude Gauvard ausgewerteten Gnadenbriefe -, noch ist die Überlieferung so reichhaltig wie offenbar in vielen italienischen Städten. Kriminalhistorisch auswertbare Quellen haben - seit Ende des 13. Jahrhunderts - zuerst die Städte hervorgebracht. Proskriptions- und Verfestungslisten geben Auskunft über flüchtige Delinquenten, die in die Acht gelegt wurden. Etwa gleichzeitig beginnen Aufzeichnungen über Stadtverweise und über sog. »Urfehden«, Racheverzichtserklärungen, die vor allem nach Verhaftungen geschworen werden mußten (vgl. als exemplarische Quelle Franke 1875; typologisch wichtig Boockmann 1980). Schon im 14., dann verstärkt im 15. Jahrhundert, kommen andere Quellentypen hinzu. Wichtig sind in dieser Zeit Bußlisten und Rechnungsbücher, die Geldstrafen dokumentieren; sie können sowohl aus dem Bereich der Niedergerichtsbarkeit, die etwa Messerzücken, Raufhändel und Verwundungen zu regeln hatte, als auch der hohen Gerichtsbarkeit, die sich z.B. mit Totschlag befaßte, entstammen (Mandl-Neumann 1985; Schuster 1997). Andere Informationsquellen sind Malefizbücher, die peinliche Strafen aufzeichnen, gerichtliche Urteilsbücher und Ratsprotokolle, die auch »gerichtliche« Entscheidungen des Rates enthalten. An der Wende zur Neuzeit werden die Quellen ausführlicher und farbiger; neben den knappen »Urgichten«, den öffentlich verlesenen Geständnissen der Gerichteten, sind nun auch immer häufiger Verhörprotokolle und Zeugenaussagen erhalten (vgl. exemplarisch Rippmann u.a. 1996; Schwerhoff 1990, 1993; Hoffmann 1995: 81ff.). Aber selbst die Praxis der Strafjustiz im frühmodernen Territorialstaat ist oft nur unzureichend dokumentiert. Als ein ausgesprochener Glücksfall für den Historiker darf schon gelten, wenn in einem vergleichsweise »modernen« Territorium wie dem Herzogtum Bayern ein Hofrat als zentrale Entscheidungsinstanz auch in Kriminalsachen installiert wurde, und somit die Hofratsprotokolle als umfangreiche kriminalhistorische Quelle genutzt werden können (Behringer 1995: 71f.). Auf ein verstärktes zeitgenössisches Interesse an Erscheinungsformen der Kriminalität im 18. Jahrhundert deuten die im Druck erschienenen »actenmäßigen Berichte« über die Justifizierung von Räuberbanden oder die »Gauner- und Diebslisten« hin (vgl. künftig den Beitrag von Eva Wiebel und Andreas Blauert in Häberlein 1999). 4 Im internationalen Vergleich mögen die Quellen zur Kriminalpraxis im Alten Reich also etwas spärlicher fließen. Dennoch sind sie dermaßen reichhaltig, daß man sich fragt, warum sie so lange kaum benutzt wurden. Zweifellos ist der Grund in der Dominanz älterer historiographischer Paradigmen zu suchen. Daß die Sozialgeschichte sich in Deutschland lange Zeit schwer getan hat und erst spät ihren Durchbruch erlebte, ist bekannt und muß hier nicht weiter beschrieben werden. Auch nach diesem Durchbruch wurde die Geschichte der Kriminalität indes nur zögernd aufgegriffen; andere, 4 Im Anschluß an den vorstehenden, knapp typisierenden Quellenüberblick soll der Hinweis auf zwei wegweisende Arbeiten nicht fehlen: Prosser (1991) thematisiert - allerdings am Beispiel der für unseren Fragezusammenhang nicht unmittelbar einschlägigen Weistümer - den Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Rechtskultur; und Sabean (1996) beschäftigt sich mit bestimmten bürokratischen Formeln in frühneuzeitlichen Akten, die soziale Distanzen zwischen Schreibern und Sprechern markieren. Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 23 »klassischere« Themen und soziale Gruppen erhielten den Vorrang. Gewiß liegt eine Ursache dafür darin, daß das Forschungsfeld schon von einer Nachbardisziplin besetzt schien: der - von Professoren der Rechtswissenschaft neben ihren anderweitigen Verpflichtungen betriebenen - Rechtsgeschichte. So unerläßlich rechtshistorische Kompetenz bei der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung und so unverzichtbar etwa das gerade fertiggestellte HRG als Nachschlagewerk ist, so problematisch erscheinen die Prämissen der traditionellen Strafrechtsgeschichte: Sie stellte die Normen und nicht die Strafpraxis in den Mittelpunkt bzw. schloß von der ersten auf die zweite Ebene; sie orientierte sich fast ausschließlich am Staat und an der Vorstellung eines natürlichen Fortschritts der Gesetzgebung. Zu ihren stillschweigenden Grundannahmen gehörte überdies, daß es einen gesellschaftlichen Konsens über Normen und Werte gäbe, der sich dann in Rechtskodifikationen niederschlage. Natürlich gelten diese typologisierenden Bemerkungen nur cum grano salis. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein sind strafrechtsgeschichtliche Arbeiten erschienen, die auch der rechtlichen Praxis ihre Aufmerksamkeit schenken und wertvolle Befunde liefern. 5 Ansätze zu einer Akzentverlagerung weg von der Bestrafung hin zur Delinquenz blieben jedoch inhaltlich inkonsequent und wenig schulbildend (Radbruch/ Gwinner 1951; Bader 1956). 6 Außerdem ließ das rechtsgeschichtliche Engagement auf dem Feld der Strafrechtsgeschichte in jüngerer Zeit eher nach, so daß es bis vor kurzem zu den verödeten Gebieten der Rechtsgeschichte gezählt werden mußte (Stolleis 1985: 254). 7 So blieb die Kriminalität in der Vergangenheit einer oft materialreichen, aber anekdotisch und nicht analytisch orientierten Kulturgeschichtsschreibung überlassen (Frauenstädt 1890, 1897; Hampe 1927). Am ehesten interessierte sich noch die sog. ›rechtliche Volkskunde‹ für die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts; Arbeiten wie die von Karl Sigismund Kramer 8 oder Walter Hartinger (1974, 1976) stellten viele Fragen (etwa zum Ablauf dörflicher Konflikte und zur Rolle der Ehre), die heute eine historische Kriminalitätsforschung beschäftigen (vgl. zuletzt Helm 1993). 2. Ein erster Überblick über das Forschungsfeld Trotz vereinzelter früherer Ansätze (z.B. Schormann 1974; Verdenhalven 1974) etablierte sich erst in den 1980er und vor allem den 1990er Jahren im deutschsprachigen Bereich die historische Kriminalitätsforschung als ein relativ eigenständiges Arbeitsgebiet. 9 Dieses Gebiet soll vor seiner analytischen Durchdringung zunächst etwas näher 5 Vgl. nur die Arbeiten von Harster (1900); Knapp (1907); Schindler (1937); Meinhardt (1957); Ebel (1971); Reiß (1973); Marbach (1980); Hagemann (1981); Krause (1991). 6 Die Präsentation einer Quelle der Strafrechtspraxis, eines Halsgerichtsbuches des Hochstiftes Eichstätt, durch einen Rechtshistoriker wie Friedrich Merzbacher (1956: 379) ist ein bezeichnendes Beispiel für das selektive Interesse an derartigen Dokumenten; die Zumutung quantifizierender Analysemethoden wird selbstverständlich abgewiesen, stattdessen wird die Quelle als lebendige Anschauung darüber benutzt, was man eh schon aus den Gesetzestexten zu wissen glaubt. 7 Seit 1993 hat der - unter Federführung von Dietmar Willoweit (Würzburg) geschaffene - DFG-Forschungsschwerpunkt »Entstehung des öffentlichen Strafrechts« mit seinem interdisziplinären Ansatz das Feld neu belebt. Vgl. für den erweiterten Blick der neuen Rechtsgeschichte Willoweit (1996). Jedoch erscheinen immer noch solche Arbeiten wie Lott (1998). 8 Vgl. nur Kramer (1990: 41ff.) als letzte seiner zahlreichen Regionalstudien und den »Grundriß der rechtlichen Volkskunde« (1974). Gerd Schwerhoff 24 in seinen Umrissen beschrieben werden, und zwar in Hinblick auf die vier Dimensionen Epochen, Räume, Instanzen und Delikte. Zunächst zur zeitlichen Dimension. Die Pionierstudien einer Kriminalitätsgeschichte in sozialgeschichtlicher Absicht stammen von Dirk Blasius (1976; 1978) und waren dem 19. Jahrhundert und damit der bürgerlich-kapitalistischen Welt gewidmet (vgl. auch die Beiträge in Reif 1984). Die Debatte um die ›Modernisierung des Verbrechens‹ im modernen Deutschland wurde und wird sodann meist von angloamerikanischen Beiträgern bestritten (Johnson 1988, 1996; Wegert 1991; Evans 1996, 1997). Ein florierendes Arbeitsfeld innerhalb der neuzeitlichen Geschichte bildet die Polizeigeschichte (vgl. Lüdtke 1992). Insgesamt aber bleiben die Beiträge zum 19. und 20. Jahrhundert bisher eher rar (z.B. Formella 1985; Weber 1985; Jessen 1992; Wettmann-Jungblut 1997). Der Schwerpunkt der Forschungen liegt im Spätmittelalter (14./ 15. Jahrhundert) und insbesondere in der Frühen Neuzeit (16. - 18. Jahrhundert). Im Jahr 1990 wurde von Andreas Blauert und Gerd Schwerhoff ein ›Arbeitskreis zur Historischen Kriminalitätsforschung in der Vormoderne‹ ins Leben gerufen, dessen Mitglieder jedes Jahr zu einem Workshop zusammenkommen; die Adressenkartei enthält inzwischen über 100 Interessierte (Blauert/ Schwerhoff 1998). Die politisch-rechtliche Zersplitterung des Alten Reiches macht schon aus Gründen der Quellenüberlieferung und der Forschungspragmatik eine regionale Begrenzung und Verortung der Forschungen unumgänglich, erschwert freilich die Vergleichbarkeit der Studien untereinander. 10 Insbesondere Helga Schnabel-Schüle (1993) hat in jüngster Zeit auf die von Territorium zu Territorium sehr verschiedenen institutionellen Rahmenbedingungen und »Entwicklungsgeschwindigkeiten« verwaltungstechnischer Erschließung hingewiesen, so daß etwa dem Institut der Aktenversendung an juristische Spruchkollegien oder dem landesherrlichen Begnadigungsrecht in der Frühen Neuzeit sehr unterschiedliche Bedeutung zukamen. Der politisch-rechtlichen Fragmentierung des Alten Reiches entspricht so eine sehr zerklüftete Forschungslandschaft. Für das Spätmittelalter überwiegen quellenbedingt Studien über Kriminalität in einzelnen Städten: Augsburg (Schneider-Ferber 1993), Erfurt (Schwerhoff 1994), Eschwege (Demandt 1972), Krems (Mandl-Neumann 1985, 1985a), Landshut (Kirmeier 1988: 183ff.), Nürnberg (Schüßler 1991; Schwerhoff 1995c; Martin 1996; Henselmeyer 1999), Olmütz (Schüßler 1994), Regensburg (Wernicke 1995; Kolmer 1997) und vor allem Zürich (Burghartz 1990; Pohl 1999). Nur vereinzelt ist bisher die Tätigkeit der Landgerichte in den Territorien (vgl. Gudian 1972; Toch 1993) oder der dörflichen Niedergerichte in den Blick genommen worden, wie es Schirmer (1996) aufgrund der Bußgelder in den Rechnungsbüchern für das kursächsische Amt Grimma 1477 - 1545 unternommen hat. 9 Eine für die wachsende Präsenz der deutschen Forschung bezeichnende Tatsache ist ihre zunehmende Beschäftigung mit außerdeutschen Fällen; zu nennen ist hier vor allem die methodisch anregende Arbeit von Dinges (1994) über Ehrenhändel im Paris des 18. Jahrhunderts; weiter die Arbeiten von Röhrkasten (1990) über die englischen Kronzeugen, von Blastenbrei (1995) über Rom und von Schmidt (1996) über Moskau sowie die transatlantisch vergleichende Dorfstudie von von Friedeburg (1993). 10 Nur am Rande kann hier auf die reichhaltigen Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Reich verwiesen werden, die strafrechtliche Materien allerdings nur am Rande berühren. Namentlich das Reichskammergericht bot - mehr als früher angenommen - nicht selten auch den Untertanen ein Forum für ihre Klagen. Zu verweisen ist hier z.B. auf die quantitativ angelegte Arbeit von Ranieri (1985), die ein Tätigkeitsprofil des RKG im historischen Längsschnitt zeichnet, oder auf die Untersuchungen von Ruthmann (1996) und Oestmann (1997), die sich mit dem Wirken dieses Gerichts für einzelne Rechtsgebiete beschäftigen; für einen knappen Überblick vgl. Duchhardt (1996), für einen anschaulichen Querschnitt Diestelkamp (1995). Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 25 Eine günstigere Quellenüberlieferung und wohl auch eine erhöhte Aufmerksamkeit der Forschung für die Territorien lassen das Verhältnis für die Epoche der Frühen Neuzeit ausgewogener erscheinen. Studien über Städte wie Augsburg (Roeck 1990; Hoffmann 1995), Köln (Schwerhoff 1991) oder Frankfurt (Boes 1992; Eibach 1997, 1998) stehen solche über landesherrliche Gerichtsbarkeit bzw. einzelne Teilbereiche gegenüber: Bayern (Behringer 1990, 1997), Brandenburg (Hahn 1989), Fürstentum Siegen (Plaum 1990), Württemberg (Wegert 1994; Schnabel-Schüle 1997; Rublack 1998) Baden (Wettmann-Jungblut 1997), Hochstift Mainz (Härter 1996). Komplementär dazu sind Mikrostudien zu sehen, die sich - z.T. nach dem Vorbild der englischen ›community studies‹ - intensiv mit einzelnen Dörfern oder Amtsbezirken beschäftigen: Heiden in der Grafschaft Lippe (Frank 1995), die dem Schulenburgischen Gesamtgericht unterstehenden Dörfer in der Altmark (Gleixner 1994), Osnabrück (Kottmann 1990, 1998), die beiden Kirchspiele Vechingen und Stettlen bei Bern (Schmidt 1995) oder die Obervogtei Triberg im Schwarzwald (Hokamp 1998); in diese Reihe gehört auch die Arbeit von Regina Schulte (1989), die sich zwar mit oberbayrischen Dörfern am Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigt, jedoch in methodischer Hinsicht auch für die Vormoderne wichtig war. Auffällig ist die Zurückhaltung in der deutschsprachigen Forschung gegenüber der Untersuchung längerer Zeiträume. Gegenüber der diachronen wird die synchrone Perspektive klar favorisiert. Ausnahmen bilden die Arbeiten von Wettmann-Jungblut (1997) für die Stadt Freiburg i.Br. und Behringer (1990) für Entwicklungstendenzen der bayrischen Strafjustiz im Spiegel der Akten des Hofrates. Wettmann-Jungbluts Arbeit stellt überdies bislang einen der wenigen kriminalitätshistorischen Versuche dar, die ›magische‹ Epochenschwelle um 1800 zu überschreiten (unbefriedigend Wegert 1991; vgl. jetzt aber zur Patrimonialgerichtsbarkeit Wienfort 1998). Dabei dürften geistes- oder institutionengeschichtlich ausgerichtete Untersuchungen über die Wandlungsprozesse jener Zeit (vgl. jetzt Härter 1998) leichter zu bewerkstelligen sein als Forschungen zur Strafrechtspraxis, weil viele Quellenbestände leider um 1800 enden bzw. erst in dieser Zeit einsetzen (Eibach 1996: 715). Langfristuntersuchungen beschränken sich bisher nicht nur auf die Phase des Ancien Régime, sondern auch auf eine bestimmte Quellengruppe (Urfehden: Blauert 1996) oder auf den Horizont eines Dorfes wie Frank (1995) oder Schmidt (1995). Solche Mikrostudien bieten zusätzlich noch die Chance, die Angaben zur Kriminalität mit sozialstrukturellen Daten (z.B. Steuerlisten) zu verknüpfen und so zu »harten« Aussagen über die gesellschaftliche Verortung von Devianz zu gelangen. Das Etikett ›Historische Kriminalitätsforschung‹ legt die Vermutung nahe, als ginge es hier ausschließlich um strafrechtliche Tatbestände, vor allem um die klassischen Formen von ›Schwerkriminalität‹ wie Diebstahl, Raub oder Tötung sowie ihre Ahndung durch peinliche Strafen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Untersuchungen über die Tätigkeiten der Niedergerichte und über die im Kontext der streitigen Gerichtsbarkeit verhandelten Fälle sind längst gleichrangig neben die Analyse von Malefizakten getreten. Viele gesellschaftliche Konfliktbereiche lassen sich den verschiedenen Rechtsinstanzen nicht sauber zuordnen und sind nur gleichsam im Querschnitt zu studieren. Das gilt etwa für das Feld der Injurien oder für viele der Sittlichkeitsvergehen. Die Sanktionierung derartiger Delikte erfolgte zwar auch durch städtische bzw. staatliche Gerichte (Breit 1991; Beck 1983; Gleixner 1994; Rublack 1998). Ein besonderer Akzent jedoch ergibt sich daraus, daß Verstöße gegen Sitte und Moral auch in das Fadenkreuz Gerd Schwerhoff 26 der kirchlichen Gerichtsbarkeit, insbesondere der lutherischen bzw. reformierten Kirchenzucht gerieten. Heinz Schilling (1986) hat engagiert die Unterschiede zwischen weltlicher Strafzucht und kirchlicher Sündenzucht vertreten. Doch sind die meisten Gerichte, wie die Chorgerichte im Berner Land (Schmidt 1995) oder das Ehegericht in Basel (Burghartz 1992a, 1995a) - obwohl Kinder der Reformation - entscheidend von der weltlichen Obrigkeit abhängig. So finden die Ergebnisse der Kirchenzuchtforschung durchaus auch im Kontext einer historischen Kriminalitätsforschung Beachtung (vgl. die Arbeiten von Dobras 1993; Holzem 1995; Konersmann 1996; Roper 1989; Schilling 1989). Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang ferner auf die Sondergerichtsbarkeiten für einzelne Stände bzw. soziale Gruppen, etwa die Handwerker (Deter 1987), die Soldaten (Hartl 1981; speziell zur Strafverfolgung von Deserteuren Sikora (1996, 98ff.)) oder der Studenten (Woeste 1987; Brüdermann 1990). Terminologische und konzeptionelle Konsequenzen aus der Tatsache, daß die historische Kriminalitätsforschung so weit über das Feld der Kriminalität im engeren Sinn hinausweist, sind unausweichlich (vgl. die Kritik bei Romer 1995: 302ff.). Statt ›Kriminalität‹ sprechen einschlägige Studien lieber von ›Delinquenz‹ oder ›Devianz‹ (vgl. Blauert/ Schwerhoff 1993: 8), oder sie verstehen sich gleich als Beiträge zu einer Sozial- und Kulturgeschichte menschlicher ›Konflikte‹ und den Bemühungen um ›soziale Kontrolle‹ - auch wenn dieses Konzept in der sozialwissenschaftlichen Diskussion inzwischen selbst in der Kritik steht (Bergalli/ Sumner 1997). Der Vielfalt von untersuchten Instanzen entspricht ein breites Spektrum thematisierter Delikte, das an dieser Stelle nicht im einzelnen aufgeführt werden kann. 11 Gleichsam als Wegbereiter einer historischen Kriminalitätforschung im deutschen Sprachraum können die Hexenforschung und die Protestforschung gelten, zwei Felder, die einen derartigen Grad an Ausdifferenzierung erreicht haben, daß sie im Rahmen dieser Überblicksdarstellung nicht angemessen berücksichtigt werden können. Von der Sache her wäre eine stärkere Verknüpfung jedoch dringend geboten. Eine Situierung des Hexereideliktes im Gesamtfeld frühneuzeitlicher Delinquenz wäre um so naheliegender, als viele in der Kriminalitätsgeschichte engagierte Historikerinnen und Historiker sich zuvor mit Hexerei und Hexenverfolgung beschäftigt hatten (vgl. den Forschungsbericht bei Schwerhoff 1995a). Für den Bereich des sozialen und politischen Protestes hat Andreas Würgler (1999) jüngst gegenseitige Wahrnehmungsblockaden der Forschung beklagt, mögliche Schnittmengen bei der Untersuchung individueller und kollektiver Delinquenz skizziert und programmatisch für einen »Dialog zwischen Protestforschung und Kriminalitätsgeschichte« plädiert. 12 Ähnliches dürfte übrigens für das weite Feld der religiösen Devianz gelten, das von der Ketzer- und Inquisitionsforschung bearbeitet wird. 13 11 Die Bereiche ›affektive Gewalt‹ und ›Raub- und Eigentumsdelinquenz‹ sowie die Vergehen gegen die Sittlichkeit werden im Folgenden gesondert zur Sprache kommen (vgl. unten Abschnitt 6 und 7). Auf die Vielzahl anderer Delikte, denen in den letzten Jahren eigene Studien gewidmet worden sind, kann hier lediglich summarisch verwiesen werden: auf Majestätsverbrechen (Schnabel-Schüle 1994); auf den Schmuggel (Finzsch 1990: 199ff.) und auf Wirtschaftvergehen (Kaiser 1989), auf verbotenes Spiel (Schröder-Kiel 1991; Schwerhoff 1995d) und übermäßiges Trinken (Tlusty 1992); schließlich auf den Bereich der Aufwands- und Luxusverbote (Bulst 1988, 1993) oder auf den Kampf der Obrigkeiten gegen Fluchen und Gotteslästern (Leutenbauer 1984; die Beiträge in Blickle 1993; van Dülmen 1994; Loetz 1998; Schwerhoff 1998b). Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 27 3. Das kulturgeschichtliche Profil der Kriminalitätsforschung »Die historische Kriminalitätsforschung als ein Teilbereich der allgemeinen Sozialgeschichte untersucht abweichendes Verhalten in der Vergangenheit im Spannungsfeld von Normen, Instanzen und Medien sozialer Kontrolle einerseits, von gesellschaftlichen Handlungsdeterminanten und sozialen Lagen andererseits. Umgekehrt wird Kriminalität auch als zentraler Indikator für die Erforschung von gesamtgesellschaftlichen Zuständen und von historischem Wandel eingesetzt« (Schwerhoff 1992: 387). Die Charakterisierung kriminalitätshistorischen Arbeitens als Seitentrieb einer Sozialgeschichte (im weiten Sinn) trifft sicher die Wurzeln des Forschungszweiges. Von Beginn an waren die einschlägigen Diskussionen und Kontroversen jedoch verknüpft mit der historiographischen Großwetterlage, die durch heftige Auseinandersetzungen um die traditionelle Sozialgeschichte strukturfunktionalistischer Prägung gekennzeichnet war. Unter verschiedenen Flaggen - Alltagsgeschichte, Mikrogeschichte, historische Anthropologie, neue Kulturgeschichte - segelnd, wurden die Prämissen, Methoden und Darstellungsweisen der Sozialgeschichte unter Feuer genommen. Die Stichworte sind bekannt: Orientierung an den historischen Subjekten und ihren Erfahrungen statt der Erforschung von abstrakten Strukturen; Rekonstruktion sozialer Praktiken bzw. sozialer Logiken statt Konstruktion menschenleerer Systeme; dichte Beschreibung von Kultur als »selbstgesponnenem Bedeutungsgewebe« statt Analyse von Gesellschaft als Funktionszusammenhang interdependenter Subsysteme usw. Die nach wie vor andauernde historiographische Debatte im allgemeinen kann und muß hier nicht näher nachvollzogen werden (vgl. Habermas/ Minkmar 1992; Hardtwig/ Wehler 1996; Mergel/ Welskopp 1997; Daniel 1997). Hier soll einzig der Zusammenhang dieser allgemeinen Debatte mit der Entwicklung einer historischen Kriminalitätsforschung betont werden. Joachim Eibach hat jüngst programmatisch die Kriminalitätsgeschichte als wichtigen Beitrag zur »Synthese aus Sozialgeschichte und Kulturansatz« herausgestellt (Eibach 1996: 710) und dabei auf einige neuere Arbeiten, die auch im vorliegenden Beiträg Erwähnung finden werden, verwiesen. Trotz dieses zweifellos zutreffenden Befundes läßt sich im Vergleich zur internationalen Forschung ein kulturgeschichtlicher Schwerpunkt der deutschen Kriminalitätshistoriographie diagnostizieren. Aufgrund ihrer Verspätung konnte sie nicht einfach die Entwicklungen der romanischen oder angelsächsischen Forschung aus den 60er und 70er Jahren »nachholen«. Ein guter Indikator für das eigene Profil der deutschsprachigen Forschung ist die Gewichtung von quantitativen und qualitativen Ansätzen. International galt die Kriminalitätsgeschichte eher als Hochburg der zahlenbesessenen Kliometriker, obwohl hier zunehmend quellenkritische Anmerkungen zu hören sind (Schwerhoff 1991: 398). 12 Vgl. schon den Überblick bei P. Blickle (1988: 65ff. u. 78ff.) - Die enge Verflechtung von Protest- und Kriminalitätsforschung zeigt sich z.B. in den Fallstudien von R. Blickle (1990), die das zeitgenössische Ringen um die (Nicht-)Kriminalisierung einer Rebellion bayrischer Bauern rekonstruiert, oder von Rippmann (1998), in deren Analyse individuelle Gewaltkriminalität, kollektiver Protest und Stadt- Land-Konflikte eine gelungene Synthese eingehen; ebenso in den von Peters (1995, 1995a) gesammelten Beiträgen. 13 Vgl. als repräsentativen Einstieg in die neuere deutsche Forschung zur (mittelalterlichen) Inquisition die Beiträge in Segl (1993) sowie als neueste Monographien Müller (1996) und insbesondere Hanssler (1997), dessen kriminalitätsgeschichtliche Auswertung der Inquisitionsprotokolle wichtige neue Ergebnisse bringt. Ausgewählte Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht in Sachen Religion untersucht Ruthmann (1996). Gerd Schwerhoff 28 Auch in der deutschsprachigen Forschung findet sich kaum eine größere Arbeit ohne Zahlenreihen, Statistiken und Graphiken. Trotzdem konnte hier eine neue kulturwissenschaftlich inspirierte Skepsis gegenüber statistischer Quellenanalyse fast nahtlos an die ältere Zurückhaltung gegenüber analytischen Verfahren anschließen (z.B. Schnabel- Schüle 1993: 150f., 1997: 20ff.); eine wirklich »euphorische« Phase der Quantifizierung existierte so gut wie gar nicht, sieht man von vereinzelten Stimmen ab (Schüßler 1996). Skepsis gegenüber dem Auszählen von Verhafteten, Delikten und Strafen speist sich nicht nur aus kulturgeschichtlichen Prinzipien; sie kann sich auch auf quellenkritische Einwände berufen. Die Problematik von historischen Kriminalstatistiken für das vorstatistische Zeitalter (vgl. Reinke 1990, 1991) kann am Beispiel zweier neuerer Studien verdeutlicht werden, die am Anfang und am Ende der besprochenen Zeitspanne angesiedelt sind. Martin Schüßler hat vor kurzem auf der Basis der edierten Nürnberger Achtbücher (Schultheiß 1960) die Kriminalität in der fränkischen Reichsstadt analysiert und in der rennomiertesten rechtshistorischen Zeitschrift deutscher Sprache publiziert (Schüßler 1991; vgl. ders. 1994; 1998). Seine »statistische Auswertung« krankt vor allem daran, daß er die normativen Grundlagen vernachlässigt und augenfällige Überlieferungslücken nicht berücksichtigt. Trotz der Tatsache, daß es sich bei den Quellen vornehmlich um Achterklärungen, Stadtverweise und Selbstverbannungen handelt, versucht er sie für die Berechnung von Hinrichtungszahlen, Tötungs- oder Körperverletzungsquoten heranzuziehen. Zudem stehen die vagen und impressionistischen Schlüsse, die er aus einem Vergleich der Nürnberger Werte mit europäischen Vergleichszahlen zieht, in scharfem Kontrast zur vorgeblichen Exaktheit der Quantifizierung. Nachdem Schüßler für Nürnberg eine Tötungsrate zwischen 20 und 65 Fällen pro 100.000 Einwohner ermittelt haben will, referiert er die europäischen Vergleichswerte, die zwischen 152 für Florenz in der Mitte und 8 für Paris am Ende des 14. Jahrhunderts liegen; seine Schlußfolgerung, Nürnberg erreiche in bezug auf die Tötungsrate einen für das 13. und 14. Jahrhundert typischen Mittelwert (Schüßler 1991: 124), spricht in ihrer Inhaltsleere für sich (vgl. für eine nähere Kritik Schwerhoff 1995c). Für den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, lassen sich die Quantifizierungsprobleme beispielhaft an der Untersuchung von Bernd Plaum (1990) über die Kriminalität im Fürstentum Siegen aufzeigen. Auch er orientiert sich wie Schüssler an der englischen Forschung, für die in bezug auf das 18. Jahrhundert die Namen E.P. Thompson oder Douglas Hay stehen, und auch er setzt angesichts karger Quellenüberlieferung auf einen quantitativen Zugang. Die Grenzen seiner Untersuchung (aus der einzelne Ergebnisse sicher Bestand haben werden) liegen wie bei Schüssler im Umgang mit den Quellen; es wird ein eklatantes Mißverhältnis zwischen dem ambitionierten sozialgeschichtlichen Exposé und den erhobenen Daten bzw. deren Aussagekraft deutlich. Plaum stützt sich auf ein sehr heterogenes Quellencorpus: die in den Dillenburger Intelligenzblättern veröffentlichten, allerdings nur lückenhaft überlieferten Justizkanzlei- Urteile (auch dort vorfindbare Nachrichten über »unaufgeklärte Diebstähle« zieht er heran); auf ein Verzeichnis der im Unterdirektorium gelagerten Akten, deren Reichweite unklar bleibt; Kriminalprotokolle und ergänzende Quellen für die Stadt Siegen; schließlich Konsistorialakten. Insgesamt ist die Quellenlage von einem Mangel an aussagekräftigen Daten für das gesamte Territorium gekennzeichnet, so daß sich der Schwerpunkt der Untersuchung auf die Stadt Siegen reduziert (Plaum 1990: 30). Jedoch wächst beim Lesen die Skepsis über die Validität der Tabellen: Das Dickicht der von verschiedenen Instanzen produzierten Quellengruppen erlaubt dem Leser keine Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 29 Überprüfung der oft ohnehin nicht besonders aussagekräftigen Zahlen. So wird die Zahl der Sittlichkeitsdelikte im Stadtgebiet Siegen im Zeitraum 1757 - 1809 einmal mit 397, ein anderes Mal für das Kirchspiel Siegen (nach Plaums Aussage mit dem Stadtgebiet weitgehend identisch) zwischen 1760 und 1809 mit 744 (Plaum 1990: 170, 224) angegeben. Deliktkategorien werden nicht immer konsistent gebildet; so ist der Hudefrevel mal unter die »sonstigen Delikte« gerechnet, mal unter die »Bereicherungskriminalität« (ebd. 170 u. 206). Diese Bereicherungskriminalität setzt sich vor allem aus kleineren Unterschlagungen oder Wirtschaftsvergehen zusammen; es finden sich gerade einmal sechs richtige Diebstähle. Ebenso skeptisch stimmt die Fehlanzeige bei den Totschlägen in den Tabellen, obwohl im Zusammenhang bei der Erörterung der Alkoholproblematik von einem solchen berichtet wird (ebd. 199f.). Derartig auffällige Lükken schreien geradezu nach einer Reflexion im Text, die nicht vorgenommen wird. Die Tabellen verkommen so zum Fetisch, zu einer gar nicht so glatten Oberfläche, unter der die interessanten Probleme verschwinden. Auf diese Weise lassen sich »quantifizierend« die Phänomene nachweisen, die man gerne finden möchte, etwa den - von zeitgenössischen Stimmen beschriebenen - Zusammenhang von Markttagen und Gewaltsamkeit, der allerdings erst nach längerem Herumbasteln am Zahlenmaterial einigermaßen plausibel gemacht wird. Aufgrund derart disparaten Materials wird sicherlich nicht die Zivilisationstheorie von Elias oder der »Wandel von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft« (ebd. 258) zu erhärten sein. Ebensowenig kann eine Effektivitätssteigerung der Justiz lediglich aufgrund institutioneller Reformen abgeleitet werden (ebd. 144). Quellenkritische Einwände wie die vorstehenden, sind nicht als Plädoyer für einen Verzicht auf Quantifizierung zu verstehen. Die Frage nach der Häufigkeit bestimmter Vergehen und Sanktionen bleibt eine zentrale Analysedimension und eine unabdingbare Voraussetzung für hermeneutische Interpretationen von Einzelfällen; immer ist es gut zu wissen, ob ein bestimmter Fall typisch ist oder eine Ausnahme darstellt. Außerdem sind Zahlen und Tabellen unabdingbare Voraussetzungen für den Vergleich über Zeit und Raum hinweg. Insofern birgt das eigene kulturgeschichtliche Profil der deutschsprachigen Kriminalitätsgeschichte durchaus die Gefahr eines Mangels an Vergleichbarkeit. Trotz lebhafter Produktion hat dieser Forschungszweig denn auch noch nicht viel Material zur internationalen Debatte über die Entwicklung der Totschlagsraten oder das Verhältnis zwischen Eigentums- und Gewaltkriminalität in der Langfristperspektive beizutragen. Viele der in diesem Kontext präsentierten Zahlenreihen haben sich inzwischen als »optische Täuschungen« herausgestellt. Die stärkste Gefährdung für den quantitativen Zugang bildet das leichtfertige Jonglieren mit Zahlen, deren Zustandekommen fragwürdig und nicht nachvollziehbar ist, und deren institutioneller Kontext nicht berücksichtigt wird. Es geht nicht an, die allfälligen Einleitungsbemerkungen über die Zuständigkeit und Kompetenz der jeweils aktenproduzierenden Instanz bei der Interpretation der Zahlen am Ende zu »vergessen«. Ein anderer Indikator für das kulturgeschichtliche Profil der historischen Kriminalitätsforschung ist die intensive Nutzung von Gerichtsakten als Zugang zu den Handlungsstrategien und zur Subjektivität der zeitgenössischen Akteure. 14 Idealtypisch 14 Erstaunlich konventionell und vom ›linguistic turn‹ unangekränkelt, so sei am Rande vermerkt, bleibt dagegen bisher die Auswertung spätmittelalterlicher Chroniken als Quellen zur Kriminalitätsgeschichte. Sie beschränkt sich weitgehend auf einen Extrakt des Faktischen und verzichtet auf eine genaue Analyse von Text und Darstellungsstrategie (vgl. Martin 1996; Heiduk 1997). Gerd Schwerhoff 30 könnte man hier zwischen einem Modell »Davis« und einem Modell »Ginzburg« unterscheiden. Nathalie Davis ging bei ihren Untersuchungen zur spezifischen Darstellungslogik von Kriminalgeschichten in den französischen ›lettres de remission‹ von der Feststellung aus, daß derartige Quellen keine unmittelbaren Selbstzeugnisse der darin vorkommenden Menschen seien, sondern, wie der Titel ihres Buches von 1987 pointiert besagt, »Fiction in the archives«: Nur wer sein Gnadengesuch - natürlich mit professioneller Hilfe - »richtig« formulierte und seine eigene Rolle im vorausgegangenen Drama der Tat so stilisierte, wie die Obrigkeit es erwartete, durfte auf die königliche Gnade hoffen. Der Analyseansatz von Davis ist verallgemeinerungsfähig: Weil die vor Gericht stehenden Menschen oft allen Grund hatten, ihre genuinen Erfahrungen und Handlungen vor den Vertretern der Obrigkeit zu verbergen oder geschönt zu präsentieren, können historische Analysen über deren Darstellungsstrategien, die die Frage nach der historischen Wahrheit gleichsam einklammern, fruchtbar sein. Ein gutes Beispiel für dieses Vorgehen ist die Untersuchung der Verteidigungsstrategien von Kindsmörderinnen, wie sie Otto Ulbricht (1993) unternommen hat. Einen Schritt weiter geht Ulrike Gleixner (1994: 211), wenn sie die Konstruktion der Kategorie Geschlecht als einen Interaktionsprozeß zwischen dörflicher Lebenswelt und obrigkeitlichen Sittennormen beschreibt, der in den gerichtlichen Unzuchtsverfahren seinen konkreten Ort hatte. Das Gerichtsverfahren wird somit zur Produktionsstätte der Konstruktion sozialer Realität. Im Gegensatz dazu versuchen andere Arbeiten, gleichsam durch die Quellen hindurch, einen Zugang zur Lebens- und Alltagswelt der Menschen zu gewinnen, wie es Ginzburg mit seinem Müller Menocchio versucht hat. 15 So gewinnt Simon- Muscheid (1994) aus einer Kundschaft zu einem Basler Diebstahlsfall aus dem Jahr 1477 Erkenntnisse über verheiratete Dienstbotenpaare, die andernfalls nur schwer zu erlangen gewesen wären (vgl. auch Rippmann u.a. 1996). Für die Erschließung der Lebenswelt von Armen und Bettlern benutzen Ulbricht (1994) und Schindler (1992, 1994) ebenso wie Wettmann-Jungblut (1997b) zur Analyse der komplizierten Gefühlswelt einer Freiburger Familie Verhörprotokolle. Zu verweisen ist in diesem Kontext auch auf das Ziel von Rublacks großangelegter Studie (1998), im Medium der Gerichtsakten Erfahrungen und Handlungsoptionen von frühneuzeitlichen Frauen auszuleuchten. An den schwierigen Fragen nach Normalität oder Außergewöhnlichkeit, nach Täuschung oder Verschweigen muß sich die hermeneutische Kunst des jeweils Forschenden beweisen, sie lassen sich nicht generell diskutieren. Soweit aber scheint weitgehende Übereinstimmung zu herrschen: Trotz aller Vorbehalte stellen die Gerichtsakten und Kriminalquellen eine der reichhaltigsten Quellengruppen schlechthin für die Vormoderne dar, deren vielfältige Nutzungsmöglichkeit und Differenziertheit von wenigen anderen Überlieferungen übertroffen wird. Nicht ohne Grund spielen sie in der aktuellen Debatte um die »Ego-Dokumente« eine hervorragende Rolle. Das belegen die Beiträge von Wolfgang Behringer, Helga Schnabel-Schüle und Wilfried Schulze im einschlägigen Sammelband (Schulze 1996; vgl. ferner Schwerhoff 1993). Die Attraktivität von Kriminalquellen, so bleibt jedenfalls festzuhalten, erweitert den Kreis der potentiell interessierten Historiker enorm, und zwar durchaus über diejenigen hinaus, die ihr Arbeitsfeld mit der oben beschriebenen Definition hinreichend abgesteckt sehen. Der kleinste gemeinsame Nenner des angesprochenen kriminalitätsgeschichtlichen Arbeitskreises, 15 Pioniercharakter kommt hier den mikrohistorisch orientierten Aufsatzsammlungen von Sabean (1986) und Schindler (1992) zu. Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 31 so wurde schon früh formuliert, sei weniger die Beschäftigung mit Delinquenz und Sanktionierung, sondern die gemeinsame Quellenbasis. 4. Die Logik strafrechtlicher Sanktionen Startpunkt einer von älteren rechtsgeschichtlichen Pfaden abweichenden Kriminalitätsgeschichte war die Untersuchung der Strafpraxis und die Erkenntnis, daß diese Praxis nicht lediglich durch eine mechanische Anwendung von Gesetzesnormen gekennzeichnet war. Das ›Theater des Schreckens‹, das grausame Panoptikum vormoderner Leibes- und Lebensstrafen, von Richard van Dülmen 1985 (4. verbesserte Auflage 1995! ) noch einmal in Zusammenfassung der älteren Literatur im Überblick beschrieben, charakterisierte die Strafrechtspraxis nur unvollkommen und entpuppte sich bei näherem Hinsehen vielfach als Theaterdonner. Im Köln des 16. Jahrhunderts wurden von rund 2.000 vom Stadtrat inhaftierten Personen keine 13% vor das Hochgericht gestellt, von denen wiederum lediglich 25% mit dem Tode bestraft wurden. Allein die Zahl der Stadtverweise, mit der grob gerechnet jeder fünfte Verhaftete belegt wurde, übersteigt die der Leibes- und Lebensstrafen um ein Vielfaches (Schwerhoff 1991, Tab. A2). Trotz regional und zeitlich variierender Strafhärten kann dieser Befund einer äußerst selektiven Anwendung schwerer Strafen verallgemeinert werden. Die Kluft zwischen Norm und Praxis - prinzipiell sicherlich eine gesellschaftliche Universalie - war in der alteuropäischen Welt derartig tief, daß sich die Frage nach der Funktionslogik des Strafrechts stellt. Nach einer treffenden Formulierung der Soziologen Heinz Steinert und Hubert Treiber kann man diese Funktionslogik als »selektiven Sanktionsverzicht« kennzeichnen; dabei steht die überzogene Drohung mit der unnachgiebigen Anwendung härtester Strafen für eine Vielzahl von Delikten in einem komplementären Verhältnis zum weitgehenden tatsächlichen Verzicht auf ihre Umsetzung (Steinert/ Treiber 1978). Natürlich muß dabei in einigen exemplarischen Fällen die Drohung auch in die Wirklichkeit umgesetzt werden, um sie nicht unglaubwürdig werden zu lassen. Prinzipiell hat die kriminalhistorische Diskussion zwei Zugänge zum Verständnis der Praxis des Sanktionsverzichtes entwickelt, die sich nicht widersprechen müssen. Einmal wird auf die strukturellen Defizite an »Staatlichkeit« hingewiesen, die eine auch nur halbwegs konsequente Umsetzung der Normen unmöglich gemacht hätten. Die Schwäche der Exekutivgewalt läßt sich an vielerlei Indikatoren ablesen. Schon die geringe Zahl und Professionalität der Polizeidiener, Büttel und Schergen machte eine Strafverfolgung im modernen Sinn unmöglich (Bendlage/ Schuster 1995). Auch die Staatsdiener in gehobenen Funktionen wie Richter, Schultheißen und Amtleute waren vielfältig in die informellen Strukturen der Gemeinde eingebunden. So sind diese »middle man« nicht einfach als disziplinierende Agenten der Obrigkeit zu verstehen, sondern vertraten vielfach andere Interessen (»klassisch« Sabean 1986: 23ff.; Frank 1995: 155ff.; Rublack 1997a; jetzt Hokamp 1998); auch bei der Strafverfolgung sahen sie oft ›durch die Finger‹ oder trafen ihre Entscheidungen mit Rücksicht auf die soziale Reputation der Angeklagten. Als Sand im Getriebe der Strafjustiz kann die mangelnde Koordination zwischen den Obrigkeiten eingeschätzt werden. Häufig brauchten Straftäter lediglich die Stadt- oder Territorialgrenze zu passieren, um sich dem Zugriff der öffentlichen Gewalten zu entziehen. Erst allmählich entwickelten sich Fahndungsmethoden und Formen überterritorialer Zusammenarbeit wie Steckbriefe oder gemeinsa- Gerd Schwerhoff 32 me Streifen und Visitationen, die es Gesetzesbrechern schwerer machten, sich dem Netz der Repression zu entziehen (vgl. z.B. Nitschke 1988; Danker 1988; Nicklis 1992; Spicker-Beck 1995). Schließlich setzten auch die Finanzierung von Strafmaßnahmen sowie die Angst vor Unruhen unter dem Galgen aufwendigen Strafspektakeln enge Grenzen. Eine Erklärung allein aus den Defiziten an »Staatlichkeit« heraus wäre jedoch unzureichend, weil sie zu wenig die expliziten Intentionen und das Selbstverständnis der sanktionierenden Instanzen in Betracht zieht. 16 Regelmäßig gewährte die gnädige Obrigkeit - entweder bei der Festsetzung oder bei der nachträglichen Umwandlung eines Urteils - großzügige Strafnachlässe, die als integraler Bestandteil der zeitgenössischen Strafphilosophie nicht hoch genug veranschlagt werden können. Zum einen gehörte das Gnadegewähren zu den hervorragensten Rechten des Herrschers und dokumentierte so die Souveränität des Königs, Fürsten oder auch Stadtrates, mit seinen Entscheidungen im Einzelfall über die geschriebenen Normen hinwegzugehen; Gnade galt überdies als göttliche Tugend und christliches Grundprinzip. Zum anderen konnten ganz praktische Gründe für eine milde Behandlung von Gesetzesbrechern sprechen. Bis weit in die Frühe Neuzeit hinein war die Bewahrung des sozialen Friedens und möglichst die Reintegration von Gemeinschaftsmitgliedern das Ziel der Obrigkeiten, insbesondere der städtischen Räte (z.B. Plaum 1990: 157). Wo immer möglich sollten Gesetzesbrecher zwar mit massiver Drohung zur Unterwerfung unter den obrigkeitlichen Strafanspruch und zur Sühne ihrer Vergehen gezwungen werden, aber an weitergehender Ausgrenzung bestand kein Interesse. Interessant ist die soziale Logik, der die Gnadenerweise folgten. Meist waren ihnen Fürbitten von hochgestellten Persönlichkeiten, Ehepartnern, Verwandten, Berufskollegen oder Nachbarn vorausgegangen, die um Gnade baten und folglich für die Obrigkeit einen Indikator für die soziale Integration der Delinquenten darstellten. Je mehr derartiges soziales Kapital ein Angeklagter oder Verurteilter aufbieten konnte, desto größer waren seine Gnaden-Chancen. Rechtliche Sanktionierung in vormoderner Zeit war also keineswegs ein mechanisch vollzogener Akt, sondern das Ergebnis eines Interaktionsprozesses zwischen Gericht, Prozeßparteien und sozialer Umwelt, mehr ›aushandeln‹ als ›verhängen‹ (Rublack 1998: 87ff.). Nur auf den ersten Blick stehen die neuesten Forschungsergebnisse über die Konstanzer Justiz im 15. Jahrhundert zu den bisherigen Ausführungen im Widerspruch. In der Bodenseestadt kamen lediglich ca. 5% der Delinquenten in den Genuß einer Begnadigung (Schuster 1995: 137). Nicht nur, daß sich der Konstanzer Rat als Niedergerichtsinstanz in denjenigen Fällen, in denen eine geschriebene Norm existierte, bei der Strafzumessung fast sklavisch an diese Vorschriften hielt; überdies schaffte er es, mit einer Erfolgsquote von über 75% die verhängten Bußen auch einzutreiben (Schuster 1997: Kap. IV, Tab.1). Das System der Geldbußen, dessen Dominanz im Kanon aller Sanktionsmaßnahmen noch dadurch gesteigert wurde, daß regelmäßig auch kleinere Haft- und Verweisungsstrafen in Bußen umgewandelt wurden, erweist sich also in diesem Fall als erstaunlich effektiv. Diese Effektivität wurzelt ebenso in der äußerst sorgfältig gepflegten Schriftlichkeit wie in der Bereitschaft des Rates zum flexiblen Umgang mit 16 Vgl. für das Folgende aus rechtsgeschichtlicher Sicht Bauer (1996); Schuster (1995: 119ff.) bzw. Schuster (1997); zugespitzt für das spätmittelalterliche Köln die Kritik von Groten (1996: 308) am »Defizit-Ansatz«, die allerdings die Ausführungen von Schwerhoff (1991: 167ff.) nicht berücksichtigt. Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 33 den Bußzahlungen. Das »Abstottern« der Strafgelder auf Ratenbasis war ebenso üblich wie das Abarbeiten an der Stadtbefestigung oder im Wachdienst. Hatte ein Delinquent seine finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllt, trat er in Nachverhandlungen mit dem Rat ein und erreichte in der Regel Aufschub oder günstigere Zahlungsmodalitäten. Der Rat ließ die Bußfälligen gewöhnlich »an der langen Leine laufen« (Schuster), ohne die Leine gänzlich aus der Hand zu legen. Das Aushandeln der Strafe verschob sich damit vor dem Konstanzer Niedergericht von der Ebene des Strafmaßes auf die Ebene der konkreten Strafmodalitäten; an den - gemessen an der Norm - entscheidenden Milderungen für den Delinquenten ändert dieser Befund prinzipiell nichts. Zwangsläufig muß eine Analyse der Sanktionslogik nach geahndeten Delikten und nach bestraften Delinquenten differenzieren. Anzuknüpfen ist hier an die inzwischen klassische Arbeit des Rechtshistorikers Gunter Gudian, der für das Spätmittelalter aufgrund von mittelrheinischen Quellen die Existenz eines »zweigleisigen« Strafrechts postuliert hat (1976: 282). Selbst Landgerichte wie das der Obergrafschaft Katzenelnbogen, die durchaus peinliche Strafen hätten verhängen können, hätten sich überwiegend mit mäßigen Geldbußen in einer zwischen den Akteuren ausgehandelten Höhe zufriedengegeben, und zwar durchaus auch bei Diebstählen und durchaus auch gegenüber Mehrfachtätern. Das betraf aber vornehmlich »eingesessene« Täter, während »Gewohnheitsverbrecher« mit besonders gefährlicher Gesinnung und fremde Vaganten mit der vollen Härte der Gesetze abgestraft worden seien. Gudians Erklärung, man habe die Einheimischen in Zeiten der Bevölkerungsknappheit schonen wollen, überzeugt ebensowenig wie sein Ausblick auf die Frühe Neuzeit, der ein Verschwinden der angesprochenen Zweigleisigkeit an der Wende zur Neuzeit aufgrund von demographischem Aufschwung und Rezeption des römischen Rechts postuliert. Sein grundlegender Befund scheint indessen verallgemeinerbarer zu sein, als er selbst angenommen hat. Wie ein Echo auf Gudian wirken zwei zentrale, wenige Jahre später erschienene Beiträge aus der angelsächsischen Welt, die ebenfalls die angesprochene Zweigleisigkeit konstatieren. In der von Durkheim beeinflußten Terminologie von Lenman und Parker (1980) liest sich das als Gegensatz zwischen einem punitiven, auf Abschreckung und Vergeltung ausgerichteten Strafziel, das dem »state law« des römischen Rechts zugrunde gelegen hätte, und einem restituiven, auf Entschädigung, Ausgleich und Befriedung orientierten Ziel, das sie im »community law« des germanischen Rechts zum Tragen kommen sehen. Die Ablösung des zweiteren durch das erstere sei ein säkularer, bis in die Neuzeit hineinreichender Prozeß gewesen, der lange von einer faktischen, sich wandelnden Koexistenz beider Systeme gekennzeichnet gewesen sei. Mehr noch als die beiden Engländer betont Soman (1980: 16f.), wie groß das Aushandlungspotential der Akteure unter dem repressiven Mantel des neuzeitlichen Inquisitionsprozesses gewesen sei; mit den französischen Notariatsakten vor Augen charakterisiert er das 16. und 17. Jahrhundert geradezu als ein goldenes Zeitalter der Komposition. Im wesentlichen können die neueren deutschsprachigen Forschungen den Befund eines doppelgesichtigen Strafrechts bestätigen, bei dem martialische Repression und pragmatischer Ausgleich sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen verbinden. Peinlich gestraft wurde in der Regel ein Kern von »harten« Kriminaldelikten wie Mord, Kindsmord, Raub oder Diebstahl; dreiviertel aller Todesurteile in Köln zwischen 1568 und 1617 wurden gegen Diebe und Räuber ausgesprochen (Schwerhoff 1991, 324f.). Die Ausübung von Gewalt dagegen war - wir werden noch darauf zurückkommen - nicht zwangsläufig ausgrenzend und sozial stigmatisierend. Mindestens ebenso wichtig wie Gerd Schwerhoff 34 das Delikt war die Person des Delinquenten. Nicht selten konnten einheimische Diebe und Räuber auf relative Milde hoffen. Gelang es ihnen, genügend ›soziales Kapital‹ zu mobilisieren, z.B. in Form von Fürsprechern, dann konnte eine schwere Strafe nach den Buchstaben des Gesetzes abgewendet werden. Nur vor dem Hintergrund der relativ »milden« Sanktionspraxis vieler Gerichte sind im übrigen Befunde über die soziale Rekrutierung der Delinquenten richtig einzuordnen. Übereinstimmend konstatieren etliche Studien, daß sich keineswegs nur Angehörige von Unterschichten und Randgruppen vor den Schranken der Gerichte rechtfertigen mußten. Für das Spätmittelalter haben eine Reihe von Untersuchungen sogar eine gewisse Überrepresentanz der Oberschichten nachgewiesen. In Zürich waren, nimmt man lediglich die als Steuerzahler greifbaren Delinquenten, die »vermögenderen Gruppen vor Gericht übervertreten« (Burghartz 1990: 103). Und für Konstanz hat Peter Schuster ausgerechnet die Richter - allerdings nicht während ihrer Amtszeit - als eine Gruppe mit hoher Delinquenz dingfest gemacht (vgl. seinen Beitrag für den vorliegenden Band; ferner Demandt 1972: 32). Derlei Beobachtungen beschränken sich nicht auf spätmittelalterliche Städte; auch auf dem Land, sei es in Bern, sei es in Lippe, dominierte keineswegs die Unterschicht, sondern eher die dörfliche Elite unter den Delinquenten (Frank 1995: 237; Schmidt 1995: 335). Ihr hohes Sozialkapital schützte diese Gruppen bis zu einem gewissen Grad vor Ausgrenzung und harten Strafen. Je nach Provenienz der Quellen wird in ihnen die angesprochene Zweigleisigkeit natürlich nur unvollkommen sichtbar - eine Tatsache, die nicht immer angemessen berücksichtigt wird. Die Ergebnisse von Burghartz (1989) zur Konfliktregelung qua Bußzahlung vor dem Zürcher Ratsgericht im 14. Jahrhundert sind insofern zu relativieren, als daneben noch die - quellenmäßig nicht dokumentierte - Blutgerichtsbarkeit des Reichsvogtes existierte. Umgekehrt reflektiert Monika Spicker-Beck (1995) bei ihrer Untersuchung über Kriminalität im 16. Jahrhundert zuwenig die Selektivität ihres Samples von ausgewählten »Mordbrenner-Akten«, so daß sie die Grausamkeit der damaligen Strafjustiz einseitig dramatisiert. Es trifft sich gut, wenn in einer Quelle die beiden Stränge des Strafrechts nebeneinander sichtbar werden, wie es beim Augsburger Achtbuch aus dem 14. Jahrhundert der Fall ist (Schneider-Ferber 1993). Scharf tritt hier nicht nur der prozessuale Unterschied zwischen den auf Betreiben eines Klägers vom Vogtgericht ausgesprochenen Ächtungen und den arbiträren (aus obrigkeitlicher Machtvollkommenheit ausgesprochenen) Stadtverweisen des Rates zutage. Auch das Profil von Delikten und Beteiligten unterscheidet sich in diesen beiden Sphären klar voneinander: hier die fast völlige Dominanz von Gewaltvergehen wie Tötungen oder Verwundungen, Delikte, bei denen die Männer als Täter wie als Opfer fast ganz unter sich sind; dort die Vorherrschaft von Diebstählen, Widersetzlichkeiten und nicht näher bezeichneten »Bosheiten«, wobei sich unter den Verwiesenen ein nennenswerter Anteil von Frauen befindet. Wo die Ächtungen tatsächlich vorwiegend auf eine bestimmte Form von Konfliktverhalten verweisen, spiegelt sich in den Stadtverweisen eher das strafende und disziplinierende Bemühen des Rates. 5. Delinquenz, soziale Kontrolle und Justiznutzung Schon die bisherige Diskussion hat die Fragwürdigkeit einer eher etatistischen Sichtweise deutlich gemacht. Überlegungen zur Mittlerfunktion von Richtern und Amtsträ- Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 35 gern oder zur Bedeutung des Sozialkapitals der Angeklagten verweisen auf die vielfältige gesellschaftliche Determinierung obrigkeitlichen Strafhandelns. Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit führen die Forschungen und Debatten einer historischen Kriminalitätsforschung, zumal einer solchen mit stark kulturgeschichtlichem Profil, zu der Erkenntnis, daß eine Analyse des Strafrechts in die Betrachtung der gesamten Bandbreite der Mechanismen sozialer Kontrolle eingebettet werden muß. Die Bedeutung der Gerichte wird durch eine solche Sichtweise stark relativiert. Die starre Frontstellung zwischen sanktionierender Obrigkeit einerseits, den Untertanen als Objekten dieser Bestrafung andererseits, scheint tendenziell aufgelöst. »Macht« ist nicht mehr absolut auf Seiten des entstehenden Staates, sondern etwas, was alle Akteure, Richter ebensogut wie Kläger und Beklagte - freilich in sehr ungleichem Maße! - nutzen können (Dinges 1992). Anders gesagt: Soziale Kontrolle wird nicht allein als ein hierarchisch von »oben« nach »unten« verlaufender Vorgang verstanden, sondern als wechselseitiger, vielfach verschränkter Versuch der Durchsetzung eigener Werthaltungen und Interessen. 17 In mehrfacher Hinsicht führte diese Perspektivenänderung zu einer Verschiebung von Interessenschwerpunkten. Zunächst kam es zu einer relativen Aufwertung der Kleinkriminalität und der leichteren Formen gesellschaftlicher Devianz gegenüber den klassischen Formen von Schwerkriminalität. Das Feld der petite délinquence (petty crimes) spiegelt in hohem Maß Alltagssituationen und -auseinandersetzungen wider und stellt eine hervorragende Arena für das gesellschaftliche Konfliktmanagement dar. In der Tat: »Kleine Delikte bieten große Möglichkeiten« (Ulbricht 1995: 139). Zwangsläufig rücken damit die Quellen der Niedergerichte in den Vordergrund, die »näher« am gesellschaftlichen Geschehen angesiedelt und für die Beeinflussung durch die städtischen und insbesondere ländlichen Untertanen offener waren, die z.T. noch aktiv an diesen Gerichten partizipierten. So wurden die Berner Chorrichter zwar von der Obrigkeit eingesetzt, ihre Auswahl erfolgte aber »aus der Gemeinde und durch die Gemeinde« (Schmidt 1995: 50). Im Medium der patrimonialen Niedergerichte hat z.B. auch das Image der »ostelbischen Gutsherrschaft« als monolithisches System der Repression einige gehörige Kratzer bekommen. 18 Mit der Zuwendung zur niederen Gerichtsbarkeit hat sich weiterhin der Beobachtungsraum kriminalhistorischer Studien sehr ausgeweitet. Vor- und außergerichtlichen Formen der Konfliktregulierung und ihrer Verknüpfung mit dem gerichtlichen Austrag von Streitigkeiten werden sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als zuvor (Helm 1987; Winkelbauer 1992; Krug-Richter 1997; Schedensack 1997; von rechtsgeschichtlicher Seite jetzt Lück 1997). Gütliche Regelungen konnten die Parteien zunächst selbst ohne die Intervention von Unbeteiligten anstreben. Meist bedienten sie sich jedoch der Beratung, Vermittlung oder Schlichtung von dritten Personen. Diese konnten sich wiederum aus der gemeinsamen Nachbarschaft oder Zunft rekrutieren oder als Amtsper- 17 Das Konzept der »sozialen Kontrolle« (Bergalli/ Summner 1997) erscheint mir deshalb angemessener als der Vorschlag von Helga Schnabel-Schüle (1993: 168, 1997: 167), die hier diskutierten Phänomene als »horizontale Disziplinierung« zu fassen. 18 Vgl. die Beiträge in den Sammelbänden von Jan Peters, die einige Ergebnisse seiner Potsdamer Arbeitsgruppe dokumentieren, etwa die Aufsätze von Ulrike Gleixner und Monika Mommertz; ferner Schattkowsky (1993) und Peters (1995b). - Lediglich angemerkt sei an dieser Stelle, daß die angesprochene Erweiterung und Umorientierung einer Kriminalitätsgeschichte in Richtung einer Konfliktgeschichte zu einer bisher noch kaum praktizierten Einbeziehung zivilgerichtlicher Quellen führen müßte; vgl. für eine quantitative Längsschnittuntersuchung in diese Richtung Kottmann (1990, 1998). Gerd Schwerhoff 36 son eine gleichsam institutionalisierte Autorität besitzen. Die formelle Gerichtsklage war in der Mehrzahl der Fälle lediglich der vorläufig letzte Akt in einem Konfliktszenarium mit längerer Vorgeschichte. Auch die Gerichte orientierten sich ja meist, wie bereits angedeutet, am Ideal der Streitschlichtung und Wiederherstellung des Friedens. Wenn österreichische Weistümer im 16. und 17. Jahrhundert ›heimliche Vergleiche‹ der Untertanen verbieten und die Mitwirkung der herrschaftlichen Gerichte zur Pflicht machen, so wird damit - gravierend genug - die autonome Kompetenz der Dorfgemeinschaften zur Regulierung von Konflikten angegriffen, nicht jedoch die Praxis des gütlichen Vertragens (Winkelbauer 1992: 134ff.); der Erfolg dieser Bestimmungen ist fraglich. Auch den Chorgerichten in der Berner Landschaft ist es zentral um die Versöhnung und die Wiederherstellung guter Freundschaft zwischen den Kontrahenten zu tun (Schmidt 1995: 327f.). Überhaupt ist die Unterscheidung zwischen außergerichtlichen, vorgerichtlichen und gerichtlichen Konfliktregelungen lediglich idealtypisch zu verstehen. In Bewußtsein und Handeln der Akteure handelt es sich dabei nicht um klar hierarchisierte und zeitlich hintereinander geschaltete Phänomene, sondern um ein Ensemble von Optionen, deren man sich je nach situativem Kontext abwechselnd bediente. Wenn ein Geschädigter, so z.B. ein Befund aus der sauerländischen Gerichtsherrschaft Canstein in Westfalen am Anfang des 18. Jahrhunderts, Zeugen zur Besichtigung eines Schadens suchte, so konnten diese Personen zwar potentiell vor Gericht eine Klage stützen helfen; ebensogut konnten sie aber zunächst als informelle Vermittler dienen. »Informell« bedeutet in diesem Fall, daß die Vermittlung nicht über obrigkeitliche Institutionen lief, nicht aber, daß es keine formalisierten Handlungsabläufe der Konfliktregulierung gegeben hätte. Im Gegenteil: Zentral war dabei die sog. »Beschickung«, die »Inszenierung eines ritualisierten Frage- und Antwortspiels über Mittelspersonen« (Krug-Richter 1997: 221). Es wäre ein Mißverständnis, der Nahtstelle zwischen dem Reden und Handeln in der sozialen Gemeinschaft und dem Gericht lediglich bei Niedergerichten eine zentrale Bedeutung zuzumessen. 19 Ulinka Rublacks Studie über Frauen vor württembergischen Gerichten stützt sich vor allem auf Strafakten, Urfehde- und Urgichtbücher und nimmt somit durchaus auch die gängigen Formen von Kriminalität in den Blick. Sie zeigt die zentrale Rolle des »Geredes« auf, das gleichsam den öffentlichen Diskurs über abweichendes Verhaltens konstituiert. Argwohn und Verdacht gegenüber vermutetem Diebstahl, Ehebruch oder Kindsmord wurden in diesem Gerede deutlich, aber doch lange auch vorsichtig und indirekt formuliert; es folgte somit strengen Regeln und war weit von unkontrolliertem »Geschwätz« entfernt. Erst wenn deutliche Beweise für eine Tat vorlagen, die von der Gemeinschaft eindeutig moralisch verurteilt wurde, »wandelte sich das Gerede zum »Geschrei«, das die Obrigkeit nun nicht überhören konnte oder sollte.« »Anzeige und Verurteilung stellten also nicht den Horizont des Geredes dar. Überhaupt war der Gang vor Gericht in bezug auf die meisten Delikte nicht der erste, sondern der letzte Gedanke von Opfern und Zeugen« (Rublack 1998: 33f.). Schließlich gab es etliche alternative Handlungsoptionen. Dieben nahm man das Diebesgut ab und prügelte sie kräftig durch, Ehebrecher wurden durch Schandlieder und Katzenmusiken an den unsichtbaren Pranger der Gemeindeöffentlichkeit gestellt. Gegen das Einschal- 19 Eine detaillierte Studie über die Interaktion zwischen dörflicher Öffentlichkeit und Justiz findet sich auch bei Gleixner (1994: 176ff.) Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 37 ten der Gerichte sprachen eine Reihe von Gründen: Eine Klage war riskant, unter Umständen teuer und versprach oft wenig Erfolg, weil die Beweislage schwierig und der Täter vielleicht schon über alle Berge war. Die Denunziation von Ordnungsdelikten wie Spielen, Tanzen, Fluchen oder Unsittlichkeit konnte leicht zu dem Vorwurf führen, ein »Verräter« zu sein (ebd. 44). Der hier in verschiedenen Facetten beschriebene Perspektivenwechsel kristallisiert sich wohl am treffendsten im Begriff der »Justiznutzung«, den Martin Dinges in die Debatte eingebracht hat (Dinges 1992, 1993; Rappe 1996). Die Gerichte erscheinen in dieser Perspektive als institutionelle Angebote, die den Untertanen zum Austrag von Streitigkeiten zur Verfügung stehen; von diesen Angeboten machen die Akteure mehr oder weniger Gebrauch; die Nutzung geschieht in Kombination oder im Wechsel mit anderen, nicht-institutionellen Angeboten des Konfliktaustrages. Auch hier existiert keine saubere Hierarchie von Nutzungen, wie Dinges aufgrund seines Pariser Materials beobachtete. In den Wortgefechten auf der Straße konnte der Polizeikommissar als Drohpotential zur Einschüchterung des Gegners benutzt werden, aber ebensogut als Medium zur demonstrativen Zurschaustellung von Furchtlosigkeit vor den Vertretern der Obrigkeit. Insgesamt relativiert dieser Ansatz deutlich das traditionelle Bild der Gerichte als repressiver Disziplinierungsagenturen, ohne einen deutlichen Vorsprung der Obrigkeit vor ihren Untertanen bei der Appropriation von Macht-Chancen leugnen zu wollen. Nur aus den Chancen und Handlungsoptionen, die die Justiz bereitstellte, erklärt sich der langfristige Erfolg des säkularen Verrechtlichungsprozesses ebenso wie die häufiger konstatierte generelle Akzeptanz der Justiz bei der Bevölkerung (Behringer 1990: 122; überzogen Wegert 1994, 83ff.). Im übrigen läßt sich trotz dieser Akzeptanz auf einzelnen Feldern - natürlich beim sozialen Protest, beim Totschlag oder beim Kindsmord (Rublack 1998: 269f.) - durchaus ein gravierender Normendissenz zwischen Obrigkeit und Untertanen feststellen. 6. Die Gewalt der Etablierten und die Subkultur der Außenseiter Nähert man sich dem Phänomen der Kriminalität von der Seite des rechtlich sanktionierten Verhaltens her, so sind es vor allem zwei große Deliktfelder, die die Aufmerksamkeit der kriminalhistorischen Forschung auf sich ziehen: einmal die affektive Gewalt, zum anderen die z.T. »professionell« betriebene Raub- und Diebstahlsdelinquenz. Die beiden Felder repräsentieren grosso modo die angesprochenen zwei »Gleise« des Strafrechts, insofern die Gewaltdelikte vornehmlich als zeitgenössische Form des Konfliktaustrages zu verstehen sind, die keineswegs konsequente Kriminalisierung durch die Gerichte zur Folge hatte, während bei der Bekämpfung von Raub- und Diebstahlsdelinquenz eher die repressive Seite des Strafrechtes sichtbar wird. Der Terminus ›Gewaltdelikte‹ bedarf dabei einer näheren Qualifizierung, denn physische Gewalt war selbstverständlich auch bei Mord, Raub oder Brandschatzung, bei sexueller Vergewaltigung oder bei Kindestötung im Spiel. 20 Analog zur Kategorisierung der internationalen Forschung werden unter dem Etikett ›Gewaltdelinquenz‹ die affektiv motivierten, nicht instrumentellen Formen der Gewaltausübung diskutiert. Das Spektrum reicht da- 20 Eine vormoderne »Sonderform« kriminalisierter Gewalt war überdies der Selbstmord (Signori 1994; Lind 1998). Gerd Schwerhoff 38 bei vom Totschlag über die mehr oder minder schweren Formen der Körperverletzung mit oder ohne ›Blutrunst‹ (vgl. Boockmann 1987) bis hin zur »Vergewaltigung« durch Worte, die von den Zeitgenossen durchaus als gleichgewichtig zur physischen Verletzung verstanden wurde. Je nach Untersuchungsgebiet und -zeit steht das so definierte Feld der Gewaltdelinquenz zahlenmäßig an der Spitze der meisten spätmittelalterlichen und vieler frühneuzeitlicher Kriminalstatistiken. 21 Die Forschungen zur Gewaltkriminalität sind inzwischen außerordentlich reichhaltig; sie betonen den ritualisierten Charakter der Gewalt und ihre Verwurzelung im Motiv der Verteidigung der eigenen Ehre. 22 Von daher schließt auch der Bereich der verbalen Gewalt, der Injurien, phänomenologisch eng an dieses Deliktfeld an. Hier hatte die ›rechtliche Volkskunde‹ bereits früh einige Spezialstudien vorgelegt (Kramer 1984; vgl. aber schon Lorenzen-Schmidt 1978). Historiker haben danach - angefangen mit den wegweisenden Arbeiten von Martin Dinges (1991, 1994) - unser Verständnis von der Kunst der Beleidigung und der Bedeutung bestimmter Schimpfwörter vertieft (vgl. Toch 1993; Walz 1996; Fuchs 1997, 1998; Neumann 1997). Injurien konnten eine verhängnisvolle Spirale in Gang setzen, eine Eskalation der Gewalt, deren einzelne Etappen unterschiedlich intensiv untersucht sind. Drohung mit Gewalt beinhalten z.B. das stereotype Herausfordern aus dem Haus (Müller-Wirthmann 1983) oder das Messerzücken, in der spätmittelalterlichen Stadt ein oft gestrafter Bruch des Friedens sui generis (Schuster 1995). Am Ende dieser Spirale stand nicht selten die Tötung des Kontrahenten. Sozial und topographisch hatten derlei Delikte ihren Platz im Herzen der Gesellschaft des Ancien Régime. Die Beteiligten waren sicher überdurchschnittlich oft junge Männer, gerade Studenten oder Gesellen; die Beteiligung auch höchster Repräsentanten städtischer Politik zeigt aber, daß die Gewalt hier keineswegs als exklusives Verhaltensmodell der Armen und Deklassierten verstanden werden darf (Häberlein 1998). Die Orte der Gewalt waren zugleich Zentren des gesellschaftlichen Lebens: Plätze und Märkte, Wirtshäuser und Zunftstuben (Schwerhoff 1991: 247ff.). Aber hat nicht die Verfassungsgeschichte die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt als ein Gemeinwesen beschrieben, zu dessen Grundwerten der innerstädtische Friede gehörte und das diesen Frieden durch Sanktionsandrohungen schützte? Susanna Burghartz hat am Beispiel der Stadt Zürich den satzungsmäßigen Anspruch des Stadtfriedens und die Realität alltäglicher Gewaltausübung gleichsam zu versöhnen gesucht (Burghartz 1989: 398ff.). Der gesatzten städtischen Friedensordnung habe eine zwar informelle, aber ebenso anerkannte Norm gegenübergestanden, nach der christliche Männer befugt waren, ihre Ehre im Bedarfsfall auch mit Gewalt zu verteidigen. Das Stadtgericht fungierte in diesem Fall als mögliche Schlichtungs- und Versöhnungsinstanz zwischen den Parteien, die Bußzahlung an die Stadt erscheint als Ausgleichshand- 21 Natürlich überdecken derartige Generalisierungen das sehr große Zahlenspektrum, das etwa von 55% (Gewalt und Beleidigung) im Zürich des 14. Jahrhunderts (Burghartz 1989: 395), über 28% (Vergehen gegen die Person) im Köln des 16. Jahrhunderts (Schwerhoff 1991: 447) und 22,2% (Gewalt und Ehre) im lippischen Dorf Heiden im 18. Jahrhundert (Frank 1995: 241), bis zu 18% (Gewaltdelikte) im Kurbayern des 18. Jahrhunderts (Behringer 1990: 110) reichen konnte; vgl. für den europäischen Kontext die nützliche Übersicht von Blastenbrei (1995: 283). 22 Neben den entsprechenden Kapiteln in den einschlägigen Fallstudien sind als Spezialuntersuchungen zu nennen Müller-Wirthmann (1983); Simon-Muscheid (1991); Walz (1992); Rummel (1993); Schuster (1995); Frank (1995); Groebner (1995, 1995a); de Waardt (1995); Rath (1996); Kolmer (1997); Ulbricht (1997); Eibach (1997, 1998); Häberlein (1998). Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 39 lung, mit der eine Balance zwischen individuellem Ehrcodex und öffentlicher Ordnung wiederhergestellt wurde (Burghartz 1990: 200). Gerichtliches Handeln zielte hier also nicht auf Ausgrenzung, sondern auf Reintegration der Täter in die städtische Gemeinschaft, ein Ergebnis, daß sich cum grano salis auf viele andere Untersuchungsorte übertragen läßt. Das deutlichste und zugleich extremste Beispiel für die Geltung dieses Modells ist die Hartnäckigkeit, mit der viele Menschen bis weit in die Frühe Neuzeit hinein an der Totschlagsühne festhielten, obwohl diese nach dem gemeinen Strafrecht längst durch peinliche Strafen abgelöst worden war (z.B. Lück 1997: 248f.). Natürlich verweist die letzte Bemerkung darauf, daß auch die Gewalt eine Geschichte hat, und sich die rechtliche und soziale Einstellung ihr gegenüber verändert. Der langfristig erfolgreiche Versuch, die Komposition des Totschlages (dazu jetzt mit neuer Interpretation Battenberg 1998) durch härtere Strafen zu ersetzen, ist Teil einer verstärkten rechtlichen Ächtung der Gewalt im Verlauf der Frühen Neuzeit. 23 Vor allem Arbeiten aus dem englischen und niederländischen Raum haben ein Sinken der Totschlagzahlen im Verlauf der Frühen Neuzeit nachweisen wollen. Insbesondere Pieter Spierenburg sieht hierin einen starken Beleg für die Wirksamkeit eines Zivilisationsprozesses im Sinne von Norbert Elias; der Rückgang der Gewaltkriminalität erkläre sich, so der niederländische Historiker, durch eine Zunahme der Affektkontrolle des modernen Menschen. Die internationale Forschung scheint ihm darin zu folgen. 24 Die deutsche Forschung ist hier zurückhaltender, teilweise aufgrund der Tatsache, daß sie mit ihrem fragmentierten Quellenmaterial weniger lange Reihen von Totschlagraten rekonstruieren kann, teilweise aufgrund ihres kulturwissenschaftlichen Profils. Wer »Gewalt« nicht als einen Mangel an Triebkontrolle versteht, sondern als Ausdruck eines alternativen sozialen Codes der Ehre (Burghartz 1989: 406), wird auch einen möglichen Rückgang an Gewaltdelikten nicht einfach als Dämpfung der Affekte deuten können. Darüber hinaus wächst die Skepsis gegenüber der historischen Aussagekraft der Zivilisationstheorie (vgl. Schwerhoff 1998: vor allem 581ff.; Dinges 1998a). Hinter den bisher diskutierten Problemen ist die Beschäftigung der Forschung mit dem ›klassischen‹ Kernbereich der Kriminalität, der Raub- und Eigentumsdelinquenz zwar ein wenig zurückgetreten; eine Reihe neuerer Arbeiten zeugen aber von lebendiger wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit einem Thema, das die Phantasie von Zeitgenossen wie Nachgeborenen ausgiebig beschäftigt hat. 25 Einen hervorragenden Einstieg in das Thema vermittelt ein Ausstellungskatalog des Badischen Landesmuseums (Siebenmorgen 1995); neben wichtigen systematischen Analysen des historischen Phänomens ›Räuberbande‹ und seiner Rezeptionsgeschichte finden sich hier Regionalstudien über einzelne süddeutsche Banditen und Banden. Jenseits von Romantisierung und Verteufelung entsteht so ein farbiges Bild vom Leben eines Hannikel (†1787) oder eines Johannes Bückler, gen. Schinderhannes (†1803), der schon von den Zeitgenossen als Prototyp des gewalttätigen, aber von sozialem Engagement nicht freien Räuberhauptmanns imaginiert wurde, und der dieses Bild zeitweilig zu instrumentalisieren 23 Zur Veränderung der Balance zwischen männlichem Ehrcode und städtischem Frieden in Zürich im 15. und 16. Jahrhundert jetzt Pohl (1999). 24 Einer der letzten Aufsätze von Spierenburg (1996) befindet sich in einem Sammelband mit dem programmatischen Titel »The Civilization of Crime«, dessen Herausgeber in der Einleitung emphatisch die Elias-Perspektive akzentuieren (Johnson/ Monkhonen 1996: 4). 25 Neben den im Text genannten Arbeiten ist hier vor allem zu verweisen auf Schubert (1983); Kappl (1984); Finzsch (1990); sowie die Aufsätze von Esch (1987) und Mandl-Neumann (1988). Gerd Schwerhoff 40 verstand; umgekehrt wurde Georg Philipp Lang, gen. Hölzerlips (†1812), von der Obrigkeit aus dem Bedürfnis heraus, einen Rädelsführer vorweisen zu wollen, zum Hauptmann der sog. Odenwaldbande stilisiert. Die neuere Räuberforschung in Deutschland setzte mit der Monographie von Carsten Küther 1976 ein, deren Fluchtpunkt letztlich auch eine romantische Fiktion war: Er suchte im Anschluß an Eric Hobsbawms These von den »Sozialrebellen« das Tun der deutschen Räuberbanden als primitive Form des sozialen Protestes zu deuten (Küther 1976: 145f.). Uwe Danker hat diese These einer eingehenden Kritik unterworfen und sie als unhaltbar erwiesen, mochten auch Hannikel oder Schinderhannes durch Überfälle auf Landjuden bisweilen populäre antijüdische Ressentiments für sich mobilisieren können. Mit den angeblichen Sympathien der Bevölkerung war es nicht weit her, ebensowenig nahmen die Räuber auf ärmere Leute erkennbar mehr Rücksicht als auf Reiche (Danker 1988: 331ff.). Insofern erscheint Küthers These von einer ›Gegengesellschaft der Landstraße‹ problematisch und überzogen. Schon der Terminus ›Bande‹ suggeriert eine festgefügte Organisationsstruktur, die dem Räuberwesen des Ancien Régime nach übereinstimmender Auskunft aller neuerer Studien abgeht; vielmehr handelte es sich um locker gewebte soziale Beziehungsnetze, die einen harten Kern von allenfalls wenigen Männern aufwiesen; diese fanden sich situativ jeweils neu und in anderer Zusammensetzung zu bestimmten Vorhaben zusammen (vgl. zuletzt Spicker-Beck 1995: 165ff.). Meist war der Aktionsradius regional begrenzt (Blauert 1995: 60). Wenn schon nicht von einer regelrechten Gegengesellschaft, so wird man doch von einer ›kriminellen Subkultur‹ sprechen können, die sich seit dem ausgehenden Mittelalter im Spiegel von Kriminalakten und verwandten Quellen nachweisen läßt. 26 Auf Professionalität deuten die Tricks der Gauner hin, von denen der bekannte Liber Vagatorum (um 1510) berichtet (Jütte 1988) und die sich auch in Geständnissen gefaßter Betrüger finden: präparierte Würfel und gezinkte Karten, falsche Reliquien und vorgetäuschte Krankheiten oder Jenseitsvisionen. Den Umgang mit derlei Hilfsmitteln und die glaubwürdige Präsentation von Lügengeschichten wurde als eine eigene »Kunst« durch Sozialisation im subkulturellen Mileu weitergegeben (Schwerhoff 1994: 18). Robert Jütte (1987; 1988a) hat nicht nur die Tricks der Falschspieler als Anfänge des professionellen Gaunertums an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit beschrieben; darüber hinaus hat er sich mit dem »Rotwelsch«, der Sondersprache des »kochemen« Milieus, beschäftigt, die die Welt in gruppenspezifischer Weise erfasse (Jütte 1988: 125). Davon zu unterscheiden sind untereinander verabredete symbolische Erkennungszeichen von Gruppenmitgliedern oder auch an Objekten angebrachte Kommunikationszeichen (»Zinken«), mit denen Informationen z.B. über bestimmte Häuser und ihre Bewohner ausgetauscht wurden (Spicker-Beck 1995: 100ff.). Individuelle Eigenheiten, jedoch keine eindeutige Gruppenbindung, läßt das - aus Steckbriefen und Gaunerlisten rekonstruierbare - Kleidungsverhalten von Räubern und Vaganten erkennen, (Seidenspinner 1995b) - schließlich versuchten sie sich häufig unauffällig in der Welt der Etablierten zu bewegen und zu behaupten. 26 Natürlich treffen diese Bemerkungen nicht auf alle Täter der Sparte »Eigentums- und Raubkriminalität« zu (zur Typologisierung Wettmann-Jungblut 1990: 154ff.). Ausdrücklich beiseite bleiben müssen hier Diebstähle von Gemeinschaftsmitgliedern (etwa der für das 19. Jahrhundert vieldiskutierte Holzdiebstahl) oder der neuerdings besser untersuchte Gesindediebstahl (Ulbricht 1995a; Rublack 1998: 144ff.); zur generellen Einordnung Dürr (1995). Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 41 Ein hier nur kurz anzusprechendes Sonderproblem im Zusammenhang mit der Raubkriminalität stellen die sog. ›Raubritter‹ - der Terminus ist nicht zeitgenössisch - an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit dar (vgl. U. Andermann 1991; K. Andermann 1997). In den Bestimmungen des ewigen Landfriedens von 1495 fand die von Kirche, Städten und Reich vorangetriebene Kriminalisierung ritterlicher Selbsthilfe und Fehdeführung ihren normativen Abschluß: War vormals unter bestimmten Bedingungen Raub, Mord und Brand als legitimer Fehdebestandteil gesehen worden, so galten diese Dinge nun als üble Verbrechen. In der Praxis beharrten viele Edle allerdings noch mehrere Generationen auf der Legitimität adliger Selbstgewalt, und auch die Sanktionierung durch die Justiz erscheint höchst selektiv. Gewissermaßen als Kümmerform oder Perversion ritterlicher Fehdeführung erscheinen die Aktivitäten der Mordbrenner-Rotten, die im 16. Jahrhundert Deutschland unsicher machten und Angstphantasien nährten. Nach dem Befund südwestdeutscher Kriminalakten waren es vor allem Angehörige nichtseßhafter Unterschichten, insbesondere »gartende«, also herumziehende Landsknechte, die oft im politischen Auftrag mordeten, raubten und brandstifteten, und die dafür grausam gefoltert und gerädert wurden (Spicker-Beck 1995: 114ff.). Der Umgang von Justiz und Obrigkeit mit dem harten Kern von Delinquenz war von dem Bestreben nachhaltiger und konsequenter Repression getragen; es wurde bereits erwähnt, daß es sich beim Löwenanteil der peinlich Gestraften um Räuber und Diebe handelte. Das bedeutet freilich nicht, daß die Mehrzahl aller Räuber und Diebe auf dem Schaffott endete, denn die »Effektivität« der vormodernen Justiz wird auch und gerade auf diesem Gebiet eher skeptisch eingeschätzt (Küther 1984; vgl. Danker 1988 u. Spicker-Beck 1995). Unbestritten kann die gerichtliche Verfolgung von Dieben und Räubern jedoch als die Speerspitze eines allgemeinen Kriminalisierungs- und Marginalisierungsprozesses angesehen werden, der vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Ancien Régime einen immer größeren und heterogeneren Kreis von Menschen erfaßte. 27 Zum einen zeigen sich hier die Auswirkungen sozioökonomischer Krisenphänomene (Bevölkerungsanstieg, Teuerung, Hungerkrisen), die am Ausgang des 16. und vor allem im 18. Jahrhundert viele Menschen sozial entwurzelte. Zum anderen wurde die soziale Ausgrenzung von den Obrigkeiten, nicht zuletzt mit den Mitteln von Kriminalpolitik und Justiz, aktiv betrieben; zur »Formierung einer frühmodernen Gesellschaft« (van Dülmen) gehörte damit gleichsam als negatives Pedant die Ausgrenzung. Pauperisierung und obrigkeitliche Repression konnten so eine unheilvolle Dynamik in Gang setzen. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die Bettelei, letztlich sogar die fahrende Lebensweise insgesamt, das Vagantentum, unter Kriminalitätsverdacht gestellt (vgl. Jütte 1993, 1995, 1995a sowie die Arbeiten von Seidenspinner); eine extreme Spielart dieser Kriminalisierung war die Stigmatisierung der Salzburger Bettler als Mitglieder der »Zauberjackl«-Bande zwischen 1675 und 1690 (Schindler 1992: 258ff.). Als eine ethnisch unterscheidbare Gruppe wurden die umherziehenden Sinti seit ihrem Auftauchen im 15. Jahrhundert besonders argwöhnisch betrachtet, als ›Zigeuner‹ und ›Tartaren‹ diskriminiert und zunehmend mit drakonischen Strafandrohungen belegt (Bott-Bodenhausen 1988; Rheinheimer 1996). Aber auch bei diesen grundsätzlich von einem Grundkonsens der Etablierten getragenen, obrigkeitlichen Repressionsmaßnah- 27 Vgl. als Spezialstudien z.B. Schott (1978); Schubert (1983); Nagel (1986). Einführend Roeck (1993); Hergemöller (1994); von Hippel (1995); Schubert (1995). Vgl. ferner den Forschungsbericht von Rexroth (1995). Gerd Schwerhoff 42 men gegen Randgruppen, wurden die repressiven Normen nur sehr selektiv umgesetzt. Dagegen standen zahlreiche Kontakte zwischen Landbevölkerung und fahrenden Sinti, und dagegen stand die Schwerfälligkeit des vormoderen Justizapparates, der die schweren Strafen flächendeckend weder vollstrecken konnte noch wollte. So kommentierte ein anonymer Lippischer Schreiber 1771, es sei bekannt, daß die Edikte gegen die ›Zigeuner‹ mehr zum schrekken, als im ernst, und in der Absicht sie also buchstäblich zu vollziehen, gegeben worden; nirgendwo in Deutschland kämen derartige Bestimmungen zur würklichen ausübung (zit. n. Frank 1988: 116). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die Diener der Obrigkeit und Träger der strafrechtlichen Verfolgung gewöhnlich ebenfalls unter die Randgruppen gezählt werden. Geradezu sprichwörtlich ist die ›Unehrlichkeit‹ der Scharfrichter. Ihre Sozialgeschichte ist durch neuere Arbeiten erschlossen worden (Wilbertz 1976; Stuart 1990; Nowosadtko 1994; Scheffknecht 1995). Die Untersuchungen von Wilbertz und Nowosadtko haben das alte Klischee vom verachteten Henker stark in Frage gestellt und z.B. Berufsvererbung weniger als Zeichen gesellschaftlicher Stigmatisierung denn als erfolgreiche Monopolisierung einer lukrativen Tätigkeit gedeutet. Dringender Untersuchung bedürfen die frühmodernen ›Polizeikräfte‹, die Gerichtsdiener und Büttel, die ebenfalls zu den sozial deklassierten Gruppen der Gesellschaft zählten (Nowosadtko 1995; Bendlage/ Schuster 1995). 7. Kriminalität und Geschlecht Mit Blick auf die Geschlechtergeschichte und die Sozialgeschichte der Kriminalität diagnostizierte Otto Ulbricht (Einleitung zu 1995: 4) vor kurzem, hier würden »zwei dynamische Richtungen in der Geschichtswissenschaft« konvergieren. In der Tat: Eine moderne Kriminalitätsforschung kommt ohne die Einbeziehung der Kategorie »Geschlecht« nicht aus, wie u.a. wichtige Monographien (Gleixner 1994; Rublack 1998) 28 , ein Handbuch über ›Frauen in der Geschichte des Rechts‹ mit mehreren Beiträgen über ›Frauen im Strafrecht und -prozeß der frühen Neuzeit‹ (Gerhard 1997), ein einschlägiger Sammelband (Ulbricht 1995) sowie Aufsätze über »Frauen vor Gericht« in spätmittelalterlichen Städten (Burghartz 1991 und Malamud 1995; Wernicke 1995) belegen. Umgekehrt hat die Geschlechtergeschichte Gerichtsakten schon seit geraumer Zeit als zentrale Quellengruppe entdeckt (vgl. z.B. Alfing/ Schedensack 1994) und kriminalhistorische Themenfelder für die eigenen Fragestellungen adaptiert. Aber auch Vorbehalte gegen den unkritischen Umgang mit Kriminalstatistiken und gegen simplifizierende Erklärungsansätze der »weiblichen Kriminalität« sind von der »gender history« formuliert worden (vg. vor allem Wunder 1995; Ulbrich 1995, 1995a; Burghartz 1995). Fragwürdig erscheinen sowohl der Befund einer anscheinend durchgängig niedrigen Frauenkriminalität (vgl. den Überblick bei Jütte 1991a) als auch Erklärungen, die vorschnell die »weibliche Natur« ins Spiel bringen, gleich, ob es sich dabei um die angebliche »Schwäche« oder »Friedfertigkeit« der Frau handelt. Gewarnt wird vor einem »Umschlag von Quantitäten in Qualitäten« (Wunder 1995: 41), gefordert die intensive Erforschungen der institutionellen Selektionsmechanismen, die für die geringere Präsenz 28 Zu nennen sind hier auch die bisher ungedrucken Dissertationen von Andrea Griesebner und Monika Mommertz, vgl. dazu ihren Beitrag im vorliegenden Band. Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 43 von Frauen vor den Gerichten verantwortlich zeichneten, und die Berücksichtigung der zugrundeliegenden Geschlechtsstereotype. Von daher wird verständlich, daß gerade geschlechtergeschichtlich interessierte Forscherinnen für eine Ausweitung der Deliktperspektive über den Bereich der klassischen Schwerkriminalität hinaus auf die petty crimes, für eine Einbeziehung der vor- und niedergerichtlichen Ebene und damit für den »mikrohistorischen Blick« auf die dörfliche Delinquenz plädieren (Ulbrich 1995a: 301; vgl. auch Peters 1995b; ferner Dettlaff 1989). Die Untersuchung von Joy Wiltenburg (1995) über das in frühneuzeitlichen Flugschriften gezeichnete Bild »mörderischer« Frauen, das vom Aktenbefund signifikant abweicht, weitet den Blick sogar über die Kriminalquellen im engeren Sinn hinaus. Eine quantitative Analyse der »Schwerkriminalität« vermag jedoch durchaus einen Ansatzpunkt zur Erhellung von Geschlechterstereotypen, weiblichen Handlungsräumen und Lebenswelten zu bieten. So fand Wolfgang Behringer in Kurbayern im 17. Jahrhundert einen überraschend hohen Frauenanteil von ca. 30% unter den Delinquenten, den er vor allem im Bereich der Sitten- und Religionsdelikte (Unzucht, Konkubinat, Hexerei etc.) verortet. Ein Rückgang des Frauenanteils in der Folgezeit sei zunächst durch die »Herabstufung« der Leichtfertigkeitsdelikte auf die Landgerichtsebene zu erklären, d.h., sie wurden nicht mehr zentral vom überlasteten Hofrat bearbeitet und fließen so nicht mehr in die retrospektive Kriminalstatistik ein. Im 18. Jahrhundert kam es dann aufgrund intensiver Debatten für die Delikte Hexerei, Kindsmord und Leichtfertigkeit zu einer Entkriminalisierungstendenz, hinter der sich ein grundlegender Wandel des Frauenstereotyps verbirgt: Von den durch den Sündenfall biologisch zum Verbrechen prädestinierten Täterinnen zu »reinen« Opfern gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch die Rechtsprechung in besonderem Maße in Schutz genommen werden sollten (Behringer 1995: 79). Wollte man diesen Diskurs über weibliche Kriminalität - grob typisierend - bis in die Gegenwart verlängern, so könnte man sagen, daß bis vor wenigen Jahren, auch in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, die ›Opferthese‹ dominant blieb. Erst eine Geschlechter- und Kriminalitätsgeschichte, die im Zuge der ›new cultural history‹ mit ihrer Hinwendung zu den historischen Subjekten deren Handlungsspielräume auslotet, bringt die Frau dann auch wieder als Täterin in den Blick, wie ein verstärktes auch historisches Interesse an »Frauen, die töten« (so ein Buchtitel von Ann Jones 1985) belegen kann. So wurde der Gattenmord in der Frühen Neuzeit verstärkt zum Forschungsgegenstand (Göttsch 1995; Rublack 1998: 315ff.; auch Nolde 1996). Seit jeher auf großes öffentliches Interesse durfte ›das‹ - neben der Hexerei - klassische Frauendelikt, der Kindsmord stoßen; die Forschungsaktivitäten der letzten Jahre brachten auch hier reiche Erträge. Wir wissen inzwischen mehr über die eigenartige Hochkonjunktur dieses Verbrechens zwischen dem späten 16. und der ersten Hälfe des 18. Jahrhunderts, als die Kindsmörderinnen relativ gesehen die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Hingerichteten ausmachten. Aber auch die sozialen Umstände und die individuellen Tatmotive wurden intensiv ausgeleuchtet. 29 Diskutiert wurden auch verstärkt die »Alternativen« zur Kindestötung (Meumann 1995; speziell zur Abtreibung vgl. Stukenbrock 1993 bzw. die einschlägigen Kapitel bei Jütte 1993a). Gut läßt sich am Beispiel des Kindsmordes für das 18. Jahrhundert die zeitgenössische Debatte 29 Vgl. Valentinitsch (1988); Ulbricht (1990, 1992, 1993); van Dülmen (1991); Zimmermann (1991); Lesemann (1994: 127ff.); Meumann 1995; Hammer (1997); Maisch 1997; Rublack (1998: 238ff.) Gerd Schwerhoff 44 um angemessene Strafen und Verbrechensprävention exemplarisch nachvollziehen (Ulbricht 1990: 217ff.). Dabei kamen die stärksten Impulse zur Milderung des Strafsystems jedoch nicht von den Zentralbehörden und Obergerichten, sondern von den unteren Kriminalgerichten und den Amtmännern, die mit den Lebensumständen der Betroffenen vertraut waren (ebd. 403) - eine Aufklärung ›von unten‹ also! Was die vielen anderen, hier einschlägigen Themen der Forschung angeht, so müssen summarische Hinweise an dieser Stelle genügen. 30 Auf dem weitläufigen Feld der Sittendelinquenz prosperierten vor allem die Forschungen zur vorehelichen Sexualität und Illegitimität, sicher auch deshalb, weil sich hier zwanglos Anschlüsse zur historischen Demographie und zur Familienforschung ergeben (vgl. Becker 1990; Maisch 1992: 294ff.). Zu nennen ist hier vor allem die an Rainer Beck (1983) anschließende Studie von Stefan Breit (1991) über das Delikt der »Leichtfertigkeit« in der frühneuzeitlichen Gesellschaft Bayerns. Er konnte einerseits zeigen, wie sehr diese Leichtfertigkeit im Kontext der dörflichen Eheanbahnung stand; die öffentliche Meinung im Dorf teilte demzufolge die radikale Stigmatisierung durch die obrigkeitlichen und kirchlichen Normen keineswegs. Andererseits erfolgte die Wahl des »Leichtfertigkeitspartners« nicht zufällig, sondern hielt sich meist an die ökonomisch determinierten Regeln des ländlichen Erb- und Heiratssystems. Während also hier die gesellschaftliche Bewertung illegitimer Schwangerschaften vor allem von der ökonomischen Situation abhängig war, und die Dorfgemeinde ansonsten eher als monolithischer Block den Obrigkeiten gegenüberzustehen scheint, entwirft Ulrike Gleixner (1994) für die Unzuchtsverfahren in altmärkischen Dörfern, wo die Eheanbahnung eher die Ausnahme als die Regel war, ein anderes Bild. Je unterschiedliche Interessen und Darstellungsstrategien von Frauen und Männern vor Gericht ensprechen der geschlechtsspezifischen Beurteilung der »Unzucht« durch die Richter. Die entsprechenden Verfahren gewinnen so den Charakter einer Arena zum Konfliktaustrag zwischen den Geschlechtern. Von einer Waffengleichheit zwischen Männern und Frauen vor der Justiz konnte dabei allerdings keine Rede sein, im Gegenteil: Aufgrund einer »Asymetrie der Verhaltensnormen« (ebd. 116) wurde fast ausschließlich über den Körper der Frau und über ihre Geschlechtsehre verhandelt, was ihre Handlungschancen deutlich einschränkte. Nicht nur das Feld der vorehelichen Sexualität bzw. Konzeption, auch andere Bereiche der Sittendelinquenz hat die Forschung als Konfliktfelder zwischen den Geschlechtern herausgestellt. 31 Gerichtsprotokolle geben z. B. Einblicke in Motive und Austragsformen von innerehelichen Konflikten (vgl. mit knappem Forschungsbericht und Quellenbeispielen Ulbricht 1996), die nicht selten in brutaler Gewaltanwendung von Männern gegenüber ihren Ehefrauen gipfelten. Die Bewertung des rechtlichen Konfliktaustrags in der Forschung ist trotzdem uneinheitlich. Außer Frage steht, daß dem Mann als Hausvater ein legitimes Züchtigungsrecht zugestanden wurde, und daß die obrigkeitlichen Normen eher auf eine Einschränkung weiblicher Handlungsoptionen zielten. Während die einen jedoch diese Ziele akzentuieren, den Charakter der Ehe als unauflösliches Gewaltverhältnis betonen (z.B. Hohkamp 1995: 302; Rublack 1998: 277; vgl. dies. 1997) und für die Frauen nur in Ausnahmefällen Chancen der Gegenwehr qua 30 Vgl. neben den genannten kritischen Forschungsüberblicken Ulbricht (1994a) und die Einleitung zu Ulbricht (1995: 1 - 37); speziell zum Komplex Geschlecht und Ehre zuletzt Dinges (1998b). 31 Vgl. die Forschungen von Roper (1989: 164ff.); Beck (1992); Habermas (1992); Hohkamp (1995); Schmidt (1995: 246ff.); Konersmann (1996: 309 ff.); Rublack (1998: 273ff.) Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 45 Recht sehen, vertreten die anderen eine optimistischere Sicht. So konnten die Frankfurterinnen im 18. Jahrhundert - durchaus als »objektiv Unterlegene im Kampf der Geschlechter« - nach den Worten von Rebekka Habermas die Gerichte benutzen, »um sich just gegen diese geschlechtsspezifische Unterlegenheit zur Wehr zu setzen« (Habermas 1992: 135; vgl. für das Spätmittelalter Plaß 1990). Und Heinrich Richard Schmidt spricht explizit von einem »Bündnis« zwischen Frau und Gericht zur »Domestizierung« des Mannes: Zwar hätten die Berner Chorrichter eigentlich die Hausherrschaft des Mannes sichern und stabilisieren wollen. Die Ehekonflikte hätten aber die Brüchigkeit dieser Herrschaft an den Tag gebracht und das Gericht zur Intervention in den »Immunitätsbezirk« des Hauses veranlaßt, um männliches Fehlverhalten wie Trunkenheit, schlechte Haushaltung und ›übertriebene‹ Gewaltanwendung zu sanktionieren (Schmidt 1995: 284; vgl. ders. in Dinges 1998). Als ein spezieller Aspekt der Sittendelinquenz läßt sich auch die Geschichte der Prostitution verstehen, die durch die - unabhängig voneinander entstandenen - Arbeiten von Peter Schuster (1992; 1993) und Beate Schuster (1995; 1996) erschlossen wurde. Wie die Existenz städtischer Frauenhäuser im späten Mittelalter zeigt, war die Prostitution nicht von vornherein Objekt strafrechtlicher Ausgrenzung. Doch deuten zahlreiche Marginalisierungstendenzen am Ausgang des Mittelalters (etwa Ghettoisierung und Kleiderordnungen) auf eine Verschärfung der obrigkeitlichen »Moralpolitik« (Simon) hin und bereiten den Boden für rigidere Verbote gegen Prostitution und für die Schließung der Frauenhäuser im Zeitalter der Reformation; neuerdings hat Beate Schuster (1998) die allmähliche Kriminalisierung des Dirnenwesens als komplexes Zusammenspiel zwischen den informellen Normen der städtischen Bevölkerung und der Politik der städtischen Räte beschrieben. Das Verbot der Prostitution ging mit einer verschärften Ausgrenzung aller Formen weiblichen Nonkonformismus einher; in bewußter Unschärfe traf das Hurereiverdikt alle nicht exakt den sexuellen Verhaltenserwartungen entsprechenden Frauen. Neben den »klassischen« Frauendelikten Hexerei und Kindsmord und neben dem Feld der Sittendelikte haben sich die Forschungen zur weiblichen Kriminalität inzwischen mehr und mehr auch Delikten zugewandt, bei denen Frauen eher unterrepräsentiert sind. Thematisiert wird etwa die Rolle von Frauen unter den Vaganten (Kienitz 1989; Scheffknecht 1991) oder in Räuberbanden; dort reproduzierten sich z.T. allgemeine gesellschaftliche Wert- und Moralvorstellungen, z.T. eröffneten sich eigene geschlechtsspezifische Handlungsräume (Machnicki 1995). Daß eine Frau im 18. Jahrhundert als »Kopf und Herz« einer Diebesbande fungieren konnte, hat Andreas Blauert (1993a) am Beispiel der im Bodenseeraum agierenden Gruppe um die ›Alte Lisel‹ Elsabetha Frommerin anschaulich dargelegt. Wichtiger noch als diese Erweiterung unseres Wissens über die weibliche Kriminalität ist der grundlegende Perspektivenwandel, den die »gender-history« einfordert: Die Kategorie »Geschlecht« ernstzunehmen bedeutet eben auch, die Männerspezifik bestimmter Formen von Delinquenz herauszuarbeiten. 32 Damit sind nicht nur offensichtliche Männerdelikte wie z.B. abweichende sexuelle Orientierungen und Praktiken - als »Sodomiterei« wurde in der Vormoderne sowohl gleichgeschlechtliches Verhalten (vgl. Schneider-Lastin/ Puff 1993; Hergemöller 1998; Puff 1998) wie »Bestialität« (Wegert 1994: 187ff.) bestraft - 32 Aussagekräftig sind natürlich auch jene Grenzfälle von ›Frauen in Männerkleidern‹, die von der neueren Forschung besonders beachtet worden sind (vgl. z.B. Simon-Muscheid 1995). Gerd Schwerhoff 46 gemeint 33 , sondern auch jene massenhaft auftretenden Formen der Kriminalität, die bisher nicht in erster Linie unter dem Geschlechteraspekt analysiert wurden; ein Beispiel wäre hier etwa die Geschichte der Gewaltdelinquenz, wo zunehmend deutlicher der Zusammenhang zwischen physischer Gewalt und männlichem Habitus (Rath 1996: 69; vgl. oben Abschnitt 6) herausgearbeitet wird. 8. Kriminalität und gesellschaftliche Entwicklung Das genuine Metier des Historikers ist der historische Wandel. Die Frage nach der Veränderung der Delinquenz durch die Jahrhunderte und nach dem Zusammenhang dieser Veränderung mit Wandlungsprozessen in anderen Teilbereichen der Gesellschaft ist deshalb ebenso virulent wie schwierig zu beantworten. Daß ihre Bearbeitung durch das kulturgeschichtliche Profil der neueren Kriminalitätsgeschichte und durch die wachsende Skepsis gegenüber statistischen Längsschnitten nicht einfacher geworden ist, wurde bereits angedeutet. Außerdem, und diese paradoxe Erfahrung teilt die Kriminalitätsgeschichte mit anderen Forschungsfeldern, wächst mit der Zahl der Forschungen die Komplexität der empirischen Befunde ebenso wie die der möglichen Erklärungen. Als französische Forscher in den 60er Jahren auf schmaler Quellengrundlage das sog. »violence-au-vol-Paradigma« aus der Taufe hoben, das einen säkularen Trend von der Gewaltzur Eigentumskriminalität behauptete, ordnete sich dieses Ergebnis gleichsam von selbst in den Wandel vom Feudalismus zum Kapitalismus ein. Inzwischen werden jedoch einige dicke Fragezeichen hinter diese These gesetzt (Schwerhoff 1991: 344ff.). Sie beziehen sich z.B. auf die impliziten Prämissen dieser These, die von einer Höherbewertung des Eigentums im Zeitalter der bürgerlichen Gesellschaft ausgeht. Tatsächlich war jedoch das Gegenteil der Fall, gerade in der stets unter knappen Ressourcen leidenden vormodernen Gesellschaft war der Schutz des Eigentums ein hohes Gut. Auch die verfügbaren statistischen Daten sprechen keineswegs eine einheitliche Sprache. Wettmann-Jungbluts Langzeitstudie über Freiburg i. Br. (1997: Kap. II.1) läßt die Variabilität der Zahlen z.T. als Ergebnis institutioneller Selektionen erscheinen. Eine Proskriptionsliste aus dem 14. Jahrhundert enthält überhaupt keinen Diebstahl, weil dieser vor einer anderen Gerichtsinstanz verhandelt wurde. Im 16. und 17. Jahrhundert dominiert vor dem Hochgericht die Eigentumskriminalität mit fast 50%; eine stichprobenartige Einbeziehung des städtischen Frevelgerichtes für die Jahre 1568 - 70 dagegen verkehrt das Verhältnis zwischen Vergehen gegen Personen (56%) und gegen Eigentum (5,3%) wieder in sein Gegenteil. In der Folge, nach dem Dreißigjährigen Krieg, scheinen sich die Kriminalitätsanteile in der Stadt tatsächlich verändert zu haben. Dabei ist zunächst die rasante Zunahme der Unzuchtsdelikte zu erwähnen, die sich nicht nur hier (vgl. Behringer 1990) für lange Zeit als drittes großes Segment der Delinquenz etablierte. Daneben wurde dann tatsächlich das späte 18. Jahrhundert zur klassischen Epoche des (vornehmlich geringfügigen) Diebstahls, Ergebnis der allgemeinen wirtschaftlichen Misere und der wachsenden Armut breiter Bevölkerungsschichten. Die »moderne« badische Kriminalstatistik weist jedoch dann wieder bis zur 33 Ein anderes Beispiel wären etwa jene inzestuösen Vergewaltiger im frühneuzeitlichen Württemberg, denen Rublack (1995) eine eigene Studie widmet; vgl. weiter einige der Beiträge in Dinges (1998) und Schmale (1998). Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 47 Mitte des 19. Jahrhunderts eine ungefähre Balance zwischen Vergehen gegen das Eigentum und solchen gegen Personen aus, die die Nachhaltigkeit dieses Befundes zweifelhaft erscheinen lassen. Insgesamt ist die »violence-au-vol-These« für den deutschen Südwesten nicht zu verifizieren (Wettmann-Jungblut 1997: 581; vgl. ders. 1996, 1997a). Aus einem anderen Blickwinkel erscheint der Umgang mit Eigentumskriminalität durch die Jahrhunderte wiederum erstaunlich konstant. Für Bayern, so diagnostiziert Wolfgang Behringer (1990, 126), nehmen Eigentumsdelikte sowohl im 16., 17. wie im 18. Jahrhundert unter den mit Todesstrafen sanktionierten Vergehen einen Anteil von ungefähr zwei Dritteln ein. 34 Die Suche nach langfristigen Entwicklungstrends bei Kriminalitätsraten und Deliktfrequenzen gestaltet sich also schwierig. Vielleicht lassen sich Wandlungsprozesse für den Bereich der obrigkeitlichen Sanktionierung besser erfassen. Hier kämen zunächst die Veränderungen des Strafverfahrens selbst in Betracht: Themen wie die Herausbildung des Inquisitionsverfahrens im Spätmittelalter oder Wandlungen in Theorie und Praxis des Foltereinsatzes gehören zu den klassischen Arbeitsfeldern der Rechtsgeschichte. Sie sollen hier nicht weiter vertieft werden, obwohl neuere Arbeiten scheinbar gesichertes Wissen in Frage gestellt und zukünftige Forschungen angemahnt haben (z. B. Langbein 1977; Roeck 1993a; Jerouschek 1994; Regge 1997). Noch wenig erforscht sind darüber hinaus die dem eigentlichen Strafverfahren vorgelagerten Praktiken der Kriminalitätsverfolgung, die ebenfalls auf mögliche Effektivierungstendenzen zu befragen wären. Wie gestaltete sich z.B. der Informationsaustausch über Straftaten und -täter zwischen den Obrigkeiten des Ancien Régimes? Steckbriefartige Beschreibungen von Räubern und Dieben finden sich schon in spätmittelalterlichen Quellen (vgl. Nicklis 1992); im 18. Jahrundert dann wurden in Gestalt der sog. Gauner- und Diebeslisten regelrechte Steckbriefsammlungen erstellt (Blauert 1995). Aber wurden sie auch systematisch genutzt? Ein weiteres Instrument zur obrigkeitlichen Kontrolle und zur Verbrechensverfolgung waren jene Straßenreiter und Streifen, mit denen der frühmoderne Territorialstaat Jagd auf Vagierende und Kriminelle zu machen versuchte; auch der Erfolg dieser Maßnahmen ist in der modernen Forschung umstritten (vgl. Nitschke 1988; Danker 1988: 405ff.; Seidenspinner 1995a/ b, 1998). Die weitläufigen und im ganzen erfolgreichen Ermittlungsverfahren gegen drei von Uwe Danker exemplarisch analysierte Räuber- und Einbrecherbanden an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert scheinen jedenfalls auf eine gewisse neue Qualität der Kriminalitätsbekämpfung hinzuweisen. Bezeichnend erscheint etwa, daß der Hauptermittler gegen eine Bande zumeist jüdischer Räuber in Sachsen-Coburg, der »Cammer-Consulent« Paul Nicol Einert, nicht nur verbissen die Aufklärung eines spektakulären Einbruchs in Coburg betrieb, sondern Berichte über die Fahndungsaktionen zusammen mit den entsprechenden Kriminalakten mehrfach in Druck gab (Danker 1988: 43ff.); derlei ›aktenmäßige Berichte‹ entwickeln sich im 18. Jahrhundert geradezu zu einem eigenen Quellengenre. Hauptindikator für veränderte obrigkeitliche Strafkonzeptionen bleiben natürlich die tatsächlich verhängten Sanktionen. Als Ausgangshypothese könnte die von Lenman und Parker entwickelte These der allmählichen Ablösung einer eher restituiv orientierten durch eine punitive und repressive Justiz dienen. Anzeichen für eine »Aus- 34 Dabei kann die Kriminalstatistik je nach Strafinstanz, Zeit und Raum ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen; so konstatiert Frank (1995: 346) für Lippe im 18. Jahrhundert einen parallelen Rückgang von Gewalt- und Eigentumsdelikten zugunsten von Ordnungsdelikten. Gerd Schwerhoff 48 weitung des öffentlichen Strafanspruches« fand Peter Schuster für das Konstanzer Niedergericht schon im 15. Jahrhundert. Begrifflich mutiert die »Buße« immer mehr zur »Strafe«; sachlich ging die Zahl der Kläger zurück, komplementär dazu stieg diejenige der Offizialdelikte. Erklärungen findet Schuster in einer Intensivierung des Selbstverständnisses des Rates als »Herrschaft« ebenso wie in einem möglichen Versagen »privater Regulierungstechniken« (Schuster 1997: Kap. III.2). Die Ergebnisse von Andreas Blauerts Studie zu den südwestdeutschen Urfehden zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert, die quantifizierende und typologische Zugriffe verbindet, erlauben eine langfristigere Betrachtung. In der Entwicklung der Urfehde spiegele sich, so Blauert, der Weg vom ›mittelalterlichen Rechtspflegestaat‹ zum ›souverän gewordenen Obrigkeitsstaat‹ (Ernst Schubert). Einem formalen Wandel der Quelle vom Urfehdebrief hin zum - nicht mehr als Einzelurkunde ausgefertigten und nurmehr in Amtsbüchern registrierten - Urfehdeprotokoll habe ein inhaltlicher Entwicklungsprozeß von der Aussöhnung zur Ausgrenzung entsprochen. Die Ursprünge der Urfehde liegen im Fehde- und Sühnevertragswesen spätmittelalterlicher Städte; sie dienen der beschworenen Beendigung der Feindschaft, in der Regel zwischen einer Stadt und ihren adligen Gegnern. Schnell gewann die Urfehde aber auch im Inneren der Stadt eine wichtige Funktion, nämlich als Hafturfehde von Gesetzesübertretern, die wegen aller möglicher Spielarten von innerstädtischer Gewalt und Friedensbruch verhaftet wurden, und die vor ihrer Entlassung Racheverzicht beschwören mußten. Die entstehende öffentliche Strafgewalt der Städte glaubte sich immerhin noch auf die eidliche Selbstbindung der Untertanen angewiesen. Nachdem der entstehende Territorialstaat dieses Sicherungsmittel zunächst übernommen hatte, glaubte er im Verlauf der Frühen Neuzeit mit wachsender Souveränität zunehmend darauf verzichten zu können. Wo die Urfehde beibehalten wurde, ging sie eine organische Verbindung mit dem Stadt- oder Landesverweis ein und mutierte zum »Aufenthaltsverbotsschwur«, wurde also selbst zum Strafmittel. Natürlich liegt der Einwand nahe, daß sich hinter der Veränderung von Gestalt und Inhalt des Urfehdewesens nicht unbedingt ein fundamentaler Wandel der obrigkeitlichen Kontrolle verbergen muß. Daß die späteren Urfehden andere, strafende Zwecke verfolgten und andere Personen trafen, muß nicht bedeuten, daß die durch Ausgleich geregelten Konflikte ganz verschwunden wären; vielleicht wurden sie einfach anders institutionell »bearbeitet«. Dennoch fügt sich Blauerts Untersuchung in das Bild von der Zunahme ausgrenzender Strafen, die vornehmlich die Unterschichten trafen, im Verlauf der Frühen Neuzeit ein. Die Ausgrenzungsstrategien waren dabei so vielfältig wie die möglichen Sanktionen (vgl. für einen neueren Überblick Schnabel-Schüle 1997: 124ff.). Mit Ausgrenzung kann die physische Entfernung des Delinquenten aus dem betreffenden Territorium gemeint sein (Schnabel-Schüle 1995), im Extremfall sogar seine Verschickung zum Galeerendienst (Schlosser 1986), ebenso wie seine Stigmatisierung durch Prügel (Sievers 1976) oder durch »bloße« Ehrenstrafen, denen gegenüber im Verlauf der Frühen Neuzeit eine wachsende Sensibilität zu konstatieren ist (Schwerhoff 1993). Langfristig wurde diese Ausgrenzung natürlich auch im Reich durch Einsperrung zunächst ergänzt und dann abgelöst. Im Gefolge der bekannten Thesen von Foucault sind Gefängnisse, präziser: Zucht- und Arbeitshäuser, auch in der deutschsprachigen Forschung behandelt worden (vgl. Steckl 1978; Stier 1988; Fuhl 1988; Finzsch 1990a; Eisenbach 1994). Dennoch gibt es keineswegs ein Überangebot an sorgfältig gearbeiteten Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 49 Mikrostudien, wie sie Michael Frank für das Detmolder Zuchthaus im 18. Jahrhundert vorgelegt hat. Wichtig sind hier z.B. quantitative Angaben zur Insassenstruktur (Frank 1992: 288ff.; vgl. Stier 1988: 78ff.; Steckl 1978: 181ff.). Unter den Züchtlingen in Detmold machten Diebe, die vornehmlich der Unterschicht entstammten, alleine über 40% aus. Daß ihre Zahl während der Teuerungskrise zu Beginn der 1770er Jahre besonders hoch war, zeugt davon, daß Diebstahl oftmals als letztes Mittel zur alltäglichen Subsistenzsicherung diente; die Obrigkeit reagierte auf den Anstieg der Kriminalität in dieser Phase mit schärferen Sanktionen, d.h. mit längeren Freiheitsstrafen. An den Delikten gegen die Moral, die insgesamt immerhin einen Anteil von knapp 30% ausmachten, partizipierten auch die Mittel- und Oberschichten; die Obrigkeit scheute sich also nicht, auch den vermögenden Vollmeier wegen Alkoholismus oder Ehebruchs in die Zuchtanstalt einzuweisen. In gewisser Weise können diese »totalen« Institutionen (Erving Goffmann) als das Mittel der Sozialdisziplinierung par excellence beschrieben werden: Es wurde angestrebt, die Zöglinge in einen rigiden Zeitplan einzupassen, sie räumlich zu isolieren und zu überwachen, sie schließlich durch knapp bemessene Nahrung und harte körperliche Arbeit, flankiert von religiöser Unterweisung, zu disziplinieren und zu »bessern« (Steckl 1986). In der Praxis aber wurde dieses Programm durch vielerlei Probleme und Mängel in Frage gestellt. Ebenso wie die Lippische Anstalt litten die meisten anderen im 18. Jahrhundert unter ihrer Multifunktionalität und ihrer Rolle als »sozialpolitisches Allheilmittel« (Frank 1992: 277); sie dienten nicht nur als Gefängnis, sondern auch als Arbeitshaus, Altenheim, Erziehungsanstalt für unbotmäßige Kinder sowie als Kranken- und Irrenhaus. Ein innerer Widerspruch bestand auch zwischen dem Anspruch auf planmäßige Disziplinierung, Erziehung und Besserung einerseits und dem Zwang zur Wirtschaftlichkeit, der zur rücksichtslosen Ausbeutung der Arbeitskraft der Insassen andererseits führte (ebd. 284). Schließlich wurde der Besserungsgedanke schon damals durch die Stigmatisierung der Zuchthausinsassen ad absurdum geführt; der Aufenthalt in der Anstalt führte zu einem nachhaltigen gesellschaftlichen Ehrverlust. Die Schwierigkeit, das Gefängnis in ein dichotomisches Modell einzufügen, das zwischen ›punitiven‹ und ›restituiven‹ Sanktionen unterscheidet, verweist auf das übergeordnete Problem, eindeutige qualitative Entwicklungstendenzen des Strafsystems zu rekonstruieren. Natürlich löst sich das alte Kompositionensystem germanischer Prägung, in dessen Mittelpunkt Bußzahlung bzw. -leistung stand, im Verlauf der Frühen Neuzeit auf, ein Prozeß, der nirgendwo so deutlich abgelesen werden kann wie am - allerdings sehr allmählichen! - Verschwinden der Totschlagsbuße. Und umgekehrt erreichte die Zahl der Hinrichtungen im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert wohl ihren absoluten Höhepunkt, wenngleich die Todesstrafen im Spektrum der Sanktionierung insgesamt einen geringen Prozentsatz einnahmen. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verringerten sich aber überall im Reich auch die Hinrichtungszahlen, nachdem man zuvor schon immer mehr auf die grausamsten Exekutionsformen wie Rädern oder Lebendigbegraben verzichtet hatte, und auch nachhaltige Körperstrafen immer mehr obsolet wurden (z.B. Plaum 1990; zusammenfassend Evans 1996: 41ff.). Dabei handelte es sich nicht um eine vorweggenommene prinzipielle Delegitimierung der Todesstrafe, wie allein die nun um so sorgfältiger zelebrierten Hinrichtungsrituale des späten Ancien Régime zeigen. 35 Offenbar kam es aber in der Praxis zu einer gewissen Beschneidung bei den extremsten punitiven Sanktionsformen. Gerd Schwerhoff 50 Wandlungsphänomene werden zumeist nicht einfach aus den Quellen deduziert, sondern beziehen sich in der Regel auf einschlägige Modelle historischer Entwicklung. In der deutschsprachigen Forschung wird - neben dem Prozeß der Rationalisierung (Max Weber) und dem der Zivilisierung (Norbert Elias) - an das von Gerhard Oestreich geprägte Stichwort von der »Sozialdisziplinierung« angeknüpft (zuletzt Reinhard 1997). Der Verfassungshistoriker wollte diesen Fundamentalprozeß nicht lediglich auf einen politisch-administrativen Wandel beschränkt sehen, der nur einen begrenzten Rahmen von Institutionen und gesellschaftlichen Eliten prägte, sondern postulierte eine alle Gruppen, Schichten und Stände umfassende Mentalitätsveränderung. Diese Veränderung stand freilich, so Oestreich, in engem Zusammenhang mit der Ausbildung des werdenden Staates, der mit seinen Organen und seinen Normen, etwa den Polizeiordnungen, das entscheidende Vehikel zur Durchsetzung einer sozialdisziplinatorischen Programmatik darstellte. Mit Hilfe einer breiten Palette von Sanktionen sei eine Verhaltensänderung der Untertanen erreicht worden. Der Umgang mit dem Oestereichschen Modell in der Forschung ist zwiespältig. Forschungen zur Devianz eröffnet es ein bequemes Angebot, um ihre empirischen Befunde in einen größeren Rahmen einzuordnen, ihnen gleichsam höhere Weihen zu verleihen, damit zugleich aber das Modell seinerseits zu »verifizieren. Es besteht die Gefahr, widersprüchliche Fakten auszublenden und damit einen »mainstream« in die Moderne zu konstruieren, den es so nie gegeben hat. Momentan überwiegt in der kriminalhistorischen Forschung eher Skepsis gegenüber dem Modell der Sozialdisziplinierung. 36 Sie speist sich ebenso aus empirisch begründeten Vorbehalten wie aus den skizzierten kulturgeschichtlichen Prämissen. Neben Martin Dinges ist vor allem Heinrich Richard Schmidt als Protagonist einer modernisierungskritischen Position hervorgetreten. Seine Skepsis gegenüber der Durchschlagskraft obrigkeitlicher Disziplinierung qua Gericht stützt sich auf eigene Langzeituntersuchungen über die Tätigkeit zweier Bernischer Chorgerichte vom späten 16. Jahrhundert bis zum beginnenden 19. Jahrhundert (Schmidt 1995: 354ff). Unter dem Strich konstatiert er auf den zwei zentralen Feldern der Religions- und der Sittenzucht ein letztendliches »Scheitern« bei der Aufstellung von neuen Verhaltensnormen. Partielle Erfolge beim Kampf gegen das Fluchen und bei der Durchsetzung der Sonntagsheiligung im 17. Jahrhundert wurden durch einen generellen Trend zur Säkularisierung im 18. Jahrhundert zunichte gemacht; es kam zu einem »Zusammenbruch der Religionszucht«, indem sich die Chorrichter den Aufgaben der Religionszucht weitgehend entzogen. Statt dessen stand jetzt das Vorgehen gegen voreheliche Sexualität im Vordergrund, ein Unterfangen, das jedoch ebenso erfolglos blieb. Sozioökonomische Faktoren, das Anwachsen der Armut und die Entwicklung einer Protoindustrie, die vielfach zur Lockerung von Bindungen an die Normen der Gemeinde führten, erwiesen sich gegenüber den Disziplinierungsbestrebungen als stärker. Nach 1700 stiegen die Zahl der ledigen Schwangeren und der illegitimen Kinder dramatisch an; zudem war voreheliche Sexualität immer weniger an ein vorgängiges Heirats- 35 Übrigens auch nicht um eine irreversible Entwicklung, wie eine neuerliche Verhärtung der Strafjustiz in Bayern im Jahrhundert der Aufklärung belegt (Behringer 1990: 112). Zur aufklärerischen Debatte um die Todesstrafe zuletzt Ulbricht (1998). 36 Gleichwohl bildete nicht unmittelbar das Feld der Kriminalität die Arena, in der über den Wert der Sozialdisziplinierung gestritten wird. In einer ersten, bereits einige Jahre zurückliegenden Runde, stand die Geschichte der Armenfürsorge im Mittelpunkt (Dinges u. Jütte 1991). Neueren Datums ist der Schlagabtausch auf dem Gebiet der Kirchenzuchtforschung (Schilling u. Schmidt 1997). Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 51 versprechen gebunden - Befunde, die Schmidt mit dem Terminus »sexuelle Revolution« belegt. Erfolgreich erwiesen sich die Gerichte bei Sittenzucht und Konfliktregulierung vor allem dann, wenn lokale und obrigkeitliche Normen und Interessen zur Dekkung kamen, etwa bei der Versöhnung streitender Nachbarn. Momentan ist noch nicht abzusehen, ob sich alternative Konzepte zur Einordnung der neueren empirischen Befunde - etwa das von Dinges ins Spiel gebrachte »Lebensstil«-Konzept (Dinges 1997a) oder das von Schmidt selbst in Anschluß an Giddens vorgeschlagene Modell der lokal »eingebetteten« Gesellschaft (Schmidt 1997: 680ff.) - durchsetzen werden oder ob die Entwicklung eher auf eine Erweiterung des strukturgeschichtlichen »mainstream« durch die Mikrohistorie hinausläuft, wie sie Heinz Schilling (1997) mit seiner »Doppelperspektive von Mikro- und Makrohistorie« anstrebt. Jenseits solcher sehr ernster Meinungsverschiedenheiten scheint jedenfalls der Abschied von einer Vorstellung der obrigkeitlichen Disziplinierung als einlinigem, evolutionärem Prozesses allgemein akzeptiert zu sein. Den bisher ernsthaftesten Modifikationsvorschlag für das Feld der historischen Kriminalitätsforschung hat vor einiger Zeit Michael Frank vorgelegt. In seiner Mikrostudie über die Kriminalität im lippischen Dorf Heiden erweitert der Autor das Sozialdisziplinierungsmodell um zwei entscheidende Faktoren: Einmal nimmt er, orientiert an der Arbeit von Keith Wrightson über »two concepts of order«, neben dem obrigkeitlichen zusätzlich ein lokales Ordnungsmodell in den Blick; dieses konstituiere sich nicht über geschriebene Normen, sondern über informelle, jedoch ebenso wirksame Regeln der Dorfgemeinde. Die beiden Ordnungskonzepte konnten in vielen Fragen übereinstimmen, etwa in Fragen der Eigentumsnormen und des Ehrkodex, während es in der Bewertung von Gewalt als Konfliktlösungsmittel oder beim Alkoholkonsum deutliche Unterschiede gab (Frank 1995: 347f.). Die Bemühungen der Lippischen Obrigkeit zur Umsetzung ihrer zahlreichen Verordnungen und damit zur Durchsetzung ihrer Normen waren nicht von durchschlagendem Erfolg gekrönt; während des gesamten Untersuchungszeitraums blieben die Selbstregulierungskräfte des Dorfes prinzipiell erhalten. Aber dieses Dorf wird, und hier liegt die zweite wichtige Innovation, weder als eine homogene noch als eine unwandelbare soziale Einheit gedacht. Indem die Sozialstruktur des Dorfes beschrieben und die sozioökonomischen Wandlungsfaktoren aufgezeigt werden, gewinnt die Sozialgeschichte die Funktion eines dritten Standbeines der Untersuchung. Im 18. Jahrhundert, so der Befund, kam es zu einer zunehmenden sozialen Differenzierung im Dorf, zu einem Anwachsen der Unterschichten und zu einer Verschärfung der inneren Konfliktpotentiale. Das lokale Ordnungssystem erwies sich partiell als überfordert. Insbesondere die grundbesitzlosen »Straßenkötter« waren mit den herkömmlichen Mitteln der sozialen Kontrolle nicht mehr zu beherrschen. Das schuf ein Einfallstor für formalisierte Formen der Kontrolle und damit für die Gerichte. Die dörfliche Oberschicht sah eine Gefahr im Anwachsen der landlosen, hochmobilen Unterschichten und suchte gleichsam ihr Heil beim staatlichen Ordnungssystem. Erst diese »Krise der bäuerlichen Welt« habe einen »Markstein im Prozeß der inneren Staatswerdung« gesetzt (ebd. 352). 37 37 Aus anderer Perspektive zeichnet nun Hokamp (1998) für die Obervogtei Triberg im Schwarzwald nach, wie das herrschaftliche Amtshaus seit den 1750er Jahren zunehmend zur zentralen Schaltstelle des gesellschaftlichen Ehrdiskurses wurde. Gerd Schwerhoff 52 9. Zurück in die Zukunft - ein Blick von der Rechtspraxis auf die Normen Es kann nicht die Aufgabe dieses Forschungsberichtes sein, das breite und z.T. auch heterogene Feld der Erscheinungen, das im Lauf der Darstellung abgeschritten wurde, knapp zusammenzufassen. Die Dynamik eines Forschungsbereiches, der in Deutschland innerhalb weniger Jahre breiten Zuspruch erfahren hat, sollte deutlich geworden sein. Nichts kann diese Dynamik besser veranschaulichen als die Fähigkeit, sich »altmodische« Themen neu anzueignen. »Weg von der Norm, hin zur Strafrechtspraxis! « - so lautete einer der populären Kampfrufe der Kriminalitätsgeschichte. Nach der profilierenden Abgrenzung von der normzentrierten Rechtshistorie geht aber auch der Blick der Kriminalitätshistoriker wieder verstärkt zurück zu den Normen, deren Existenz erst abweichendes Verhalten konstituieren. Wenn heute am Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte die Erforschung und Erschließung der Polizeiordnungen betrieben wird, die seit dem späten 15. Jahrhundert ein hervorragendes Feld von innovativer Normsetzung konstituieren, und die die Kriminalisierung vieler Ordnungsdelikte (Bettelei, Unzucht, Gotteslästerung etc.) voranzutreiben versuchten (vgl. Härter 1993; Härter/ Stolleis 1996; Stolleis 1996; Weber 1996), dann geschieht dies in konstruktiver Zusammenarbeit mit der Kriminalitätsgeschichte. Aber auch die genuin historischen Projekte nehmen neuerdings die Normen wieder verstärkt in den Blick. Daß neben den gesetzlichen Normen auch ungeschriebene Gesetze die Strafpraxis bestimmen und daß neben der Obrigkeit auch das soziale Milieu entscheidend als Normengeber fungierte, daß es schließlich zwischen diesen verschiedenen Ebenen auch Normkonflikte geben kann - all das gehört mittlerweile zu den gängigen Interpretamenten der Kriminalitätshistorie. Selbst die Grenze zwischen »Strafpraxis« und Norm ist nicht immer klar bestimmt: Wenn der Kölner Rat wiederholt das Berufsverbot eines Zolleinnehmers beschließt, der Entscheid aber offenbar nie umgesetzt wird, dann handelt es sich dabei eben um einen »normativen Text«, dessen Umsetzung einem daran anschließenden Aushandlungsprozeß überlassen bleibt (Groten 1996: 316). Über die Funktion derartiger wie auch der traditionellen Gesetzesnormen wird in Zukunft stärker reflektiert werden müssen. Auch nicht »vollzogene«, »angewandte« oder »umgesetzte« Normen sind »als obrigkeitlicher Diskurs ein ganz wesentlicher Teil der Wirklichkeit, weil sie Vorstellungen über das Wichtige und Richtige prägen«; vielleicht liegt sogar ihr eigentlicher Wert eher in der »Diskursivierung von Normabweichungen«; als in deren Beendigung (Dinges 1997: 41, 52). Jürgen Schlumbohm (1997) hat in den »Gesetzen, die nicht durchgesetzt wurden«, sogar ein Strukturmerkmal des frühmodernen Staates erblickt. Andere Forscher setzen unterdessen noch einmal zur genaueren Analyse des Verhältnisses zwischen Norm und Strafpraxis an und fragen nach der Kasuistik obrigkeitlicher Entscheidungsfindung, die zu einer flexiblen Anwendung von Normen führte, und nach dem Zusammenspiel sozialer und rechtlicher Mechanismen, wie es sich im Gnadenbitten und in den Suppliken der Untertanen manifestierte. 38 Auch profiliert kulturgeschichtliche Forschungsansätze, so zeigt sich am Schluß, nehmen von durchaus traditionellen Forschungsgegenständen wie »Gesetzen« oder »Staat« nicht vorschnell Abschied - nur wird sich, so steht zu hoffen, unser Bild von Gesetzen und Staaten in der Vormoderne nachhaltig verändern. 38 Zu diesen Themenkomplexen sind wichtige Ergebnisse von André Holenstein (Habilitationsprojekt zur Markgrafschaft Baden) vgl. Holenstein 1998 und Harriet Rudolph (Dissertationsprojekt zum Fürstbistum Osnabrück) zu erwarten.Vgl. zu den Suppliken jetzt die Beiträge in Blickle (1998). Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 53 Auswahlbibliographie neuerer Veröffentlichungen, die sich mit dem deutschen Sprachraum im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit beschäftigen; aufgeführt sind außerdem die im Text genannten, älteren und internationalen Forschungsbeiträge. Ausgespart bleiben in der Regel Studien zu Hexerei und Hexenverfolgung, Inquisition und Ketzerei sowie zum politischsozialen Protest. Sabine Alfing/ Christine Schedensack: Frauenalltag im frühneuzeitlichen Münster, Bielefeld 1994. Kurt Andermann (Hg.): »Raubritter« oder »Rechtschaffene vom Adel«? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter, Sigmaringen 1997. Ulrich Andermann: Ritterliche Gewalt und bürgerliche Selbstbehauptung. Untersuchungen zur Kriminalisierung und Bekämpfung des spätmittelalterlichen Raubrittertums am Beispiel norddeutscher Hansestädte, Franfurt/ M. 1991. Sybille Backmann u.a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998. 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Jahrhundert Bereits 1986 sprachen Joanna Innes und John Styles mit gewollter Mehrdeutigkeit von einer »crime wave«, die die englische Geschichtsschreibung zum 18. Jahrhundert erfaßt habe. 1 Diese ›Welle‹ von Studien zur Geschichte der Kriminalität und des Strafrechtssystems, die Anfang der 1970er Jahre einsetzte, ist bis heute nicht abgeebbt und läßt sich ebenso in einer Flut von einschlägigen Publikationen zur gesamten Frühen Neuzeit und zum Spätmittelalter feststellen. Großbritannien kann neben Frankreich fraglos als Mutterland der modernen historischen Kriminalitätsforschung betrachtet werden; die methodischen Ansätze und Fragestellungen britischer, amerikanischer oder kanadischer (Rechts-)Historiker/ innen auf diesem Feld besaßen für die europäische Devianzforschung oft eine Initial- und Vorbildfunktion und ihre häufig zu ›Forschungskontroversen‹ führenden differierenden Schlußfolgerungen und Interpretationen haben unser Gespür für viele der - nach wie vor ungelösten - Probleme, aber auch für das noch nicht ausgeschöpfte Potential dieser historischen Subdisziplin geschärft. Der Versuch eines Forschungsüberblickes zur englischen Kriminalitätsgeschichte, der die Zeit vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts behandeln will, muß aufgrund der Masse der bisher erschienen Monographien, Sammelbände und Zeitschriftenartikel äußerst kursorisch im Sinne einer annotierten Bibliographie bleiben und kann unmöglich alle einzelnen Untersuchungsbereiche und -ergebnisse angemessen würdigen. 2 In der Folge will ich daher zunächst versuchen, die Ursachen des gestiegenen historischen Interesses an Straftätern und Strafinstitutionen anhand innerdisziplinärer wie gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen nachzuzeichnen und deren Auswirkungen auf Forschungsmethoden und -schwerpunkte darzustellen (I). Daran schließt sich ein Überblick über die wichtigsten dieser Schwerpunkte an, die jedoch in den meisten Arbeiten aufgrund ihrer komplexen Verbindungen selten isoliert betrachtet werden. Zu ihnen gehört zum einen die Geschichte der staatlichen Strafgesetzgebung, des Strafverfahrens und der Strafmittel, die auch die Bedeutung von Prozessen der Staatsbildung und der Entstehung einesVerwaltungsapparates sowie die Besonderheiten des englischen Strafrechtssystems erkennen läßt (II). Zum anderen die Analyse von Kriminalität oder abweichendem Verhalten allgemein, die Verbrechen als soziales Phänomen erfaßt, dessen von je zeitspezifischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen bedingtes Ausmaß oder Muster auch die Frage nach dem Wandel mentaler Prädispositionen und der Reichweite von Modernisierungs- und Zivilisierungstheorien aufwirft (III). Und schließlich bildet die Diskussion um die Rolle des Strafrechts und der es durchsetzenden Zwangsapparate als Mittel der sozialen Kon- 1 Innes/ Styles (1980: 380). 2 Vgl. dazu auch die Forschungsberichte von Bailey (1980), Curtis (1980), Council of Europe (1985), Emsley/ Knafla (1994), Hufton (1981), Ignatieff (1981), Jenkins (1987), McMullan (1987), O’Brian (1978), Pearson (1978), Philips (1983), Sharpe (1982, 1988), Soman (1980). Peter Wettmann-Jungblut 70 trolle und folglich der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung einen weiteren Schwerpunkt der englischen Forschung (IV). I. Die moderne englische Kriminalitätsgeschichte ist sicher ein genuines Kind jener ›neuen‹ Sozialgeschichte, die sich in Großbritannien seit den späten 1950er Jahren als Alternative zu der damals dominierenden ›klassischen‹ Politik- und Wirtschaftsgeschichte zu entwickeln begann und von drei neuartigen Perspektiven und Tendenzen gekennzeichnet war. 3 Man suchte erstens nach einer »history from below«, die den stummen Akteuren der Masse, den vergessenen Verlierern und Randfiguren der Geschichte ihre Stimme und Würde zurückgeben sollte, indem man ihre historischen Erfahrungen zu rekonstruieren suchte. Pionierarbeit auf diesem Gebiet leisteten E.P. Thompson, Eric Hobsbawm und George Rudé, die sich mit den Problemen von Gewalt und Unordnung sowie der Rolle von Recht und Gesetz in den politischen Kämpfen des 18. und 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hatten. 4 Kollektive Gewalt und Normbrüche im Sinne eines vorpolitischen Widerstands gegen die ›unmoralische‹ Ökonomie der sich entwikkelnden Marktgesellschaft oder gar einer bewußten Ablehnung ihrer Postulate blieben zwar bis heute ein Untersuchungsgegenstand der Kriminalitätsforschung, 5 doch die nachfolgenden Studien wandten sich in weitaus stärkerem Maße dem Phänomen des individuell abweichenden Verhaltens zu. Zweitens wurden nun vielfach die Ansätze der positivistischen Sozialwissenschaften adaptiert, da man glaubte, menschliches (Fehl-)Verhalten mittels statistischer Methoden quantitativ erfassen und mit aggregierten Statistiken seine historische Konstanz oder Veränderung messen zu können. 6 Und drittens propagierten viele Autoren eine Sichtweise, die in den gesellschaftlichen und strafrechtlichen Reformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts den krönenden Abschluß einer langen Evolution sah und kaum Zweifel an der steten Aufwärtsbewegung historischer Veränderungen hegte. Für Leon Radzinowicz etwa trugen zu dieser »history of progress« im Sinne einer schrittweisen Zähmung zwischenmenschlicher wie staatlicher Gewalt »the forces of morality, of philosophical thought and social consciousness« gleichermaßen bei. 7 Jede dieser drei Tendenzen rief in gewissem Maße auch konträre Meinungen ins Leben. Die Idee eines linearen Fortschritts in der Strafrechtsgeschichte, die dem traditionellen Recht zwangsläufig einen ›primitiven‹, inhumanen Charakter zuwies, wird spätestens seit Foucault als mehr oder weniger revisionsbedürftig betrachtet; ebenso haben die seit langem anhaltende Krise des Strafvollzugs und steigende Kriminalitätsraten in den westlichen Industrienationen vielleicht dazu beigetragen, die Vergangenheit zwar mit vermehrtem Interesse, aber ohne die zivilisatorische Überlegensheitsbrille zu be- 3 Vgl. dazu Innes/ Styles (1986: 382 ff.). 4 Thompson (1963), Rudé (1962, 1964), Hobsbawm (1959), Hobsbawm/ Rudé (1968). 5 Vgl. Bushaway (1982: 207 - 237), Malcolmson (1980), Palmer (1988), Rudé (1978), Brewer (1980a, 1980b). 6 Besonders ausgeprägt ist dieses Vertrauen in die überlegene ›Wahrheit‹ der Statistik etwa bei Samaha (1974), der auf 176 Seiten 56 Tabellen präsentiert, aber auch in den Arbeiten von Hanawalt, Beattie, Gurr, Gurr/ Grabosky. 7 Radzinowicz (1948 - 68: Bd. 1, IX). Von Robin Hood zu Jack the Ripper 71 trachten. 8 Die Rezeption moderner kriminalsoziologischer Theorien - insbesondere des ›labeling approach‹ - erhöhte das Verständnis für das selektive Vorgehen des staatlichen Justizapparates und legte die Einsicht nahe, daß Gerichts- und Polizeiakten und die aus ihnen gewonnenen Statistiken mindestens ebenso stark die Aktivitäten von Kontrollinstanzen wie die von ›Kriminellen‹ belegen und nicht notwendigerweise in direktem Bezug zum Aufkommen der tatsächlichen ›Kriminalität‹ stehen müssen. 9 Der Erlaß von Gesetzen und ihre selektive Anwendung und Durchsetzung wiederum, die eine eher marxistische Interpretation als von den Interessen der herrschenden Klasse gelenkt sieht, 10 bedürfen für andere Forscher einer vorsichtigen Deutung und der Berücksichtigung der Tatsache, daß sie auf der Mitarbeit breiter Bevölkerungsschichten beruhten. 11 II. Kriminalitätsgeschichte ist eng mit der Geschichte des staatlichen Verwaltungs- und Repressionsapparates verbunden, und gerade für das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Europa ist der Zusammenhang zwischen Staat und Recht, d.h. zwischen der Formation stabiler staatlicher Gebilde und der Entstehung staatlicher Rechtsinstitutionen, konstitutiv. Die Monopolisierung der Sanktionsgewalt vollzog sich in einem im 11./ 12. Jahrhundert einsetzenden Prozeß, in dem jede Institutionalisierung von Normensystemen mit der Institutionalisierung politischer Ordnung verschränkt war und für den die knappe Formel: ›kein Strafrecht ohne Staat, kein Staat ohne Strafrecht‹ 12 gelten kann. Daß England im Unterschied zu den anderen westeuropäischen Nationen das Jury- System und den Akkusationsprozeß annahm und behielt, liegt sicher primär in der Chronologie der Entwicklung und Verbreitung der königlichen Jurisdiktion begründet. Die letztendlich entscheidenden Weichenstellungen wurden von Heinrich II. zwischen 1166 und 1179 vorgenommen, der lokale Anklagejuries einsetzte, die reisenden Richtern (»justices on eyre«) während den Assizes alle Beschuldigungen wegen Mord, schwerem Diebstahl, Fälschung, Brandstiftung etc. vortrugen, wobei bis zur Entstehung der Geschworenengerichte (»trial juries«) im frühen 13. Jahrhundert durch das Ordal über Schuld und Unschuld entschieden wurde. Diese Reformen fanden statt, bevor die Rezeption des Römischen Rechts die Monarchen Kontinentaleuropas zur Einführung des Inquisitionsprozesses bewog, so daß in England auch die Folter als Mittel der Wahrheitsfindung fast niemals zur Anwendung gelangte und der Vollzug der Todesstrafe auf die ›einfachen‹ Formen des Hängens und Enthauptens beschränkt blieb. Als rechtliche Entscheidungsgrundlage diente das englische »common law«, ein auf Einzelstatuten und Präzedenzfällen beruhendes Rechtssystem (bis vor wenigen Jahren existierte in England kein Strafgesetzbuch), das seine dominierende Stellung gegenüber al- 8 Vgl. Wiener (1990: 1 - 13), Macfarlane (1981: 1 - 26), Sharpe (1996). 9 Vgl. Gatrell (1980), Gatrell/ Hadden (1972), Sharpe (1990a), Johnson (1990). 10 Hay (1975), Hay/ Linebaugh (1975), Johnson (1993), Linebaugh (1981, 1985, 1993), Rule (1979, 1982a), Snyder/ Hay (1987), Thompson (1975). 11 King (1984, 1989), Herrup (1985, 1987), Langbein (1983a), Sharpe (1983a: 144 - 149, 1984: 147ff.). 12 René Levy/ Xavier Rousseaux: Etats, justice pénale et histoire: bilan et perspectives, in: Droit & Société 20/ 21 (1992), 251. Peter Wettmann-Jungblut 72 len anderen Rechtssystemen (Kanonisches, Römisches, oder lokales Gewohnheitsrecht) behaupten konnte. Im 14. und 15. Jahrhundert entwickelten sich in London die drei großen königlichen common law-Gerichtshöfe »Common Pleas«, »Exchequer of Pleas« und »King’s Bench«. Sie entschieden fast ausschließlich in zivilrechtlichen Fällen, doch »King’s Bench« besaß auch eine strafrechtliche Kammer und hatte bis zum 16. Jahrhundert beachtliche Kontrollbefugnisse über andere lokale Kriminalgerichte erworben. Die im Spätmittelalter überall stetig wachsende Zahl von anhängigen Klagen reflektiert zum einen den Wunsch der Bevölkerung nach Ordnung und Frieden, nach einer Entscheidungsinstanz für die endlosen reziproken Familienfehden sowie das Bestreben der Krone, ihrem allgemeinen gesellschaftlichen Führungsanspruch Ausdruck zu verleihen. Zum anderen gingen mit der königlichen Verantwortung für Recht und Ordnung ein bedeutender Machtzuwachs und nicht unbeträchtlicher Profit einher. Die königliche Macht suchte und fand ihre Verkörperung in der Rechtssprechung und wurde mit ihr zugleich vom Zentrum in die Peripherie transportiert. In der Kriminaljustiz verhieß Rechtsprechung auch Gewinn, denn sie bot in Abwesenheit eines effizienten Besteuerungssystems eine willkommene Möglichkeit, durch Geldstrafen oder die Beschlagnahmung des Vermögens verurteilter Missetäter die leeren Kassen der englischen Könige zu füllen. Das System der Assizes und das gegen Ende des 13. Jahrhunderts voll ausgebildete System der »gaol delivery« kamen der königlichen Machtausdehnung in den Grafschaften entgegen. Fortan wurden professionelle und von der Zentralgewalt dirigierte Richter zweimal jährlich in jede Grafschaft entsandt und hielten über die bis zu ihrer Ankunft in den County-Gefängissen verwahrten Delinquenten Gericht. Um 1600 war England in sechs »assize-circuits« aufgeteilt, für die je zwei Richter zuständig waren. Sie urteilten über die meisten »felonies« (Vergehen, die im Falle einer Verurteilung die Todesstrafe nach sich ziehen konnten), zu denen neben den obengenannten nun auch Totschlag, Vergewaltigung, Einbruchs-, Pferde- und Taschendiebstahl, Zauberei und Hexerei zählten, entschieden aber auch in zivilrechtlichen Streitigkeiten; zudem dienten die Assizes als Verbindungsglied zwischen Zentral- und Lokalregierung, indem die Zentralregierung die Assizes als Artikulationsforum ihrer Forderungen an die lokalen Eliten nutzte und letzteren erlaubte, lokale Mißstände anzuprangern und ihre Interessen vorzubringen. 13 Im Spätmittelalter sind auch die Ursprünge des Amtes des »justice of the peace« zu finden, der vorrangig dafür verantwortlich war, Recht und Ordnung während der langen Abwesenheit der königlichen Richter aufrechtzuerhalten. Diese unbezahlten ›Amateurrichter‹, die sich fast ausschließlich aus den Reihen der lokalen »landed gentry« rekrutierten, übernahmen auch die Leitung der lokalen Administration; aus den Treffen, die die Friedensrichter einer Grafschaft ursprünglich viermal im Jahr zur Beilegung von Arbeitskonflikten zusammengeführt hatten, entwickelten sich die sogenannten »quarter sessions«, die schließlich die Jurisdiktion über viele geringfügige Vergehen (»misdemeanours« und »public nuisances«) übernahmen. In den ebenfalls unbezahlten Ämtern des »constable«, »churchwarden« oder »overseer of the poor« standen wohlhabende Dorfbewohner den Friedensrichtern bei der Durchsetzung des Rechts zur Seite; dieser relativ schmalen Schicht aus Gentry und dörflicher Elite (reiche Bauern und 13 Vgl. Kaeuper (1979, 1988), Sharpe (1997), Bellamy (1973), Cockburn/ Green (1988), Cockburn (1972), Baker (1977, 1981), Green (1985), Langbein (1974), Post (1983, 1986), Tropea (1991). Von Robin Hood zu Jack the Ripper 73 Handwerker), die auch die Geschworenen bei den Assizes stellten, gelang es daher mehr oder weniger erfolgreich, die breite Masse der landlosen oder landarmen Tagelöhner, Arbeiter, Pächter und Handwerker zu kontrollieren und in die Bahnen ihrer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zu lenken. 14 Der englischen Gentry kam nicht nur eine Schlüsselposition in der Strafrechtspflege, sondern auch in der Strafgesetzgebung zu. Neben Mitgliedern des städtischen Bürgertums saßen viele »justices of the peace« im House of Commons, dem in Zusammenarbeit mit dem House of Lords (Großadel, Großgrundbesitzer, Bischöfe) der Erlaß von Gesetzen oblag. Die Zahl der Statuten, die Vergehen zu Kapitalverbrechen erklärten, wurde im Laufe der Frühen Neuzeit kontinuierlich erhöht; während zur Zeit der »Glorious Revolution« etwa 50 Kapitalverbrechen existierten, war ihre Zahl bis 1820 auf weit über 200 angewachsen. Die Deutung dieses »Bloody Code«, der überwiegend Eigentumsvergehen mit der Todesstrafe bedrohte und für dessen stark partikularistisch geprägte Statuten der berühmt berüchtigte »Waltham Black Act« von 1723 als exemplarisch gelten kann, hat die englische Historikerzunft in zwei Lager gespalten. Für die einen sind diese Statuten »legal instruments which enforced the division of property by terror« und dokumentieren die langsame Kriminalisierung vormals gewohnheitsrechtlich legitimierter Erwerbspraktiken der Unterschichten. Vor allem mit der abschreckenden symbolischen und konkreten Wirkung des »Bloody Code« gelang es der herrschenden Klasse, ihre Eigentumsinteressen zu verteidigen und zugleich den neugeschaffenen Formen bürgerlich-kapitalistischen Eigentums den Weg zu ebnen. 15 Für die anderen bringt die Flut von Gesetzen eher die mangelnde Fähigkeit des englischen Rechts zur definitorischen Generalisierung zum Ausdruck; während die Todesstrafe fast ausschließlich aufgrund einer Handvoll Statuten aus dem 16. Jahrhundert verhängt wurde, besaßen viele Einzelbestimmungen wie etwa jene aus dem Jahre 1736, die die Zerstörung der Westminster Bridge zum Kapitalverbrechen machte, in der strafrechtlichen Alltagspraxis kaum Relevanz. Man hat ferner darauf hingewiesen, daß auch die Mittelschicht bei der Strafverfolgung und Strafanwendung (als Geschworene bei den Assizes) eine wichtige Rolle spielte und ihre Interessen mit denen des Großadels oder des Handelskapitals nicht identisch waren. 16 Kontrovers diskutiert werden teilweise auch die Entwicklung des Strafvollzugs 17 und die Bedeutung der öffentlichen Strafrituale. Letztere werden sowohl als Zeremonien par excellence zur Demonstration von staatlicher Macht und als pompöse, höchst wirkungsvolle Inszenierungen zur Legitimation der »rule of law«, als didaktische Lehrstücke und öffentliche Opferrituale zur sakralen Reinigung des beschmutzten Gesellschaftskörpers als auch als eher schäbige karnevaleske Grotesken interpretiert, die kaum geeignet waren, die Autorität und Erhabenheit des Rechts herauszustellen. 18 Die 14 Vgl. Moir (1969), Landau (1984), Emsley (1992), Marshall (1974), Kent (1986), Wrightson/ Levine (1979). 15 Hay (1975: 21), Thompson (1975, 1991), Chapman (1980), Delaney (1988), Sugarman (1983), Hall (1952), Fletcher (1975/ 76), Gatrell (1990), Snyder/ Hay (1987). 16 Broad (1988), Cockburn/ Green (1988), Green (1985, 1987), Innes/ Styles (1986), King (1984), Langbein (1983a, 1983b, 1978), Styles (1983a). 17 Vgl. allgemein Sharpe (1990a). 18 Hay (1975), Sharpe (1985a), Lake (1996), McGowen (1986), Laqueur (1989). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die durchaus ambivalente Darstellung von Kriminalität, Kriminellen und Strafjustiz in der zeitgenössischen Literatur, in den unzähligen Flublättern und Billigdrucken; vgl. dazu Dolan (1994), Sharpe (1986a), Punter (1982), Lake (1994), Lamoine (1977). Peter Wettmann-Jungblut 74 Zahl der Hinrichtungen dürfte im 14. und 15. Jahrhundert vermutlich noch relativ gering gewesen sein. Sie erreichte ihren Höhepunkt zwischen 1530 und 1630, als im Zug des harschen staatlichen Vorgehens gegen Vaganten schätzungsweise 75.000 Personen in England hingerichtet wurden, und ging danach langsam zurück. 19 Allerdings läßt sich die Foucaultsche Chronologie der Geburt des Gefängnisses für England nur bedingt nachvollziehen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein existierte ein pönaler ›Pluralismus‹, der sich problemlos verschiedener Strafformen (Hinrichtung, Gefängnis, Deportation, Körper-, Ehren- und Geldstrafen) bediente und keinen gradlinigen Entwicklungstrend erkennen läßt. Vor allem die Deportation in die amerikanischen Kolonien und später nach Australien und Tasmanien, aber auch die Zwangsrekrutierung zur Armee, rettete Zehntausende von Todeskandidaten durch einen königlichen Gnadenerlaß vor dem Galgen und führte sie als billige Arbeitskräfte oder dringend benötigte Soldaten nach Übersee, wo sie zum Wohle der Handelsnation England eingesetzt wurden. 20 Erstaunlich ist auch der Umstand, daß die Hinrichtungsmaschinerie kurz vor Ende des alten Strafsystems noch einmal auf Hochtouren lief: Zwischen 1770 und 1830 wurden etwa 35.000 Personen zum Tode verurteilt und etwa 7.000 tatsächlich exekutiert, so daß die Zahl der Exekutionen zu Anfang des 19. Jahrhunderts wesentlich höher als zu Anfang des 18. Jahrhunderts lag. Erst der Reform Act von 1832, die wohl größte ›Revolution‹ in der englischen Strafrechtsgeschichte, beendete die Herrschaft von »Albion’s fatal tree«; parallel zur Zahl der todeswürdigen Delikte sank die Zahl der Hinrichtungen rapide, und 1861 galten schließlich nur noch Hochverrat und Mord als gesetzliche Kapitalverbrechen, deren Bestrafung nach 1868 nicht länger öffentlich vorgenommen wurde. 21 Das Ende des alten Strafsystems und der im 19. Jahrhundert einsetzende Siegeszug des Gefängisses wurden in England lange als Ergebnis von primär auf Humanisierung zielenden Reformen verstanden, wobei oft vergessen wurde, daß die letzte Hinrichtung in England 1964 stattfand und dieTodesstrafe erst 1973 endgültig abgeschafft wurde. 22 Mittlerweile hat sich eine differenziertere Sicht durchgesetzt, die anerkennt, daß der reformerische Humanismus Hand in Hand mit einem strengen Disziplinarmodell ging und eine säkularisierte gesellschaftliche Moral propagierte, die menschliche Leidenschaften - die bei öffentlichen Hinrichtungen allzu oft ungezügelt zum Ausbruch gelangten - zu regulieren und die Persönlichkeit umzugestalten suchte, die das Strafrecht nicht nur als praktisches Instrument der Verbrechenskontrolle, sondern auch als Ausdruck und Verstärker eines verbindlichen gesellschaftlichen Glaubenssystems betrachtete. Dieses Modell mag ein zivilisierendes, aber kaum ein humanes historisches Moment markieren; es konnte Gewaltformen verschleiern, ohne daß deren Ausmaß notwendigerweise reduziert wurde, und unterwarf mehr und mehr Menschen, die vorher nicht die Todesstrafe zu gewärtigen hatten, dem harten Zwangssystem der Gefängnisdisziplin. 23 In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, als die Kriminalitätsrate in England einen historischen Tiefstand erreichte, mußten dennoch jährlich 0,6% der engli- 19 Radzinowicz (1948 - 68: Bd. 1), Jenkins (1986); vgl. zum Vagantenproblem Beier (1974, 1985). 20 Vgl. Atkinson (1994), Ekirch (1985, 1987), Conway (1985), Hughes (1987), Jenkins (1986), Radzinowicz (1968), Rudé (1978), Shaw (1966), A.E. Smith (1934, 1947). 21 Vgl. Gatrell (1994), Linebaugh (1993). 22 Radzinowicz (1948 - 68), Radzinowicz/ Hood (1986). Von Robin Hood zu Jack the Ripper 75 schen und 1,5% der schottischen Bevölkerung eine Gefängnisstrafe antreten - die Hälfte davon, weil sie nicht in der Lage war, eine Geldbuße zu zahlen, und ein Drittel wegen Trunkenheit. 24 III. Fast alle Monographien zur englischen Kriminalitätsgeschichte, seien sie auf einzelne Grafschaften beschränkt oder als nationale Übersichtsdarstellung angelegt, konzentrieren sich zur Erstellung von Kriminalitätsmustern oder zur Diskussion von kurz- und langfristigen Entwicklungstrends abweichenden Verhaltens auf die Indictment-Serien der Assizes, die allein die heute als Schwerkriminalität zu bezeichnenden »felonies« dokumentieren. 25 Die weitgehende Vernachlässigung der Tätigkeit anderer Gerichte birgt gewisse historiographische Begrenzungen und läßt manche der entdeckten Makroveränderungen von Kriminalitätsmustern fragwürdig erscheinen. 26 Dies gilt vor allem für die Vorstellung des sich zwischen Spätmittelalter und 19. Jahrhundert vollziehenden Übergangs von einer »feudalen«, auf Gewaltanwendung beruhenden Kriminalität zu einer »modernen«, von Eigentumsdelikten dominierten Kriminalität. Mit der Ausnahme von Maddern (1992) und Hanawalt (1979) konstatieren viele Arbeiten zum Spätmittelalter sehr hohe Quoten von Tötungsdelikten (die je nach Ort und Zeit zwischen 5 und 110 pro 100.000 Einwohner variieren) und allgemein ein Übergewicht der Gewaltvergehen. Die seit dieser Zeit rückläufigen Zahlen der Tötungsdelikte sind sicherlich unumstritten; 27 ihre Interpretation - etwa die angebliche Verlagerung der Gewalt vom öffentlichen Bereich der Straße und des Wirtshauses in die private Sphäre der Familie - führte jedoch zu einer Forschungskontroverse, in deren Verlauf vor allem ein behutsamerer Umgang mit aggregiertem Datenmaterial eingefordert wurde. 28 Die vordergründig offensichtliche Beweiskraft der statistischen Analyse verliert an Stringenz, wenn ihre begrenzten Möglichkeiten berücksichtigt werden, die James Cockburn exemplarisch aufgelistet hat: Erstens enthalten alle errechneten Tötungsraten unausweichliche Verzerrungen, die durch die demographischen Unsicherheiten des vorstatistischen Zeitalters bedingt werden. Zweitens bleiben die unübersehbaren Auswirkungen der verbesserten medizinischen Versorgung auf die Todesrate bei gewalttätigen Angriffen stets unberücksichtigt, obwohl die meisten Opfer von Gewalttaten im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit an Verletzungen starben, die heute keineswegs zum Tode führen würden. Drittens läßt sich parallel zum Rückgang der Tötungsdelikte die gesellschaftliche Ächtung des Waffentragens beobachten - die höchsten Tötungsraten wiesen und weisen immer 23 Vgl. Gatrell (1994), Wiener (1984, 1990), Bender (1987), Cooper (1974), DeLacy (1986), Evans (1982), Ignatieff (1978, 1981), Philips (1980), Innes (1980, 1987), McGowen (1986), Morris/ Rothman (1995), Rustigan (1980), Graff (1977). 24 Lenman/ Parker (1980: 44). 25 So Archer (1990), Beattie (1986), Bellamy (1973, 1984), Emsley (1987), McLynn (1989), Philips (1977), Samaha (1974), Sharpe (1983a, 1984); vgl. zu einem anderen Ansatz Shoemaker (1991), Oberwittler (1990), Sharpe (1977, 1980b, 1983b, 1992) und zur Bedeutung der Kirchenzucht Poos (1995), Sharpe (1980a). 26 Vgl. Post (1987), Sharpe (1990a), Knafla (1983). 27 Vgl. Cockburn (1977b), Beattie (1986). 28 Vgl. Gurr (1981), Stone (1983, 1985), Sharpe (1981, 1985b), Cockburn (1991). Peter Wettmann-Jungblut 76 noch (siehe das Beispiel der Vereinigten Staaten) jene Gesellschaften auf, in denen Waffen fast ubiquitär verfügbar sind und ihr Gebrauch als notwendig und als ein Beweis männlicher Stärke gilt. Viertens sind die englischen Statistiken für das 18. und 19. Jahrhundert einigermaßen irreführend, da sie die hohe Zahl von Tötungen durch Armeeangehörige, die vor Kriegsgerichten verhandelt wurden, nicht miteinschließen. 29 Und schließlich haben gesetzgeberische Maßnahmen die offiziellen Mordstatistiken dramatisch verändert, besonders hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortbarkeit für gewisse Handlungen. Während heute etwa die durch rücksichtsloses Fahren im Straßenverkehr verursachten Todesfälle nicht mehr in den Statistiken auftauchen, wurden vergleichbare Vergehen in der Frühen Neuzeit durchaus als Mord oder Totschlag vor Gericht gebracht. 30 Es ist folglich zum einen fragwürdig, ob Tötungsraten einen verläßlichen Indikator für das Ausmaß von Gewalt in einer Gesellschaft liefern. Zum andern lassen sich auch im 16. und 17. Jahrhundert Formen ›moderner‹ Kriminalität finden, die nicht den Schluß erlauben, daß England zur Modernisierung seiner Kriminalität des kapitalistischen Warenverkehrs, der Industrialisierung oder Verstädterung bedurfte. 31 Der tatsächliche oder nur vermutete Rückgang tödlicher interpersonaler Gewaltvergehen wurde ferner nicht von einem linearen Anstieg der Eigentumsdelikte begleitet; vielmehr zeichnet sich hier eher eine zyklische Wellenbewegung mit fallenden Zahlen im 17. und steigenden im 18. Jahrhundert ab, die wiederum von einem Rückgang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgelöst und zudem von Hochs und Tiefs in gesellschaftlichen Krisen-, Kriegs- und Friedenszeiten bestimmt wurden. 32 Die Verbindung von Erscheinungsformen der Kriminalität mit sozioökonomischen Veränderungen und ihren Auswirkungen liegt auch dem umstrittenen Konzept des »social crime« zugrunde. Eric Hobsbawm zählt alle Handlungen, die einen »conflict of laws, e.g. between an official and an unofficial system« widerspiegeln, die »a distinct element of social protest« beinhalten oder aber »closely linked with the development of social and political unrest« sind, zum Phänomen der ›sozialen Kriminalität‹. 33 Das Konzept kann daher in abgeschwächter Form dahingehend verstanden werden, daß es eine große Anzahl von gesetzlich definierten Gesetzesbrüchen gab, die von der Masse der Bevölkerung nicht als kriminelle Handlungen betrachtet wurden. Eine radikalere, marxistisch angehauchte Version legt hingegen den Schluß nahe, daß die meisten dieser Handlungen eine explizite oder implizite proto-politische Form des Protestes oder Widerstands darstellten, die den Unterschichten die (einzige) Möglichkeit zum Ausdruck ihrer Ablehnung von Ausbeutung und Unterdrückung durch die Reichen bot. Die ›klassischen‹ Formen dieser Gesetzesverstöße sind vor allem für das 18. Jahrhundert eingehend untersucht worden: Wilderei, Brandstiftung, Schmuggel, Viehdiebstahl, Strandraub, Unterschlagung in Manufakturen und Fabriken, Holzsammeln und das Nachlesen auf den Feldern. 34 Problematisch bleibt der Begriff insofern, als man kei- 29 Vgl. dazu auch Burroughs (1985), Gilbert (1978). 30 Vgl. Cockburn (1991: bes. 101 - 106). 31 Vgl. Macfarlane (1981). 32 Sharpe (1983a, 1984, 1996), Gatrell (1980), McDonald (1982), Hay (1982); auf uneingeschränkter Modernisierung beharrt hingegen Shelley (1981). 33 Hobsbawn (1972: 5). 34 Archer (1990), Munsche (1977, 1981), Bushaway (1982), King (1989), Carson (1979), Becker (1983), Styles (1983a), Rule (1975, 1982b), Wells (1984), Winslow (1975). Von Robin Hood zu Jack the Ripper 77 ne automatische und allgemein gültige Verbindung zwischen Armut und illegaler Aneignung ziehen kann und keine harte Frontstellung der Unterschichten zum Recht voraussetzen sollte. Obwohl das Bild des ›edlen‹ Wilderers à la Robin Hood, der den Hasen des hartherzigen Grundbesitzers stiehlt, um seine hungernde Familie zu ernähren, und als ›Sozialbandit‹ für ein klein wenig Gerechtigkeit sorgt, immer noch eine starke Faszination ausübt, darf nicht übersehen werden, daß gerade die Wilderei auf dem Lande im 18. Jahrhundert zu einem zunehmend kommerzialisierten und organisierten Nebenerwerb wurde, der auf die steigende Nachfrage des wohlhabenden Stadtbürgertums nach Wild und gleich dem Schmuggel auf dessen Bedarf an Luxusgütern reagierte. 35 Eine zunehmende Zahl von Publikationen beschäftigt sich mit dem Phänomen der Frauenkriminalität, d.h. mit der spezifischen Beziehung zwischen Geschlecht und Kriminalität und der historischen Wandlungen unterworfenen Rolle von Frauen als Opfer und Täterinnen. Noch im 17. und 18. Jahrhundert stellten Frauen zwischen 30 und 50% der Angeklagten in Kriminalprozessen, während ihr Anteil im 19. und 20. Jahrhundert auf etwa 5 bis 15% sank. Für den hohen vormodernen Prozentsatz waren dabei weniger die ›typischen‹ Frauendelikte Hexerei - die in England im übrigen in weitaus geringerem Maße verfolgt wurde als auf dem Kontinent - und Kindsmord 36 verantwortlich, sondern diejenigen Vergehen, die heute als männliche Domäne gelten. 37 Als historisch einigermaßen konstant kann man wohl den Umstand betrachten, daß Frauen als Täterinnen bei Delikten mit physischer Gewaltanwendung stets unterrepräsentiert waren und auch generell ›milder‹ - oder zumindest anders - als Männer bestraft wurden; unter den 1.232 bzw. 59 Personen, die 1703 - 72 bzw. 1827 - 30 zur Londoner Hinrichtungsstätte Tyburn geführt wurden, fanden sich nur 92 respektive 4 Frauen. 38 In der Forschung herrscht relativer Konsens darüber, daß die Ursachen dieses starken Rückgangs primär in der Umgestaltung der Institutionen der sozialen Kontrolle und der veränderten gesellschaftlichen Konstruktion von Weiblichkeit, die im späten 18. Jahrhundert einsetzten und in der Viktorianischen Ära zum Durchbruch gelangten, zu finden sind. Die reformierte formalstaatliche Strafjustiz und ihre Kerninstitution Gefängnis zielten vornehmlich auf Männer; Frauen hingegen wurden zunehmend aus der Öffentlichkeit verbannt und der häuslichen Kontrolle ihrer Ehemänner unterworfen, während ihr abweichendes Verhalten gleichzeitig stärker als »mad not bad« definiert und als ein Problem psychiatrischer Behandlung erachtet wurde. IV. Die latenten und manifesten Funktionen sowie der Stellenwert des Strafrechts sind auch in historischer Perspektive durchaus umstritten. Die englische Forschung hat sich wiederholt mit der strittigen Frage beschäftigt, ob es primär dazu diente, die Macht der herrschenden Klasse(n) zu legitimieren und zu erhalten - womit auch divergierende Einstellungen zu »law and order« (etwa zwischen Eliten- und Volkskultur) oder die Be- 35 Vgl. zur ›organisierten‹ Kriminalität Hobsbawm (1986), Sharpe (1986b), MacIntosh (1973). 36 Vgl. dazu Malcolmson (1977), Wrightson (1982), Hoffer/ Hull (1981), Gowing (1997). 37 Vgl. Feeley (1994), Feeley/ Little (1991), Clark (1989), Beattie (1975), Gowing (1993, 1994), Greenberg (1995), Zedner (1991a, 1991b), Walkowitz (1980, 1992), Wiener (1975), Tomes (1978), Kermode/ Walker (1994). 38 Gatrell (1994: 8). Peter Wettmann-Jungblut 78 rechtigung des oben angeführten Begriffes »social crime« angedeutet würden - , oder ob es ein allen Gesellschaftsschichten gleichermaßen zugängliches und dienliches Mittel der Konfliktlösung war. Zu klären bleibt ferner, ob das staatliche Strafrecht überhaupt die ihm oft zugesprochene überragende Bedeutung im Ensemble sozialer Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen besaß, oder ob - zumal in der Frühen Neuzeit - das staatliche Monopol auf Sanktionsprozesse erst im Werden begriffen und somit die Bedeutung lokaler, informaler oder semi-legaler Ordnungssysteme entsprechend hoch war. Für das Spätmittelalter haben viele Autoren darauf hingewiesen, daß England auch vor dem Siegeszug der königlichen Strafjustiz keine rechtlose Gesellschaft war. Selbst die Fehde war ein ›rechtliches‹ Unterfangen in dem Sinne, als sie einem komplexen Netz von Regeln folgte; Gewalt als allgemein verständliche Sprache der sozialen Ordnung wurde keineswegs als unversöhnlicher Gegenspieler von Recht und Gesetz verstanden und nur dann bekämpft, wenn sie als ungerechtfertigt oder gefährlich für die Grundprinzipien der gesellschaftlichen Hierarchie erachtet wurde. Die königliche Jurisdiktion wurde einem ausgeklügelten System der lokalen, kollektiven Konfliktlösung ›aufgepfropft‹, dessen Eckpfeiler die friedliche Schlichtung oder der rechtliche Kompromiß zwischen den Streitparteien waren, die neutrale Schiedsrichter herbeizuführen suchten. Frieden mußte keiner per se rechtlosen und gewalttätigen Bevölkerung via Recht von oben auferlegt werden, denn die mittelalterliche Gesellschaft kannte friedensstiftende Verhaltensweisen ebenso wie Rache und Fehde, die im Zusammenspiel jenes ›hybride System‹ entstehen ließen, in dem der Racheakt schließlich in der oft nicht weniger nachtragenden Kunst des Rechtsstreites aufgehen sollte. 39 Obwohl die Schlichtung sich grundlegend vom rechtlichen Verfahren unterschied, indem sie darauf abzielte, eine für alle Parteien tolerable und alle Parteien pazifizierende Lösung zu finden, und nicht nur eine Partei als schuldige zu strafen suchte, wirkte sie lange Zeit harmonisch mit dem formalen Recht zusammen, da viele Kläger die Vorteile der simultanen Nutzung beider Systeme erkannten. Das infrajudizielle, informale System der Konfliktlösung, das Kosten und Zeit sparte, blieb auch in der Frühen Neuzeit erhalten; in Anlehnung an Durkheims Klassifizierung sind die beiden nur scheinbar konträren Rechtstraditionen als »community law« und »state law« bezeichnet worden. 40 Selbst obrigkeitliche Bestrafung leitete nicht zwangsläufig einen Kriminalisierungsprozeß mit dem Ziel des gesellschaftlichen Ausschlusses des Delinquenten ein, und viele offiziellen Klagen wurden in einer frühen Prozeßphase abgebrochen, wenn sich die Parteien außergerichtlich geeinigt hatten. Doch das »community law« arbeitete effizient nur in einer relativ statischen Face-toface-Gesellschaft, in der die Reputation der Missetäter bekannt und das Netz der informalen sozialen Kontrolle dicht war. Die Härte des staatlichen Rechts traf vorwiegend gesellschaftliche Außenseiter, denen es an Unterstützung mangelte und die nicht auf die Patronage einflußreicher Persönlichkeiten bauen konnten: Vaganten, Fremde, Zugewanderte und junge Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden hatten und als potentiell gefährlich galten - mehr als 90% der Männer, die in den 1780er Jahren in London gehängt wurden, waren unter 21 Jahren alt und und zum gro- 39 Maddern (1992), Kaeuper (1988), Bossy (1983), Clayton (1985), McRee (1994), Powell (1983, 1984), Rawcliffe (1984), L.B. Smith (1991). 40 Lenman/ Parker (1980). Vgl. auch Wrightson (1980). Von Robin Hood zu Jack the Ripper 79 ßen Teil erst kurze Zeit in London ansässig. 41 Ebensowenig war das staatliche Recht, das auf die Mitarbeit unbezahlter Laien und die Eigeninitiative der Bürger angewiesen war, in der Lage, die Konflikte zu lösen, die die wachsende Polarisierung der englischen Gesellschaft heraufbeschwor, in der eine reiche Minderheit das Justizsystem beherrschte und die macht- und vermögenslose Mehrheit kontrollierte. 42 So geriet das englische Strafrechtssystem im Laufe des 18. Jahrhunderts in die Kritik des Bürgertums, das um seine Sicherheit und seinen Besitz fürchtete. Es forderte vor allem zentralstaatliche Polizeikräfte, die eine wirksamere Verbrechensbekämpfung und -prävention ermöglichen sollten, zugleich aber weiten Bevölkerungskreisen als Zeichen eines despotischen Staates oder absolutistischer Willkür und als unvereinbar mit den Rechten eines »free-born Englishman« galten. Gegen den Widerstand der Gentry, die den Verlust ihrer lokalen Machtbefugnisse befürchtete, und vieler Gemeinden, die ihre Angelegenheiten weiterhin intern regeln wollten, wurden die Forderungen des Bürgertums im Laufe eines Jahrhunderts schrittweise erfüllt: In London wurde 1750 das Bow Street Police Office, 1800 die Thames River Police und 1829 die Metropolitan Police - Robert Peels berühmte »Bobbies«- eingerichtet; 1835 - 42 zogen verschiedene Counties und Städte (Manchester, Birmingham, Bolton) nach, bevor schließlich 1856 landesweit zentrale Polizeikräfte stationiert wurden. 43 Der Umstand, daß diese Reformen in London ihren Anfang nahmen und den Londoner Verhältnissen entgegenwirken sollten, ist sicher kein Zufall. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert galten die Städte den Besitzenden als Inkarnation des Bösen, als Brutstätte und Refugium von Kriminellen und Gestalten der übelsten Sorte - Stadt als sozialer, anonymer Raum und Verbrechen als Tätigkeitsform waren und sind auch heute noch untrennbar miteinander verbunden, und die Arbeit der Polizei ist ein Synonym all dessen, für das die Stadt steht. Daß Verbrechen eine bedrohliche Bedeutung im Bewußtsein der Menschen gewann, gründet dabei weniger in seinen realen Kosten für die Gesellschaft oder gar für das wohlhabende Bürgertum, sondern vielmehr in seiner engen, sinnbildlichen Verknüpfung mit anderen tiefliegenden Ängsten, die mit den Termini ›Veränderung‹ und ›Ordnung‹ gekennzeichnet werden können. ›Verbrechen‹ wurde zum übergreifenden Begriff, der sich problemlos mit Metaphern von Krankeit, Ansteckung und Verunreinigung assoziieren ließ, der ›Verbrecher‹ pathologisiert. Die Gleichsetzung von Kriminalität und armer Unterschicht wurde zum Axiom erhoben, während der Kriminelle aus der Arbeiterklasse gleichzeitig eine privilegierte Stellung unter den bürgerlichen Schreckgespenstern erhielt. Auf ihn übertrug man alle Furcht vor gesellschaftlichen Veränderungen, die sich ohne seine Hilfe nur schwer hätten ausdrücken lassen, und es dürfte wiederum kein Zufall sein, daß die entscheidenen Reformen des Polizeiwesen in England in jene Zeit fielen, in der Luddismus und Chartismus einen gewaltsamen politischen Umsturz befürchten ließen. 44 So erhellt die Behauptung, daß die Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossenen Reformen des Strafsystems und die Institutionalisierung neuer staatlicher Ordnungskräf- 41 Gatrell (1994: 8). Vgl. auch Ingram (1977) und King/ Noel (1994). 42 Vgl. zum Armenproblem Rogers (1991) und zu privaten Assoziationen zur Strafverfolgung im 18. Jahrhundert Shubert (1981). 43 Vgl. 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Für das Bürgertum besaß ein System, das mildere Strafen und zugleich höhere Strafsicherheit durch eine effiziente Polizei und leichtere, billigere Strafverfolgung versprach, fraglos große Attraktivität; mit ihm entstanden aber erst jene anderen charakteristischen Elemente der modernen Strafjustiz: Ein höheres Maß der Überwachung und Disziplinierung der Arbeiterklasse, stetig steigende Kriminalitätsstatistiken und eine sich selbst permanent reproduzierende Gefängnispopulation. Da das Bürgertum das kollektive Gut ›Recht und Ordnung‹ nur kollektiv geschaffen sehen wollte, wurde die Aufgabe der Strafverfolgung und sozialen Kontrolle von einer privaten zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht. 45 Für diese Entwicklung waren mehrere Faktoren verantwortlich: Der Niedergang der paternalistischen Gesellschaftsordnung und die Verschärfung der Klassengegensätze, die das alte System irrational und ineffizient erschienen ließen, da es die Ziele der Strafsicherheit, Prävention und Besserung nicht erfüllte, aber auch die Entstehung eines rationalen Managements der öffentlichen Verwaltung, die die Macht und Autorität lokaler Instanzen brach und zentralstaatlichen Institutionen übertrug. Aus der Sicht des 20. Jahrhunderts mag all dies vernünftig und geboten erscheinen; man sollte aber auch nicht übersehen, daß mit der Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft das Recht und seine Anwendung den historischen Subjekten, die es unmittelbar betraf, enteignet und in immer stärkerem Maße von Experten und Beamten verwaltet wurde, daß es aufhörte, »eine Funktion von Menschen zu sein, die ihr eigenes Gemeinwesen regieren«. 46 45 Vgl. Spitzer/ Scull (1977), Bailey (1981), Cohen/ Scull (1983), Donajgrodzki (1977). 46 E.P. Thompson: »Rough music« oder englische Katzenmusik, in: Ders.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt/ Berlin 1980, 118. 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So wie die Kriminalitätsgeschichte allgemein von einem ausgeprägten Pluralismus der Erkenntnisinteressen und Fragestellungen geprägt ist, die oftmals nur über das gemeinsame justitielle Quellenkorpus integrierbar sind, so weist auch die französische Forschungslandschaft eine große Vielfalt auf, die freilich von markanten methodischen und inhaltlichen Konturen durchzogen wird. Den einzelnen Strängen, den nicht ausbleibenden Verästelungen, Querbezügen und manchmal radikalen Schnitten soll ebenso nachgegangen werden wie den jedem Wissenschaftsbetrieb immanenten und über den engen Bereich der Kriminalitätsgeschichte hinausweisenden Konjunkturen der Forschung. Dementsprechend bietet sich eine zugleich thematische wie methodische Gliederung an, die zur gleichen Zeit die Chronologien der Wissenschaftsgeschichte widerspiegelt. Beginnen wird der Überblick mit der Eigentumskriminalität unter dem Blickwinkel quantifizierender Methoden, sozialgeschichtlicher Interpretationen und des Marginalitätskonzepts. Gewalt und Ehre bilden als Angelpunkte einer stärker mentalitätsgeschichtlich und historisch-anthropologisch orientierten Kriminalitätsgeschichte das umfangreichste der hier zu behandelnden Themen. Nach einem Exkurs zu den lange Zeit wenig berücksichtigten Themen Sittenzucht und weibliche Kriminalität soll die Rückbindung der Disziplin an die Geschichte der Strafjustiz und darüber an die politische Geschichte dokumentiert werden. Schließlich sollen Möglichkeiten einer Integration verschiedener Ansätze aufgezeigt werden. 1 Die ausländische, insbesondere die angelsächsische Forschung über Frankreich wurde prinzipiell nicht berücksichtigt. Vgl. aber Esther Cohen: The Crossroads of Justice. Law and Culture in Late Medieval France, Leiden u.a. 1993; Malcolm Greenshields: An Economy of Violence in Early Modern France. Crime and Justice in the Haute-Auvergne, 1587 - 1664, University Park, Pa. 1994. Aus deutscher Perspektive Martin Dinges: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. 2 Diese Zurückhaltung fällt besonders im Vergleich mit der Rezeption der angloamerikanischen Forschung auf. Vgl. Dirk Blasius: Kriminalität und Geschichtswissenschaft. Perspektiven der neueren Forschung, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), 615 - 626; ders.: Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 136 - 149; Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 385 - 414; Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 681 - 715. Henrik Halbleib 90 Die Orientierung an der konkreten historischen Forschung erscheint auch deshalb geboten, da theoretische Debatten und Reflexionen in der französischen Kriminalitätsgeschichte relativ selten expliziert werden. So lieferten fachfremde Autoren lange Zeit die anregendsten Überlegungen hinsichtlich Gegenstand, Methode und Interpretationsmodellen. 3 Die provokativen Anstöße Benoît Garnots 4 führten bezeichnenderweise zwar zu inzwischen drei von ihm organisierten Kolloquien in Dijon, auf denen die von ihm angesprochenen Probleme durchaus kontrovers diskutiert wurden, 5 eine Antwort auf diese steht bis heute jedoch aus. »Violence auVol« Den ersten Anstoß zu einer gleichermaßen sozialwie mentalitätsgeschichtlichen Erforschung der Kriminalität gab zu Beginn der 1960er Jahre Pierre Chaunu, als er seine Schüler dazu anregte, die Archive einzelner Gerichtsbezirke der Normandie auszuwerten. Diese Untersuchungen sollten einen Beitrag zu einer regionalgeschichtlichen »histoire totale« der ländlichen Gesellschaft des Ancien Régime leisten und zugleich die Geschichte der Armut von einem neuen Standpunkt aus in den Blick nehmen. 6 Die Masse der archivalischen Quellen erschien zudem geradezu ideal für die Erprobung der bereits in Wirtschaftsgeschichte und historischer Demographie bewährten seriellen Methode an neuen Fragestellungen. Unter dem von Chaunu geprägten Begriff des »quantitatif au troisième niveau« sollte vor allem langfristigen sozialen und mentalen Veränderungen nachgespürt werden. 7 Einen solchen Ansatzpunkt boten bereits die ersten bescheidenen Stichproben Bernadette Boutelets, deren Ergebnisse Chaunu mit der berühmten Formulierung »de la violence au vol« zusammenfaßte. 8 Der als Forschungshypothese angenommene Wandel von einer überwiegend von Gewalt geprägten archaischen zu einer modernen Kriminalität im Zeichen von Betrug und Diebstahl hat bekanntlich viele Historiker zur Auseinandersetzung angeregt: an Bemühungen, die These empirisch zu bestätigen oder zu falsifizieren fehlte es ebensowenig wie an methodisch-theoretischer Kritik. 9 Abgesehen 3 Roth: Histoire pénal; Lévy/ Robert: Histoire et question pénal; dies.: Le sociologue et l’histoire pénale. 4 Garnot: Une illusion; ders.: Pour une histoire nouvelle. 5 Garnot (Hg.): Histoire et criminalité; ders. (Hg.): Ordre moral et délinquance; ders. (Hg.): L’infrajudiciaire. 6 Pierre Chaunu: Déviance et intégration sociale - La longue durée, in: Marginalité, déviance, pauvreté, 5-16. 7 Pierre Chaunu: Un nouveau champ pour l’histoire sérielle: le quantitatif au troisième niveau, in: ders.: Histoire quantitative, histoire sérielle, Paris 1978, 216-230. Vgl. dazu auch allgemein Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der Annales, Berlin 1991, 77-82; Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. ›Annales‹-Geschichtsschreibung und ›nouvelle histoire‹ in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994, 345f. 8 Pierre Chaunu: Préface, in: Boutelet: Etude par sondage, 235 - 237. 9 Abweichende Ergebnisse seiner eigenen Schüler wie die von Gégot: Etude par sondage, der in der baillage von Falaise keinen absoluten Rückgang der Gewalt feststellen konnte oder von Margot: Criminalité, der in Mamers im 18. Jahrhundert die selben Deliktstrukturen feststellte, die der These zufolge dem 17. Jahrhundert anzugehören hatten, ignorierte er entweder in ihrer Tragweite (Gégot) oder erklärte sie zu Ausnahmen, die allein auf die Rückständigkeit des betreffenden Gebietes zurückzuführen seien (Margot). Zum Verlauf der Diskussion vgl. Le Roy Ladurie: La décroissance; Jens Chr. V. Johansen/ Henrik Stevnsborg: Hasard ou myopie? Réflexions autour de deux théories de l’histoire du droit, in: Annales E.S.C. 41 (1986), 601 - 624; Xavier Rousseaux: Existe-t-il une criminalité d’Ancien Régime (XIII- XVIIIe s.)? Réflexions sur l’histoire de la criminalité en Europe, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 123 - 166; ders.: Une illusion historiographique. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 91 von der unterschiedlich beantworteten Frage, ob die These für die historische Forschung überhaupt brauchbar oder ob nicht grundsätzlich der Zusammenhang der anhand von wenig problematisierten Quellen beobachteten Phänomene zu leugnen sei, waren in dieser These ebenso wie in der Durchführung der Arbeit bereits wichtige Forschungsparadigmen sowie die beiden wesentlichen Forschungsrichtungen der kommenden Jahre vorgezeichnet: Die Methode war quantifizierend, indem man versuchte, langfristig sich wandelnde Deliktstrukturen durch Statistiken der Prozesse oder der Urteile zu rekonstruieren, die man zuvor selbst aus den Archiven erstellt hatte. Nicht allein durch die im Vergleich zu früheren Jahrhunderten bessere Quellenlage, sondern als Epoche des Wandels und Scharnier zur Moderne rückte das 18. Jahrhundert in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Eine Perspektive, die sich nicht zuletzt dem Zäsurcharakter der Revolution von 1789 in der französischen Historiographie verdankt. 10 Das Interesse richtete sich ganz unmittelbar auf die Täter, ihre mentalen und sozialen Motivationen, die man, wenngleich methodisch verfeinert, auf den Traditionspfaden der älteren historischen Kriminologie durch eine überwiegend phänomenologische, die Wirkungsweisen sozialer Kontrolle und der Justiz außer Acht lassende Betrachtung von Delinquenz erkennen zu können glaubte. 11 Die mentalitätsgeschichtlichen Ansprüche der »histoire au troisième niveau« schien die Frage nach den Ursachen der vermeintlichen Abnahme der Gewalt zu befriedigen, lag doch der Schluß auf eine geglückte Zivilisierung durch die Internalisierung der Affektkontrolle nahe. Demgegenüber schien der Anstieg der Eigentumsdelikte weniger auf eine Raffinesse der Sitten als auf Veränderungen des Lebensstandards und der Sozialstruktur an der Schwelle zur Moderne hinzudeuten, womit zwangsläufig eine stärker sozialgeschichtliche Orientierung einherging. Die Zeitläufte der Wissenschaftskonjunktur führten dazu, daß das Interesse an den Unterschichten, an der Kleinkriminalität der Vaganten und Marginalisierten in den Vordergrund trat. Obgleich durch die Vorgaben des akademischen Betriebes (es handelt sich meistenteils um Zusammenfassungen von »mémoires de maîtrise«) in Umfang und Fragestellung begrenzt, stehen die Arbeiten der Schüler Chaunus exemplarisch für diesen Trend. Die Gewaltdelikte der »criminels par accident« erschienen Chaunu unter dem Primat einer ›Geschichte von unten‹ bald weniger relevant als die »classe dangereuse« der Marginalisierten. 12 An den von Chaunu propagierten Forschungsparadigmen orientierten sich jedoch nicht allein seine eigenen Schüler, sondern auch Historiker aus anderen Forschungszusammenhängen, wie etwa aus der seit Ende der 1960er Jahre in Paris um François Billacois gescharten Gruppe oder aus dem Kreis der Schüler Pierre Deyons in Lille. 13 An weitgehend anspruchslos quantifizierenden Studien, die regionale Deliktstrukturen und soziale Täterprofile beschrieben, fehlte es auch in der Folge- 10 Vor allem die Interpretationen der Pariser Kriminalität im 18. Jahrhundert als Ausdruck sozialer Spannungen zwischen Obrigkeit/ Eliten und Volk verweisen immer wieder auf die Französische Revolution. So stellten etwa Farge/ Zysberg: Les théâtres, 1012, deutliche Bezüge zwischen alltäglicher und revolutionärer Gewalt heraus. Vgl. auch Farge: Le vol d’aliments; Lecuir: Montyon, 489 - 493. 11 Zur Kritik vgl. Roth: Histoire pénale, 195, der zudem den Forschungsstand um 1980 zusammenfaßt. 12 Pierre Chaunu: Préface, in: Gégot: Etude par sondage, 103 - 108, hier : 106f. Anschauliche Beispiele für diese Forschungsrichtung bieten Crepillon: Mendiants; Boucheron: Flot des errants; vgl. auch die Beiträge in Marginalité, déviance, pauvreté. 13 Billacois: Enquête, mit expliziter Bezugnahme auf Chaunu. Die ersten Ergebnisse wurden in einem Sammelband in der Reihe der Cahiers des Annales publiziert: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité.; Deyon: Le temps des prisons. Henrik Halbleib 92 zeit nicht. 14 Explizit vergleichende Untersuchungen blieben dagegen aus, und wo man die eigenen Ergebnisse in den Kontext der Forschung einordnete, da zeigte man sich von der »Violence-au-vol-These« häufig so geblendet, daß Fragen der Quellenauswahl und -auswertung außer Sicht gerieten. Nachdem so die konzeptionellen Grundlagen geschaffen worden waren, erlebten die mittleren bis späten 1970er Jahre eine Hochkonjunktur sozialgeschichtlicher Forschung zur Eigentumskriminalität und Marginalität. Die als Quellen entdeckten und allmählich erschlossenen Justizarchive boten die Gelegenheit, die Geschichte der Ausgrenzung von Randgruppen - »ces muets d’histoire« 15 - in den europäischen Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu schreiben: »Les archives de la répression sont le reflet le plus important de l’existence et des activités des groupes marginaux.« 16 Die Zusammenhänge von Armut, Delinquenz, Marginalisierung und Kriminalisierung wurden intensiv diskutiert und aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln erforscht. 17 Daß die Ausgrenzung von Randgruppen im Gegensatz zu den ersten Annahmen Chaunus oder Le Roy Laduries kein Phänomen primär des 18. Jahrhunderts und somit der Krise des Ancien Régime im Vorfeld der Französischen Revolution war, zeigten die vielbeachteten Studien des lange Jahre in Paris tätigen polnischen Historikers Bronislaw Geremek über die Entstehung und Kriminalisierung von Randgruppen im späten Mittelalter. 18 Wenngleich Geremek der Bedeutung sozialer und ›ideologischer‹ Diskurse für die zunehmende Kriminalisierung der Fahrenden am Ausgang des Mittelalters Rechung trug, so verstand er doch den Wandel der kollektiven Einstellungen nur als Überbau der sozioökonomischen Basis von Unterbeschäftigung, Entwurzelung und Pauperisierung. 19 Einigkeit herrschte in der Forschung über die Zusammenhänge von Marginalisierung und professioneller Kriminalität, wenngleich erst relativ spät die Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen um die Beobachtung ergänzt wurde, daß die insbesondere im späten Mittelalter häufige Strafe der Verbannung eine entscheidende Etappe auf dem Weg einer gelegentlichen Alltagsdelinquenz in die dann erzwungene Professionalität darstellte. 20 Ein aufschlußreiches mikrohistorisches Beispiel bieten in diesem Zusammenhang die von Françoise Gasparri entdeckten und sorgfältig edierten Akten eines Prozesses des 15. Jahrhunderts in der Provence. 21 Der einer ganzen Deliktpalette von 14 Die folgende Aufzählung muß angesichts der Fülle der Aufsätze und der erschwerten Zugänglichkeit regionalgeschichtlicher Publikationen notwendigerweise unvollständig bleiben. Weitere Hinweise enthält die umfassende Bibliographie bei Rousseaux: Existe-t-il (wie Anm. 9), 149 - 166 ; Leclercq: Délits et répression; Surrault: Les »errants« en Touraine; Bourin/ Chevalier: Le comportement criminel; Muracciole: Quelques aperçus; Garnot: Délits et châtiments; ders.: La délinquance en Anjou; Dufresne: La délinquance; Desfontaines: La délinquance dijonnaise; Couillard: La criminalité à Vendôme. 15 Geremek: Criminalité, 337. 16 Ebd., 338. 17 Die ausufernde Literatur zu diesem weiten Themenkomplex gerade in den 1970er Jahren kann hier nicht dokumentiert werden, verwiesen sei nur auf die vielschichtigen Beiträge des dem Thema gewidmeten Heftes der Revue d’histoire moderne et contemporaine 21 (1974), sowie die Sammelbände Les marginaux et les exclus dans l’histoire und Marginalité, déviance, pauvreté en France. Wichtige Impulse gingen auch von den Arbeiten Michel Mollats zur Geschichte der Armut aus: vgl. etwa Misraki: Criminalité et pauvreté. 18 Geremek: Criminalité; ders.: Les marginaux. 19 »Les controverses idéologiques du XVIe siècle, les transformations des attitudes sociales (...) est un phénomène secondaire aux expériences sociales du siècle«, Geremek: Criminalité, 365. 20 Muchembled: La violence au village, 78 - 82. 21 Gasparri: Crimes et châtiments. Einleitung und Analyse bleiben leider weit unter dem editorischen Niveau. Bloß eine literarische Nacherzählung derselben Angelegenheit bietet dies.: Un crime en Provence. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 93 Diebstahl und Zuhälterei bis Raub und Mord angeklagte Haupttäter erfüllte zwar zentrale Kategorien der Marginalität (Armut und Landstreicherei verschärften die Anklage noch zusätzlich), jedoch verfügte er offenbar über gute Kontakte zu lokalen Adeligen, in deren Diensten er einst gestanden hatte. Die Beteiligung von Adeligen an Räuberbanden ist sogar noch für das 18. Jahrhundert belegt. 22 Daß diese Banden nicht nur Reisende und Händler auf den »grands chemins« ausraubten, sondern sehr wohl eine reale Bedrohung der seßhaften Landbevölkerung darstellten, die durch das Gefühl von Schutzlosigkeit und Ausgeliefertsein sicherlich zu Übersteigerungen und entsprechend heftigen Gegenreaktionen führte, zeigte eine Reihe von regionalen Untersuchungen. 23 Ob das Räuberwesen einer spezifisch mediterranen Tradition entsprungen oder die zumindest an der geographischen Verteilung der Untersuchungen ablesbare Dominanz Süd- und Zentralfrankreichs nicht eher auf die günstigeren topographischen Gegebenheiten zurückzuführen ist, sei an dieser Stelle dahingestellt. 24 Weniger spektakuläre und stärker in der seßhaften Bevölkerung verwurzelte Formen organisierter Kriminalität, die man gleichwohl überzeugend als »social crimes« interpretieren konnte, waren wie der Handel mit illegal in den königlichen Wäldern geschlagenem Holz, der Tabakschmuggel oder der Schwarzhandel mit Salz dagegen nur vereinzelt Gegenstand kleinerer Aufsätze. 25 Ein unzweifelhaftes Verdienst des Marginalitätskonzeptes war es, die Abhängigkeit der Delinquenz von gesellschaftlichen und normativen Etikettierungen sowie die damit verbundenen Mechanismen der Kriminalisierung ins Bewußtsein gerückt und somit die ursprünglich naive Auffassung von Kriminalität als einem unmittelbar in den Archiven reflektierten faktischen Ausdruck sozialer Verhältnisse entscheidend weiterentwickelt zu haben. Marginalität konnte nicht losgelöst von gesellschaftlichen Diskursen und obrigkeitlichen Unterstützungs- oder Verfolgungspraktiken betrachtet werden, wenngleich die Konzentration auf das soziale Umfeld der Delinquenz die Bedeutung dieses Perspektivenwechsels teilweise relativierte. Insbesondere die Rolle der Justiz blieb weitgehend aus den Betrachtungen ausgeklammert. Indessen fand die Darstellung der marginalisierten ›Gegenkultur‹ in gelehrten Traktaten und im pikaresken Roman interdisziplinäre Aufmerksamkeit. 26 Nicht als Wiedergabe historischer Realitäten, sondern als wichtigen Hinweis auf die seit dem späten Mittelalter veränderte Einstellung gegenüber Armen und Bettlern sowie als Transformationsriemen von Stereotypen, die als »outillage mental« die Wahrnehmung der Richter und damit das uns in den Justizarchiven überlieferte Bild der Kriminalität prägten, betrachtete Roger Chartier diese Repräsentationen. 27 22 Catherine Goyer: La délinquance en bandes en Lyonnais, Forez et Beaujolais (1743 - 1789), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 1 8 9 -198. 23 Dominique: Les brigands; Dyonet: L’écho du brigandage. Nur zu einzelnen legendären Räubergestalten die Beiträge des Sammelbandes Brigands en Rouergue. 24 Garnot: La perception des délinquants, 360. 25 Corvol: Les délinquances forestières; dies. (Hg.): Forêt, villageois et marginaux; Jehanne Roche: Pouvoir et délinquances aux limites du Maine et de l’Anjou (1680 à 1789), in: Justice et répression, 155 - 168; Michel Vernus: Faux-sauniers et faux-saunage dans le Jura (XVIIIe siècle), ebd., 207 - 225; Huvet-Martinet: La répression du faux-saunage; Lachiver: La fraude. 26 Vgl. die Sammelbände Culture et marginalités au XVIe siècle, Paris 1973; Exclus et systèmes d’exclusion dans la littérature et la civilisation médiévales, Aix-en-Provence/ Paris 1978; Juan Antonio Martinez Comeche (Hg.): Le bandit et son image au siècle d’or, Paris/ Madrid 1991. 27 Roger Chartier: Les élites et les gueux. Quelques représentations, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 21 (1974), 376 - 388; ders.: La »Monarchie d’argot« entre le mythe et l’histoire, in: Les exclus dans l’histoire, 275 - 311. Anhand von Beispielen aus dem 18. Jahrhundert zeigte auch Peveri: Les pickpockets, die Diskrepanz zwischen literarischer Fiktion und krimineller Realität auf. Henrik Halbleib 94 Mit diesem Hinweis legte Chartier auch den Finger auf das grundsätzliche Problem des Marginalitätskonzeptes, das in der Gefahr besteht, unbewußt die stereotype Identifizierung von Marginalisierten und Kriminellen in den politischen, gesellschaftlichen und juristischen Diskursen der Zeit zu übernehmen. Zudem versperrte diese auf Randgruppen verengte Betrachtungsweise den Blick auf die Delinquenz der Mehrheit, die aufgrund der unterschiedlichen Einstellungen der Justiz und der Bevölkerung gegenüber Einheimischen und Fremden in den Quellen vor allem bei Diebstählen unterrepräsentiert ist. Das Interesse am Thema Marginalität nahm in der Folgezeit in dem Maße ab, in dem gleichzeitig die Normalität der Delinquenz und ihr Verhältnis zu den allgemein geteilten gesellschaftlichen Werten und Normen in den Vordergrund rückte, was nicht heißen soll, daß das Konzept in neueren global angelegten Arbeiten in veränderter Perspektive keine Rolle mehr spielen würde. 28 Weniger theoretische Reflexionen als die faktische Macht des Empirischen erwiesen die nur geringe Brauchbarkeit des Marginalitätskonzeptes für das weiterhin bevorzugt untersuchte 18. Jahrhundert. Die Unschärfe des Begriffes, die häufige Identifizierung der Randgruppen mit den Unterschichten per se, mußte in dem Moment problematisch werden, in dem eine explizit sozial verstandene Delinquenz wie Diebstahl Ausmaße annahm, die man schwerlich noch einem Randgruppen-Phänomen zurechnen konnte. Das Anwachsen städtischer Unterschichten gegen Ende des Ancien Régime ließ den Begriff der Marginalität in diesem Kontext obsolet erscheinen. An dessen Stelle setzte Arlette Farge in ihrem 1974 erschienenen Buch über den Mundraub im Paris des 18. Jahrhunderts die kleinen Leute, die alltägliche Kleinkriminalität: »Le fait criminel est aussi un fait quotidien, celui avec lequel le peuple doit vivre (...) et qui fait partie du paysage social habituel«. 29 Eine scheinbar nuancenhafte begriffliche Verschiebung, deren Tragweite sich erst auf den zweiten Blick erschließt. Einer umfassend quantifizierenden Aufarbeitung der Täterstrukturen korrespondierte eine Interpretation, die die ökonomischen Ursachen und das an der obrigkeitlichen Repression ablesbare soziale Spannungspotential der Delikte hervorhob. 30 Soweit kann man das Buch als Kronzeugen der an Strukturen interessierten Sozialgeschichte der 1970er Jahre verstehen. Der Versuch, die Lebensweisen der Täter, ihre sozialen Beziehungen und Einstellungen gegenüber der Justiz nicht unter der Prämisse einer kriminellen Randständigkeit nachzuzeichnen, sondern sie als Teil des alltäglichen Lebens der Mehrheit der Pariser Bevölkerung ernst zu nehmen, wies jedoch bereits über diesen engen Rahmen hinaus. In ihren späteren, in Deutschland durch Übersetzungen weit verbreiteten Arbeiten über familiäre und Geschlechterkonflikte verfolgte Farge diesen hier nur angedeuteten Weg noch wesentlich konsequenter weiter. 31 28 Vgl. allgemein Claude Gauvard: Le concept de marginalité au Moyen Âge: criminels et marginaux en France (XIVe -XVe siècles), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 363 - 368; Gauvard: »De grace especial«, 400 - 410, 457 - 474. Eine intensive Bezugnahme auf Geremek noch bei Chiffoleau: Les justices; vgl. auch Gonthier: Cris de haine, 65 - 86; dies.: Délinquance, justice et société, 147 - 152; Muchembled: Le temps des supplices, 82-97; ders.: La violence au village, 70 - 85. 29 Farge: Le vol d’aliments, 11. 30 An dieses Interpretationsmodell lehnte sich auch Peveri: Les pickpockets, für den nichtprofessionellen Teil der Pariser Taschendiebe an. 31 Farge/ Foucault: Familiäre Konflikte; Farge: Das brüchige Leben. Vgl. auch El Ghoul: La police parisienne. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 95 Ehre und Gewalt Gemessen an den theoretischen Aussagen Chaunus oder Billacois’, denen gerade der behauptete Rückgang der Gewaltdelikte im 18. Jahrhundert als Anknüpfungspunkt an die serielle Mentalitätsgeschichte diente, könnte das anfänglich geringe Interesse der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung an entsprechenden Fragestellungen überraschen. Dies erklärt sich allerdings damit, daß man zwar langfristige mentale Veränderungen an den Entwicklungen der Deliktstrukturen ablesen zu können glaubte, sich aber schwer damit tat, diese Wandlungsprozesse allein durch das Zählen und Ordnen von Tätern und Delikten genauer zu beschreiben, geschweige denn anspruchsvoll zu interpretieren. Der einfache Schluß vom Verhalten, den Delikten, auf dahinter vermutete Mentalitäten konnte nur zu sehr vagen und betont vorsichtig gehaltenen Aussagen führen. Um sich dagegen mittels der Justizarchive den diffusen kollektiven Einstellungen und Werten einzelner Gruppen oder ganzer Gesellschaften anzunähern, war eine methodische Neuorientierung dringend notwendig. Den ambitioniertesten frühen Versuch, das Spektrum der Kriminalitätsgeschichte über die unmittelbaren Deliktzusammenhänge hinaus zu erweitern, stellten sicherlich die Arbeiten Yves Castans über das Languedoc des 18. Jahrhunderts dar. Bereits sein Beitrag über ländliche und städtische Mentalitäten in dem Sammelband der Pariser Forschungsgruppe um Billacois fiel aus dem von den übrigen Aufsätzen vorgezeichneten Rahmen. 32 Und mit der 1974 publizierten Studie »Honnêteté et relations sociales en Languedoc« 33 eröffnete Castan der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung in Frankreich nicht nur ein neues, bis auf den heutigen Tag fruchtbares Arbeitsfeld, sondern auch einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma der Quantifizierung. Nicht die vermeintlich harten Fakten der Kriminalstatistiken, die doch nur einen Bruchteil der tatsächlichen Konflikte und Verbrechen widerspiegeln, sollten von nun an analysiert werden, sondern die in den symbolischen Verhandlungen und Repräsentationen der Wirklichkeit in den Aussagen der Akteure (Zeugen, Kläger, Angeklagte) faßbaren »comportements globales«, verstanden als Gesellschaften oder Gruppen strukturierende Komplexe von wert- und verhaltensbestimmenden Einstellungen. 34 Damit einher ging eine Auflösung der Täterfixierung zugunsten des gesamten sozialen Umfeldes, im konkreten Fall der sozialen Beziehungen und Normen. Mit der Hinwendung zur Sprache, der Wahrnehmung der Quellentexte als freilich recht einfach zu dekodierender Fiktion 35 , bewegte sich Castan in einer massiven historiographischen Strömung. Wie viele seiner Zeitgenossen ließ auch er sich von Ethnologie und Anthropologie (Levi-Strauss, Mauss, 32 Yves Castan: Mentalités rurale et urbaine à la fin de l’Ancien Régime dans le ressort du Parlement de Toulouse d’après les sacs à procès criminels (1730 - 1790), in: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité, 109 - 185. 33 Y. Castan: Honnêteté. 34 Ebd., 35 - 44. 35 Den Vorwurf eines zu unkritischen Umgangs mit einem ebenfalls gerichtlichen Quellenkorpus (Inquisitionsprozesse) zog vor allem auf sich Emmanuel Le Roy Ladurie: Montaillou, Paris 1975; deutsch: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294 - 1324, Frankfurt a. Main/ Wien/ Berlin 1983; zur Kritik vgl. Burke : Offene Geschichte (wie Anm. 7), 86; Y. Castan: Honnêteté, 501 - 517, behauptete ebenfalls, gerade in den Zeugenaussagen »l’essentiel du témoignage social« auffinden zu können. Später variierte er diese Auffassung dahingehend, daß gerade der Rekurs auf Ehrvorstellungen einen Anpassungsprozess an gerichtliche Gegebenheiten durchlaufen hätte: ders.: Parole et honneur dans les pièces des procès (Tournelle de Toulouse au XVIIIe siècle), in: Bercé/ Y. Castan: Les archives, 21 - 27. Henrik Halbleib 96 Bourdieu) inspirieren. 36 Einen völligen Bruch mit den Forderungen der seriellen Methode vollzog Castan noch nicht, 37 allerdings verbannte er die statistischen Angaben etwa über die »attitudes de psychologie sociale« aus dem eigentlichen Text in den Anhang. Um die genaue, mit dezidiert ethnologischem Blick erfolgende Beschreibung seines Untersuchungsgegenstandes mit einer angemessenen Interpretation zu verbinden, wählte Castan das Konzept der »honnêteté«, ein vom höfischen Paris ausstrahlendes, zivilisierte Umgangsformen und tugendhaftes Leben einforderndes Verhaltensmodell, dessen Einfluß sich im Languedoc des 18. Jahrhunderts nur ganz allmählich bei bestimmten sozialen Gruppen (überwiegend in den Städten) ausweitete. 38 Den eigentlichen Reiz der Darstellung übte jedoch die Negativfolie der laut Castan gegen einen solchen Kulturimport unter anderem aus Gründen der sprachlichen Differenz weitgehend resistenten traditionellen Lebensformen aus. Als entscheidendes Moment dieser okzitanischen Geselligkeit (»sociabilité«) erschien Castan ein allgemeines und prinzipiell egalitäres, auf der Enge und Vertrautheit (»familiarité«) der Gemeinschaften beruhendes Verständnis von Ehre, das nicht nur die Grenzen des Verhaltens bestimmte, sondern zugleich die Konflikte in Realität und justitieller Repräsentation strukturierte. 39 Daß das Motiv der Ehre und der Ehrverletzung in gewalttätigen Auseinandersetzungen eine gewisse Rolle spielt, hatten bereits vereinzelte empirische Befunde in früheren Arbeiten ergeben, 40 doch erst einige Jahre nach den Anregungen Y. Castans sollte mit der breiten Durchsetzung historisch-anthropologischer Erkenntnisinteressen, der eine Wendung hin zu tieferen, vermeintlich traditionell-stabileren Verhaltensmuster aufweisenden historischen Zeitschichten korrespondierte, ein grundsätzlicher Wandel in der Forschungslandschaft stattfinden. Nicht der deterministische Rückgang der Gewaltdelikte im 18. Jahrhundert als Vorbote der Moderne, sondern Gewalt als konstitutives Element sozialer Beziehungen und Alltagswirklichkeiten in der Vormoderne stand unter diesen Gesichtspunkten im Mittelpunkt. Daß das Gewaltniveau - ablesbar an den Raten der Tötungsdelikte - in den alteuropäischen Gesellschaften höher gewesen sei als in unserer Gegenwart, galt und gilt, allen Bedenken gegenüber zweifelhaften Datenkonstruktionen zum Trotz, als eine Grundgewißheit kriminalitätsgeschichtlichen Forschens, 41 die bereits per se ein erhöhtes Interesse daran, wie es mit jener gewalttätigen »Welt, die wir verloren haben« eigentlich gewesen sei, zu rechtfertigen vermocht hätte. Hinzu gesellte sich jedoch in den späten 1980er Jahren eine spürbare gesellschaftliche 36 Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, daß der französische Sprachgebrauch mit »ethnologie« häufig das bezeichnet, was im Deutschen unter den Begriffen Sozial- und Kulturanthropologie verstanden wird. Zur »anthropologischen Wende« in der französischen Geschichtswissenschaft vgl. auch allgemein Burke: Offene Geschichte, 83 - 88; Raphael: Erben (wie Anm. 7), 364 - 382 ; ebd., 361f., auch eine kritische Einordnung Y. Castans in den Kontext der ›Annales‹-Schule. 37 Vgl. auch die Reflexionen über die Notwendigkeit der seriellen Methode für die Analyse von Zeugenaussagen und Verhören bei Y. Castan: Exemplarité. 38 Y. Castan: Honnêteté, 22 - 35, 493. 39 Ebd., 48 - 56, 520 - 526. Zur Ehre als einem Konzept der Frühneuzeitforschung vgl. Martin Dinges: Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: Zeitschrift für historische Forschung 16 (1989), 409 - 440. 40 Bercé: Aspects; Champin: Criminalité. 41 Der Forschungsstand ist zusammengefaßt bei Xavier Rousseaux: Ordre moral, justice et violence: l’homicide dans les sociétés européennes. XIIIe -XVIIIe siècle, in: Garnot (Hg.): Ordre moral et délinquance, 65 - 82; ders.: Civilisation des mœurs. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 97 und intellektuelle Desillusionierung angesichts des Scheiterns emanzipatorischer Kriminalitätsverhinderungsstrategien und vermeintlichen oder tatsächlichen Ausbrüchen von Gewalt, die verstärkt nach deren kulturanthropologischen Bedingungen in der Geschichte fragen ließ. 42 Die bekannteste und bei weitem spektakulärste Form, mit Gewalt verletzte Ehre wiederherzustellen, stellte sicherlich das vor allem von Adeligen genutzte Duell dar, das in Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte, bis es unter dem Druck kirchlicher Moralisierung und absolutistischer Repression im Zeitalter Ludwigs des XIV. als reales Phänomen nahezu bedeutungslos wurde. Den Wandel von einer öffentlichen, sogar königlich sanktionierten Institution mit Wurzeln in gerichtlichen (Gottesurteil, gerichtlicher Zweikampf) sowie ritterlich-militärischen Traditionen des Mittelalters zu einem von Strafverfolgung bedrohten Delikt, das im Geheimen dafür um so tödlichere Formen annahm, zeichnete François Billacois in einer materialreichen Studie, dem Ergebnis beinahe zweier Forschungsjahrzehnte, nach. 43 Geradezu symptomatisch für den Wandel der Forschungslandschaft in diesem Zeitraum steht die Tatsache, daß Billacois seinen anfänglich quantifizierenden Ansatz in Einsicht der Unmöglichkeit, aus fragwürdigen Datenreihen mehr als nur eindimensionale Schlüsse zu ziehen, aufgab und sich statt dessen darauf beschränkte, für die drei von ihm konstatierten Phasen der Entwicklung je ein einziges typisches Beispiel zu analysieren. Angereichert mit ideengeschichtlichem Material, gelang es in der Studie gleichwohl nicht, den vagen Anspruch des Untertitels einer »psychosociologie historique« mit mehr zu füllen als der ebenso vagen Folgerung, im Duell habe sich die Krise der Epoche in den barocken Protagonisten Bahn gebrochen. 44 Das Problem der Ehre interessierte Billacois offenkundig weniger. Als notwendige Voraussetzung des Duells erschien ihm die Ehre weitgehend statisch, weshalb er darauf verzichtete, sie zu historisieren und auf dieser Ebene nach Veränderungen zu fragen. Zu der Erkenntnis, daß die Verteidigung der Ehre im Frankreich der Vormoderne keine Angelegenheit primär des Adels oder einzelner anderer etwa berufständischer Gruppen (Ehrbarkeit des Handwerks) war, sondern die Verhaltensweisen und sozialen Beziehungen der gesamten Gesellschaft prägte, trugen ethnologische Feldstudien im Mittelmeerraum erheblich bei. Die von Pierre Bourdieu anhand des empirischen Materials seiner Untersuchungen in Algerien entwickelten Konzepte 45 versuchten die Sozialanthropologen Elisabeth Claverie und Pierre Lamaison auf die abgelegene und deshalb für eine Fallstudie über eine traditionelle Gesellschaft besonders geeignete Bergregion des Gévaudan zu übertragen. 46 Der lange Betrachtungszeitraum vom 17. Jahrhundert bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs ließ die mentalen Kontinuitäten ins Blickfeld rücken, die ansonsten infolge der oftmals historiographisch unüberwindlichen Epo- 42 Sein diesbezügliches Interesse begründete mit dezidiertem Gegenwartsbezug Muchembled: Anthropologie de la violence, 31; ders.: La violence au village, 5. 43 Billacois: Le duel; vgl. auch ders.: Le parlement de Paris et les duels au XVIIe siècle, in: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité, 33 - 47. Zu den mittelalterlichen Wurzeln des Duells vgl. auch Ludwig Vones: Un mode de résolution des conflits au bas Moyen Âge: le duel des princes, in: Contamine/ Guyotjeannin (Hg.): La guerre, 321 - 332. 44 Billacois: Le duel, 396ff. 45 Pierre Bourdieu: Sociologie de l’Algérie, Paris 1961; ders.: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. Main 1976. 46 Claverie/ Lamaison: L’impossible mariage. Henrik Halbleib 98 chengrenze der Französischen Revolution unterbewertet blieben. Doch mit dem Verzicht der Autoren auf jegliche chronologische Ordnung geriet die ›dichte Beschreibung‹ einer engen Welt, in der die vom ›symbolischen Kapital‹ der Ehre bestimmten Auseinandersetzungen der einzelnen ›Häuser‹ (»l’ousta«) um die knappen Ressourcen (etwa des Heiratsmarktes) häufig in Gewalt endeten, zu statisch. An diesem Defizit hatte auch die vollständige Herauslösung der Gewaltakte aus dem justitiellen Kontext, der bei Y. Castan zumindest noch die Einordnung des Quellenmaterials erlaubte, einen erheblichen Anteil. Die enge Verzahnung von Ehrverletzungen und Gewalttätigkeiten, zumindest was den Niederschlag in Strafprozessen angeht, bestätigte Hugues Lecharny in einer Studie über Beleidigungen im Paris des 18. Jahrhunderts. 47 Im Hintergrund dieser Ehrenhändel wirkten laut Lecharny soziale Spannungen aufgrund von bedrängten Lebensverhältnissen und Klassengegensätzen, eine schon bekannte Interpretation, mit der Arlette Farge und André Zysberg auch die alltäglichen ›Theater der Gewalt‹ zu erklären suchten. 48 Entgegen dem Titel unterließen es die beiden Autoren, das Theatralische an der Art des Austragens der Konflikte genauer zu beleuchten. Statt dessen begnügten sie sich damit, jedem georteten Konflikttypus die entsprechende soziale Ursache zuzuordnen: Streitigkeiten zwischen Gläubigern und Schuldnern oder zwischen Meistern und Gesellen ließen sich sozioökonomisch begründen, während öffentliche Gewalttätigkeiten unter Männern auf die Frustrationen der Lebensbedingungen der Unterschichten zurückgeführt wurden. Das Beispiel verweist auch auf die kontrovers diskutierte Frage, ob es spezifisch städtische Formen und Ursachen der Gewalt gegeben habe, wie sie Farge und Zysberg mit Hinweis auf die besonderen sozialen Verhältnisse in Paris konstatierten. Für das späte Mittelalter vertrat Jacques Chiffoleau anhand der Akten der päpstlichen Gerichtsbarkeit in Avignon die Auffassung, daß vor allem die Entwurzelung (»déracinement«), das Abreißen der vertrauten sozialen Bande in den nach den Bevölkerungskrisen des 14. Jahrhunderts von Zuwanderern geprägten Städten (wobei Avignon durch die Anwesenheit der Kurie natürlich eine Sonderstellung einnahm) für eine besonders große Gewaltbereitschaft sorgte. 49 Daß enge soziale Bindungen ihrerseits Gewalt zu produzieren pflegen, war dem Autor indessen entgangen. Dementgegen wies Nicole Gonthier auf die konfliktverschärfende Rolle von spezifisch städtischen Solidargemeinschaften wie Zünften, Familienverbänden oder studentischen ›Nationen‹ hin, 50 zu denen aber nicht nur ländliche Entsprechungen existierten, sondern denen wiederum konfliktmindernde Funktionen zugemessen werden können, wie Claude Gauvard zeigen konnte. 51 Aufgrund vielfältiger Hinweise auf die engen Verflechtungen der Städte mit ihrem Umland und der oft unklaren Reichweite städtischer Gerichtsbarkeit plädierte Gauvard dafür, die scharfe Gegenüberstellung von Stadt und Land auf der Deliktseite weitestgehend aufzugeben. 52 Besonderheiten wollte sie nur noch in der stärkeren Institutionalisierung der städtischen Pazifizierungs- und Versöhnungsbemühungen sowie den An- 47 Lecharny: L’injure. Für eine wesentlich differenziertere Aufarbeitung der Ehrenhändel vor den Pariser Polizeikommissaren vgl. Dinges: Der Maurermeister (wie Anm. 1). 48 Farge/ Zysberg: Les théâtres. 49 Chiffoleau: La violence. Der Nachweis eines höheren städtischen Gewaltniveaus gelang Chiffoleau nicht. Der Vergleich mit einem ländlichen Gebiet entbehrte jeglicher Grundlage, ebd., 370. 50 Gonthier: Cris de haine, 33 - 46, 116ff. Die angeführten Beispiele stammen überwiegend aus Italien. 51 Gauvard: Violence citadine. 52 Ebd.; dies.: La criminalité parisienne. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 99 sätzen einer sich professionalisierenden Kriminalität von Delinquenten am Rande der Marginalität sehen. Im 18. Jahrhundert galt dann die Stadt mit ihren komplexeren sozialen und ökonomischen Beziehungen je nach Perspektive entweder als Pflanzstätte ›zivilisierteren‹, d.h. weniger gewalttätigen Verhaltens (Y. Castan), oder als Bühne gewaltsam ausgetragener Klassenkonflikte (Farge und Zysberg). 53 Ein Widerspruch, der über konzeptionelle Differenzen hinaus aus der sehr unterschiedlichen Verfaßtheit der untersuchten Städte zu erklären ist: Während die Städte des Languedoc bei Castan gegenüber dem Land für ein Mehr an Mobilität, französischen Sprachkenntnissen und Präsenz der das Verhaltensmodell der »honnêteté« vorlebenden Oberschichten standen, so prägten im Paris von Farge und Zysberg sozial vielfach noch kaum verankerte (ländliche) Zuwanderer die konfliktträchtigen Unterschichten. Leider wird auch bezüglich dieser Fragestellung der Mangel an wirklich vergleichenden Ansätzen deutlich. Der Aufgabe, die Geschichte der Gewalt über die Jahrhunderte hinweg in Synthesen umfassend darzustellen, stellt sich eine von Robert Muchembled betreute, für ein breites Publikum konzipierte Publikationsreihe. 54 Da die Konzeption der beiden Bände zur dörflichen (Muchembled) und städtischen Gewalt (Gonthier) alles andere als einheitlich ist, fällt auch hier ein Vergleich schwer. Dem Anspruch einer Synthese entspricht vor allem der von Nicole Gonthier verfaßte Band »Cris de haine et rites d’unité«, der die maßgebliche Literatur zu den westeuropäischen, infolge der Forschungslage vor allem italienischen Städten vom 13. bis 16. Jahrhundert zusammenfaßt, ergänzt um die Befunde ihrer eigenen Forschungen zu Lyon und Dijon. Gewalt wird dabei unabhängig von strafrechtlicher Sanktionierung und Repression gesehen, womit ständische Konflikte und urbane Revolten gleichermaßen Beachtung finden. 55 Diese Offenheit gegenüber anderen Formen der Gewalt ist einerseits wegen der sozialen Enge der mittelalterlichen Städte, die persönliche und politische Feindschaften ineinander übergehen läßt (man denke etwa an die Fehden verfeindeter Patrizierfamilien), zu begrüßen, rührt andererseits aber an ein grundsätzliches Abgrenzungsproblem. Eine Geschichte der Gewalt kann sich wohl kaum auf diejenigen Formen beschränken, die von den Zeitgenossen als abweichendes Verhalten wahrgenommen werden, denn so geraten Aussagen wie etwa über die vermeintliche Zivilisierung und das geringere Gewaltniveau der Moderne in eine Schieflage, wenn man die gegensätzliche Entwicklung der Kriegsführung in den letzten zwei Jahrhunderten ausblendet. Daß Kriegserfahrungen als mentalitätsprägende Faktoren indirekte Auswirkungen auf die Delinquenz einer Epoche haben können, haben einzelne Forscher wiederholt betont. 56 Eine umfassende Aufarbeitung dieser Zu- 53 Y. Castan: Honnêteté, 493; im gleichen Sinne N. Castan: Les criminels, 241 - 275; Farge/ Zysberg: Les theâtres. 54 Gonthier: Cris de haine; Muchembled: La violence au village. Für das 19. Jahrhundert liegt vor: Frédéric Chauvaud: De Pierre Rivière à Landru. La violence apprivoisée au XIXe siècle, Paris 1991. 55 Gonthier: Cris de haine, 14 - 45, 137 - 141. Zur »Kriminalisierung« der Revolten in zeitgenössischen Quellen vgl. André Leguai: Actes criminels au cours des révoltes rurales et urbaines aux XIVe et XVe siècles, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 265 - 272. Vgl. auch die allerdings inkohärenten Beiträge des Sammelbandes Violence et contestation au Moyen-Age. 56 So Muchembled: La violence au village, 86ff., zur Xenophobie der Bevölkerung der jahrhundertelang umkämpften Grenzregion des Artois gegenüber den Franzosen. Chiffoleau: Les justices, 116 - 123, betont den Beitrag der omnipräsenten feudalen Konflikte und der häufigen Truppendurchzüge im Rhonetal zu einem allgemeinen Klima der Gewalt und Unsicherheit. Eine Ideengeschichte der Gewalt in den Religionskriegen ohne Bezug auf die Kriminalität bietet Denis Crouzet: Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion (Vers 1525 -Vers 1610), 2 Bde., Champ Vallon 1990. Henrik Halbleib 100 sammenhänge bleibt jedoch ein Desiderat der Forschung. Die kriminalitätsgeschichtliche Forschung sollte sich deshalb im klaren darüber sein, daß sie nur einen Beitrag zu einer Geschichte der Gewalt zu leisten imstande ist, der aber gerade wegen der definitorischen Begrenzung durch obrigkeitliche und soziale Normen wertvoll sein kann. 57 Im städtischen Rahmen sind solche Probleme aus oben genannten Gründen allerdings weniger akut. Entsprechend sinnfällig konnte es Gonthier deshalb gelingen, die Verwobenheit der unterschiedlichsten Konfliktfelder im Kontext zunehmender sozialer Differenzierung und Hierarchisierung deutlich werden zu lassen. 58 Neben politischen und wirtschaftlichen Antagonismen, verschärft durch zünftige Organisation und Klientelbildung, war es vor allem die (männliche) Jugend, die für gewalttätige Auseinandersetzungen sorgte. Daß deren Gewaltbereitschaft und Delinquenz in allen Phasen der Geschichte genauso wie in der Gegenwart größer gewesen sei als in der Gesamtbevölkerung, gehört zu den Binsenweisheiten jeglicher empirisch untermauerten Beschäftigung mit Kriminalität. Dementsprechend stellte auch Gonthier die Beziehung zwischen dem Bevölkerungsanteil junger Männer und dem korrespondierenden Gewaltniveau her, das insbesondere in Universitätsstädten höher gewesen sein soll als in ›normalen‹ Städten. 59 Diese scheinbar biologisch bestimmte Gesetzmäßigkeit enthebt jedoch nicht der Frage nach deren kulturellen und sozialen Ursachen und Ausformungen. So unterlag beispielsweise die Verwendung des Begriffs der ›Jugend‹ einem äußerst variablen Gebrauch, der weniger auf das tatsächliche biologische Alter als auf physische und geistige Vitalität rekurrierte. 60 In ihren Ausführungen bezog sich Gonthier insbesondere auf die Ergebnisse der Untersuchungen Jacques Rossiauds über die Zusammenhänge von ›Jugendkultur‹ und Prostitution in den Städten des Rhonetals. 61 Auf der Suche nach den Ursachen, die Frauen in die Prostitution trieben, stieß er immer wieder auf den Verlust der für Frauen sexuell bestimmten Ehre durch kollektive Vergewaltigungen. 62 Aus den wenigen Vergewaltigungsprozessen rekonstru- 57 Dies gilt im übrigen gleichermaßen für die fließenden Übergänge zwischen privat organisierter Kriegsführung im Dienste des Königs und Banditentum im Hundertjährigen Krieg: Solange die Truppen gebraucht werden, erhalten sie immer wieder Gnadenerlasse für ihre Verbrechen, vgl. François July: Jean de la Roche, routier et chevalier sans reproche, in: La faute, 299 - 311. Kennzeichnend für diese Abgrenzungsproblematik sind desweiteren jetzt die Beiträge in Contamine/ Guyotjeannin (Hg.): La guerre. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten, das Thema der Gewalt unreflektiert in die Kriminalitätsgeschichte zu inkorporieren bieten die Untersuchungen von Raynaud: La violence, zur Ikonographie der Gewalt in spätmittelalterlichen Romanen. Der entsprechende Beitrag auf einem Dijoner Kolloquium, das sich explizit mit neuen Ansätzen beschäftigte, blieb ohne praktisches Echo; dies.: Une criminalité d’exception: les meurtres royaux dans le Roman de toute chevalerie, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 47 - 60. 58 Gonthier: Cris de haine, 9 - 64. 59 Ebd., 46. Zur studentischen Delinquenz vgl. auch Françoise Verdier-Castagné: La délinquance universitaire dans les lettres de rémission, in: La faute, 283 - 298, die als ein Spezifikum derselben die von den eifersüchtig gehegten Privilegien der Universitäten (sie unterstanden prinzipiell nur der geistlichen Gerichtsbarkeit) verursachten Konflikte mit öffentlichen Amtsträgern beschreibt. Quantifizierende und rechtsgeschichtliche Ansätze kombinierte Yvonne Bongert: Délinquance juvenile et responsabilité penale de mineur au XVIIIe siècle, in: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité, 49 - 90. Einen allerdings unbefriedigenden Versuch der Gesamtdarstellung des Phänomens der ›Jugendkriminalität‹ unternahm der Kriminologe Roumajon: Enfants perdus. 60 Gauvard: De grace especial, 3 5 4 -360. 61 Rossiaud: Prostitution; ders.: Dame Venus, 19 - 45. 62 Den kollektiven Charakter der Vergewaltigungen bestätigt jetzt auch Otis-Cour: Lo pecat de la carn, 341; vgl. auch Jean-Pierre Leguay: Ein Fall von Notzucht im Mittelalter: Die Vergewaltigung der Margot Simmonet, in: Alain Corbin: Sexuelle Gewalt, Frankfurt a. Main 1997 (franz. 1989), 11 - 28. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 101 ierte Rossiaud das Profil der Täter: Gruppen junger, unverheirateter und aufgrund des relativ hohen Heiratsalters auf dem Heiratsmarkt noch chancenloser Männer übten wie auch in den öffentlichen Dirnenhäusern ihre sexuellen Rollen ein und bestätigten sich ihrer Männlichkeit. Diese gewaltsamen Entladungen sexueller Frustrationen erfüllten auch die Funktion einer gleichsam kanalisierten Ablenkung, die die als ungerecht empfundene Ordnung der Welt letztlich unangetastet ließ und die deshalb auch nur selten sanktioniert wurde. Der bekannte Brauch der Charivari, der stark ritualisiert die Wiederverheiratung von Witwern ›bekämpfte‹, die damit junge Mädchen dem Heiratsmarkt entzogen, wurde in Südfrankreich von den sogenannten »abbayes de jeunesse« (auch unter der Bezeichnung »bachelleries« geläufig) kontrolliert, Bruderschaften, die einen festen Platz im sozialen Leben der Städte, bei der Organisation von Festen und im Karneval einnahmen und von den städtischen Obrigkeiten, die ihren Einfluß auf die Wahl der vorstehenden »rois« oder »princes-abbés« immer mehr auszudehnen verstanden, gezielt zur Eindämmung der Gewalt benutzt wurden und der Integration der Jugend in die herrschende Sozialordnung dienten. 63 Allerdings konnten diese Versuche, Gewaltpotentiale durch Ritualisierung zu entschärfen, wie sie auch in den sportlichen Wettkämpfen zwischen verschiedenen Stadtteilen angelegt waren, genauso gut in physische Gewalt umschlagen. 64 Diese Bemühungen waren ein Teil dessen, was Gonthier zusammenfassend »la ville pacificatrice« nennt. 65 Zur ›Befriedung‹ der Stadt trugen demnach die noch schwachen Polizeikräfte ebenso bei wie schiedsgerichtliche Institutionen, nachbarschaftliche Kontrolle oder der Ausschluß aus der Stadt durch die Strafe der Verbannung. Unter dem Blickwinkel einer Geschichte der Gewalt fällt die exemplarische Justiz der körperlichen Strafen, der öffentlichen Martern und Hinrichtungen konsequenterweise aus dem Rahmen der friedensstiftenden Maßnahmen heraus. 66 Das Fest als ein bevorzugter Ort der Gewalt, sei es in der Stadt, sei es auf dem Land, ist durch eine Reihe von Untersuchungen belegt, wenngleich häufig nur aufgrund der Korrelation der jahreszeitlichen Verteilung mit dem Festkalender: die Monate Mai bis Juli scheinen zu dominieren. 67 Weitere häufig gemachte, mit quantifizierenden Methoden mehr oder weniger gut belegte Beobachtungen betreffen die vorherrschenden Tatzeiten und Orte. Die Konzentration der Gewaltdelikte auf die Abendstunden scheint ebenso ausgemacht zu sein, wie die Bedeutung der Kneipe oder der davon wegführenden Straßen als bevorzugten Austragungsorten der Streitigkeiten. Die Verbindung zwischen diesen empirischen Befunden wird gewöhnlich über die Hemmschwellen senkende Wirkung des Alkoholkonsums, die Erregungen des Glücksspiels und mit einem Hinweis auf die nur vage bestimmte, gewalttätigere »sociabilité« der vormodernen Gesellschaft gezogen. 68 Interpretationen, die in gleicher Weise auch für das Fest 63 Die über Rossiaud hinausgehende, inzwischen umfangreiche Literatur zum Phänomen der Charivari kann in diesem Rahmen nicht dokumentiert werden. 64 Gonthier: Cris de haine, 102 - 110. 65 Ebd., 151 - 182. 66 Ebd., 183 - 196. 67 Muchembled: La violence au village, 29f.; Fouret: Douai, 10. 68 Einige Hinweise (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Gonthier: Cris de haine, 97 - 102; Fouret: Douai; Muchembled: La violence au village, 30 - 32; Bourin/ Chevalier: Le comportement, 255; Gonon: Violences, 230; Jean-Pierre Leguay: La criminalité en Bretagne au XVe siècle. Délits et répression, in: La faute, 53 - 79. Für das 17. und 18. Jahrhundert: Françoise Bayard: Les crimes de sang en Lyonnais et Beaujolais aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 273 - 282; N. Castan: Les criminels, 193ff. Henrik Halbleib 102 als der Kneipe vergleichbarem Ort des sozialen Kontaktes geltend gemacht werden können. Über diese wiederum bloß quantifizierenden Befunde hinaus, die meist nichts als bereits Bekanntes bestätigen, versuchte Robert Muchembled einen dezidiert kulturanthropologischen Ansatz in die Debatte einzubringen. 69 Sein Beitrag zu der bereits erwähnten Publikationsreihe war denn auch keine Forschungssynthese, sondern eine für ein breiteres Publikum kondensierte Version der ersten beiden Teile seiner ungedruckten »thèse d’État«. 70 Dem neuen methodischen Ansatz korrespondierte ein anderer Quellentypus, der es zudem überhaupt erst ermöglichte, für den Untersuchungszeitraum (15. bis 17. Jahrhundert) den städtischen Raum mit seiner früher einsetzenden gerichtlichen Durchdringung und Überlieferung zu verlassen. Die Erkenntnismöglichkeiten, die eine Analyse von Gnadenbriefen (»lettres de rémission«) erschließen können, hatte bereits N. Z. Davis hervorgehoben. 71 Zunächst folgten quantifizierende Untersuchungen nach den Vorgaben der seriellen Rekonstruktion von Deliktstrukturen, 72 später kleinere, eher deskriptive Arbeiten zu einzelnen Deliktarten oder gar Rekonstruktionen einzelner Fälle. 73 Muchembled war es jedoch nicht daran gelegen, auf der Basis dieser Quellen eine Geschichte der Kriminalität im eigentlichen Sinne zu schreiben. Da die Gnadenbriefe fast ausschließlich für Tötungen ausgestellt wurden, verbot sich von vornherein jegliche Reflexion über die ›reale‹ Kriminalität der untersuchten Epoche. An den von ihm ausgewerteten ca. 3.500 den Artois betreffenden »lettres de rémission« der Herzöge von Burgund und ihrer Nachfolger interessierten Muchembled weniger die üblichen Kategorien quantifizierender Auswertung als die Erzählung der Konfliktgeschichte vor der Tat durch den Beschuldigten. 74 In diesen Texten hoffte er, analog dem Ethnologen bei der Feldforschung, genügend ›Stoff‹ sammeln zu können für eine historische Anthropologie der Gewalt. Kollektive Verhaltensweisen zu rekonstruieren und sie auf ihren Sinn hin zu befragen, dies, so schien es Muchembled, sollte den Weg zu einem besseren Verständnis jenes vielfach nur verschwommen wahrgenommenen Phänomens der »sociabilité« eröffnen, 75 das seinerseits als ein zentrales Element jener Volkskultur zu gelten hatte, der er in seinen Forschungen seit mehr als einem Jahrzehnt auf der Spur war. Einer Volkskultur vor und während der Zeit ihrer vorgeblichen Akkulturation durch eine ihr dichotomisch entgegengesetzte Kultur der Eliten. 76 Den methodischen Folgerungen seines eigenen Konzeptes trug Muchembled im Zusammenhang der »lettres de rémission« nur ungenügend Rechnung. Zwar räumte er mögliche 69 Muchembled: Anthropologie, 33 - 37, enthält eine Auseinandersetzung mit den Theorieangeboten anderer Disziplinen (Psychoanalyse, Religionssoziologie, Biologie und Verhaltensforschung). 70 Muchembled: La violence au village. Die spärlichen Fußnoten geben leider überwiegend Hinweise auf die »Thèse«, deren dritter und letzter Teil erschien, völlig überarbeitet, drei Jahre später; ders.: Le temps des supplices, siehe dazu unten Anm. 126. 71 Natalie Zemon Davis: Der Hals in der Schlinge: Gnadengesuche und ihre Erzähler, Frankfurt a. Main 1991. Zur justizgeschichtlichen Bedeutung der Gandenbriefe siehe unten Anm. 105. 72 Pineau: Les lettres; Bourin/ Chevalier: Le comportement. Zu Möglichkeiten und Grenzen einer quantifizierenden Auswertung der Gnadenbriefe Gauvard: Les sources judiciaires. 73 Verdon: La femme; Verdier-Castagné: La délinquance universitaire (wie Anm. 59); Pierre Ribière: Délits sexuels dans les lettres de rémission du comte Jean IV d’Armagnac, in: La faute, 369 - 381; Pierre Braun: Maître Pierre Mignon, sorcier et falsificateur du grand sceau de France, in: ebd., 241 - 260; July: Jean de la Roche (wie Anm. 57); Feller: Faux-monnayeurs. 74 Muchembled: La violence au village, 17. 75 Um den ganzen Komplex wieder zusammenzubinden und auf einen unverfänglichen Nenner zu bringen griff Muchembled auf den Begriff der Mentalität zurück, ebd., 6. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 103 Transferverluste dadurch, daß Erzähler und Schreiber wohl meist nicht identisch waren, ein, und er war sich auch der zielgerichteten Konstruktion der Gnadengesuche bewußt, die in der Zuschreibung sozialer Normen auf Täter und Opfer zum Ausdruck kam. 77 Den im eigenen Sinne konsequenten Schluß, daß eine solche funktionalistische Adaption ›von oben‹ vorgegebener Werte die für die Rekonstruktion einer autonomen Volkskultur notwendige Authentizität der Texte aufheben würde, verbot sich Muchembled allerdings, immerhin waren unter den Tätern alle sozialen Schichten vertreten. 78 Dem noch quantitativ untermauerten Exposé einer mehr von Ehrenkonflikten, Solidarität und Rache als von Interessenkonflikten geprägten »société violente« ließ Muchembled ein Bündel ineinander verschränkter Beobachtungen und Interpretationen folgen. Die Enge des vertrauten, aber als gefährdet wahrgenommenen »espace vital« führte laut Muchembled in einem Klima der Unsicherheit zu einer regelrechten Xenophobie, die vor allem junge Männer frühzeitig in der symbolischen oder physischen Verteidigung der Grenzen der eigenen Gemeinschaft einübten. Dabei habe sich der unmittelbare Haß häufig gerade auf diejenigen gerichtet, mit denen man relativ häufig Kontakt pflegte. 79 Ein Beispiel hierfür bietet die auf den Festen übliche Anwesenheit von Gruppen auswärtiger Jugendlicher, die allein schon aufgrund der sexuellen Konkurrenz, für die wiederum die Ehre eine konstitutive und Gewalt provozierende Rolle spielte, Konflikte auslöste. 80 Entsprechend der Verteidigung dieser kollektiven räumlichen und sozialen Grenzen, versuchte Muchembled in Anlehnung an die Arbeiten Erving Goffmans 81 den Körper des einzelnen als Markierung eines individuellen Territoriums zu verstehen, dessen symbolische Verletzung als Angriff auf die eigene Ehre und somit Herausforderung zu einer aggressiven Antwort verstanden worden sei. 82 Eine geringe Anzahl von Ritualen und Regeln genügte demnach, um im alltäglichen Kontakt mit anderen, Freundschaft oder Konfliktbereitschaft zu signalisieren, da die Gesten und Worte Teil eines allgemein bekannten Codes waren. 83 Die Schwierigkeiten für den 76 Robert Muchembled: Kultur des Volkes, Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung, Stuttgart 1982 (franz. 1978); ders.: Die Erfindung des modernen Menschen. Gefühlsdifferenzierung und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des Absolutismus, Reinbek bei Hamburg 1990 (franz. 1988). Trotz der breiten Kritik, die die provokanten Thesen Muchembleds anregten, blieb die Entgegensetzung von Volks- und Elitenkultur in der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung weiterhin ein erkenntnisleitendes Paradigma, wenngleich sich die Akzentuierung wie auch bei Muchembled selbst wandelte. Bei Garnot: Une illusion, 373 - 379 und ders.: Le Peuple au siècle des Lumières. Echec d’une dressage culturel, Paris 1990, dient die Delinquenz als Kronzeuge für das Scheitern des Akkulturationsversuches der von den Richtern repräsentierten Eliten. Die internationale Debatte um das Volkskulturkonzept füllt mittlerweile ganze Bibliographien: stellvertretend der profilierteste französische Kritiker Roger Chartier: Cultural History, Cambridge 1988. 77 Muchembled: La violence au village, 17, 82 - 85. 78 Die bislang umfassendste Erörterung der spezifischen Quellenproblematik der »lettres de rémission« bei Gauvard: De grace especial, 59 - 110. Die Autorin interpretiert das Verfahren von Gnadengesuchen und -briefen als einen wechselseitigen Diskurs über Verbrechen, Gewalt und soziale Normen, ebd., 11. 79 Muchembled: La violence au village, 49 - 142. Zur Bedeutung der Nacht als Auslöser von Ängsten; vgl. ders.: La violence et la nuit. 80 Muchembled: La violence au village, 54 - 60. Zur Bedeutung des sozialen Kapitals der Ehre auf dem Heiratsmarkt vgl. Claverie/ Lamaison: L’impossible mariage. 81 Erving Goffman: La mise en scène de la vie quotidienne, 2 Bde., Paris 1973. 82 Muchembled: La violence au village, 143 - 182. 83 Ebd., 247 - 270. Zu vergleichbaren Ergebnissen, ebenfalls inspiriert von Goffman, gelangte Nicole Dyonet: Gestes et paroles de la vie quotidienne au XVIIIe siècle. Les ressources des archives judiciaires, in: Bercé/ Y. Castan (Hg.): Les archives, 29 - 45. Grundlegend in dieser Beziehung Gregory Hanlon: Les rituels de l’aggression en Aquitaine au XVIIe siècle, in: Annales E.S.C 40 (1985), 244 - 268. Henrik Halbleib 104 Historiker liegen nun darin, daß die Zeichen für letztere den Quellen natürlich ungleich besser zu entnehmen sind und deshalb womöglich eine Gewaltüberfrachtung des Alltags suggerieren, die es so nicht gegeben hat. So läßt sich etwa die versöhnende und freundschaftsstiftende Funktion des gemeinsamen Trinkens nur aus der konfliktträchtigen Verweigerung folgern. 84 Muchembled betonte zwar selbst immer wieder die Grenzen seiner Quellen, war dann aber im konkreten Fall damit zufrieden, wenn ein einzelnes Beispiel seine Vorannahmen bestätigen konnte. Die Frage nach historischem Wandel beantwortete Muchembled äußerst vorsichtig. Zwar zeuge die Delinquenz von einer relativ großen Beständigkeit der Lebensweisen, doch hätte mit der Gegenreformation eine pessimistischere, angsterfülltere Weltsicht in die ländliche Mentalität Einzug gehalten, die zudem unter den allmählichen Einfluß der von den Städten ausgehenden »civilisation des mœurs« geraten sei, 85 was ihm mit den gegebenen Quellen nicht überzeugend nachzuweisen gelang. An das von Muchembled vorgegebene Muster lehnte sich auch Jean Quéniarts für eine breites Publikum konzipierte Studie über die ländliche Gewalt in der Bretagne des 18. Jahrhunderts an. 86 Diese Zusammenfassung von rund zwei Dutzend »memoires de maîtrise« mag manche an anderem Ort aufgestellte These stützen, neue Erkenntnisse vermittelt sie nicht. Sittenzucht und weibliche Kriminalität Zunächst unter der quantitativen Übermacht der Gewalt- und Eigentumsdelikte, dann im theoretischen Schatten sowohl der »Violence-au-vol-These« als auch des Marginalitätskonzepts und schließlich außerhalb des Blickfeldes historisch-anthropologischer Gewaltanalysen, fristeten andere Deliktarten lange Zeit ein karges Dasein in knappen Aufsätzen und kleinräumigen Studien. 87 So bleibt eine umfassende Geschichte der Sittenzucht, die der vielbeschworenen »civilisation des mœurs« ein solideres Fundament verleihen könnte, ein Desiderat der Forschung. Das Desinteresse der Historiker manifestiert sich auch darin, daß zu einem wichtigen und facettenreichen Delikt wie dem Kindsmord nur ältere rechtsgeschichtliche Arbeiten existieren. 88 Verstöße gegen sexuelle Normen und die moralisch-religiöse Ordnung waren der weitverbreiteten phänomenologischen Betrachtung der Kriminalität nur schwer zugänglich. Aus dem Zählen von Unzuchts- oder Blasphemiefällen auf Mentalitätsveränderungen bezüglich des Sexualverhaltens oder der Religiösität zu schließen, das war offenbar selbst den überzeugtesten Vertretern quantifizierender Methoden zu gewagt. Zu offensichtlich war hier die ansonsten häufig ignorierte Abhängigkeit der Delikte von obrigkeitlicher Repression 84 Muchembled: La violence au village, 210 - 220. 85 Ebd., 321 - 405. 86 Quéniart: Le grand Chapelletout. 87 Otis-Cour: Lo pecat de la carn; dies.: La répression; Lavoie: Justice, morale et sexualité; Ribière: Les délits sexuels (wie Anm. 73); Courier: Mariage et délinquance. 88 Vgl. Françoise Fortunet: Variations dans la définition de l’infanticide (XVIIIe -XIXe siècles), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 465 - 470. Das verzögerte Anzeigeverhalten in diesen Fällen unter dem Blickwinkel des infrajudiciaire untersuchte Alfred Soman: Le témoignage maquillé: encore une aspect de l’infra-justice à l’époque moderne, in: Bercé/ Y. Castan (Hg.): Les archives, 99 - 109. Ein von Soman konzipierter Sammelband zum Thema kam nicht zustande. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 105 und dem von sozialen Normen abhängigen Anzeigeverhalten der Bevölkerung. So wies Leah Otis-Cour auf die Zusammenhänge zwischen der Verbreitung des Inquisitionsprozesses und der Verfolgung der Blasphemie als einer kollektiven Bedrohung und Infragestellung jeglicher Autorität hin. 89 Der geringen Neigung der Bevölkerung, Blasphemien und Sakrilegien anzuzeigen, entsprach eine ebenso große Duldsamkeit der lokalen Kleriker, solange sie selbst nicht zu Zielscheiben wurden. 90 Die Disziplinierung der Geistlichkeit selbst, durch die sich vor allem die nachtridentinische Kirche bekanntlich positive Auswirkungen auf die Sitten der Bevölkerung versprach, ist in der jüngsten Vergangenheit zu einem veritablen Untersuchungsgegenstand geworden. 91 Eine zu starke Einmischung in die Privatsphäre der Gemeindemitglieder konnte jedoch wiederum mit Denunziationen, Sakrilegien und gewalttätigen Übergriffen diejenigen Äußerungen des Antiklerikalismus provozieren, denen die »Moralisierung« des Klerus eigentlich entgegenwirken sollte. 92 Das in Deutschland ausgiebig diskutierte Problem der protestantischen Kirchenzucht spielt in der französischen Forschung allein schon aus materiellen Gründen nur eine untergeordnete Rolle. 93 Von der Thematik der Sittenzucht ausgehend, bieten sich auch Anknüpfungspunkte an die Frauengeschichte. 94 Zum einen litt die Erforschung weiblicher Delinquenz aufgrund ihres geringen Anteils an der Summe aller Straftaten lange unter einer ähnlichen Mißachtung und Verspätung, obwohl in der französischen Forschung Frauen in herausragenden Positionen stark vertreten waren und sind (N. Castan, N. Gonthier, Cl. Gauvard). Zum anderen erwiesen sich Sexualdelikte wie Ehebruch und Unzucht als spezifisch weibliche Delikte, für die Männern seltener gestraft wurden. 95 Soziale Kontrolle wurde somit über die sexuelle Definition der weiblichen Ehre ausgeübt. Zu der von Nicole Castan auf Grundlage der allgemeinen kriminalitätsgeschichtlichen Literatur vor- 89 Otis-Cour: La répression. 90 Für das 18. Jahrhundert Dyonet: Impiétés provinciales; Hildesheimer: La répression du blasphème; Renaud Ferrand: Sacrilèges commis à l’égard des répresentants de Dieu en Lyonnais et Beaujolais (1679 - 1789), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 3 8 1 -390. 91 Vgl. jetzt Garnot (Hg.): Le clergé délinquant; insbesondere Gilles Deregnaucourt: Les déviances ecclésiastiques dans les anciens diocèses des Pays-bas méridionaux aux XVIe, XVIIe et XVIIIe siècles, ebd., 65 - 95. Den bescheidenen Erfolg dieser Disziplinierungsbemühungen konstatieren an einem mikrohistorischen Beispiel Benoît Garnot: Un curé bressan à la fin du XVIIe siècle, ebd., 173 - 186; mit quantitativer Fundierung Eric Wenzel: Persistance des déviances dans le clergé paroissial bourguignon au XVIIIe siècle, ebd., 97 - 115; vgl. auch ders.: Les prêtres »criminels«; Rémy Bompard: Les ecclésiastiques indignes jugés devant les officialités de Lyon (1660 - 1789), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 373 - 380. Für die vortridentinische Kirche vgl. bereits Hugues Neveux: Les marginaux et le clergé dans la ville et le diocèse de Bayeux au XIVe et XVe siècles, in: Marginalité, déviance, pauvreté, 18 - 41; Vincent Tabbagh: Croyances et comportements du clergé paroissial en France du Nord à la fin du Moyen Âge, in: Garnot (Hg.): Le clergé delinquant, 1 1 -64. 92 Dyonet: Impiétés provinciales; Eric Wenzel: Les prêtres victimes de leurs paroissiens dans la Bourgogne du XVIIIe siècle, in: Garnot (Hg.): Ordre moral et délinquance, 169 - 176. 93 Vgl. jetzt aber die Beiträge eines ausgewiesenen Kenners der Geschichte des französischen Protestantismus Didier Poton: Les déliberations consistoriales, une source pour l’histoire de la violence, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 67 - 74; ders.: Le consistoire protestant au XVIIe siècle: un tribunal des mœurs, in: Garnot (Hg.): Ordre moral et délinquance, 411 - 418. Grundlegend noch immer Vogler/ Estèbe: La genèse d’une société protestante. Protestantische Konsistorien als eine Form der Infrajustiz untersuchte Soman: Le Registre consistorial, vgl. dazu auch Anm. 113. 94 Grundlegend für die Frauenbzw. Geschlechtergeschichte in Frankreich: Cécil Dauphin/ Arlette Farge u.a.: Culture et pouvoir des femmes: essay d’historiographie, in: Annales E.S.C. 41 (1986), 2 7 1 -283. 95 N. Castan: Straffällige Frauen; vgl. Otis-Cour: Lo pecat de la carn. Nur zum juristischen Diskurs Beauthier: La répression de l’adultère. Henrik Halbleib 106 gelegten Zusammenfassung des Forschungsstandes gesellten sich einige kleinere Arbeiten, die die Perspektive bis ins späte Mittelalter ausweiteten und weitgehend die bekannten weiblichen Deliktstrukturen bestätigten. 96 Ein angrenzendes Untersuchungsfeld, in dem Frauen eine größere Rolle spielten, bildeten familiäre Konflikte um elterliche Autorität oder die Aufteilung des Erbes. 97 Dem tödlichen Ausgang eines solchen familiären Konflikts widmet sich Benoît Garnot in der Fallstudie eines besonders umfassend dokumentierten Gattenmordprozesses im Burgund des 18. Jahrhunderts. 98 In der noch immer vom Primat der seriellen Methode geprägten kriminalitätsgeschichtlichen Forschungslandschaft Frankreichs propagiert Garnot als bislang einziger theoretisch wie forschungspraktisch mikrohistorische Ansätze mit Vehemenz, aber ohne Dogmatismus. 99 Garnot weist hier darauf hin, wie die Vorannahmen der Justiz über die »typische« Gattenmörderin (die Monstrosität des ›Parrizids‹ verlangt nach einer ebensolchen Täterin) und die »typische« Vorgeschichte des Mordes (Morddrohung, Vergiftungsversuch, Komplizenschaft, Ehebruch) die Zeugenaussagen, die fast ausschließlich auf Gerüchten und Hörensagen beruhten, im Sinne der Anklage beeinflußten. Besonders deutlich wird dies bei dem angeblichen Vergiftungsversuch, da der Giftmord aufgrund der geringeren physischen Stärke der Frau und ihrer Aufsicht über die Küche als weibliches Delikt par excellence galt. Bereits relativ früh durfte sich mit der Prostitution eine weitaus alltäglichere, wenngleich in der Geschichte nicht immer kriminalisierte Form weiblicher Devianz größerer Aufmerksamkeit erfreuen. So stellte Jacques Rossiaud die im späten Mittelalter im Wandel begriffenen Einstellungen gegenüber der Prostitution in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. 100 Die Konjunktur der von städtischen Obrigkeiten eröffneten und kontrollierten Dirnenhäuser mußte ihm dabei als hauptsächlicher Gradmesser dienen, da die Überlieferung der Justiz erst mit der allmählichen Kriminalisierung der Prostitution im 16. Jahrhundert einsetzte. Dieser Quellenproblematik eingedenk konzentrierte sich Rossiaud auf die theologischen Diskurse über Sexualität, Ehe und Sünde, in denen er genügend Belege für dem materiellen Wandel der Prostitution entsprechende Akzentverschiebungen ausmachte. Diesen Weg wieder aus den Justizarchiven heraus schlug auch Erica-Marie Benabou in ihrem posthum erschienenen Buch über Prostitution und Sittenpolizei im Paris des 18. Jahrhunderts ein. 101 Aus dem Archiv des Hospitals »Salpetrière« ließ sich noch ein Sozialprofil der dort eingesperrten Frauen zeichnen, das den Schluß auf eine vom Reiz des luxuriösen Lebens der Oberschichten angeregte 96 Gonthier: Délinquantes ou victimes; Vernon: La femme et la violence. Zum benachbarten Katalonien: Flocel Sabaté: Femmes et violence dans la Catalogne du XIVe siècle, in: Annales du Midi 106 (1994), 277 - 316. 97 N. Castan: La criminalité familiale dans le ressort du parlement de Toulouse (1690 - 1730), in: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité; Die Übergänge zu familiären Konfliktgeschichten mit wenig oder gar keinem direkten Bezug zur Kriminalitätsgeschichte im engeren Sinne sind fließend: vgl. Farge/ Foucault: Familiäre Konflikte; Daumas: L’affaire d’Esclans. 98 Garnot: Un crime conjugal; vgl. auch Juratic: Meurtrière de son mari. 99 Garnot: Pour une histoire nouvelle; ders.: Quantitatif ou qualitatif? Les incendiaires au XVIIIe siècle; ders.: Vivre en prison. Zum hier unberücksichtigten Aspekt Hexerei: ders.: Le diable au couvent. Les possedées d’Auxonne (1558 - 1663), Paris 1994. Als Herausgeber initiierte Garnot beispielsweise eine Sektion Fallstudien in ders. (Hg.): Le clergé délinquant. 100 Rossiaud: Dame Venus. Die Aussagen über die Entwicklung des Sexualverhalten blieben aufgrund der Quellenlage eher vage, ebd., 136 - 147. 101 Benabou: La prostitution, vgl. auch Christine Chapalain-Nougaret: Les filles-mères du diocèse de Rennes au XVIIIe siècle et la prostitution, in: La faute, 1 0 1 -116. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 107 Nebenerwerbsprostitution nahelegte. Genaueres erfährt man in teilweise anekdotischer Form nur über die tolerierte Luxusprostitution, die sich nicht nur der Aufmerksamkeit zeitgenössischer Schriftsteller, sondern auch des durch sie wirkenden Spitzelsystems erfreute. Mit ihren Spitzeln, die als »agents provocateurs« auftraten, kontrollierte die Pariser Polizei auch die männliche Prostitution. Wenn überhaupt, dann wurden die Delinquenten ähnlich den weiblichen Prostituierten in ein Hospital eingewiesen. 102 Laut Michel Rey hatte dabei im 18. Jahrhundert die Wahrung der sozialen Ordnung des absolutistischen Staates, die man durch die Verbreitung der einst als »beau vice« der Eliten betrachteten Homosexualität gefährdet sah, eindeutig Vorrang vor religiösen Motiven, denen man sich aber weiterhin bediente. Justiz und Infrajustiz Wie bereits angedeutet, ging die kriminalitätsgeschichtliche Forschung lange Zeit von der Annahme aus, in den Justizarchiven seien weitgehend unverfälschte Zeugnisse historischer Wirklichkeit aufzufinden. Dies entsprach dem Erkenntnisinteresse, das die unterschiedlichen historisch-anthropologischen, sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ansätze verband: der Delinquent, das Delikt und die einmal soziale, einmal mentale Umwelt standen im Mittelpunkt des Interesses. Um dieses Paradigma aufzubrechen, waren Anregung und Kritik in zweierlei Hinsicht nötig: zum einen bezüglich der spezifischen Probleme und Limitationen der gerichtlichen Quellen, zum anderen - vom intellektuellen Erfolg Michel Foucaults angeregt - hinsichtlich der disziplinierenden Wirkung von Justiz und Strafsystem sowie deren machtpolitischer Aufladung, die das Verhältnis von Justiz und Staatlichkeit zu einem Kernproblem neuerer kriminalitätsgeschichtlicher Forschung werden ließ. Die fundamentalste Kritik richtete sich gegen die naive quantifizierende Auswertung der gerichtlichen Quellen. Deliktstrukturen zu rekonstruieren und ihre Veränderungen zu interpretieren, ohne den bestimmenden Einfluß des Apparates zur Kenntnis zu nehmen, der die Daten hervorgebracht hat, die man zählt, führe in die Irre, so der Einwand von soziologischer Seite. Da man gezwungenermaßen eine Geschichte der Repression schreibe, sei es unabdinglich, die Geschichte der Strafjustiz - Organisationsstrukturen, Verfahren und Normen - stärker zu berücksichtigen. 103 Wie wenig repräsentativ oft die für einzelne Gerichtsinstanzen ermittelten Zahlen für das ganze Justizsystem sind, haben kritische Blicke inzwischen mehrfach erwiesen. 104 Eingedenk 102 Rey: Police et sodomie; ders.: Justice et sodomie. Noch ein Jahrhundert zuvor waren die Urteile in Sodomieprozessen ungleich härter: Alfred Soman: Pathologie historique: le témoignage des procès de bestialité aux XVIe -XVIIe siècles, in: La faute, 149 - 161. 103 Lévy/ Robert: Le sociologue et l’histoire pénale, 407f.; Roth: Histoire pénale, 196. Zum Konzept vgl. auch Lévy/ Robert: Histoire et question pénale. Zur Aufnahme dieser Anregung durch die Historiker vgl. N. Castan: Bilan. 104 Für das häufig untersuchte Parlement de Paris zeigte Garnot: Une illusion historiographique, 369ff., daß der vermeintliche Anstieg der Kriminalität im 18. Jahrhundert nur auf einem verhältnismäßigen Anstieg der Appellationen beruhte, während sich die »Kriminalität« in der ersten Instanz nicht veränderte. Zu der methodischen Bedenklichkeit eines Vergleichs der Daten - eigentlich der Sinn und Zweck quantifizierender Ansätze -, der dem unterschiedlichen Charakter der Gerichtsinstanzen nicht Rechnung trägt Rousseaux: Existe-t-il (wie Anm. 9), 148: »chaque instance de contrôle réfracte une image personelle de la criminalité.« Dies unterstreicht auch Guilleminot: La justice, eine ansonsten unglaublich zahlenüberladene späte Frucht der Chaunu-Schule. Henrik Halbleib 108 dieser Tatsache bemühte man sich in der jüngeren Vergangenheit verstärkt darum, die Funktionsweise etwa der Appellationsgerichte (»parlements«) oder der Gnadenjustiz (»lettres de rémission«) besser zu verstehen. 105 Im Gegensatz zu Deutschland kann sich die kriminalitätsgeschichtliche Forschung in Frankreich dabei auf eine Reihe neuerer rechtshistorischer Arbeiten zum Strafrecht, zur Justizorganisation oder zur Verfahrenspraxis stützen. 106 Zudem ist auf Seiten der Rechtshistoriker wie der Historiker eine zunehmende Bereitschaft zu erkennen, die Ergebnisse der jeweils anderen Disziplin wahrzunehmen und interdisziplinäre Zusammenarbeit zu pflegen. 107 In der im eigentlichen Sinne kriminalitätsgeschichtlichen Forschungspraxis machte sich zunächst Nicole Castan darum verdient, die gegenseitige Bedingtheit von Delinquenz und Repression am Beispiel der zur Kontrolle der entwurzelten Vaganten eingerichteten Prevotalgerichte aufzuarbeiten. 108 In der Breite beschränkten sich die meisten Historiker allerdings auf formale Reaktionen: die Beschreibung der Gerichtsinstanz, die man untersuchte, wurde genauer und die Strafen wurden konsequenter in die quantitativen Darstellungen einbezogen. So nimmt es auch nicht wunder, daß den bis dahin anspruchsvollsten Versuch, Justizorganisation, Delinquenz und Repression als gleichwertige Untersuchungsgegenstände ernstzunehmen, mit Jacques Chiffoleau ein Mediävist unternahm, den sein ausgewiesenes Interesse an der päpstlichen Verwaltung in Avignon über den eher zufälligen Fund fiskalischer Quellen im Vatikanischen Archiv zur Kriminalitätsgeschichte geführt hatte. 109 Chiffoleau konstatierte eine recht große und mit dem Bevölkerungsrückgang im Gefolge der demographischen Krisen des 14. Jahrhunderts noch zunehmende Aktivität der »justices du pape«, die in Gestalt von Geldstrafen einen beträchtlichen Beitrag zu den gesamten Einkünften leisteten. Dies wertete er als Zeichen sich entwickelnder zentralisier- 105 Symptomatisch dafür die Beiträge in La faute, la répression et le pardon (u.a. mit einer Sektion »Les lettres de rémission, source de l’histoire de la justice criminelle«) und Bercé/ Soman: La justice royale, jeweils mit Beteiligung Alfred Somans und Claude Gauvards. Zu den »lettres de rémission« vgl. desweiteren Gauvard: De grace especial; dies.: Les sources judiciaires. Zur fürstlichen Gnadenjustiz Pierre Flandin-Blety: Lettres de rémission des Vicomtes de Turenne aux XIVe et XVe siècles, in: Mémoires de la Société pour l’Histoire du Droit et des Institutions des anciens pays bourguignons, comtois et romands 45 (1988), 125 - 143; Gonthier: La rémission. 106 Vgl. Lothar Schilling: Im Schatten von ›Annales‹, Bourdieu und Foucault. Zur Rezeption französischer Rechtshistoriographie in Deutschland, in: Olivier Beaud/ Erk Volkmar Heyen (Hg.), Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft: Erträge und Herausforderungen eines unterentwickelten Kulturaustausches, Baden-Baden 1999. Die häufigsten Referenzen gelten verständlicherweise den Gesamtdarstellungen: André Laingui/ Arlette Lebigre: Histoire du droit pénal, 2 Bde., Paris 1980; Jean-Marie Carbasse: Introduction historique au droit pénal, Paris 1990; Jean-Pierre Royer: Histoire de la justice en France de la monarchie absolue à la République, Paris 1995. Starke Beachtung finden auch die Arbeiten von Bernard Schnapper: Voies nouvelles en histoire du droit. La justice, la famille, la répression pénale (XVIème- XXème siècles), Paris 1991. Als ein weiterer Beleg für das steigende Interesse der Rechtshistoriker an der Geschichte der Justiz die Zeitschrift Histoire de la Justice. Eine knappe Einführung in die Thematik bei Benoît Garnot: La justice en France de l’an mil à 1914, Paris 1993; vgl. auch ders.: La législation et la répression. Ein wichtiger Beitrag zur Justizgeschichte aus historischer Sicht Michel Porret: Le crime et ses circonstances. De l’esprit de l’arbitraire au siècle des Lumières selon les réquisitoires des procureurs généraux de Genève, Genf 1995. 107 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß an der frühen Pariser Forschungsgruppe um Billacois bereits Strafrechtshistoriker wie Yvonne Bongert beteiligt waren. 108 N. Castan: La justice expéditive. 109 Chiffoleau: Les justices. Auf die Ergebnisse bezüglich der Delinquenz wurde bereits oben hingewiesen. Die von Chiffoleau selbst auch immer wieder angesprochenen Beschränkungen des Quellenmaterials mußten zwangsläufig zu mutmaßenden Interpretationen führen. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 109 ter Staatlichkeit und des obrigkeitlichen Willens, die Untertanen durch das Herrschaftsinstrument Justiz im Sinne der Normen einer neuen moralischen Ordnung zu disziplinieren. Ob dieser Wille tatsächlich dazu führte, daß sich mit verinnerlichten Normen das Verhalten änderte, konnte Chiffoleau anhand seiner Quellen verständlicherweise nicht nachweisen. Auf ein weiteres grundsätzliches Problem der Quantifizierung machte N. Castan aufmerksam, als sie in ihrem international stark beachteten Buch »Justice et répression en Languedoc« auf die geringe Reichweite der Strafjustiz gegenüber Formen außergerichtlicher Konfliktregelungen (»se faire justice soi-même«) hinwies. 110 Schon Y. Castan hatte beobachtet, daß viele Konflikte und Verbrechen nicht den Weg in die Mühlen der Justiz fanden, sondern schiedsgerichtlich innerhalb der Gemeinschaft geregelt wurden. 111 Der Friedensschluß zwischen verfeindeten Familien, der Schiedsspruch in zivilrechtlichen Streitigkeiten oder die Vermittlung einer finanziellen Entschädigung nach einem Verbrechen, unter dem Begriff »l’infrajudiciaire« zusammengefaßt, wurden zu einem zentralen Thema der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung, erhoffte man sich doch darüber direktere Aufschlüsse über die Normen des Zusammenlebens und der sozialen Kontrolle. 112 Die Fragen nach den Modalitäten der Infrajustiz, den Anlässen, den Autoritäten, an die man sich wandte, den sich bildenden und wieder verschwindenden Institutionen führten über das Quellenproblem zur Diversifizierung der Forschungsansätze: die Tätigkeiten von Notaren 113 und kirchlichen Gremien 114 erwiesen sich hierbei als besonders leicht zugänglich. Daneben warf das Konzept die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Justiz und Bevölkerung (der französische Begriff »justiciables« ist im Deutschen nicht wiederzugeben) auf. Die Entscheidung, ob man sich an die Justiz wandte oder nicht, hing nämlich keinesfalls nur von den Kosten der Verfahren, der Angst vor als überzogen betrachteten Strafen und der Notwendigkeit, verletzte Ehre wiederherzustellen, ab. Auch handelte es sich nicht um einander ausschließende Entscheidungen: vielmehr kamen außergerichtliche Einigungen häufig erst nach der - später zurückgezogenen - Klage eines Betroffenen zustande. Statt als passive Opfer eines staatlichen Ordnungs- und Disziplinierungswillens erschienen die »justiciables« so als Akteure, die die Justiz für die Durchsetzung ihrer eigenen Ziele und Wertvorstellung nutzten. 115 110 N. Castan: Justice et répression. Zur deutschen Rezeption vgl. Blasius: Kriminalität und Geschichtswissenschaft, 620; ders.: Kriminologie und Geschichtswissenschaft (wie Anm. 2), 144f. Gleichzeitig erschien N. Castan: Les criminels de Languedoc, worin auf gewohnte Weise den Deliktstrukturen soziale Konflikte als Ursachen zugeordnet wurden. 111 Y. Castan: Honnêteté, 505f. 112 Grundlegend Soman: L’infra-justice; N. Castan/ Y. Castan: Une économie de justice. Zum Forschungsstand vgl. Garnot (Hg.): L’infrajudiciaire; darin insbesondere Nicole Gonthier: Faire la paix: un devoir ou un délit? Quelques réflexions sur les actions de pacification à la fin du Moyen Age, ebd. 37 - 54; Benoît Garnot: L’ampleur et les limites de l’infrajudiciaire dans la France d’Ancien Régime (XVI-XVIIe - XVIIIe siècle), ebd., 69 - 76; Xavier Rousseaux: Entre accommodement local et contrôle étatique. Pratiques judiciaires et non-judiciaires dans le réglement des conflits en Europe médiévale et moderne, ebd., 87 - 107. Vgl. auch in diesem Band den Beitrag von Francisca Loetz: L’infrajudiciaire: Facetten und Bedeutungen eines Konzepts. 113 Soman: L’infra-justice; Jean-L. Laffont: Eléments pour une approche historique de la sentence arbitrale: une source méconnue pour l’étude des procédés d’accommodement à l’époque moderne, in: Bercé/ Y. Castan (Hg.): Les archives, 75 - 91. 114 Soman: Le Registre consistorial; Clemens-Denys : Les apaiseurs de Lille; die Beiträge von Gilles Deregnaucourt, Jean Quéniart, Eric Wenzel, Nicolas Delasselle in: Garnot (Hg.): L’infrajudiciaire. Henrik Halbleib 110 Entscheidenden Anteil daran, daß gegen Ende der 1970er Jahre die Geschichte der Justiz vermehrt auf die Tagesordnung kriminalitätsgeschichtlicher Forschung gesetzt wurde, hatten die Arbeiten Michel Foucaults. 116 Darin versuchte er, die Genese der modernen Disziplinargesellschaft aus der ›Geburt des Gefängnisses‹ als dem Beginn einer neuen Herrschaftstechnik zu entwickeln, die im Gegensatz zu dem ›Fest der Martern‹, der exemplarischen Demonstration herrschaftlicher Macht bei den Hinrichtungen des Ancien Régime, weniger auf den Körper als auf die Beherrschung der Seele des Verurteilten angelegt gewesen sei. Die rein passive Rolle, die bei Foucault dem Angeklagten gegenüber einer furchteinflößenden Justiz und den Zuschauern beim Spektakel der Hinrichtungen zukam, gab ebenso Anlaß zu Kritik wie die Tatsache, daß Foucault aus dem aufgeklärten Diskurs des 18. Jahrhunderts ein negativ vorbelastetes Bild der Justiz des Ancien Régime übernommen hatte, das mit der historischen Wirklichkeit nicht viel gemeinsam hatte. Daß der Angeklagte sich nicht darauf beschränkte »à figurer dans le rituel de la vérité pour y prendre en compte son propre crime«, 117 davon legen die Briefe Pantaléon Gougis’, eines Mitte des 18. Jahrhunderts der Brandstiftung beschuldigten Winzers, eindrucksvoll Zeugnis ab. 118 Diese Korrespondenz eines Angeklagten mit dem ihn beratenden Notar ist zwar hinsichtlich der Überlieferung bislang zumindest eine Ausnahme, rechtlicher Beistand jedoch, obwohl dem Gesetz nach verboten, war den meisten Beschuldigten ebenso zugänglich wie praktisches juristisches Wissen. 119 Das Ritual der Hinrichtungen ließ sich ebenfalls leicht in einem anderen Sinn als bei Foucault interpretieren. Nicht nur sorgten die Zuschauer dafür, daß das Herkommen gewahrt blieb oder die Martern sogar scheinbar verschärft wurden (Verstümmelungen nach dem Tod des Verurteilten). Es habe auch sowohl im Mittelalter als auch in der Frühen Neuzeit ein »accord profond entre l’opinion et l’action de la justice légale«, 120 ein Bedürfnis nach dem ›Opfer‹ eines Sündenbocks gegeben. 121 Die ›Geburt des Gefängnisses‹ selbst wurde naturgemäß zu einem privilegierten Studienobjekt der Historiker der Französischen Revolution und des 19. Jahrhunderts, doch machte sich von hier aus auch ein Interesse an der »archéologie de la privation de 115 Vgl. Billacois/ Neveux (Hg.): Porter plainte; darin insbesondere Catherine Ditte: La mise en scène dans la plainte: sa stratégie sociale. L’exemple de l’honneur populaire, ebd., 23 - 48; Luc Ferrand: Villageois entre eux, 49 - 72; Olivier Jouneaux: Villageois et autorités, ebd., 101 - 118. Diese Aufsatzsammlung erschien nicht ohne Grund in der rechtsanthropologischen Zeitschrift Droit et Cultures. Zur Bedeutung rechtsanthropologischer Konzepte (Konfliktlösungspraktiken, Pluralität juristischer Sphären) Rousseaux: Entre accommodement local (wie Anm. 112); vgl. auch Bruno Isbled: Le recours à la justice à Saint- Germain-des-Prés au milieu du XVIIe siècle, in: Bercé/ Y. Castan (Hg.): Les archives, 65 - 74. 116 Michel Foucault: Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975; deutsch: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. Main 1977, 11. Aufl. 1995; ders.: La poussière et le nuage, in: Perrot (Hg.): L’impossible prison, 29 - 39. 117 Foucault: Surveiller et punir (wie Anm. 116), 42. 118 Garnot: Vivre en prison. Die Anpassung der Texte an die heutige Orthographie erleichtert auch dem ausländischen Benutzer die Lektüre. 119 Vgl. auch den Versuch einer Rehabilitierung der Justiz des Ancien Régime bei Mer: La procédure criminelle. Zum aufgeklärten Diskurs N. Castan: La justice en question. 120 Gauvard: Pendre et dépendre, 19. Überhaupt sei für die rechtliche Autorität des Königs im späten Mittelater die Barmherzigkeit der Gnadenbriefe wichtiger gewesen, da damit die private Rache umgangen worden sei: Claude Gauvard: Grâce et exécution capitale: les deux visages de la justice royal française à la fin du Moyen Âge, in: Bercé/ Soman (Hg.): La justice royale, 275 - 290. 121 Bée: Le spectacle de l’exécution. Zur quantitativen Entwicklung körperlicher Strafen im 18. Jahrhundert Garnot: Les peines corporelles. Die ›Gewaltsamkeit‹ der Justiz betonten Gonthier: La violence judiciaire; Y. Castan: Violence ordinaire. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 111 liberté« bemerkbar. 122 Die ganz andere Funktion mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gefängnisse - kurzfristige Sicherstellung bis zum Prozeß statt Haft - erschwerten allerdings die Anbindung an die Debatte um Foucault. 123 Wie sehr die Ökonomie des Strafens von praktischen Notwendigkeiten abhing, zeigt die Entwicklung der ersten Freiheitsstrafe in der französischen Geschichte. André Zysberg zeichnete eindrucksvoll nach, wie die Galeerenstrafe im 16. Jahrhundert aus dem militärischen Bedarf an Ruderern entstand, in der Folge den militärischen Konjunkturen entsprechend verhängt wurde, um schließlich im 18. Jahrhundert das Weiterexistieren einer militärisch längst überflüssig gewordenen Flotte bis 1748 zu rechtfertigen. 124 Konsequent weitergeführt wurde danach das Prinzip der Galeerenstrafe durch die Zwangsarbeit im »bagne« der französischen Hafenstädte. 125 Über faktische Kritik und thematische Inspiration hinaus ging Robert Muchembled in seiner Auseinandersetzung mit Foucault. Schon in seiner Akkulturationsthese spielte die disziplinierende Wirkung strafrechtlicher Repression für die vertikale Durchsetzung der Kultur der Eliten eine wichtige Rolle. In »Le temps des supplices« 126 interessierten Muchembled Justiz und Strafsystem als Herrschaftstechnik hinsichtlich der Frage, wie es zu dem Gehorsam der Untertanen im Frankreich des Absolutismus gekommen sei. In einem chronologischen Rahmen verfolgte Muchembled die Entwicklung von der eher schiedsgerichtlichen und pazifizierenden städtischen Gerichtsbarkeit des späten Mittelalters über deren Krise und das Eingreifen des frühmodernen Staates bis hin zur Justiz des konsolidierten Absolutismus. Das »théâtre des supplices« galt Muchembled dabei als der im Sinne einer ›politischen Anthropologie‹ zu analysierende Ausdruck der symbolischen Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten. Den Siegeszug der königlichen Gerichtsbarkeit im 16. Jahrhundert habe denn auch ein »éclat des supplices« mit der Zuspitzung auf Hinrichtungen und Gnadenerlasse begleitet. 127 Die Milderung der Strafpraxis seit Ludwig XIV. zeuge so zum einen von der weitgehenden Durchsetzung des staatlichen Machtmonopols, zum anderen aber auch da- 122 Von diesem übergreifenden Interesse zeugen die Sammelbände Petit u.a.: Histoire des galères; Petit (Hg.): La prison; Perrot (Hg.): L’impossible prison. 123 Als Überblick der Beitrag von Nicole Castan, in: Petit u.a.: Histoire des galères, 19 - 77. Zum 18. Jahrhundert dies.: Le régime des prisons au XVIIIe siècle, in: Petit (Hg.): La prison, 31 - 42; dies.: Délinquance traditionelle et répression critique à la fin de l’Ancien Régime dans les pays de langue d’oc, in: Perrot (Hg.): L’impossible prison, 147 - 164; Quétel: De par la Roy; Martin: Le milieu carcéral; Pierre Bodineau: La gestion des prisons bourguignonnes à la fin du XVIIIe siècle, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 477 - 485; Jean-Michel Tournois: Dans l’antichambre des peines: les prisons dijonaises à la fin du XVIIIe siècle (1774 - 1789), ebd., 487 - 493; Seltene Innenansichten des Gefängnisses gewährt Garnot: Vivre en prison. Zum späten Mittelalter Gonthier: Prisons et prisonniers; dies.: Délinquance, justice et société, 2 1 2 -220. 124 Zysberg: Les galériens. Für die Zeit vor der Reorganisation der Galeeren unter Ludwig XIV. ders.: Le temps des galères (1481 - 1748), in: Petit u.a.: Histoire des galères, 79 - 106. Vgl. auch ders. (Hg.): Jean Martheilhe. Mémoires d’un galérien du Roi-Soleil, Paris 1982. Ein regionaler Ansatz bei Ferrer: Des galériens. 125 Ders.: Au Siècle des lumières, naissance du bagne, in: Petit (Hg.): 169 - 197. 126 Muchembled: Le temps des supplices. 127 Ebd., 81 - 125. Nach der so erfolgten Eroberung der Städte bildete die Hexenverfolgung für Muchembled den zweiten Schritt, mit dem der Absolutismus sich der Peripherie (des Landes) bemächtigt habe, ebd., 154 - 184. Vgl. auch die zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen Muchembleds zum Thema Hexenverfolgung; ders.: Le roi et la sorcière. L’Europe des bûchers. XVe -XVIIIe siècle, Paris 1993; ders.: La sorcière au village (XVe -XVIIIe siècle), Paris 1979; ders.: Sorcières, justice et société aux XVIe et XVIIe siècles, Paris 1987. Henrik Halbleib 112 von, daß sich der Absolutismus mit den traditionellen Formen der Konfliktregelung eingerichtet habe, womit Muchembled seine frühere Thesen bezüglich des Erfolges der obrigkeitlichen Akkulturation erheblich revidierte. 128 Die langfristige Perspektive gibt zwar wie häufig Anlaß zur Kritik am Detail, wie groß aber nicht nur in der französischen Forschung das Defizit an Arbeiten ist, die sich auf die großen säkularen Wandlungsprozesse der Geschichte und das reichhaltige diesbezügliche Theorieangebot einlassen, zeigen die Forschungssynthesen Xavier Rousseauxs. 129 Verbanden sich schon in der nur durch die Unbilden des wissenschaftlichen Buchmarktes in publizierter Form getrennten »Thèse« Muchembleds mit historischer und ›politischer‹ Anthropologie zwei völlig unterschiedliche Zugänge zur Geschichte der Kriminalität, so gab es in der jüngeren Vergangenheit mehrere ehrgeizige Versuche, die Pluralität der Methoden und Gegenstände wieder zu integrieren. Initiiert von Benoît Garnot, zeugen die inzwischen drei Kolloquien am »Centre d’études historiques sur la criminalité et les déviances« der Université de Bourgogne in Dijon 130 nicht nur von dem anhaltend breiten Interesse an der Kriminalitätsgeschichte, sondern auch von der Bereitschaft zum Dialog über die engen zeitlichen Abgrenzungen der historischen Disziplin hinweg. In Anbetracht der für das 18. Jahrhundert zu verarbeitenden Quellen- und Stoffmengen, nimmt es nicht Wunder, daß es zu dieser ursprünglich favorisierten Epoche eines vermuteten entscheidenden Kriminalitätswandels keine neueren umfassenden Arbeiten gibt. So splittert sich auch das facettenreiche Werk Benoît Garnots in einzelne Veröffentlichungen zwischen mikrohistorischen Ansätzen und breit angelegten Überblicken auf. 131 Ob die Anziehungskraft der Kriminalitätsgeschichte für eine neue Generation von Historikern noch ausreicht, um hier mit zukünftigen »Thèses« die Lücke zu schließen, wird sich erweisen. Dagegen profitierte die Forschung zum lange Zeit vernachlässigten Spätmittelalter davon, daß ihr aufgrund der Verspätung die Erfahrungen von knapp zwei Jahrzehnten Kriminalitätsgeschichte als Ausgangsbasis zur Verfügung standen. Einer Erwähnung bedürfen hier die »Thèses de Doctorat d’Etat« Claude Gauvards und Nicole Gonthiers. Leider erschien die Studie Gonthiers über Delinquenz und Justiz im Lyonnais 132 erst 1993 - fünf Jahre nach Einreichung der »Thèse«. Auf einer wesentlich breiteren Quellenbasis knüpfte Gonthier an die Pionierarbeit Jacques Chiffoleaus über die päpstliche Gerichtsbarkeit in Avignon an. Die genaue Beschreibung der konkurrierenden Gerichtsbarkeiten und der quantifizierbaren Angaben über die Delikte (Zeiten, Orte und städtische wie ländliche Deliktstrukturen) eröffnet den Blick in zwei Richtungen: Der zweite Teil des Buches »Les délinquants« fragt in gewohnter Weise nach den Tätern, nach Frauen und Jugendlichen, Fremden und Klerikern, Reichen und Mächtigen, Arbeitenden und Armen, nach ihren Motivationen, ihrer sozialen und kulturellen Verortung. Im dritten und umfangreichsten Teil »La justice et les délinquants« geht es nur 128 Muchembled griff hier auf das oben bereits erwähnte Konzept der Justiznutzung zurück. 129 Rousseaux: Ordre moral (wie Anm. 41); ders.: Civilisation des mœurs; ders.: Entre accommodement local (wie Anm. 112). 130 Garnot (Hg.): Histoire et criminalité; ders. (Hg.): Ordre moral et délinquance; ders. (Hg.): L’infrajudiciaire. 131 Garnot: Un crime conjugal; ders.: Vivre en prison; ders.: La législation et la répression; ders.: La perception des délinquants. 132 Gonthier: Délinquance, justice et société. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 113 zum einen um die Delinquenten vor Gericht und das unter dieser geistlichen Gerichtsbarkeit schon früh durchgesetzte Inquisitionsverfahren, bei dem die Richter weniger auf die Folter als auf die Angst der Angeklagten vor einer längeren Inhaftierung setzten, um die so wichtigen Geständnisse zu erlangen. Die Justiz erscheint hier in einem der zeitgenössischen literarischen Kritik gegenüber vergleichsweise günstigen Licht, was Effektivität und Verhältnismäßigkeit der Strafen angeht. Zum anderen interessierte Gonthier die Justiz als ein Kernbereich politischer Autorität. Die umfangreichen Aktivitäten der Gerichte waren nur zu einem geringen Teil von den finanziellen Möglichkeiten der Geldstrafen motiviert. Streitigkeiten darum, welchem Gerichtsherren ein Angeklagter zustand, die erfolgreiche Verdrängung außergerichtlicher Konfliktlösungsmechanismen und die in Hinrichtungen und Verbannungsritualen festgeschriebene »géographie judiciaire« gelten Gonthier ebenso als Belege für die zentrale Rolle der Justiz für die Einschärfung und Ausübung von Herrschaft wie der Bezug auf ein religiöses Modell moralischer und politischer Ordnung. 133 Die politischen Implikationen der Repression - beziehungsweise in diesem Fall der ›Remission‹ - von Kriminalität sind auch Claude Gauvard nicht fremd. 134 Die ca. 7.500 ausgewerteten »lettres de rémission« gelten Gauvard zum einen als Indikatoren des Diskurses zwischen Herrscher und Untertanen über Verbrechen und Gewalt (die Mehrzahl der Gnadenbriefe wurde für Tötungen ausgestellt). Die Bedeutung theoretischer Debatten, aber auch der »opinion« für das Selbstverständnis und die Praxis der königlichen Gnadenjustiz wird dabei ebenso herausgestellt wie das aus Ängsten und Unsicherheit entstehende Bedürfnis der Gesellschaft nach Justiz und Staat: »L’histoire du crime raconte comment la société traditionelle (...) s’est adaptée et a souhaité la constitution de l’Etat.« 135 Mit den Gnadenbriefen habe so eine Offizialisierung traditioneller Konfliktlösungen begonnen, allmählich sei im Kontext der religiösen Gottesfriedensbewegung der Totschlag zu einem Majestätsverbrechen (»lèse-majesté«) geworden, das die Todesstrafe verdiente. Zum anderen dienen Gauvard die Texte der Gnadenbriefe und -gesuche als Basis für eine umfassende historisch-anthropologische Analyse von Lebensformen und Verhaltensweisen, die sowohl thematisch als auch methodisch über den vergleichbaren Ansatz Muchembleds hinausführt. So zeigt sich bei Gauvard, daß serielle Methode und sorgfältige ›qualitative‹ Quellenlektüre einander nicht ausschließen müssen, sondern vielmehr erst im Zusammenhang erkenntnisfördernd wirken. Ob künftige Arbeiten die hoch gesetzten Standards dieser Publikationen wieder erreichen werden oder ob das Feld der ›großen‹ Kriminalitätsgeschichte als bereits gründlich abgeerntet links liegen gelassen wird, muß offen bleiben. Die kontinuierliche Entwicklung und die zunehmende Institutionalisierung dieser Forschungsrichtung in den letzten drei Jahrzehnten durch alle Umbrüche und »Zeiten des Zweifels« 136 hindurch sprechen gegen ein kurzfristiges Abflauen des Interesses. Zumindest bietet die 133 Ebd., 284 - 334. 134 Gauvard: De grace especial. Anscheinend haben selbst sozial- und mentalitätsgeschichtlich orientierte Mediävisten weniger Schwellenängste gegenüber den Phänomenen Staat und Politk als ihre frühneuzeitlichen Kollegen. 135 Ebd., 939. 136 Roger Chartier: Zeit der Zweifel. Zum Verständnis gegenwärtiger Geschichtsschreibung, in: Christoph Conrad/ Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, 83 - 97. Henrik Halbleib 114 schon von Y. Castan angestoßene Öffnung gegenüber einer nicht im eigentlichen Sinne kriminalitätsgeschichtlichen Nutzung der Justizarchive - die schon früher zu entlegenen Themen wie dem ländlichen Geschmack und Bedarf an Luxusartikeln anhand gestohlener Gebrauchsgegenstände führte - 137 noch genügend neue Perspektiven, wie etwa die in letzter Zeit häufiger gezogenen Verbindungen zur Medizingeschichte zeigen. 138 Allerdings muß man sich dann mit Benoît Garnot fragen, ob man hier überhaupt noch von einer »histoire de la criminalité« sprechen kann. 139 Zusammenfassung Aus den Traditionen serieller Geschichtsschreibung hervorgehend, lag das Interesse der französischen Kriminalitätsgeschichte zunächst auf den Zusammenhängen von langfristigen Veränderungen der Deliktstrukturen, sozialen Ursachen der Delinquenz und Marginalisierung von Randgruppen. Ein zunehmend anthropologischer Blick führte dann zu einer stärkeren Aufmerksamkeit gegenüber den Funktionen der Gewalt in sozialen Beziehungen und Ehrkonflikten. Zugleich nahm mit wachsender Skepsis gegenüber den quantifizierenden Methoden und angeregt von Foucault die Bereitschaft zu, sich mit der Justiz und deren Wahrnehmung und Nutzung durch die Bevölkerung zu beschäftigen. 137 Dyonet: Le goût des voleurs. 138 Gonthier: Les médecins et la justice; Fraysse/ Fraysse: Entre psychatrie et histoire des mentalités; Françoise Fery-Hue: Une expertise pour viol au XVIe siècle: pratique médico-légale et vocabulaire gynecologique, in: Violence et contestation au Moyen-Age, Paris 1990, 321 - 343; Annie Saunier: »Hors de sens et mémoire«: une approche de la folie au travers de quelques actes judiciaires de la fin du XIIIe à la fin du XIVe siècle, in: Philippe Contamine/ Thierry Dutour/ Bertrand Schnerb (Hg.): Commerce, finances et société (XIe -XVIe siècles). Recueil de travaux d’Histoire médiévale offert à M. le Professeur Henri Dubois, Paris 1993, 489 - 499. 139 Garnot: Pour une histoire nouvelle, 298. Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 115 Bibliographie André Abbiateci/ François Billacois/ Yvonne Bongert/ Nicole Castan/ Yves Castan/ Porphyre Petrovitch: Crimes et criminalité en France sous l’Ancien Régime 1 7 e -18e siècles, Paris 1971. Régine Beauthier: La répression de l’adultère en France du XVIème au XVIIIème siècle. De quelques lectures de l’histoire, Brüssel 1990. Michel Beé: Le spectacle de l’exécution dans la France d’Ancien Régime, in: Annales E.S.C. 38 (1983), 843 - 862. Erica-Marie Benabou: La prostitution et la police des mœurs au XVIIIe siècle, Paris 1987. Yves-Marie Bercé: Aspects de la criminalité au XVIIe siècle, in: Revue historique 239 (1968), 33 - 42. Yves-Marie Bercé/ Yves Castan (Hg.): Les archives du délit: empreintes de société, Toulouse 1990. 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Es liegen lediglich Einzelübersichten vor (Moorman van Kappen, 1984b; Spierenburg, 1986b; Caenegem, 1991; Nève, 1991; Wijffels, 1993). 2 Ungefähr zwanzig Jahre nach den Pionierartikeln über die Niederlande (Diederiks, 1975a und b, 1980; Huussen, 1976b; Spierenburg, 1981) oder Belgien (Vanhemelryck, 1973, 1978; Dupont-Bouchat, 1976, 1977c), bietet es sich nunmehr an, ein vorläufiges Fazit zu ziehen. In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Forschungsgegenstände, die Quellenauswertung sowie die Untersuchungsmethoden entsprechend den Veränderungen der Gesellschaften, in denen die Forschungsarbeiten konzipiert und umgesetzt worden sind, gewandelt (Rousseaux, 1997b). Unser Beitrag will einen kurzen Überblick über die Forschung zur Kriminalitätsgeschichte im Benelux-Raum in der Zeit vom Spätmittelalter bis zum Ende des Ancien Régime geben. Der zeitliche Ausgangspunkt ist das 14. Jahrhundert, eine Zeit, in der die fürstlichen Territorialstaaten entstehen. Den terminus ad quem bestimmt die allmähliche Angliederung der Beneluxterritorien an Frankreich zwischen 1795 und 1814. Dieser geographische Raum entspricht einem traditionellen Verständnis der Niederlande in ihrer größten Ausdehnung (Schepper, 1987). Sie umfassen die siebzehn Provinzen des 16. Jahrhunderts, zu denen die Fürstentümer zwischen Mosel und Rhein hinzuzufügen sind. Unter ihnen ist das Fürstbistum von Lüttich das wichtigste (Diederiks, Egmond, 2000; Rousseaux, Dupont-Bouchat, 2000). Man kann in diesem bibliographischen Essay nicht umhin zu bemerken, wie verstreut die Arbeiten sind. Selbst wenn die einschlägigen Untersuchungen gedruckt vorliegen (was oft nicht der Fall ist), gestaltet sich der Zugriff auf sie oft schwierig. Wenige Bücher oder Artikel sind in nationalen oder internationalen Zeitschriften erschienen. Die meisten Arbeiten sind über Zeitschriften für Lokalgeschichte oder über Sammelbände verstreut. 1 Herzlichen Dank für seine Hilfe bei der Überprüfung der deutschen Übersetzung an Helmut Gabel. 2 Ein solcher Überblick ist in Vorbereitung und stellt zumeist ungedruckte Arbeiten vor. Xavier Rousseaux 122 Die Entstehung der Kriminalitätsgeschichte In den nördlichen Niederlanden wurde die Kriminalitätsgeschichte grundlegend von einigen Gründungsvätern inspiriert. Prägend waren vor allem Johann Huizingas »Herbst des Mittelalters« (Huizinga, 1997; Lem, 1997) und Norbert Elias »Zivilisierung der Sitten« (Elias, 1939; Fletcher, 1997; Diederiks, 1995). In Belgien hingegen gewannen vor allem die »Schule der Annales« (Billacois, 1967, 1969) und die Person Michel Foucaults an Einfluß; insbesondere dessen Buch »Überwachen und Strafen« (Foucault, 1975, 1981) wurde zu einem wahrhaften Standardwerk für Kriminalitätshistoriker. Das Wort »Kriminalität« taucht in Belgien 1926 in einem Artikel über die Sitten und die Kriminalität in Anvers zum Ende des 14. Jahrhunderts auf (Goris, 1926). Das Thema entspricht dem damaligen Forschungstrend. Die Mediävistik interessierte sich vor allem für die Geschichte der Stadt und die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der großen Fürstentümer, aus denen später Belgien hervorging. Herausragendster Vertreter dieser Geschichte ist Henri Pirenne (Lyons, 1974). Andererseits interessierten sich die Rechts- und Verfassungshistoriker (Godding, 1977) für die Entwicklung der Institutionen der Fürstentümer und der Städte seit dem Mittelalter und hier insbesondere für die Entwicklung des Strafrechts (Maes, 1947; Caenegem, 1954, 1956; Hemersdorf, 1980). Einen dritten Strang begründeten die Experten für das 16. Jahrhundert, denen daran lag, die Zentralisierung unter den Habsburgern und die politisch-religiösen Konflikte zu verstehen, die zur Teilung der Niederlande und zur Konfessionalisierung der Gesellschaft führten. Ihr Beitrag besteht darin, unsere Kenntnisse über die Kriminalität zu vertiefen, indem sie die Untersuchung rechtshistorischer Quellen mit der Strafpraxis und den ideologischen und religiösen Diskursen zu verknüpfen suchen (Goosens, 1997, 1998). So wurzelt die Beschäftigung mit Kriminalität in der Vergangenheit zugleich in der Wirtschafts-, Sozial-, Verfassungs- und Rechtsgeschichte, in der politischen Geschichte wie auch der Geschichte der Religion. Doch faßte das Konzept »Kriminalitätsgeschichte« in der Geschichtswissenschaft erst in den 60er Jahren Fuß. Unseren Raum erreichte die Kriminalitätsgeschichte insbesondere unter dem Einfluß der Schule der »Annales«. 3 In Belgien stellt die Doktorarbeit von F. Vanhemelryck die erste Untersuchung über Kriminalität dar. Sie steht unter dem Einfluß der Pionierstudie Malines über das Strafrecht (Maes, 1947). Obwohl Vanhemelryck seine Arbeit schon 1968 in seiner Disputation verteidigte, publizierte er sie erst dreizehn Jahre später (Vanhemelryck, 1981). Der Autor ist ein Mediävist, der die reichen Auswertungsmöglichkeiten der Rechnungsbücher von Justizbeamten, die bislang allein literarisch genutzt worden waren, erahnte. Zum ersten Mal wertete er in seiner Untersuchung der Kriminalität in der Ammanie von Brüssel die Daten für den Zeitraum vom 15. bis 18. Jahrhundert quantitativ aus. Methodologische Überlegungen vervollständigten sein Unternehmen (Vanhemelryck, 3 Diesen Einfluß übten unter anderem die Arbeiten von Pierre Chaunu, Emmanuel Le Roy Ladurie, Yves und Nicole Castan aus. Die Bewegung der angelsächsischen »New Left History« hingegen beeinflußte Belgien nur indirekt. Diese beschäftigt sich mehr mit dem 19. Jahrhundert und den sozialen Beziehungen zwischen den untereinander konfligierenden Klassen unter den Bedingungen einer Gesetzgebung, die flexibler als die des Common Law ist. Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 123 1973, 1978). Zur gleichen Zeit schrieb ein amerikanischer Historiker, der wie Vanhemelryck seine Ausbildung in Gent erhielt, einen langen Artikel über die Strafpraxis der Schöffen von Gent. Dieser Artikel sollte Geschichte machen (Nicholas, 1970). Beide Arbeiten repräsentieren die Forschungsrichtung der Jahre 1960-1970, nämlich quantitative Sozialgeschichte, qualitative politische Rechtsgeschichte, mittelalterliche Geschichte und Stadtgeschichte. Auf der frankophonen Seite wurden in den 60er Jahren an der katholischen Universität Louvain für die Frühe Neuzeit ähnliche Untersuchungen durchgeführt. Im folgenden Jahrzehnt erschien ein erster Sammelband unter dem Titel La criminalité en Wallonie sous l’Ancien Régime (d’Arras d’Haudrecy u.a., 1976). Auch die darin enthaltenen Untersuchungen beziehen sich auf die Frühe Neuzeit, z.B. auf das 16. Jahrhundert anhand der Rechnungsbücher der luxemburgischen Justizbeamten (Dorban, 1976), vor allem aber auf das 18. Jahrhundert auf der Grundlage der Justizakten der städtischen Gerichte: dem obersten Gerichtshof von Namur (d’Arras, 1976) und dem Schöffengericht von Nivelles (Dupont-Bouchat, 1976). Bereits 1973 gründete in den Niederlanden eine Gruppe von Forschern, die Juristen, Historiker, Anthropologen und Archivare umfaßte, unter Leitung von Herman Diederiks die »Nederlandse Strafrechtshistoricigroep«. Ihr Programm besteht darin, Kriminalität als Facette des Lebens in der Gesellschaft (samenleving) zu untersuchen. Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Provinz Holland im 18. Jahrhundert. Die regionalgeschichtliche Zeitschrift Holland spiegelt das Programm wie auch die Wahl eines bestimmten Forschungsansatzes wider (Diederiks u.a., 1976). Ein Ziel verbindet die Gruppe: Den gewöhnlichen Menschen in seinen sozialen Beziehungen zu untersuchen. Die Gruppe vereint auch eine gemeinsame Methode: die Gegenüberstellung der normativen Daten mit den Akten der Justizpraxis. Dies jedoch verhindert nicht eine große Vielfalt der Untersuchungsebenen und Fragestellungen. Bestimmte Ansätze sind quantitativ, andere eher qualitativ (Diederiks, 1976; Boon, 1976). Die einen untersuchen eine bestimmte Verfolgungswelle (Boon, 1976), andere die Tätigkeiten eines städtischen Gerichts, etwa in Amsterdam (Faber, 1976), oder die Urteilssprechung einer höheren Gerichtsbarkeit wie die des Gerichts von Holland (Huussen, 1976a). Seit dem Zeitraum von 1968-1976 ist in Belgien wie in den Niederlanden die Zahl der Arbeiten gewachsen. Um nur die Bücher zu erwähnen, so erschienen in den Niederlanden Werke über Kriminalität und Justiz in den Städten Utrecht (Berents, 1976) und Amsterdam (Boomgaard, 1992; Faber, 1983a; Spierenburg, 1984b), sowie in der Republik im 18. Jahrhundert (Diederiks, 1993a). Vielfältige Einzelthemen wurden aufgegriffen: die Strafwallfahrt (Herwaarden, 1978a), das Banditentum (Blok, 1991; Egmond, 1986, 1993), die öffentlichen Hinrichtungen oder das Gefängnis (Spierenburg, 1984a und b, 1991), das mittelalterliche Strafrecht (Diederiks, Roodenburg, 1991), die höheren Gerichtshöfe (Huussen, 1994). Der Untersuchungsgegenstand erweitert sich in dem Maße, in dem die ersten Arbeiten Forschungsprojekte und neue Dissertationen anregen: über das Hexenwesen (Blécourt, Gijswijt-Hofstra, 1986), die kirchliche soziale Kontrolle (Roodenburg, 1990), die Prostitution (Pol, 1998), die Ehre (Keunen, Roodenburg, 1992), Volksrituale (Rooijakkers, 1994) und die Gesten (Bremmer, Roodenburg, 1992). In Belgien hingegen bleiben Doktorarbeiten relativ selten, wenn auch die Zahl der Publikationen zunimmt. Außer der Arbeit von Fernand Vanhemelryck kann man die Doktorarbeit von Marie-Sylvie Dupont-Bouchat über die Hexenverfolgung in Luxemburg nennen (Dupont-Bouchat, 1977b, 1978b). Aus der Geschichtswissenschaft be- Xavier Rousseaux 124 schäftigen sich allein Anne-Marie Roets am Beispiel Gents im 17. und 18. Jahrhundert (Roets, 1987) und Xavier Rousseaux am Beispiel Nivelles vom 15. bis zum 17. Jahrhundert (Rousseaux, 1990a) mit Kriminalität oder Strafjustiz. Die Zahl der gedruckten Werke ist sehr gering, sieht man von zwei Essays ab, die sich an das breite Publikum wenden (Vanhemelryck, 1984, 1985). Thematisch nimmt das Hexenwesen den breitesten Raum ein (Dupont-Bouchat, Frijhoff, Muchembled, 1978; Muchembled, Desmons, 1981; Vanhemelryck, 1982; Dupont-Bouchat, 1987; Vanysacker, 1988). Andere Untersuchungen widmen sich dem Gefängnis (Lis, Soly, 1990), der Prostitution (Dupont, 1996), den städtischen Aufständen in Brabant (Honacker, 1994) und der Ausbürgerung (Macours, 1996). Vor kurzem hat Aline Goosens in ihrer Doktorarbeit das Problem der Häresieverfolgungen für die südlichen Niederlanden wieder aufgegriffen (Goosens, 1997, 1998). Schließlich vervollständigen die historischen Arbeiten über Nordfrankreich das Bild über die alten niederländischen Provinzen. Die umfangreiche Thèse d’Etat 4 von Robert Muchembled über Violence et société en Artois und die Publikationen, die aus ihr abgeleitet sind (Muchembled, 1988, 1992), gehören größtenteils in diesen Rahmen, ebenfalls eine unveröffentlichte Doktorarbeit über die Justiz in Douai im 16. Jahrhundert (Fouret, 1984). In den Niederlanden ebenso wie in Belgien, in Frankreich oder in Luxemburg gelangen viele Monographien nicht zum Druck oder werden in Lokalzeitschriften publiziert. 5 In Jahre 1977 wurde während der Edinburgh Economic History Conference auf Initiative der holländischen Gruppe und mit Unterstützung der Maison des Sciences de L’Homme von Paris eine Vereinigung gegründet: die International Association for the History of Crime and Criminal Justice. Ihre erste Tagung organisiert die IAHCCJ 1978. Im selben Jahr stellten zwei Zeitschriftennummern dem niederländischsprachigen Publikum eine Beitragssammlung über den Benelux-Raum (Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden) und Europa (Tijdschrift voor Criminologie, 1978) vor. Seitdem hat die IAHCCJ vier internationale Konferenzen und mehr als 25 workshops organisiert. 6 Hier sind Historiker insbesondere des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aus dem Benelux-Raum aktiv. Themen und Aufgabenstellungen Obwohl die Zahl der Arbeiten zur Kriminalitätsgeschichte insgesamt nicht sehr hoch ist, haben viele Artikel und Sammelbeiträge das Konzept, die Quellen und die Methoden der historischen Kriminalitätsforschung aufgegriffen (Diederiks, Faber, Huussen, 1988; Vanhemelryck, 1978). Für diesen begrenzten Überblick haben wir drei Leitthemen ausgewählt, die einander ergänzen. Das erste Thema ist das der Kriminalität und 4 Es handelt sich um eine im französischen Universitätssystem vor der letzten Hochschulreform informell grande thèse genannte Arbeit, die von ihrem wissenschaftlichen Anspruch her mit demjenigen der deutschen Habilitationsschrift vergleichbar ist (Anm. der Übersetzerin). 5 Für ein detaillierteres Verzeichnis der belgischen Arbeiten siehe Rousseaux, in Dupont-Bouchat, Rousseaux, 1999. 6 Ein Verzeichnis ist 1991 zu Ehren Yves Castans in einer Nummer des Bulletins der IAHCCJ erstellt worden. 1997 wird das Bulletin zur internationalen Zeitschrift Crime, Histoire et Sociétés/ Crime, History and Societies. Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 125 ihrer Verfolgung. In einem zweiten Teil geht es um die soziopolitischen Konstruktionen des Verbrechens und seiner Bestrafung. Der dritte Teil betrachtet Verbrechen und Strafen als einen Zugang zu den Ritualen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Kriminalität und ihre Verfolgung Das Hauptziel vieler Monographien bestand darin, Kriminalität, ihre Verfolgung sowie die involvierten Bevölkerungsgruppen statistisch zu erfassen (Soman, 1980). Unter dem Einfluß der Sozialwissenschaften haben sich daher die meisten Autoren dem Zählen von Kriminaldelikten, Tätern und Sanktionen innerhalb bestimmter Zeiträume gewidmet. Anschließend sollte die Untersuchung von Delikt und Straftypologien erlauben, den strukturellen Wandel von Verbrechen und Strafe seit dem Mittelalter einzuschätzen. Das Gesamtprofil der Kriminalität Die von den ersten Autoren erstellten Kriminalitätsstatistiken (Maes, 1947; Berents, 1976; Vanhemelryck, 1981) beziehen sich im wesentlichen auf die Stadt. Zweierlei charakterisiert das skizzenartige Bild. Seit dem Mittelalter dominiert überall Gewalt die Kriminalität (Berents, 1988); der Diebstahl nimmt in den prosperierenden Städten und Landschaften am Ende des 18. Jahrhunderts zu (Diederiks, 1980b, 1989a; Vanhemelryck, 1973, 1978). Hier stößt man auf die bekannte, von Pierre Chaunu und seinen Schülern entwickelte violence-au-vol These (Chaunu, 1981). Dieses lineare Modell ist jedoch angesichts der methodologischen Probleme schnell aufgegeben worden. Die Frage nach der Repräsentativität der Quellen und die Bedeutung außergerichtlicher Konfliktlösungen haben Zweifel an den Vorstellungen aufkommen lassen, die man von der »Dunkelziffer« und den Diebstahls- und Gewaltquoten hatte (Spierenburg, 1984b). Freilich haben neuere Studien drei Grundzüge der Kriminalitätsentwicklung bestätigt. Im gesamten Ancien Régime herrscht erstens die Gewalt gegen Personen vor (Rousseaux, 1990a). Zweitens bilden die Jahre 1500-1650 eine eigene Epoche: im Kontext der religiösen Auseinandersetzungen, des Zivilisationsprozesses und der Staatsbildung entstehen neue Vergehen gegen die Religion, die Moral und die Obrigkeit (Rousseaux, 1989; Goosens, 1997 1998). Drittens schließlich ist zu konstatieren, daß sich die Kriminalität zwischen 1750 und dem ausgehenden 18. Jahrhundert nur langsam wandelt (Diederiks, Huussen, 1989; Rousseaux, 1997b). Alle neueren Studien schließlich betonen, wie begrenzt der Quellenwert von Strafprozeßakten für die Erforschung der Kriminalität ist. Zur Typologie der Kriminalität Vor dem Hintergrund des Gesamtprofils der Kriminalität haben die Formen abweichenden Verhaltens die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Man kann zum einen überzeitlich-strukturelle Phänomene wie etwa Gewalt, voneinander unterscheiden, zum anderen aber auch epochenspezifische Verhaltensweisen. Die unterschiedlichen Formen von Gewalt sind insbesondere als ein Phänomen hervorgehoben worden, das die städtischen Obrigkeiten im Mittelalter beschäftigte (Nicholas, 1970; Berents, 1976; Vanhemelryck, 1981). In den ländlichen Gesellschaften ist die von Ehr- Xavier Rousseaux 126 händeln, Schlägereien und Verletzungen geprägte Alltagsgewalt für die südlichen Niederlande mit Hilfe von Prozeßrechnungen untersucht worden (Vanhemelryck, 1975a; Dorban, 1976; Dupont-Bouchat, 1978; Bastien, 1988-1989). Auf Grundlage der Begnadigungsbriefe der Herzöge von Burgund und der Habsburger betonen die Arbeiten über das Artois (Muchembled, 1989), Brabant (Rousseaux, Mertens, 1999), über Holland und Seeland (Schepper, 1995; Schepper, Vrolijk, 1998) oder die Herrschaft Namur (Dupont-Bouchat, Noël, 1999), wie verbreitet der Totschlag bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts in dörflichen Gesellschaften ist. Die Haltung zur Sexualität trägt in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten ambivalente Züge. Systematische Studien zur städtischen Prostitution stehen für den Norden (Altinck, 1983; Wurf-Bodt, 1988; Pol, 1992, 1996) wie für den Süden (Devolder, 1995; Dupont, 1996) am Anfang; gleiches gilt für die Studien über die sexuelle Gewalt an Kindern (Dupont-Bouchat, 1998). Langfristig betrachtet geht die Entwicklung in Richtung einer zunehmenden Kontrolle und Moralisierung (Dupont-Bouchat, 1987a, 1998). Andere als deviant eingeschätze Verhaltensweisen kennt man von den kurzen und brutalen Verfolgungswellen wie denjenigen gegen die Homosexuellen in Flandern im 15. Jahrhundert (Boone, 1993) oder in denVereinigten Provinzen 1730-31 (Huussen, 1980; Meer, 1984, 1995; Beeck, 1987). Die politischen Vergehen nehmen sehr unterschiedliche Gestalt an. Im Mittelalter stellt der Mord in Anlehnung an das Modell der Vendetta in den Kämpfen zwischen den städtischen Parteien ein Mittel des Machtwechsels dar. Die sehr urbanisierten Gebiete zwischen Seine und Rhein werden von dieser Form der Gewalt überzogen, getragen entweder von politischen Parteiungen wie den Hoeken und den Kabeljauwen in Haarlem, Amsterdam oder Leiden oder von sozialen Gruppen wie in Gent, Haarlem (Glaudemans, 1991), Leiden (Boone, Brant, 1993) oder Lüttich (Xhayet, 1997). Auf dem Land, aber vor allem in den Städten Brügge und Gent im 13. Jahrhundert (Bardoel, 1994; Blockmans, 1987) und in den flämischen oder brabantischen Städten bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (Holsters 1983, Nicholas, 1988, Dumolyn, 1997) finden bedeutende Aufstände statt (Te Brake, 1993a). Hinzu kommen Korruptionspraktiken, die man für die burgundische Zeit zu erhellen beginnt (Blockmans, 1985; Boone, 1988). Mit dem Ende der großen städtischen Revolten des 16. Jahrhunderts weichen die politischen Aufstände dem Majestätsverbrechen, insbesondere anläßlich der Adelsaufstände (Verheyden, 1961, 1981; Duke, 1990). Im südlichen, monarchischen Flandern wie auch in der Republik zur Zeit der soziopolitischen Konflikte zwischen Bürgern und Adligen oder zwischen Zünften und Zentralregierung wird erneut die Todesstrafe gegen die Anführer der Opposition verhängt (Honacker, 1994). Im ausgehenden Ancien Régime flammen die politischen Prozesse insbesondere nach dem Scheitern der brabantischen Revolution in den südlichen Niederlanden (Dupont-Bouchat, 1974) oder der patriotischen Revolution in der Republik der Vereinigten Provinzen (Te Brake, 1989, Schama, 1992) auf. Die Religionskriege hatten eine Kriminalisierung religiöser Meinungen zur Folge. Das Verbrechen der Häresie ist insbesondere im Kontext der Verfolgung der unterschiedlichen reformatorischen Gruppierungen (Lutheraner, Calvinisten und Täufer) für die katholischen Niederlande Karls V. und Philipps II. erforscht worden (Mellink, 1953; Decavele, 1975; Marnef, 1996; Goosens, 1997, 1998). Einige Arbeiten beschäftigen sich mit den Anfängen der Verfolgung in den Bistümern des ausgehenden Mittelalters (Mingroot, 1981). Die meisten Untersuchungen aber widmen sich der Rolle der In- Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 127 quisitoren (Wiele, 1982, 1987), der Verfolgung vor den ordentlichen Gerichten wie zum Beispiel dem Rat der Provinz von Namur (Dupont-Bouchat, 1972) oder derjenigen vor den außerordentlichen Gerichten, etwa dem Bloedraad, dem Blutgericht (Verheyden, 1981). Die Prozesse gegen die religiösen Minderheiten des 16. und 17. Jahrhunderts hingegen sind, abgesehen von den Arbeiten über die Stellung der Juden in der Republik der Vereinigten Provinzen (Diederiks, 1987; Huussen, 1989; Egmond, 1990; Stigmatisering, 1990), wenig untersucht. Die Kriminalisierung der Hexerei ist sowohl für die Städte wie Brügge im 16. bis 17. Jahrhundert (Vanysacker, 1988) als auch für ländliche Gebiete, zum Beispiel die wallonischen und deutschen Viertel des Herzogtums Luxemburg (Dupont-Bouchat, 1977b, 1978; Dupont-Bouchat, Frijhoff, Muchembled, 1978b) untersucht. Langzeitstudien liegen für Holland, Seeland, Geldern und den Osten der Vereinigten Provinzen vor (Blécourt, Gijswijt-Hofstra, 1976; Blécourt, 1990; Waardt, 1991; Schlüter, 1991). Dank dieser aufeinander abgestimmten Arbeiten, konnten Gesamtinterpretationen formuliert werden (Dupont-Bouchat, 1987b, Gijswijt-Hofstra, 1989; Gijswit-Hofstra, Frijhoff, 1991). Zahlreiche Monographien konzentrieren sich auf die Kriminalisierung des Vagantentums. Die Verbreitung von fahrenden Leuten (»Zigeuner«, Sinti, »Ägypter«) im 15. Jahrhundert (Moorman van Kappen, 1965; Lucassen, 1990), die Krise der Arbeitswelt und die Kriege des 16. Jahrhunderts führten dazu, daß die Bedrohung durch das Vagantentum in Gestalt des Vagabunden (Rousseaux, 1989), revoltierender Räuberbanden (Backhouse, 1983; Jansma, 1987) sowie in Eindämmungsmaßnahmen gegen das fahrende Volk manifest wurde. Im Gebiet von Vives (Strosetski, 1995) bis Coornhert (Fijnaut, Spierenburg, 1990) entfachte der Aspekt Prävention eine Debatte über die Notwendigkeit der Armenhilfe. Wie für die deutschen Fürstentümer oder Frankreich stellt im 18. Jahrhundert die zunehmende Pauperisierung und das Wiederauftauchen organisierter Banden ein gewichtiges Problem für die Obrigkeit der österreichischen Niederlande, der Vereinigten Provinzen oder des Fürstenbistums Lüttich (Eerenbeemt, 1968, 1977; Haesenne-Peremans, 1983) dar. In den politisch zersplitterten Gebieten wüten die großen Banden im Raum der Niederlanden, der Mosel und des Rheins (Deroisy 1959-60, 1965, 1985; Blok, 1978, 1979, 1991; Engelen, 1979; Egmond, 1986, 1990, 1992, 1993b). Die bekannteste von ihnen sind die »Bokkerijders« (Blok, 1991). Je nach Eigenschaft des Geländes, nehmen in den Vereinigten Provinzen die organisierten Banden eine unterschiedliche Form an; während sie in den holländischen Städten zwischenstädtische Netzwerke bilden, dominieren in den ländlichen Zonen Brabants und Limburgs lokale Bauerngruppen oder spezialisierte »internationale« Banden von »Zigeunern« oder Juden, wie in den östlichen Fürstentümern (Egmond, 1990, 1992). Im Gegensatz zu den anderen Verstößen ist über Eigentumsdelikte weiterhin nur wenig bekannt. Diebstahl sowie Vergehen im Dorf haben die Forschung kaum angezogen, wohingegen Feld- und Waldfrevel verhältnismäßig besser untersucht sind (Rousseaux, 1994b). Die typologisierenden Analysen haben zu zwei generellen Unterscheidungen geführt. Einerseits stehen sich, folgt man Untersuchungen über das 18. Jahrhundert (Diederiks, 1985, 1996), ein städtisches und ein ländliches Profil der Delinquenz gegenüber. Andererseits sind strukturelle und für weite Bevölkerungskreise charakteristische Verhaltensweisen wie z.B. die Gewalt von plötzlichen Schüben bestimmter Verbrechensformen (crime waves) zu unterscheiden (Rousseaux, 1990a). Unter den letzteren sind die »Jagden« auf Hexen, auf Vagabunden, auf sexuell Abweichende und auf Räuber; sie haben die Aufmerksamkeit der Forschung auf den wechselseitigen Einfluß der Xavier Rousseaux 128 Aggressions- und Repressionswellen auf das Gesamtprofil der registrierten Kriminalität gelenkt. Formen der Strafverfolgung Das Interesse an der Kriminalität hat zu einer erneuten Analyse der Strafen geführt (Diederiks, Huussen, 1989; Dupont-Bouchat, 1989; Caenegem, 1991), wobei diese entweder als Element eines Systems der Soziabilität (Heerwaarden, 1978a und b; Spierenburg, 1984a und b, 1991) oder - in Kombination mit den Delikten - als Bestandteil des Justizsystems (Faber, 1983; Diederiks, Huussen, 1989) untersucht wurden. In vielen Städten hat sich in den Untersuchungen, die auf den Rechnungsbüchern der Amtsleute oder Städte beruhen, herausgestellt, daß in den mittelalterlichen Städten die Geldbuße die häufigste Sanktion ist. Man hat daher von einer Zeit der Geldbuße gesprochen, um die Justiz des Zeitalters der städtischen Autonomie (14. bis 15. Jahrhundert) zu kennzeichnen (Rousseaux, 1990a; Muchembled, 1992). In diesem städtischen System erscheint die Strafwallfahrt, von der man sich freikaufen kann, als ein Spezifikum der niederländischen Städte (Heerwaarden, 1978a und b; Rousseaux, 1995b). Die Beschlagnahmung wurde als eine andere Form der Geldbuße genutzt. Diese stand allein dem Herrscher zu und wurde im 16. Jahrhundert von ihm im Fall eines crimen laesae majestatis angewandt (Iterson, 1957). Während Lokal- und Rechtshistoriker anekdotische oder folkloristische Perspektiven verfolgen, werden die Körperstrafen derzeit eher aus soziologischer Perspektive untersucht. Die Rechtshistoriker hatten bereits auf das Bild von der blutigen mittelalterlichen und vormodernen Strafjustiz reagiert (Maes, 1950; Caenegem, 1954). Was die Todesstrafe betrifft, so haben neuere Arbeiten diese in das Spektrum der Sanktionen eingeordnet und sie in den Kontext der insgesamt verfolgten Verbrechen gesetzt. Auch haben diese Arbeiten gezeigt, welchem Zickzackkurs die Anwendung der Todesstrafe seit dem Mittelalter folgt. Die gewohnheitsrechtlichen Texte beschreiben nicht so sehr ein verrechtlichtes Justizsystem als vielmehr einen Katalog von Gewaltmaßnahmen, in dem Tötung zu den Privilegien des Herrschers gehört, ohne deswegen im Recht wirklich verankert zu sein. In der Regel schrecken die Städte davor zurück, Bürger zum Tode zu verurteilen, wenn auch die städtischen Amtleute Ausländern gegenüber weniger empfindlich sind. Der Aufstieg der Fürstenherrschaft wie auch die großen religiösen Umbrüche der Reformationszeit rückte die Todesstrafe in den Vordergrund, zumal in den Verfolgungswellen, die sich gegen die Minderheiten richteten, seien es sexuelle (Homosexuelle), religiöse (Reformierte), kulturelle (Hexer und Hexen) oder soziale (Vagabunden und Landstreicher) Minoritäten. Selbst in den Stadtrepubliken funktioniert das Schauspiel des Schreckens wie am Beispiel Amsterdams im 17. Jahrhundert (Spierenburg, 1984b), Delfts (Noordam, 1989b) oder Haarlems (Hoeven, 1982) zu sehen ist. Nach 1650 und insbesondere nach 1750 kommt die Todesstrafe weniger häufig zur Anwendung (Huussen, 1992, Huussen, 1994; Rousseaux, 1996a), obwohl die Juristen für sie plädieren. Die Anwendung der übrigen Körperstrafen folgt derselben Entwicklung. Die Zeit von 1450 bis 1550 glänzt mehr als das klassische Mittelalter mit der Erfindung neuer Strafen, die allerdings eher erniedrigende als wirklich blutige Strafen sind. Die Ehrenstrafen (Pranger, Halseisen und Brandzeichen) kennen wir mittlerweile dank neuerer Arbeiten genauer (Cate, 1975; Win, 1991a, 1992a). Diese verfolgen ein Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 129 doppeltes Ziel: Sie versuchen die Stellung der Ehrenstrafen im Strafrecht des Ancien Régime einerseits und in demjenigen des napoleonischen Regimes andererseits zu bestimmen. Im Rahmen der entstehenden Rechtsarchäologie (Win, 1992b) macht De Win für das ländliche Belgien mit seinem publizierten systematischen Verzeichnis der Pranger auf die konkreten Spuren dieser stigmatisierenden Ehrenstrafen aufmerksam (Win, 1996). Da er jedoch jeden Fall aus seinem strafrechtlichen Kontext herauslöst, erlaubt es eine solche Vorgehensweise - anders als die Arbeiten zum Vollzug der Todesstrafe - nicht, die Politik der Infamie herauszuarbeiten. Die kirchlichen Strafen bedürfen besonders genauer Analyse. Die Untersuchung der Strafpraktiken in einer geistlichen Herrschaft wie der von Nivelles zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert führte zu grundsätzlichen Revisionen älterer Auffassungen (Rousseaux, 1992c). So maß das Mittelalter Sanktionen wie der Strafwallfahrt zweifellos eine große Bedeutung zu. Doch verfolgten diese Strafen eher ökonomische (Möglichkeit des Loskaufs von der Strafe nach festgelegten Sätzen) und soziale (befristete Abschiebung von Störenfrieden) als religiöse Ziele (Heerwarden, 1978b). Die von 1550 bis 1650 angewandten Strafen hingegen zeugen davon, daß die moralische und religiöse Ordnung (Rousseaux, 1992b; Goosens, 1997, 1998) bestätigt wird. In der Gegenreformation verstärken öffentliche Buße, obligatorische Teilnahme an den kirchlichen Zeremonien, Zwangspilgerschaften zu den neuen Kultorten der Gegenreformation, Bußen zugunsten der religiösen Orden einen von der Justiz gegen die moralische und religiöse Devianz geführten Strafdiskurs. Die Gefangensetzung ist Gegenstand vieler und vielfältiger Arbeiten, die sich auf die städtischen Gefängnisse, die halbprivaten Formen der Einsperrung und die Entwicklung der modernen Erziehungsanstalten in der Provinz beziehen. Die vollständigste Arbeit ist diejenige P. Spierenburgs, der die holländischen und deutschen Städte vergleichend betrachtet und dabei ein »hanseatisches« Modell der Gefangensetzung (Spierenburg, 1990b, 1991) zeichnet. Merkwürdigerweise fehlt uns für die Niederlande und das Fürstbistum Lüttich weiterhin eine Überblicksdarstellung über die »Erfahrung der Gefängnisse«; dies, obwohl zahlreiche Artikel darauf hingeweisen haben, daß Städte wie Brüssel entsprechende Ansätze machen (Bruneel, 1966a und b, 1967) und die Erziehungsanstalten von Gent und Vilvorde (Dupont-Bouchat, 1990b; Lis, Soly, 1993b) für die Entwicklung des Strafmodells zur Zeit der Revolution bedeutend sind. Diese bilden den Archetyp und Schlußstein des Strafmodells (Dupont-Bouchat, 1999). Andere Untersuchungen widmen sich der Einlieferung ins Gefängnis auf Betreiben der Familien oder städtischen Obrigkeiten (Diederiks, Spierenburg, 1984; Spierenburg, 1984b, 1985, 1986a; Lis, Soly, 1990). Die Geschichte der Strafe, dem theoretischen Modell von Rusche und Kirchheimer (1939, 1981) folgend, als Geschichte einer sozialen Funktion zu begreifen, deren Gestalt sich wiederum mit dem gesamtgesellschaftlichen Wandel verändert, ist ein neues Feld. Strafe wird hier als ein Schlüsselelement des Rechtshandelns begriffen, zugleich werden aber die Strafhandlungen mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Realitäten des Ancien Régime in Verbindung gesetzt. Mittels der genauen Untersuchung der jeweiligen Strafen geht es um eine Analyse sowohl des gesamten Sanktionssytems wie auch dessen langfristigen Wandels (Rousseaux, Emsley, 1995). Xavier Rousseaux 130 Ökonomien des Strafens: vom städtischen zum staatlichen Modell Verbrechen und Justiz als Ökonomie zu betrachten, erlaubt es, die neueren historischen Arbeiten zur Kriminalitätsgeschichte in der Langzeitperspektive neu zu betrachten. Für das Früh- und Hochmittelalter lassen es die Quellen kaum zu, über eine traditionelle Beschreibung hinauszugehen. Eine tiefergehende Untersuchung für die Grafschaft Flandern erlaubt es, die Machtausübung der Herrscher zu untersuchen. Der Aufstieg der Territorialfürsten und das Aufkommen der städtischen Gemeinden lassen die Justiz von einem Instrument der Machtdemonstration zu einem der Friedenswahrung werden (Caenegem, 1954, 1956, 1991). Der städtische Frieden Das, was die Regionen nördlich der Loire am meisten charakterisiert, ist die Entstehung eines Netzes mächtiger Städte. Dieses Netz erlaubt es ihnen, ein Modell politischer und gerichtlicher Machtausübung zu konstruieren und neue Praktiken für die Bürger zu entwickeln. Dieses Modell entwickelt sich zwischen 1300 und 1450 parallel zur Verstädterung. Es strahlt auf das ländliche Hinterland der Städte aus (Gent, Brügge, Louvains, Brüssel, Utrecht). In diesem Modell stellt Friedensbruch die Gefahr par excellence dar. Als gewöhnlicher Friedensbruch ist er Gegenstand verschiedener Formen von Wiedergutmachung. In seiner politischen Ausformung wird Friedensbruch mal streng, mal nachsichtig behandelt. Die Strenge des Richters Seit 1450 führt der Aufstieg der burgundischen Fürsten und ihrer habsburgischen Nachfolger zur Bildung eines zusammengesetzten Staates mit Einigungsbestrebungen. Die Justizpraktiken der Fürsten entwickeln sich in den Leerräumen zwischen den Städten und infiltrieren sogar die städtischen Justizverwaltungen (Amsterdam, Arras, Douai, Brüssel, Nivelles). Die Randfigur - der Häretiker, derVagabund, oder die Hexe - wird zum Feind. Die soziale Reaktion favorisiert die spektakuläre Verfolgung, um die Macht der fürstlichen Justiz zu markieren, die zwischen 1500 und 1650 ihren Höhepunkt erlebt. Die Rückschritte in der Zentralisierung unter den Habsburgern und die Teilung der Niederlande führen jedoch zu einer Schwächung der fürstlichen Justiz zugunsten der lokalen Oligarchien. In den nördlichen Niederlanden rücken die Städte (Amsterdam, Leiden), in den südlichen die Provinzsstände an die Stelle fürstlicher Herrschaftsausübung. Die Entwicklung zur staatlichen Kontrolle Das Ende des Ancien Régime ist gekennzeichnet von Veränderungsprozessen in verschiedenen Regionen. Das Fürstenmodell verblaßt allmählich gegenüber dem Konzept einer Modernisierung der Justiz. Der Anstieg des Vagantentums und des Diebstahls sowie die Schaffung von Zwangsanstalten sind die Symbole der neuen Ideen, die sich im Programm Beccarias kristallisieren; sie stoßen jedoch auf den Widerstand der großen Institutionen, der General- und der Provinzialstände sowie der großen Städte. Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 131 Die rechtlich-politische Konstruktion des Verbrechens Die Kriminalitätsgeschichte beschränkt sich nicht auf die Erforschung des Verbrechens und der Strafe; sie schließt vielmehr die Erforschung der politisch-gerichtlichen Determinanten in die Konstruktion der Kriminalität ein (Rousseaux, Lévy, 1997). Zuerst einmal geht es darum, die Arbeiten über die Normenproduktion im Lichte der neuen Erkenntnisse über die Justizpraxis zu lesen. Dann ist die Rolle der Justizapparate und der darin arbeitenden Menschen zu überprüfen und der Erfolg dieser modernen Institution zu erklären. Schließlich handelt es sich darum, die gerichtlichen Verfahren mit Hilfe ethnologisch-anthropologischer Methoden zu reexaminieren. Normen, Doktrinen und Juristen Rechtshistoriker haben darauf aufmerksam gemacht, daß Rechtsgeschichte die Dokumente zur Rechtspraxis integrieren muß (Godding, 1989; Caenegem, 1991; Wijffels, 1993). Der Beitrag der Mediävisten zur Kriminalitätsgeschichte bestand darin, darauf aufmerksam zu machen, daß die normativen Texte, auf die im allgemeinen Bezug genommen wird, selten wortgetreu angewendet wurden. Auch stehen diese Texte in einem zeitspezifischen Zusammenhang (Vanhemelryk, 1966, 1969; Stein-Wilkenhuis¸ 1991). Da die Texte relativ selten oder wenig explizit sind, muß man die Konstruktion der Strafnorm in einer kleinen Landstadt aus den vielen Quellen zur Rechtspraxis erschließen. Das Bild, das dann von der Justiz entsteht, ist ein ganz anderes als das der traditionellen Geschichtsdarstellungen, die auf den normativen, vorrangig fürstlichen Quellen beruhen. Und gerade dieses städtische Gewicht charakterisiert die Regionen, die den Benelux-Raum bilden. Die dogmatische und normative Verhärtung unter Karl V. und Philipp II. (1500- 1598) ist ein weiteres Beispiel für die Entwicklungsmöglichkeiten in der Umformung alter und Schaffung neuer Normen. Man kennt die großen Texte des Strafrechts, doch paradoxerweise fehlt für die meisten noch eine neuere wissenschaftliche Edition: Weder die Verordnungen (Janssens, 1996) noch die großen dogmatischen Schriften liegen in einer Edition vor. 7 So ist die Praxis Criminalium von Damhouder zuerst in der lateinischen (Damhouder, 1978), dann in der flämischen Fassung (Damhouder, 1981) als Reprint wiederaufgelegt worden, ohne daß eine kritische Edition vorgelegt worden wäre. Die Erfolge, die Wielants und Damhouders Textkompilationen gefunden haben, laden dazu ein, das redaktionelle Milieu der »Kriminalisten« näher zu untersuchen. Doch ist die Schnittstelle zwischen dem Milieu der juristischen Dogmatiker, dem der Fürstenberater und dem der Richter vor Ort noch wenig erforscht; ebenso die Art und Weise, wie sich diese Schnittstelle im Wandel des Strafrechts unter Karl V. und Philipp II. auswirkt (Vrugt, 1978). Was die Rezeption der strafrechtlichen Verordnungen des 16. Jahrhunderts betrifft (der Constitutio Criminalis Carolina von Karl V. und den Ordonnanzen Philipps II.), so ist gleichfalls kaum etwas davon bekannt, obwohl die Verordnungen von den Juristen in den südlichen wie in den nördlichen Niederlanden benutzt werden (Moorman van Kappen, 1983, 1984a). 7 Die kritische Edition der Opera Omnia von Filip Wielant wird in Belgien unter der Federführung des Kommittees der Rechtsgeschiedenis de la Koninklijke Vlaamse Academie veröffentlicht werden. Xavier Rousseaux 132 Institutionen und Menschen - die gerichtlichen Strukturen In soziologischer Perspektive werden Institutionen als ein Ensemble von Regeln und Praktiken betrachtet, die das Leben der Gesellschaft strukturieren (Lepetit, 1995). Für eine Geschichte der Kriminalität und des Strafrechts nehmen deshalb die Institutionen, deren Aufgabe die »Bearbeitung« von Kriminalität ist, und die Menschen, die in diesen Institutionen wirken, einen wichtigen Platz ein. Die gerichtlichen Strukturen sind außerordentlich stark lokal geprägt, und der Forschungsstand erlaubt es noch nicht, die jeweils spezifischen Verhältnisse genau zu beschreiben. Solange dies der Fall ist, beruhen die vorliegenden Überlegungen lediglich auf Einschätzungen, die allerdings von einigen Arbeiten bestätigt werden. Man kann indes auch auf nahezu 20 Jahre alte Überlegungen verweisen (Godding, 1977). Institutionen Im Ancien Régime erfüllten zahlreiche Institutionen gerichtliche Funktionen. Generell ist hier auf die jeweiligen Überblicksdarstellungen für die südlichen Niederlande und das Fürstbistum Lüttich (Rousseaux, Dupont-Bouchat, 2000) bzw. für die nördlichen Niederlande (Egmond 1989; Diederiks, Egmond, 2000) zu verweisen (zu den Institutionen vgl. Godding, 1987). Die ländlichen Institutionen sind vor dem 16. Jahrhundert schwer zu erfassen. Zum Funktionieren des Dorfgerichts oder des dörflichen Schöffengerichts (etwa Bastien, 1989; Hoppenbrouwers, 1992), wie auch zu spezifischen Institutionen wie die plaids généraux oder franches vérités (Arnould, 1986) liegen für das Mittelalter einige Arbeiten vor. Nach dem 16. Jahrhundert sind mehr Akten aus den Dorfgerichten erhalten geblieben, so daß diese eine ähnliche Quellenlage wie bei den städtischen Gerichten bieten (Dupont-Bouchat, 1988; Diederiks, Huussen, Faber, 1988). Die städtischen Institutionen sind besser erforscht: Dies trifft in den Niederlanden für die städtischen Schöpfungen wie die Institutionen der Friedenstiftung (peysmaekers, vredemaekers) zu, die gegen die städtische Gewalt kämpfen (Caenegem, 1954, 1956; Smolar-Meynart, 1981; Rousseaux, 1991). Dies gilt um so mehr für die städtischen Räte oder Schöffengerichte, die meistens, unter welcher Form auch immer, bis zum Ende des Ancien Régime über die Strafgewalt in hochgerichtlichen Angelegenheiten verfügen (Dupont-Bouchat, 1976; Noordam, 1989a; Boomgaard, 1991, 1992; Rousseaux, i.Dr.). In bestimmten Gebieten wie dem Fürstbistum Lüttich werden diese Gerichtshöfe der Kontrolle durch die rencharge des Schöffengerichts von Lüttich unterworfen (Page, i.Dr.). Freilich sind die fürstlichen Institutionen am besten erforscht. So liegen Studien über die fürstlichen Beamten (Rompaey, 1967; Smolar, 1991) vor, die zumal in Flandern (Buntinx, 1949; Rompaey, 1973), Holland, Brabant und dem Hennegau den Kern der Verwaltung bilden. In der Strafjustiz spielen die zentralisierenden Institutionen wie die kollateralen Räte Karls V. (Baelde, 1965) oder seit dem 14. Jahrhundert die höheren Gerichtshöfe eine wichtige Rolle. Neuere Studien über den Großen Rat von Mecheln (van Rompaey, 1973), den Rat von Flandern (Peteghem, 1990), die Räte von Brabant (Godding, 1985; Colloquium Raad van Brabant, 1985; Bosman u.a., 1989; Jacobs, 1994) und den Hof von Holland (Verhas, 1997) unterstreichen die wesentliche Rolle der unabhängigen Justizräte und insbesondere der Hauptanklagebehörde (Procureurs généraux) (Douxchamps-Lefèvre, 1961), die beide für die Entwicklung des schriftlichen Verfah- Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 133 rens, für die Vereinheitlichung des Rechts durch die schriftliche Fixierung des Gewohnheitsrechts eine wichtige Rolle spielen und die das ganze Ancien Régime hindurch zur Vereinheitlichung des Rechtsraums beitragen. Dennoch sind auch Sondergerichte hier zu nennen: Zu ihnen gehören die Militär-, Marine- (Simons, 1974), Universitäts- (Vandenghoer, 1987; Huussen, Hempenius van Dijk, 1985) und Sittengerichte und die Ansätze zur Institutionalisierung der Inquisitionsgerichte (Wiele, 1982, 1987; Goosens, 1997, 1998). Die Niederlande schließlich stehen mit an der Wiege der ersten Gefängniseinrichtungen; zu nennen sind hier etwa das Rasphuys von Amsterdam und die unterschiedlichen Erziehungsanstalten, die in den Handelsstädten von Antwerpen bis Brüssel entstehen (Bruneel, 1966a, 1966b, 1967; Spierenburg, 1991). Auf dem Hintergrund des Kampfes gegen den Pauperismus bauten zum Ende des Ancien Régime die südlichen Niederlanden erste moderne Gefängnisse, in denen in Gent und Vilvorde (Lis, Soly, 1990, 1993b; Dupont-Bouchat, 1999) Zwangsarbeit mit Ausschließung und strafrechtlicher Einsperrung kombiniert waren. In der Republik hingegen wird Zwangsarbeit immer mehr zur Antwort auf die soziale Krise (Eerenbeemt, 1977; Haesenne-Peremans, 1981, 1983; Diederiks, 1992). Menschen Das intellektuelle Profil und die soziale Herkunft der Männer, die Recht sprachen, sind prosopographisch erforscht worden. Selbstverständlich hat man sich der unmittelbaren Umgebung der Fürsten im ausgehenden Mittelalter und der jeweiligen Stellung der Adligen, Geistlichen und der Bürgerlichen gewidmet. Der Aufstieg der Bürger war ebenfalls in den höheren Beratungsgremien (De Ridder-Symoens, 1981; Kerckhoffs de Hey, 1980; Engels, 1984), aber seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch in den Magistraten der großen Städte zu spüren (De Ridder-Symoens, 1978). Die Forschung zum Führungspersonal der Zentral- und Provinzialbehörden erlaubt es, den Aufstieg der administrativen Funktionsträger besser zu erfassen. Dieser vollzog sich mit einiger Verzögerung in den Kleinstädten und Dörfern, in denen bis zum ausgehenden Ancien Régime die Strafrichter weiterhin überwiegend unter den Händlern und Bauern rekrutiert wurden (Bruneel, 1988; Rousseaux, Nandrin, 1993). Die wachsende Hinzuziehung von Juristen in schwierigen Fällen betonen zahlreiche Lokalstudien (Dupont-Bouchat, 1976; Caminada-Voorham, 1988). Gerichtsverfahren und Gesellschaft Der Prozeß ist eher ein legitimes Instrument zur Regelung von Konflikten als eine juristische Technik. Die Praktiken entsprechen der sozialen Landschaft. So sind in den mittelalterlichen Gesellschaften Schlichtung und Verhandlung die Regel. Im allgemeinen werden diese Verfahren mündlich geführt, ihre Rituale sind Bestandteil des Zusammenlebens. Die placita generalia überleben in den kleinen Fällen, die in vielen Dörfern mit Familienangelegenheiten oder Fragen des Landbesitz verbunden sind. Seit dem 13. Jahrhundert entwickeln sich in den Städten ganze Befriedungstechniken (Waffenstillstand, Friedensschluß, Versöhnung, vete, zoen), die insbesondere darauf zielen, Formen der Rache entgegenzuwirken (Immink, 1969; Caenegem, 1991; Diederiks, Roodenburg, 1991; Rousseaux, 1996b). Xavier Rousseaux 134 Das inquisitorische Strafverfahren taucht Ende des 15. Jahrhunderts und zu Anfang des 16. Jahrhunderts auf und geht mit der Entwicklung der höheren Gerichtshöfe Hand in Hand. Die Techniken des römischen Rechts dringen ebenfalls in die städtische Rechtssprechung vor (Rousseaux, 1990a; Graafhuis, 1976). Das schriftliche Verfahren ersetzt die mündlichen (Monballyu, 1991), und der Strafgerichtsprozeß setzt sich gegenüber den Verhandlungspraktiken der Parteien durch. Freilich überleben diese in einigen Streitsachen, d.h. dem notariellen Privatvertrag (Heersink, 1988) oder der Schlichtung durch traditionelle Autoritätspersonen (Herr oder Priester). Das Gerichtsverfahren der höheren Gerichtsbarkeit ist in neueren Studien zusammenfassend dargestellt worden (Wijffels, 1993; Dauchy, 1996). Den Überlegungen Philippe Goddings zufolge (Godding, 1989) schält sich ein Verständis von »Justizpraktiken« heraus, das weiter ist als das juristische Verständnis von Rechtsprechung. Diese Auffassung erlaubt es zu verstehen, warum die Hinzuziehung von höheren Gerichten in den Bevölkerungsgruppen im Ancien Régime zunimmt. Die Justizrevolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts Die Revolutionen, welche die südlichen Niederlanden wie die Vereinigten Provinzen erschüttern, stellen zum Teil eine Kritik, zum Teil eine Reform der Justiz dar (Te Brake, 1989; Schama, 1992). Außerdem spiegeln sie die heftigen Debatten über die Modernisierung der Justiz wieder, die sich an den zuerst ins Französische und dann ins Holländische übersetzten Ideen Beccarias orientieren. In den südlichen Niederlanden wird die Modernisierung von oben durch den österreichischen Herrscher Joseph II. geleitet und von hohen Beamten getragen. Bei der Modernisierung der Justiz und beim darauf folgenden Aufstand, der gegen die Reformen erfolgte, spielten Juristen und Beamte eine wichtige Rolle. Oft führte ihr Weg während der Revolution in die Politik (Dupont- Bouchat, 1990a; Rousseaux, Nandrin, 1993). Eine Zusammenfassung der Entwicklung und Entstehungsgeschichte der prinzipiellen Vereinheitlichungsbemühungen des Strafrechts und der Strafgerichtsverfahren am Ende des Ancien Régime fehlt für den Benelux-Raum. Dies gilt um so mehr für den Vergleich zwischen den Reformversuchen des Kaisers in den Niederlanden und dem Einfluß der neuen Konzepte in den Vereinigten Provinzen oder den unabhängigen Fürstentümern (Rousseaux, 1997a; Diederiks, Huussen, 1989). In Sachen Strafverfahren wächst die Kritik an den schriftlichen Verfahren angesichts ihrer Unkosten, ihrer Langsamkeit und der anwaltlichen Praktiken (Dupont-Bouchat, 1988; Rousseaux, 1988, 1997a), vor allem aber wegen der Anwendung der Folter (Faber, 1985a) und der Todesstrafe. Die Reformansätze gehen in der Praxis wie in der Theorie in Richtung einer allmählichen Aufgabe der Folter und einer Milderung der Strafen (Bruneel, 1986; Dupont-Bouchat, 1989; Diederiks, Huussen, 1989). Die Haltung der Provinzjustizräte insbesondere in den wenig urbanisierten Gegenden wie in Namur (Page-Steffens, 1991) oder Friesland (Huussen, 1994) ebenso wie die Praxis von Städten wie Anvers, Turnhout oder Nivelles, Haarlem oder Heusden (Maes, 1978; Vinck,1978- 1981; Dupont-Bouchat, 1976; Hoeven, 1982; Caminada-Voorham, 1988) zeugen vom zaghaften, aber tatsächlichen Vordringen der »Aufklärung« (Rousseaux, 1997b). Im Benelux-Raum jedoch kommt die radikale Reform von außen, d.h. für die südlichen Niederlande und das 1795 eroberte Fürstbistum Lüttich von der französischen Republik, für die Republik der Vereinigten Provinzen, die zuerst zu »Satellitenstaaten« Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 135 und dann 1810 annektiert werden, vom napoleonischen Reich. Die Angliederung der »belgischen« départements an Frankreich fällt mit der Verbreitung des republikanischen Verfahrens zusammen: es ist ein lokales und mündliches und wird von gewählten Amtsleuten geleitet. Als dann das Königreich Holland in das napoleonische Reich eingegliedert wird, hat sich das Strafverfahren gewandelt. Nunmehr ist es etatistisch und autoritär, wird es von Amtsleuten kontrolliert und schriftlich durchgeführt (Rousseaux, 1999). Zur Sozialanthropologie des Konflikts und der Konfliktlösung Was die Ursachen für Kriminalität angeht, so hat man die sehr beschränkteVorstellung von »kriminogenen« Faktoren wie der Armut oder dem Alkoholismus (Vanhemelryck, 1975b; Eerenbeemt, 1968, 1970) schnell aufgegeben. 8 Andere Perspektiven sind bei der Erforschung von Themenbereichen wie der Hexerei, der Gewalt, der Einsperrung oder dem Räuberwesen eröffnet worden. Der Reichtum der Justizakten und die durch sie eröffneten Möglichkeiten, die Mentalitäten des Volkes zu untersuchen, hat die Forschung fasziniert (Muchembled, 1978). Sicher hat eine Lektüre der rechtlichen Quellen als »unmittelbare« Zugänge zur Volkskultur bisweilen zu einem eher farblosen Bild dieser culture populaire geführt. In Wirklichkeit aber verdanken sich die meisten fruchtbaren Fortschritte einer ernsthaften und kritischen Quelleninterpretration mit Hilfe rechtsethnologischer oder sozial- und kulturanthropologischer Methoden. Eine derartige sozialanthropologische Zugangsweise hat sich in der belgischen und holländischen Geschichtwissenschaft in drei Hauptrichtungen entwickelt: Die einen untersuchen die Repräsentation des Verbrechens in bestimmten sozialen Gruppen, andere beschäftigen sich mit den Regeln der Konfliktlösung, die dritten schließlich thematisieren die soziale Symbolik gerichtlicher Rituale. Die gesellschaftliche Konstruktion des Verbrechens: die vielfältigen Bedeutungen des »Verbrechens« Indem man über einen reinen Verhaltensansatz hinausgeht und indem die in den Archiven der Justiz beschriebenen Realitäten mit anderen Quellen verglichen und kombiniert werden, lassen sich die im ersten Teil beschriebenen Phänomene auf die sozialen Bewertungen und Beziehungen der Akteure - Opfer, Verursacher und Zeugen einer Gesetzesübertretung - hin befragen. So kann Robert Muchembled anhand der Gnadenbriefe bei Totschlägen die Mentalitäten der Bauern des 15. bis 18. Jahrhundert des Artois rekonstruieren (Muchembled, 1987, 1988, 1992). Den gleichen Ansatz wählen die ethnographischen Untersuchungen zur Hexerei etwa in Flandern, Geldern oder Holland (Gijswijt-Hofstra, Frijhoff, 1991; Blécourt, Waardt, 1991; Waardt, 1991). Von der Defininition kriminellen Verhaltens ausgehend, kann die Forschung an den gesellschaftlichen, magisch geprägten Konstruktionen des Verbrechens ansetzen. 8 Ansätze aus den 60er und 70er Jahren, die einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und wirtschaftlicher Lage herstellten, sind angesichts der zweifelhaften Natur sowohl der strafrechtlichen wie auch wirtschaftlichen Daten (Preise, Löhne, Lebensstandard) kritisiert worden. Xavier Rousseaux 136 Ebensowenig beschränkt sich die Analyse der großen Räuberbanden (Blok, 1978, 1991; Egmond, 1993b) oder Zigeneunerbanden (Lucassen, 1990) auf ihre Verfolgung, sondern sie untersucht gleichfalls die Kulturen der unterschiedlichen Gruppen, aus denen diese Banden bestanden, das Verhältnis zwischen seßhaften und wandernden Bevölkerungsgruppen sowie die sozialen Praktiken des Raumes und die Nutzungsformen der Landstraße. Die Mikrogeschichte hat es möglich gemacht, die Formen der Soziabilität näher zu untersuchen, deren Studium die quantitativen Arbeiten zur Kriminalitätsgeschichte zuvor vernachlässigt hatte. So porträtiert Wim Blockmans am Beispiel eine Genter Vendetta von 1300 die alten und neuen Rivalitäten in einer sich im Wirtschaftswachstum befindenden Stadt, d.h. den Kampf um die Macht und die Bedeutung der Clans im politischen Leben der mittelalterlichen Stadt (Blockmans, 1987). Hinter der Begnadigung eines Totschlägers im 16. Jahrhundert verbirgt sich ein Netz sozialer Beziehungen, dessen Untersuchung die Bedeutung des tötlichen Schlages um einige Dimensionen bereichert; die Soziabilität des Trinkens spielt hier ebenso eine Rolle wie die verbale Gewalt oder die spezifischen Rollen der Frauen (Rousseaux, Mertens de Wilmars, 1999). Die Untersuchung einer Verfolgungswelle in einem kleinen flämischen Dorf erlaubt es zu verstehen, welche Rolle dörfliche Gemeinde und Region für das Ende der Hexenprozesse spielen (Muchembled, Desmons, 1981). Die Hartnäckigkeit schließlich, mit der die Behörden zwischen 1730 und 1731 gegen die »Sodomiter« vorgehen, lassen die Phantasien der Eliten der Republik erkennen (Huussen, 1989a; Meer, 1984, 1995; Beeck, 1987). In jeder dieser Mikrogeschichten dient die als Verbrechen eingestufte Erscheinung als Katalysator für die Kräfteverhältnisse zwischen den beteiligten Gruppen, den sozialen Spannungen und dem wirtschaftlichen Druck, den Religionskrisen und dem Mentalitätswandel. Formen der Konfliktregulierung: Strafe, Gnade und Verhandlung Die Form der Konfliktregulierung ist offenbar ein wichtiger Indikator dafür, wie eine Gesellschaft mit ihren Problemen umgeht. Anthropologisch-ethnologische Arbeiten unterstreichen, wie sehr die Existenz von Konflikt Aufschluß über die Mittel gibt, die einer Gesellschaft zur Kontrolle ihrer Spannungen zur Verfügung stehen. Die ländliche Welt liebte es, Prozesse zu führen (Rousseaux, 1988, 1996b) und verhandelte über den Preis vergossenen Bluts wie über Boden- oder Viehpreise (Dupont-Bouchat, Rousseaux, 1988). Vor allem die seit dem Mittelalter geübte Form der Rache oder Vendetta hat mechanistische Vorstellungen über Verbrechen und seine Repression in Frage gestellt (Blockmans, 1990; Marsilje, 1990; Diederiks, Roodenburg, 1991). Statt dessen wurde deutlich, wie komplex und variabel der Zusammenhang zwischen dem gefährlichen Sozialverhalten (der gewaltsame Tod und seine Einstufung als »Unglücksfall« oder »Verbrechen«) und der Reaktion der Gesellschaft war, die in Verhandlungen zwischen Privatparteien (Rousseaux, 1996) ebenso bestehen konnte wie in der Gewährung von Gnade seitens der geschädigten Familie bzw. des Herrschers (Schepper, 1995; Schepper, Vrolijk, 1998) oder im Vergleich vor einen Amtsmann (Rompaey, 1961). Derartige Praktiken des Aushandelns von Sanktionen betreffen im übrigen Formen individueller ebenso wie kollektiver Gewalt. Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 137 Die Rituale des ausgehenden Mittelalters wurzeln ganz in der städtischen Soziabilität. Sie begründen, insbesondere bei den Strafwallfahrten (Aufbruch zur Wallfahrt, Kerzenopfer), eine Symbolik der Wiederherstellung des Friedens (Herwaarden, 1978a, 1978b). Diese Symbolik erfährt am Ende des Mittelalters einen grundlegenden Wandel. Ganz besonders in den Städten des 16. und 17. Jahrhunderts rückt das Theater des Schreckens, die öffentliche und blutige Hinrichtung der Kriminellen wie die absolute Gnadengewalt der Behörden in den Vordergrund. In den rekatholisierten Gebieten erneuern die Strafen innerhalb des Gotteshauses (Besuch der Messe, Stiftung eines Kirchenfensters) und außerhalb der Kirche (Teinahme an einer Prozession) die Rituale städtischer Soziabilität (Lottin, 1984; Rousseaux, 1990a). Nach der Gegenreform ändert sich selbst die Symbolik der Wallfahrten ganz und gar (Rousseaux, 1995b). Strafen und Vergebung können als zwei Facetten einer Politik begriffen werden, welche die Ordnung aufrechtzuerhalten sucht. Hinrichtungen zielten darauf, Übeltäter abzuschrecken und das Volk zu beruhigen, in Arras ebenso wie in Gent, Amsterdam, Haarlem oder Delft (Muchembled, 1984, 1992; Roets, 1987; Spierenburg, 1984b; Hoeven, 1982; Noordam, 1989a), aber zugleich darauf, die Macht der Obrigkeit zu zeigen. Dabei verfolgt die Demonstration der fürstlichen Gnade ein dreifaches Ziel: die Gesellschaft zu befrieden, den begnadigten Untertan zur Treue zu verpflichten und die fürstliche Herrschaft gegenüber den lokalen Herrschaftsträgern durchzusetzen. Soziale Rituale: Ehre, Schande und soziale Kontrolle Eine instrumentelle Betrachtungsweise von Konflikten erklärt jedoch nicht die Komplexität der Beziehungen zwischen Bevölkerung und Justiz. Das Bedürfnis nach rechtlichen Verfahren spiegelt sich in den Ritualen von Wiedergutmachung oder Stigmatisierung, die in den Praktiken der Konfliktregulierung in Erscheinung treten. In diesem Kontext spielen ebenfalls die Auseinandersetzungen über die Ehre ein wichtige Rolle. Kollektive Beziehungen können in diesen ländlichen, größtenteils oral geprägten Gesellschaften den Verlauf und die Regelung von Konflikten besser erklären als individuelle Reaktionen. Über die Stellung der Freunde, Verbündeten und Nachbarn in der Regelung des sozialen Lebens im Mittelalter wird kontrovers diskutiert (Hoppenbrouwers, 1985; Carlier, 1997; Bousmar, 1997). Worte (Injurien) und Gesten (Bremmer, Roodenburg, 1992) gewinnen bei der Wiederherstellung des Friedens zwischen Menschen, die miteinander zu tun haben, großes Gewicht. Umgekehrt werden in Hexerei- oder Häresieprozessen Injurien und Gotteslästerungen zu einem Indikator der Unordnung. Ab dem 16. Jahrhundert setzt sich die Justiz immer mehr als wesentliches Instrument der Konfliktlösung in den Städten und selbst im ländlichen Milieu durch. Es ist zum Beispiel offensichtlich, daß die Prozesse, die von Dörfern vor den höheren Instanzen angestrengt werden, am Ende des Ancien Régime zunehmen (Rousseaux, 1988, 1994b). Die wachsende staatliche Monopolisierung der Justiz verhindert jedoch nicht, daß Praktiken informeller Konfliktregelung weiter bestehen und Bewohner an Formen kollektiver Justiz teilhaben. Die Fälle von Charivaris in Flandern (M.Jacobs, 1986a und b) und Brabant (Rooijakkers, Romme, 1989) stehen vor allem mit Heiratspraktiken des 17. und 18. Jahrhunderts im Zusammenhang. Die Gruppen von jungen Leute spielt hierbei eine wichtige Rolle. Im ausgehenden Ancien Régime bedienen sich dieselben Gruppen des Charivaris in politischen Konflikten (Rousseaux, 1988). Xavier Rousseaux 138 Die Infrajustiz entwickelt sich genau in der Phase, in dem der Staat zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert das Monopol auf Konfliktlösung beansprucht. In den Großstädten der südlichen Niederlande verbindet sich die formelle soziale Kontrolle mit den örtlichen Beziehungsnetzen, die zwischen Leuten der gleichen Berufsgruppe (Deceulaer, 1996a) oder zwischen Nachbarn (Deceulaer, 1995, 1996b) bestehen. Mit der gerichtlichen Tätigkeit der Zünfte steht den Akteuren der Arbeitswelt ein Instrument zur Verfügung, mit dem sie Konflikte austragen und regeln. Gleiches gilt für die unterschiedliche Art und Weise, in der die Stadtbürger an der Aufrechterhaltung der Ordnung oder im 17. und 18. Jahrhundert an der Kontrollierung des öffentlichen Raums in Städten wie Gent, Antwerpen, Utrecht oder Namur (Jacobs, 1986 a und b; Deceulaer, 1995, 1996b; Clément-Denys, 1998) beteiligt werden. Vor der Gründung einer eigenen und institutionalisierten Polizei im 18. Jahrhundert ist die Beteiligung der Bürger an der Wahrung der Ordnung in der Stadt eine Notwendigkeit (Vanhemelryck, 1972; Boone, Prak, 1995). Auf dem Land hingegen wird die freilich sehr unzulängliche Sicherheit auf den Transportwegen von Einheiten militärischen Ursprungs, d.h. den Maréchaussées gewahrt, die sich in den Provinzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammenschließen (Deroisy, 1985; Coutiez,1993; Verhas, 1993). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts tendierten die traditionellen Formen der Konflikte bzw. der Konfliktregulierung in Verbindung mit Modernisierungsideen zu einer Politisierung. Städtischer Aufruhr (Boone, Prak, 1995), Charivaris (Blok, 1989a; Rooijakkers, 1994), ländliche Konflikte und sozialer Wandel spiegeln die Veränderungen in den sozialen Beziehungen wieder. Der gleichen Entwicklung waren die öffentlichen Rituale der Strafverfolgung unterworfen, die am Anfang des 19. Jahrhunderts Schritt für Schritt unter dem Druck des napoleonischen Staates verschwinden. Nord und Süd: Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der historischen Entwicklung Schematisch gesprochen, hat die Kriminalitätsgeschichte der südlichen und nördlichen Niederlande auf drei gesellschaftlichen Untersuchungsebenen - Herrschaft, Justiz und Bevölkerungsgruppen - angesetzt. Jeder Ebene entspricht eine leitende Fragestellung: Angesprochen sind die Probleme der Staatsbildung, der Verrechtlichung und der »Zivilisierung der Sitten«. Herrschaft und Territorien: von der Stadt zum Staat Bei den Modellen der Staatsbildung (Rousseaux, Lévy, 1997) stellt sich die Frage, inwiefern das nördliche Staatsmodell der Vereinigten Provinzen im Vergleich zum südlichen, »absolutistischen« Modell Frankreichs und der spanischen Niederlande, in dem die Person des Monarchen den Gehorsam seiner Untertanen ganz auf sich vereint, eine Sonderstellung einnimmt (Muchembled, 1992). Demzufolge könnte das »absolutistische« gegenüber dem »republikanischen« Modell als dominant angesprochen werden. P. Spierenburg dagegen plädiert für die Existenz mehrerer Modelle der Staatsbildung. Im Süden wie im Norden scheiterte die Zentralisierung im 16. und 17. Jahrhundert mehr oder minder. Von ihr profitierten die mächtigen Städte im Norden und die regionalen Oligarchien in den weniger urban geprägten Gegenden im Süden (Namur, Luxemburg). Die Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 139 meisten Justizsymbole, die dem Absolutismus zugeordnet werden, werden ebenfalls von den Patriziern in den Städten der Republik und von den Justizräten in den südlichen Provinzen verwendet. Oberflächlich betrachtet, folgt der Wandel den gesamteuropäischen Entwicklungen: Die Herrschaftsinstanzen monopolisieren im Zuge ihres Zentralisierungsprozesses Macht und Kontrolle. Vom 13. bis zum 16. Jahrhundert kommt im unterschiedlichen Schicksal der Städte in ihren Konflikten mit den Herrschern zum Ausdruck, wie unterschiedlich der Raum der Verbrechenskontrolle im Norden und im Süden definiert wird. Bis zum 16. Jahrhundert ist im Süden wie im Norden die städtische Dominanz offensichtlich; mit der Teilung wird sie im Norden stärker, im Süden schwächer. Doch auch der Herrscher wird in den südlichen Niederlanden im 17. Jahrhundert schwächer. Dies erklärt, warum die südlichen Niederlanden und die Vereinigten Provinzen in ihrer Justizorganisation unterschiedliche Wege gehen (Diederiks, 1997). 9 Im Norden verhandeln die mächtigen Städte mit dem Fürsten. Im Süden hingegen rücken die Provinzoligarchien an die Stelle der Städte, um mit dem Fürsten in Konkurrenz zu treten (Rousseaux, 1997a). Anders gesagt: Staatsbildung verschmilzt nicht immer mit Zentralisierung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts indes gleichen sich der Norden und der Süden an; die Versuche, überregionale Strukturen im Militär-, Finanz-, Justiz- und Polizeiwesen zu schaffen, sind nicht zu übersehen (Spierenburg, 1997). Die Justiz: Der Herrscher, die Stadt- und Dorfgemeinde und die Richter: die Monopolisierung des Rechts Die Tätigkeit der Justiz befindet sich an der Schnittstelle zwischen Machtdemonstration und der Manifestation von Alltagskonflikten. Die Integration der Institutionen vollzieht sich nach und nach in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, vor allem durch die Modernisierung des Justizapparats nach dem Modell des römischen Rechts. Der Bruch am ausgehenden 16. Jahrhundert verhindert die »Modernisierung« der Justiz nicht: Die zersplitterten Gebiete werden neu organisiert (Egmond, 1989), neue Verbrechen werden konstruiert, die Gerichtsverfahren rationalisiert, neue Strafen angewandt, die Verfolgung wird systematisiert. Wenn auch die Akteure jeweils andere sind, bewirkt die Konfessionalisierung der Justiz den gleichen Prozeß. Am Beispiel der öffentlichen Hinrichtungen kann gezeigt werden, daß die Justiz des Magistrats von Amsterdam sich kaum von derjenigen des Conseil des Troubles oder derjenigen einer lokalen Herrschaft wie der der Äbtissin von Nivelles unterscheidet. Alle drei verfolgten ein Modell, nach dem die von oben aufgezwungene Justiz Gewalt scharf ahnden muß. Die Justiz versucht daher immer mehr Sektoren des öffentlichen Lebens zu erobern, die traditionellerweise von lokalen Institutionen (Handwerk, Nachbarschaft) kontrolliert werden. Auf dem Lande belegen die Entwicklung der Maréchaussées auf der Provinzebene und die übernationale Zusammenarbeit (Deroisy, 1965; Egmond, 1986; Macours, 1996) die allmähliche »Provinzialisierung« des Landes in Justiz- und Polizeiangelegenheiten. Die nächste Veränderung vollzieht sich Ende des 18. Jahrhunderts. Unter dem doppelten Einfluß der »germanischen« Aufklärung und der französischen Lumières führt die Modernisierung der Bürokratie dazu, die Aufgaben der Justiz von den Aufgaben der 9 Für die anderen Fürstentümer, insbesondere für das Fürstbistum Lüttich, fehlen Untersuchungen zur Kriminalitätsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Xavier Rousseaux 140 Verwaltung zu trennen (Coopmans, 1989). Indem sie zu reinen Gerichtshöfen werden, stärken die Gerichte ihr gesellschaftliches Profil als Justizinstanzen. Im Zuge dieser Modernisierung nehmen die höheren Gerichte immer mehr Einfluß auf die Arbeit der lokalen Justizen. Die Bevölkerung: soziale Spannungen, Krisen und Konfliktlösungen Auf der lokalen Ebene wird das Verhältnis der Bevölkerung zu Justiz und Kriminalität geprägt von der allmähliche Zivilisierung des Verhaltens bzw. ihrer Akkulturation in das System der offiziellen Justiz (Rousseaux, Lévy, 1997). Die wesentlichenVeränderungen betreffen die Autonomie der Parteien bei der Behandlung des Konflikts, die Zurückdrängung informeller Lösungsformen, die Entmachtung der traditionellen Vermittler zugunsten der Experten wie Rechtsanwälte, Richter oder Polizisten (siehe Rousseaux, 1996b, 1997b). Dieser Wandel in den Wahrnehmungsweisen ist nach 1650 ganz offensichtlich (Muchembled, 1992). Er erfaßt zugleich die Art und Weise, wie sich Konflikte äußern (Gewalt, Diebstahl), den gesellschaftlichen Einsatz (Frieden, Ehre, Ansehen, Ordnung), der auf dem Spiel steht, und die Formen, in denen sich Konfliktregulierung vollziehen (Wiedergutmachung, Bestrafung, Wiedereingliederung). Schlußfolgerungen Dank dreißigigjähriger Forschungen sind unsere Kenntnisse über die langfristigen Prozesse, über den Wandel des Verbrechens, über die Modernisierung der Justiz und die Veränderungen der Mentalitäten im Benelux-Raum entscheidend erweitert worden. 1 Aus der Perspektive der Zivilisierung der Sitten und der Verrechtlichung der sozialen Verhaltensformen gesehen, fügen sich die Bevölkerungen des Benelux-Raums in die allgemeine Bewegung ein, die die westliche Gesellschaft zwischen dem Ende des Mittelalters und der Frühen Neuzeit kennzeichnet. Wie überall in Europa verlieren langfristig die Dorf- oder Stadtgemeinden ihre Autonomie, und der Staat versucht, ein gewisses Monopol in der Strafverfolgung, in den Formen der Konfliktregelung und der Lösung der Alltagskonflikte (Gattrell, Lenman, Parker, 1980) zu erlangen. 2 Aus der Perspektive der Staatsbildung betrachtet, haben der nördliche und der südliche Teil des Benelux-Raums einen unterschiedlichen Wandlungsprozeß durchgemacht, der diese Region zugleich von der historischen Entwicklung der Nachbarländer abhebt. Auf der einen Seite gingen im Benelux Modernisierung und Zentralisierung nicht miteinander einher. Die politische, justizielle und soziale Modernisierung vollzog sich während einzelner Phasen im Kontext eines Vereinigungsprozeß der einzelnen Gebiete zu einem zentralisierten geschlossenen Land (zuerst zwischen 1450 und 1565, dann von 1795 bis 1830), zu einer anderen Zeit jedoch im Zusammenhang mit einem Rückgang der Zentralisierung (insbesondere nach 1585). Der Modernisierungsprozeß ging im 17. und 18. Jahrhundert auf der Ebene der örtlichen Herrschaften, der Städte sowie der Lehnsherrschaften und der regionalen Herrschaften (der Provinzen) weiter. Wurde der Prozeß im Norden als ein autonomer anerkannt, so erlebte man ihn in den südlichen Niederlanden eher als Reaktionsform auf eine weit entfernte Zentralregierung. Auf der anderen Seite wurden die unterschiedlichen Regionen des Benelux-Raums - die südlichen Niederlanden, die Verei- Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 141 nigten Provinzen, die selbständigen Fürstentümer - vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, Objekt eines territorial-staatlichen Verdichtungs- und Konzentrationsprozesses. Ein Gegengewicht bildeten aber die bedeutenden Städte, die dazwischen geschalteten Stände und das Fehlen einer Zentralregierung. Diese spezielle Verknüpfung von Kriminalität, Justiz und Gesellschaft scheint für den Benelux-Raum im Vergleich mit seinen englischen und französischen Nachbarn charakteristisch gewesen zu sein. Erst im Gefolge der französischen Eroberung kam es mit politischer Zentralisierung und einer Verstaatlichung der Justiz zu einem grundlegenden Wandel. Sie bewirkt einen radikalen Bruch, der sich durch die politische Zentralisierung, die Verstaatlichung der Justiz, die Strafe und dasVerbrechen zieht. (Übersetzung aus dem Französischen von Francisca Loetz) Bibliographie zur Geschichte der Strafjustiz und der Kriminalität in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg Allgemeine Literatur Bercé, Y. M., Castan, Y. (Hg.): Les archives du délit, empreintes de société, Toulouse 1990. Billacois, F.: Pour une enquête sur la criminalité dans la France d’Ancien Régime, in: Annales E.S.C. 22 (1967), 340 - 349. Billacois, F.: Criminalistes, pénalistes et historiens, in: Annales E.S.C. 24 (1969), 911 - 914. 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Die Ursachen dafür sind sicher in der nicht zu leugnenden Sprachbarriere zu suchen, dann aber auch in institutionellen und traditionellen Rezeptionshemmnissen, auf die im einzelnen hier nicht eingegangen werden kann. Im Kern solcher Vermittlungs- und Rezeptionsprobleme finden sich aber, fast selbstverständlich, Mängel bibliographischer Natur. Selbst einschlägige Periodika wie die vom Deutschen Historischen Institut in Rom herausgegebenen ehrwürdigen ›Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken‹ (QFIAB) können im Bereich der Frühen Neuzeit nur punktuell Hilfestellung geben. Neuerdings hat die von einem modifizierten Wissenschaftsverständnis ausgehende Kahlschlagpolitik diverser öffentlicher Hände bei geisteswissenschaftlichen Einrichtungen und bei Bibliotheken die Lage hier zum Teil dramatisch verschärft, so daß die Bearbeitung eines Themas aus der frühneuzeitlichen Geschichte Italiens unter Berücksichtigung der aktuellen Literatur nicht mehr ohne monatelanges Warten auf Fernleihen, wenn nicht gar ohne aufwendige Bibliotheksreisen über die Alpen, zu bewältigen ist. Die Zeitschrift ›Ricerche storiche‹, um nur ein besonders markantes Beispiel zu nennen, die einzige mit einer ständigen, von Andrea Zorzi betreuten, bibliographischen Rubrik zur italienischen Kriminalitäts- und Justizgeschichte, wird von keiner dem universitären Leihverkehr angeschlossenen Bibliothek in der Bundesrepublik gehalten. Der vorliegende Literaturbericht verzichtet unter solchen Umständen von vorneherein auf eine irgendwie geartete Vollständigkeit, 1 sondern will eher Trends und Tendenzen der italienischen Kriminalitätsforschung der letzten Jahre aufzeigen, vor allem aber solche, für die es im deutschen Sprachraum wenig Parallelen gibt. Zwei wissenschaftliche Kongresse in den Jahren 1985 und 1986 markieren den Beginn der jüngsten Phase der historischen Kriminalitätsforschung in Italien. Der erste dieser Kongresse, im November 1985 in Venedig, versammelte Kriminalitätshistoriker aus ganz Europa mit dem Spezialgebiet »Banditen und Bandenkriminalität zwischen Spätmittelalter und dem 19. Jahrhundert«. Der 1986 erschienene, von Gherardo Ortalli herausgegebene Tagungsband 2 mit einem Vorwort des Nestors der eu- 1 Der hier gebotene Überblick beruht auf der Analyse von 97 Veröffentlichungen zu dem genannten Themenkomplex aus den Jahren 1986 bis 1997. Besonderer Dank für die Unterstützung bei der Literatursuche sei hier Frau Prof. Dr. Irene Polverini Fosi von der Universität Rom I »La Sapienza« gesagt. 2 Gherardo Ortalli (a cura di): Bande armate, banditi, banditismo e repressione di giustizia negli stati europei di antico regime, Roma 1986. Peter Blastenbrei 162 ropäischen sozialhistorischen Banditenforschung, Eric Hobsbawm, enthält Beiträge zum banditismo zwischen Ungarn und Spanien, zwischen dem Balkan und Skandinavien, von denen im folgenden nur diejenigen mit Bezug auf Italien berücksichtigt werden können. Der zweite hier als chronologisch-thematischer Markierungspunkt dienende Kongress fand im Dezember 1986 in Siena statt. Anlaß dazu war die 200. Wiederkehr des vielleicht bedeutendsten einzelnen Justizreformgesetzes der europäischen Aufklärung, die nach ihrem Schöpfer, dem habsburgischen Großherzog Pietro Leopoldo von der Toscana (1765 - 1790), benannte Leopoldina mit ihrer Abschaffung von Folter und Todesstrafe. Unter dem Reihentitel ›La Leopoldina‹ und unter der Gesamtkoordination von Paolo Berlinguer von der Universität Siena sind bis jetzt elf der geplanten dreizehn Bände zur gesamteuropäischen aufklärerischen Debatte um Delinquenz, Strafe und institutionelle Reform erschienen. Zwei der wichtigsten Themen, die die italienische Kriminalitätsforschung schwerpunktmäßig bis heute beschäftigen, waren damit angeschlagen, das Banditenproblem und die justizielle Institutionengeschichte. Für die italienische historische Forschung ordnet sich die Entwicklung von Devianz und Delinquenz seit langem in das Oberthema der Entstehung der frühneuzeitlichen Gesellschaften und des frühmodernen Staates ein, für das ja auf der Apenninhalbinsel vielfältige Studienobjekte zur Verfügung stehen. Aufklärerische Institutionenreform und der banditismo mit seiner Hochphase 200 Jahre zuvor sind unter dieser Prämisse Aspekte eines einzigen langdauernden Prozesses, für den allerdings die im deutschen Sprachraum geläufigen Etikettierungen nicht ganz tauglich erscheinen mögen. Dazu kommt die weiter unten im einzelnen zu thematisierende Entwicklung von Sexualität, Sittlichkeit und Familie nach dem Konzil von Trient, denen ebenso wie dem banditismo und, damit eng verbunden, der sich wandelnden Rolle des Adels in diesem Prozeß die Funktion von Leitphänomenen zufällt. Konzentrieren wir uns vorerst auf den banditismo, so lag der Schwerpunkt hier vor allem auf dem Konflikt zwischen zentralisierenden und bürokratischen Tendenzen der Staaten und dem Durchsetzungswillen der aufsteigenden Schicht professioneller Juristen einerseits und regionalen, vielfach zentrifugalen Kräften, nicht zuletzt des ländlichen Niederadels und anderer peripherer Gruppen andererseits. Die große Banditenwelle, die zwischen etwa 1570 und 1600 die Halbinsel überrollte und schwächer strukturierte Staaten durchaus in ihrer Existenz bedrohte, war teilweise von solchen Gruppen getragen, wenn man sich auch wird hüten müssen, dies als intentionelle Widerstandshandlungen gegen eine möglicherweise adelsfeindliche Politik von Zentralstaaten zu interpretieren. Der grundlegende Aufsatz von Claudio Povolo im banditismo-Sammelband von 1986 3 stellt vor diesem Hintergrund die heiße Phase der Banditenunruhen im venezianischen Landgebiet dar. Selten noch ist der Mythos von der Effektivität der venezianischen Verwaltung in Sicherheitsdingen so gründlich in Frage gestellt worden wie hier: lokale Behörden wie die ferne Zentrale der Serenissima reagierten auf die bürgerkriegsähnlichen Unruhen mit inadäquaten Mitteln wie forciertem Militäreinsatz und mußten vielfach schließlich ihre Zuflucht zum Ausspielen der Banden untereinander nehmen. Erst langsam erzwangen solche Nöte eine ungewohnte grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Justizorganen Mailands, Venedigs und des Kirchenstaa- 3 Claudio Povolo: Nella spiraglia della violenza. Cronologia, intensità e diffusione del banditismo nella Terraferma veneta (1560 - 1510), in: Bande armate (wie Anm. 2), 21 - 52. Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 163 tes. 4 Povolos breitangelegte Darstellung läßt sich im Detail ergänzen durch Peter Lavens Aufsatz 5 im Tagungsband zu dem Kongress »Crime and disorder in Renaissance Italy« (London Mai/ Juni 1991). 6 Laven stellt die Aktivitäten zweier Bandenführer um 1580 am Gardasee dar, die eine so starke klientelare und feudale Basis besaßen, daß den venezianischen Behörden nur die gegenseitige Neutralisierung beider Banden übrig blieb. Waren die Träger und Anführer der Banden in der venezianischen Poebene meist unruhige Landadlige, so gelang es unter den archaischen Strukturen des Friaul 7 sogar einem Kaufmann, Alessandro Mantica aus Pordenone, 1571 eine bewaffnete Bande zur Rache an den Feinden seiner Familie auf die Beine zu stellen, die den venezianischen Behörden ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten bereitete. 8 Hat im venezianischen Herrschaftsbereich der sozial, rechtlich und politisch klar definierte Unterschied zwischen der herrschenden Elite und lokalen Oberschichten wenigstens die Beeinflussung der Entscheidungsfindung in der Zentrale durch Banditensympathisanten ausgeschlossen, so war die fehlende Distanz zwischen Teilen der herrschenden Eliten und den Trägern des banditismo in anderen italienischen Staaten geradezu die Vorbedingung des Umgangs mit diesem Phänomen. In den permanenten Kämpfen nichtadliger Clans in der Gegend von Castelbolognese (Umgebung von Bologna) vermischt sich legales Ringen um politischen und wirtschaftlichen Einfluß mit engster, vielfach reziproker Kooperation mit Banditen, wobei andererseits nachweisbare Kontakte zu Banditen die Clans für die ansonsten eher abwartende päpstliche Justiz angreifbar machten. 9 Auch im gebirgigen Hinterland des weiter westlich gelegenen Herzogtums Modena nahm der banditismo eine Mischform von traditionellem Faustrecht, Clanfehden und echter Bandendelinquenz an, wobei der übermächtige Adel die Durchsetzung zentralisierender Justizkonzepte von Seiten der Esteherzöge in wohlverstandenem Eigeninteresse hintertrieb. 10 Noch weiter entfernt vom ansonsten in Europa geläufigen Banditenbegriff waren die Verhältnisse im genuesischen Landgebiet, wo die bewaffneten Bauernsippen (parentele) ebenso die Basis des hochentwickelten und für die Landesverteidigung unentbehrlichen Milizsystems bildeten wie sie Träger der endemischen, eng mit dem Schmuggel verquickten, ländlichen Unruhen waren. Maria D. Floris’ 11 generelles Ergebnis einer überaus kreativen, aber angesichts solcher Voraussetzungen nahezu hilflosen Justiz wird von der Regionalstudie Osvaldo Raggios für das südgenuesische Val Fontanabuona 12 eindrucksvoll bestätigt. Die einzige größere Arbeit 4 Enrico Basaglia: Il banditismo nei rapporti di Venezia con gli stati confinanti, in: Bande armate (wie Anm. 2), 423 - 440. 5 Peter Laven: Banditry and lawlessness on the Venetian Terraferma in the late Cinquecento, in: Trevor Dean/ Kate/ J.P. Lowe (eds.): Crime, society and the law in Renaissance Italy, Cambridge 1994, 221 - 248. 6 John E.Law/ Suzy Butters: Vorbericht zum gesamten Kongress, in: Ricerche storiche 21 (1991), 441 - 444. 7 Vgl. unten S. 166. 8 Nicholas S. Davidson: An armed band and the local community on the Venetian Terraferma in the sixteenth century, in: Bande armate (wie Anm. 2), 401 - 422. 9 Raffaella Comaschi: Strategie familiari, potere locale e banditi in una comunità del contado bolognese del XVI secolo, in: Bande armate (wie Anm. 2), 225 - 232. 10 Marco Cattini/ Marzio A.Romani: Tra faida familiare e rivolta politica: banditi e banditismo nella montagna estense (sec. XVII), in: Bande armate (wie Anm. 2), 53 - 66. 11 Maria D. Floris: La repressione della criminalità organizzata nella repubblica di Genova tra Cinque e Seicento. Aspetti e cronologia della prassi legislativa, in: Bande armate (wie Anm. 2), 8 7 -106. 12 Osvaldo Raggio: Parentele, fazioni e banditi: la Val Fontanabuona tra Cinque e Seicento, in: Bande armate (wie Anm. 2), 233 - 276. Peter Blastenbrei 164 zum banditismo Mittel- und Süditaliens im Berichtszeitraum stammt aus der Feder der römischen Historikerin Irene Polverini Fosi, die die Zusammenarbeit von Adel, hier dem römischen Hochadel, und Banditen im Kirchenstaat am Beispiel der Familie Caetani aufzeigt. 13 Ist die mehr oder minder offene Unterstützung von Seiten des Adels überall in Italien ein Aspekt der banditismo-Welle nach 1570, so war das sozial und mental archaische, von Venedig nur oberflächlich beherrschte Friaul in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Schauplatz eines jahrzehntelangen, vom Lokaladel fast unbehelligt ausgetragenen faktischen Bürgerkrieges. Dies würde den thematische Rahmen dieses Berichts sprengen, hätte nicht die umfassende Studie Edward Muirs 14 - trotz mancher unpassender wörtlicher Übernahmen Eliasscher Konzepte - die Veränderungen adliger Konfliktaustragungsmechanismen vom Massaker an den Gegnern am Gründonnerstag 1511 über den offenen Kampf, den Mord aus dem Hinterhalt bis hin zum finalen Duell der Protagonisten 65 Jahre später beispielhaft gezeigt. Die rigorose Durchsetzung des staatlichen Tabakmonopols schuf im Friaul der 1770er Jahre erneut eine hochexplosive quasi vorrevolutionäre Situation, die ansonsten für das zeitgenössische Italien keineswegs typisch war; diesmal lieferten sich allerdings schwerbewaffnete bäuerliche Schmugglerbanden regelrechte Schlachten mit den Ordnungskräften. 15 Bedeutete für das Friaul des 16. Jahrhunderts der Übergang des adligen Verhaltens vom Krieg zum gesellschaftlich geduldeten Duell bereits eine greifbare Veränderung weg von der Gewalt als Mittel der Konfliktbereinigung, konnten anderswo in Italien starke kirchliche und weltliche Autoritäten bereits daran denken, das 1564 ergangene Duellverbot des Konzils von Trient in die Wirklichkeit umzusetzen. An seine Stelle traten seit spätestens 1600 in Nord- und Mittelitalien Ersatzformen wie Schimpfkanonaden und selbst so kuriose Dinge wie schriftliche Duelle. 16 Die großangelegte Studie Oscar Di Simplicios, 17 deren erster Teil der Disziplinierung der gesellschaftlichen Eliten von Adel und Klerus im frühneuzeitlichen Siena gewidmet ist, zeigt aber, daß depravierte Duellformen in der Art groben Unfugs noch lange über diese Grenzlinie hinweg nachweisbar bleiben, und der sienesische Adel erst um 1700 wirklich zu einer gewaltfernen gesellschaftlichen Gruppe geworden ist. Solche grundlegenden Verhaltensänderungen erfolgten im frühneuzeitlichen Italien aber überall unter Zwang und Sanktionsdrohung und hingen damit lange Zeit vollständig von der Präsenz durchsetzungswilliger kirchlicher oder staatlicher Autoritäten ab. Dies zeigt das harte Durchgreifen Venedigs 13 Irene Polverini Fosi: La società violenta. Il banditismo dello stato pontificio nella seconda metà del Cinquecento, Roma 1985. Vgl. auch Dies.: Il banditismo nello stato pontificio nella seconda metà del Cinquecento, in: Bande armate (wie Anm. 2), 67 - 85. 14 Edward Muir: Mad blood stirring. Vendetta and factions in Friuli during the Renaissance, Baltimore/ London 1993. Lesenswert bleibt daneben zum selben Thema: Furio Bianco: Mihi vindictam: aristocratic clans and rural communities in a feud in Friuli in the late fifteenth and early sixteenth centuries, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 249 - 273. 15 Furio Bianco: Sbirri, contrabbandieri e le ›rie sette dei malfattori‹ nel ’700 friulano, in: Emarginazione, criminalità e devianza in Italia fra ’600 e ’900, a cura di Alessandro Pastore e Paolo Sorcinelli, Milano 1990, 51 - 76. 16 Donald Weinstein: Fighting or flyting? Verbal duelling in midsixteenth-century Italy, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 204 - 220. 17 Oscar Di Simplicio: Peccato, penitenza, perdono. Siena 1575 - 1800: la formazione della coscienza dell’Italia moderna, Milano 1994. Vgl. auch Ders.: Sulla nobiltà e il crimine a Siena 1603 - 1772, in: Bande armate (wie Anm. 2), 307 - 315. Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 165 gegen einen älteren Verhaltensmustern anhängenden Vicentiner Adligen zu Anfang des 17. Jahrhunderts, also nach Abklingen des frühneuzeitlichen großen banditismo, 18 im Kontrast zu dem nur wenig jüngeren Fall eines Landpfarrers, der sich im Schutz eines kleinen abgelegenenen Maremmenortes ohne merkliche Behelligung durch die Behörden ein Netz mafiöser Gewaltbeziehungen zum eigenen materiellen Nutzen aufgebaut hatte. 19 Mit dem Ende des Konzils von Trient rückten Sexualität, Ehe und Familie so weit ins Zentrum der Aufmerksamkeit geistlicher und weltlicher Gesetzgeber, wie dies nie zuvor der Fall gewesen war. Die Durchsetzung der nun deutlich vorgezeichneten Normen ebnete Staatsmännern und Juristen, wie es schien, den direkten Weg zur Gnade Gottes 20 und ist in den folgenden zwei Jahrhunderten entsprechend intensiv betrieben worden. Nicholas Davidson hat dazu einen vor allem als Einführung in die juristisch-theologischen Probleme brauchbaren, literatur- und quellengesättigten Aufsatz geschrieben, der lediglich mit der Behandlung aller Formen devianter Sexualität etwas breit angelegt ist. 21 Giorgia Alessi von der Universität Neapel spitzt diese Frage auf die theologische Diskussion über Vergewaltigung, Verführung und die Entschädigung für die Frau zwischen dem Tridentinum und dem 18. Jahrhundert zu, 22 wobei bei den hier analysierten Autoren vor allem die unermüdliche Suche nach Milderungsgründen für die (männlichen) Verführer auffällt. Anhand des Konkubinatsprozesses eines florentinischen Landpfarrers 1784/ 86 stellte sie chronologisch anschließend die Entkriminalisierung derVerführung und die juristisch-praktische Überwindung der alten Entschädigungskonzepte für verlorene Jungfräulichkeit in der aufklärerischen Toscana dar. 23 Oscar Di Simplicios Arbeit zu den frühneuzeitlichen Vergewaltigungsfällen in Siena 24 führt weg von den zeitgenössischen theoretischen Erörterungen und zeigt unter Anwendung feministischer Theorien und Ergebnissen aus der modernen psychologischen Vergewaltigungsforschung die besondere Opferposition der Frau in einer gewaltnahen Gesellschaft. Die wenigen im Berichtszeitraum erschienen Arbeiten zu Homosexualität, Sodomie und ihre Verfolgung lassen einen lückenlosen Anschluß an die Unterdrückung heterosexueller nonkonformistischer Praktiken nicht zu. Romano Canosa vergleicht die phasenverschobene Praxis der Sodomieverfolgung in Florenz und Venedig zwischen dem Trecento und den Anfängen des 16. Jahrhunderts. 25 Seine Interpretation der Homosexuellenverfolgung basiert vor allem auf der in Venedig verbreiteten Gleichung Homo- 18 Claudio Povolo: Processo contro Paolo Orgiani e altri, in: Studi storici 29 (1988), 321 - 360. 19 Oscar Di Simplicio: Storia di un anticristo. Avidità, amore e morte nella Toscana medicea (Montorgiali, Maremma, 1609 - 1645), Siena 1996. 20 So der Consiglio dei Dieci 1575: Nicholas S.Davidson: Theology, nature and the law, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 77. 21 Vgl. Anm. 20. 22 Giorgia Alessi: Il gioco degli scambi: seduzione e risarcimento nella casistica cattolica del XVI e XVII secolo, in: Quaderni storici 75 (1990), 805 - 831. 23 Giorgia Alessi: Processo per seduzione. Piacere e castigo nella Toscana leopoldina, Catania 1988 (La ›Leopoldina‹.Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 8) 24 Oscar Di Simplicio: Violenza maritale e violenza sessuale nello stato senese di antico regime, in: Emarginazione (wie Anm. 15), 33 - 50. 25 Romano Canosa: Storia di una grande paura. La sodomia a Firenze e a Venezia nel Quattrocento, Milano 1991. Peter Blastenbrei 166 sexuelle=Glaubensfeinde, leider aber auch auf einem fragwürdigen, mit demographischen Problemen argumentierenden, Rationalisierungsversuch. Auch Gabriele Martinis Arbeiten 26 zur sich wandelnden Haltung von Öffentlichkeit und Justiz Venedigs zur Homosexualität zwischen dem frühen 16. Jahrhundert und dem späteren 17. Jahrhundert leidet trotz guter Darstellung ebenfalls an einem durchaus vermeidbaren interpretatorischen Problem, hier einem vom Modewandel abgeleiteten Verweiblichungskonzept. 27 Die Ausgrenzung unerwünschten Sexualverhaltens hatte ihr Komplement in der Durchsetzung eines neuen Ehe- und Familienmodells im nachtridentinischen Italien, die wegen ihrer Implikationen für die Familien- und Besitzstruktur vielleicht noch langwieriger und mühevoller war. Nach dem zweiten Teil von Oscar Di Simplicios bereits genannter Studie, 28 die sämtliche Aspekte dieses Prozesses erfaßt, kann das tridentinische Ehe- und Familienmodell in Siena nicht vor der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als durchgesetzt und das freie Zusammenleben zweier heterosexueller Partner als ausgerottet gelten; zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Gabriele Martini bei der Auswertung von Akten aus dem Patriarchatsarchiv von Venedig. 29 Die geistliche und weltliche Folgegesetzgebung nach dem Konzil bezog sich darüber hinaus auf das Vorfeld der eigentlichen Eheschließung, wo das neue Ideal der keuschen Verlobung dem vielerorts gebräuchlichen vorehelichen Geschlechtsverkehr der Verlobten entgegengesetzt wurde. 30 Auch Claudio Povolo hängt seinen Aufsatz zur Kindesaussetzung und Kindestötung im venezianischen Raum im 17. und 18. Jahrhundert in die Entstehungsgeschichte der posttridentinischen famiglia legittima in Italien ein. 31 Mit den von ihm benutzten Quellen, darunter Akten der Findelhäuser in Venedig, Vicenza und Padua, kann er bei rigideren Aufnahmekriterien für Findelkinder eine steigende Zahl unehelicher Kinder und eine sich gleichzeitig massiv verschärfende soziale Ausgrenzung unehelicher Mütter belegen. Vor dem Übergang zur Betrachtung der Studien zur Kriminalpolitik einzelner italienischer Staaten seien hier einige Arbeiten genannt, die sich wegen ihrer Konzentration auf zumeist einen einzigen Delikttyp oder auf eher vereinzelt auftretende Devianzaspekte nicht einfach in die bisher beschriebenen Forschungszusammenhänge einfügen lassen. Der Berichterstatter selbst 32 hat mit Rom im späten 16. Jahrhundert eine 26 Gabriele Martini: Sodomia e discriminazione morale a Venezia nei secoli XV-XVII: tendenze evolutive, in: Atti dell’Istituto veneto di scienze, lettere ed arti. Classe di scienze morali, lettere ed arti 145 (1986/ 87), 341 - 366; Ders.: Il ›vitio nefando‹ nella Venezia del Seicento. Aspetti sociali e repressione di giustizia, Roma 1989 (Collana della Facoltà di lettere della Università di Venezia, Sezione di studi storici, 2). 27 Vgl.dazu die Rezension des Berichterstatters in QFIAB 72 (1992), 643 - 645. 28 Vgl. Anm. 17. 29 Gabriele Martini: La donna veneziana del ’600 tra sessualità legittima ed illegittima: alcune riflessioni sul concubinato, in: Atti dell’Istituto veneto di scienze, lettere ed arti. Classe di scienze morali, lettere ed arti 145 (1986/ 87), 301 - 339. 30 Daniela Lombardi: Intervention by church and state in marriage disputes in sixteenthand seventeenthcentury Florence, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 142 - 156. 31 Claudio Povolo: Dal versante dell’illegittimità. Per una ricerca sulla storia della famiglia: infanticidio ed esposizione d’infante nel Veneto nell’età moderna, in: Crimine, giustizia e società veneta in età moderna, a cura di Luigi Berlinguer e Floriana Colao, Milano 1989 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 9), 89 - 164. 32 Peter Blastenbrei: Kriminalität in Rom 1560 - 1585, Tübingen 1995 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 82). Italienische Kurzfassung der Hauptergebnisse Ders.: I Romani tra violenza e giustizia nel tardo Cinquecento, in: Roma moderna e contemporanea 5 (1997), 6 7 -79. Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 167 städtische Delinquenzlandschaft mit ihren Rahmenbedingungen flächenmäßig darzustellen versucht. Die Befunde, gewonnen auf der breitesten Datenbasis der bisherigen Delinquenzforschung überhaupt (über 7.000 Fälle), abweichende Rechtsauffassung in der Bevölkerung, hohe Gewaltbereitschaft, polykratische Machtstrukturen, können als Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen mit zivilisationshistorischem Ansatz vor einem städtischen Hintergrund dienen. 33 Besondere Aufmerksamkeit haben Sonderformen der Delinquenz in Pestzeiten (Diebstahl in ausgestorbenen Häusern, sexuelle Exzesse, Verstöße gegen obrigkeitliche Abwehrmaßregeln, unzioni, d.h. angebliche Herbeiführung der Seuche durch magische Salben etc.) erfahren: neben drei vergleichenden Studien Alessandro Pastores zu Genua, Rom und Bologna in den Seuchenjahren 1630 und 1656 34 liegt jetzt auch das komplette Protokoll des berühmten mailändischen untori-Prozesses von 1630 im Volltext vor. 35 Auch das Delikt der Verschwörung wurde mehrfach behandelt, so die drei Verschwörungen von 1468, 1517 und 1523 gegen den Papst von Kate Lowe, die allerdings wenig mehr als die Beschreibung der Ereignisse bietet. 36 Dem Berichterstatter ging es dagegen bei seinem Artikel über die Verschwörung gegen Pius IV. 1564 um die Aufhellung der komplexen Motivation ihres Initiators und um die Interaktion zwischen den Verschworenen. 37 Nach der bloßen Anzahl der erschienenen Titel nahm die Geschichte der Kriminalpolitik verschiedener frühneuzeitlicher Epochen und ganz besonders die justizielle Institutionengeschichte im Berichtszeitraum den ersten Platz ein. Ein überaus lohnendes Beispiel für die enge Verflechtung von Justizpolitik, Herrschaftssicherung und Durchsetzung moderner obrigkeitlicher Disziplinierungskonzepte ist die Toscana der frühen Medicigroßherzöge. Nach Elena Fasano Guarini 38 hat Cosimo I. (1537 - 1587) in diesem Sinn trotz Fehlens eines eigenen Disziplinierungskonzeptes ausgeprägte persönliche Initiativen auf dem Gebiet der Strafgesetzgebung entwickelt, die unter seinen Nachfolgern schnell dem gelehrten Juristenstand zufielen. Speiste in der Toscana das ideologische Bild des treusorgenden Fürsten als Gesetzgeber eine beachtliche und auch innovative Justizpolitik, so kam die Justizpolitik im benachbarten Kirchenstaat gerade unter dem in der bisherigen Forschung als besonders tatkräftig angesehenen Papst Sixtus V. (1585 - 1590) angesichts der verworrenen Machtverhältnisse vielfach über propagandistisches Selbstlob nicht 33 Zur Delinquenzlandschaft Rom vgl. auch Thomas V.Cohen/ Elizabeth S.Cohen: Words and deeds in Renaissance Rome. Trials before the papal magistrates, Toronto/ Buffalo/ London 1993 und die Rezension des Berichterstatters in: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), 120 - 122. 34 Alessandro Pastore: Tra giustizia e politica: il governo della peste a Genova e Roma nel 1656/ 57, in: Rivista storica italiana 100 (1988), 126 - 154; Ders.: Criminalità e giustizia in tempo di peste. Bologna, 1630, in: Emarginazione (wie Anm. 15), 25 - 31; Ders.: Crimine e giustizia in tempo di peste nell’Europa moderna, Bari/ Roma 1992. 35 Guiseppe Farinelli/ Ermanno Pascagnini (a cura di): Processo agli untori. Milano 1630 - Cronaca e atti giudiziari, Milano 1988. 36 Kate Lowe: The political crime of conspiracy in fifteenthand sixteenth-century Rome, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 184 - 203. 37 Peter Blastenbrei: Glücksritter und Heilige. Motivstruktur und Täterprofile bei der Accoltiverschwörung gegen Papst Pius IV. im Jahre 1564, in: QFIAB 70 (1990), 441 - 490. 38 Elena Fasano Guarini: Produzione di leggi e disciplinamento nella Toscana granducale tra Cinque e Seicento. Spunti di ricerca, in: Disciplina dell’anima, disciplina del corpo e disciplina della società tra medioevo ed età moderna, a cura di Paolo Prodi con la collaborazione di Carla Pernuti, Bologna 1994 (Convegno internazionale di studio, Bologna 7 - 9 ottobre 1993), Annali dell’Istituto italo-germanico in Trento, Quaderno 40, 659 - 690. Peter Blastenbrei 168 hinaus 39 und behinderte sich selbst durch ihre Befangenheit in theologischen statt praktisch-juristischen Kategorien. 40 Aus der Feder von Gabriella Santoncini liegt eine aus normativen Quellen geschöpfte, sehr brauchbare Gesamtdarstellung der Justizinstitutionen des Kirchenstaates bis 1798 vor, 41 die auf das Ausbleiben zentralisierender und rationalisierender Innovationsschübe auch im Jahrhundert der Aufklärung abhebt. 42 Nicht unproblematisch bleibt allerdings auch bei ihr der Instanzenwirrwarr als Kriterium mangelnder Effektivität. Ein Seitenblick auf die kaum weniger verwickelten Justizsysteme Englands oder der Niederlande hätte hier aufhellend wirken können. Für Italien zeigt der kurze Aufsatz Luciano Allegras, 43 daß zumindest in Kleinregionen eine starke Abnahme interpersonaler Gewalt im 18. Jahrhundert auch ohne jede Zentralisierung der Organe der Sozialkontrolle eintreten konnte. Viele italienische Staaten entwickelten angesichts der endemischen Unruhen um 1600 neue, wenn auch oft problematische Methoden spezialisierter Delinquenzbekämpfung. Besonders verbreitet war die Aussetzung von Geldprämien oder Amnestieangebote an Banditen für den Mord oder Verrat an Kameraden, wie es Gabriella Santoncini für die Toscana vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die 1640er Jahre schildert. 44 Genua verließ sich mit seinen speziellen Schwierigkeiten seit der sogenannten legge dei biglietti von 1607 ganz auf das zu einzigartiger Vollendung gebrachte Mittel der anonymen Denunziation, das Edoardo Grendi an erhaltenen anonymen Eingaben der Jahre 1638 bis 1650 untersucht. 45 Mehr noch als im 16. Jahrhundert übernahm die Toscana im 18. Jahrhundert die Vorreiterrolle bei der Weiterentwicklung der Justiz- und insbesondere der Kriminalpolitik. Die vielbewunderten Justizreformen ab 1771 und vor allem dann die Leopoldina von 1786 46 machten das Großherzogtum zum Musterland der europäischen Aufklärung, doch gaben ihm massive persönliche Kontrollansprüche des Fürsten und in präventiver Absicht formulierte neue Ausgrenzungstendenzen zugleich Züge eines Überwachungsstaates. 47 Unter veränderten gesamtpolitischen und rechtstheoretischen Rahmenbedingungen wich ab 1793 das Ziel einer generellen Strafmilderung und eines ratio- 39 Irene Polverini Fosi: Justice and its image. Political propaganda and judicial reality in the pontificate of Sixtus V, in: The Sixteenth Century Journal 24 (1993), 75 - 95. 40 Michele Di Sivo: Le costituzioni e i bandi di SistoV.L’amministrazione della giustizia tra accentramento e crisi dello stato pontificio, in: ›Pro tribunali sedentes‹. Le magistrature giudiziarie dello stato pontificio e i loro archivi (Atti del convegno di studi, Spoleto 8 - 10 novembre 1990), Archivi per la storia 4 (1991), 137 - 148. 41 Gabriella Santoncini: Il groviglio giurisdizionale dello stato ecclesiastico prima dell’occupazione francese, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento/ Jahrbuch des italienisch-deutschen Instituts in Trient 20 (1994), 63 - 127. 42 Vgl. dazu auch Hanns Gross: Roma nel Settecento, Roma/ Bari 1990, 248 - 268 (engl. Original: Rome in the age of enlightenment, Cambridge 1990). 43 Luciano Allegra: Stato, monopolio e controllo sociale: il caso del Piemonte, in: Emarginazione (wie Anm. 15), 77 - 84. 44 Gabriella Santoncini: La legislazione premiale dello stato fiorentino nei secoli XVI-XVIII, in: Le politiche criminali nel XVIII secolo, a cura di Luigi Berlinguer e Floriana Colao, Milano 1990 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ›700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 11), 1 - 42. 45 Edoardo Grendi: Lettere orbe. Anonimato e potere nel Seicento genovese, Palermo 1989. 46 Entstehungsgeschichte und Volltextausgabe (im 2. Band) Dario Zuliani: La riforma penale di Pietro Leopoldo, 2 Bände, Milano 1995 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 2). Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 169 nalen Sanktionensystems erneut der Repression zur Absicherung der gesellschaftlichen Ordnung. 48 Anders als solche wenigstens zeitweiligen Erfolge aufklärerisch inspirierter Justizpolitik, wie sie auch im österreichischen Mailand betrieben wurde, 49 versandeten solche Ansätze auf Sizilien bereits im Frühstadium angesichts des zähen Widerstand der Privilegierten. 50 Auf dem engeren Feld der justiziellen Institutionengeschichte ist heute wohl der Kirchenstaat das am dichtesten erforschte Territorium. Der Tagungsband eines fast ausschließlich von Archivarinnen und Archivaren bestrittenen Kongresses in Spoleto im November 1990 enthält allein achtzehn knappe, auf die praktische Weiterarbeit ausgerichtete Beiträge zur frühneuzeitlichen justiziellen Institutionengeschichte besonders Umbriens und der Marche (Gubbio, Perugia, Urbino, Foligno etc.). 51 Ein Band mit ähnlicher Zielsetzung liegt im Rahmen der Leopoldina-Serie für die Kriminaljustiz Sienas im 18. Jahrhundert vor. 52 Für die Metropole Rom ist ein Artikel des Berichterstatters zu nennen, in dem versucht wird, die praktische Arbeit der stadtrömischen Kriminalgerichte nicht mehr allein aus dem Blickwinkel der normativen Texte, sondern mit einer Kombination solcher Quellen mit den an diesen Gerichtshöfen produzierten Akten zu erfassen, und Spuren der alltäglichen Interaktion von Bevölkerung und Justizarbeit ans Licht zu bringen. 53 Die zentrale florentinische Strafverfolgungsbehörde der Otto di guardia e balìa, gegründet im 14. Jahrhundert als Staatsgerichtshof, hat 1992 eine gewichtige und umfassende Untersuchung von dem britischen Historiker John K. Brackett bekommen, 54 die sich ergänzen läßt durch eine Studie Elena Fasano Guarinis zur Indienstnahme dieser Behörde für die Herstellung von Loyalitätsbindungen an die Medicidynastie anläßlich eines verpfuschten Sexualstrafprozesses 1558. 55 Ähnliche Aufmerksamkeit hat während des Berichtszeitraums nur noch eine einzelne Justizbehörde erfahren, die venezianischen esecutori contro la bestemmia, ein 1537 eingerichteter Sonderausschuß des Consiglio dei Dieci zur Bekämpfung des Fluchens, der Blasphemie, des Glücksspiels und aller anderen Arten religiös und moralisch anstössigen Verhaltens; parallel zu den Dieci konnte dieser Ausschuß seine Befugnisse schnell aus- 47 Floriana Colao: ›Post tenebras spero lucem‹. La giustizia criminale senese nell’età delle riforme leopoldine, Milano 1989 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 7). 48 Mario Da Passano: Il diritto penale toscano dai Lorena ai Borbone 1786 - 1807. Dalla mitigazione delle pene alla protezione che esige l’ordine pubblico, Milano 1988 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 3). 49 Zur vorbereitenden Diskussion hier vgl. Marzio A.Romano: ›Haec est regula recti‹: tentativi di disciplinamento sociale nella Lombardia in epoca teresiana, in: Le politiche (wie Anm. 44), 43 - 62. 50 Vittorio Sciuti Russi: La contrastata modernizzazione del sistema penale in Sicilia, in: Le politiche (wie Anm. 44), 143 - 174. 51 ›Pro tribunali sedentes‹. Le magistrature giudiziarie dello stato pontificio e i loro archivi (Atti del convegno di studi, Spoleto 8 - 10 novembre 1990), Archivi per la storia 4 (1991). 52 Sonia Adorni Fieschi/ Carla Zarrilli (a cura di): Leggi, magistrature, archivi. Repertorio di fonti normative ed archivistiche per la storia della giustizia criminale a Siena nel Settecento, Milano 1990 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 13). 53 Peter Blastenbrei: Zur Arbeitsweise der römischen Kriminalgerichte im späteren 16. Jahrhundert, in: QFIAB 71 (1991), 425 - 481. 54 John Brackett: Criminal justice and crime in late Renaissance Florence, 1537 - 1609, Cambridge/ New York 1992. 55 Elena Fasano Guarini: The prince, the judges and the law: Cosimo I and sexual violence, 1558, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 121 - 141. Peter Blastenbrei 170 bauen, verlor sie mit der politischen Teilentmachtung der Dieci 1628 aber ebenso rasch wieder. 56 Ein kurzer Unterabschnitt zu Polizei und Gefängniswesen sei an die institutionengeschichtlichen Arbeiten angehängt. Die chronologisch älteste Periode behandelt ein Aufsatz des Berichterstatters zur römischen Polizeitruppe des späten 16. Jahrhunderts (sbirri). Ausgehend vom Massaker an den römischen sbirri im April 1583 wird ihre Struktur, ihre Arbeitsweise und ihre soziale und politische Rolle im Dauermachtkampf zwischen Papst und römischem Hochadel dargestellt, der ihnen schließlich zum Verhängnis wurde. 57 Die aufklärerischen Reformen im Polizeibereich, das Thema aller anderen Studien hier, setzten in Italien meist auf die Übernahme des Pariser Modells, so 1777 in der Toscana 58 und 1779 in Neapel. 59 Fast unvermeidlich folgte dann der nächste Schritt zur Trennung von Justiz und Polizei (Toscana 1784, Neapel 1798), allerdings läßt sich ungeachtet solcher organisatorischer Veränderungen gegen Ende des Jahrhunderts der Aufklärung überall ein Anwachsen der Kompetenzen der Polizei feststellen. Zum Gefängniswesen Mailands liegen zwei Studien vor, eine kürzere über die Zeit bis 1700 mit leicht irreführendem Titel 60 - auch in Mailand gab es zu dieser Zeit keine echte Gefängnisstrafe im modernen Sinn - und ein längerer Artikel zu den aufklärerisch beeinflußten Veränderungen des 18. Jahrhunderts. 61 Die überwiegende Zahl der bisher vorgestellten kriminalitäts- und justizhistorischen Arbeiten stammt wie selbstverständlich von Sozialhistorikern, und selbst dort, wo einmal ein Aufsatz von einem Rechtshistoriker verfaßt wurde, ist der Autor sozialhistorischen Fragestellungen nachgegangen. Damit ergibt sich für Italien grundsätzlich ein ähnliches, wenn auch nicht dasselbe Problem, wie es der Jenaer Rechtshistoriker Günter Jerouschek gerade eben für den deutschen Sprachraum thematisiert hat. 62 Gemeint ist das allmähliche, aber anscheinend unaufhaltsame Hinüberwachsen der historischen Kriminalitätsforschung von der Rechtsgeschichte als Zweig der Jurisprudenz zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte und verwandten Disziplinen, jedenfalls aber in den Bereich der Geschichtswissenschaft hinein. Doch nicht nur, daß dieser Prozeß in Italien noch nicht so weit gediehen ist wie bei uns, die Probleme methodischer Natur, die sich damit verbinden, sind in Italien viel früher und viel deutlicher von engagierten Rechts- 56 Gaetano Cozzi: Religione, moralità e giustizia a Venezia: vicende della magistratura degli esecutori contro la bestemmia (secoli XVI-XVII), in: Ateneo veneto 179 (Nuova serie, 29) (1991), 7 - 95. 57 Peter Blastenbrei: La quadratura del cerchio. Il bargello di Roma nella crisi sociale tardocinquecentesca, in: Dimensioni e problemi dell ricerca storica. Rivista del dipartimento di studi storici dal medioevo all’età contemporanea dell’università ›La Sapienza‹, Roma 1994, 1, 5 - 37. 58 Carlo Mangiò: La polizia toscana. Organizzazione e criteri d’intervento (1765 - 1808), Milano 1988 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 6) 59 Giorgia Alessi: Giustizia e polizia. Il controllo di una capitale: Napoli 1779 - 1803, Napoli 1992. Nicht zugänglich war mir Luigi Londei: Organizzazione della polizia e giustizia penale a Roma fra antico regime e restaurazione (1750 - 1820), ungedruckte tesì di laurea der Università di Roma I ›La Sapienza‹, 1987. 60 Giovanni Liva: Pena detentiva e carcere. Il caso della Milano ›spagnola‹, in: Emarginazione (wie Anm. 15), 9 - 25. 61 Alberto Liva: Carcere e diritto a Milano nell’età delle riforme: la casa di correzione e l’ergastolo da Maria Teresa a Giuseppe II, in: Le politiche (wie Anm. 44), 63 - 142. Vgl. zum Mailand der Aufklärung auch Italo Mereu: La pena di morte a Milano nel secolo di Beccaria, Vicenza 1988 (Nuovi saggi e studi di storia d’arte e della cultura 3). 62 Günter Jerouschek: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 110 (1998), 143. Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 171 historikern zur Sprache gebracht worden. Vor allem der Rechtshistoriker Mario Sbriccoli hat seit seiner Rede auf dem Kongress ›Storia sociale e dimensione giuridica‹ im April 1985 in Florenz - wie so oft in Italien bildete auch hier ein Kongress den thematischen Ausgangspunkt - dieses Problem immer wieder aufgegriffen und auf diese Weise zusammen mit seinen Schülern den einzigen genuin italienischen Beitrag zur internationalen Methodendiskussion während des Berichtszeitraumes geliefert. 1985 in Florenz 63 nahm Sbriccoli noch eine vermittelnde Position zwischen Rechts- und Sozialhistorikern ein und bezeichnete die Geschichte von Delinquenz und Kriminaljustiz sogar als ideales Feld der Kooperation; die Warnungen an seine engeren Fachkollegen, nicht ohne Not Terrain aufzugeben, und an die Sozialhistoriker, die normativ-juristische Dimension des frühmodernen Alltags nicht weiterhin zu vernachlässigen, waren dennoch nicht zu überhören. Zwei Jahre später warf Sbriccoli in einem durchaus polemisch formulierten 64 Aufsatz den Sozialhistorikern eine aus Unkenntnis eben der dimensione giuridica der Geschichte erwachsende unangemessene Benutzung und vielfältige Mißdeutung der aus dem Justizbereich stammenden und von Juristen produzierten Kriminalitätsquellen vor. 65 Die ja keineswegs auf Italien beschränkte Erkenntnis, daß die Justizarbeit aus vielerlei Gründen historische Delinquenz nicht einfach abspiegelt, verlockte Sbriccoli nicht zur Literarisierung des Quellenmaterials und auch nicht zur Flucht in mikrohistorische Unverbindlichkeiten, sondern führte ihn zu der nicht weniger radikalen Forderung, Quellen aus dem Kontext der Strafjustiz nur noch zur Erforschung der Arbeit der Justiz selbst, im weiteren Sinn also des justiziellen Umgangs mit Devianz und Delinquenz zu benutzen. Was die von Sbriccoli geforderte Geschichte der justiziellen Bearbeitung von Delinquenz als Teilzweig der Rechtswissenschaft, aber zugleich unter Berücksichtigung sozialhistorischer Forschungsergebnisse im besten Fall zu leisten vermag, zeigte der Macerateser Rechtshistoriker Luigi Lacchè mit seinem ebenfalls 1988 erschienenen Buch zum Raub als historischjuristischer Kategorie. 66 Das materialreiche, scharf analysierende, aber stellenweise durchaus im Stil Sbriccolis gegen die sozialhistorische Kriminalitätsforschung polemisierende Buch 67 gehört ohne Zweifel zu den besten italienischen Veröffentlichungen zur Kriminalitäts- und Strafjustizforschung im Berichtszeitraum überhaupt. Es stellt die juristischen Diskussionen um diese Deliktform vom 15. Jahrhundert bis zur Übernahme des Code Napoléon mit besonderem Gewicht auf dem Verfahrensrecht (immer ein Ausnahmedelikt! ) und der Straferkenntnis dar. Überaus eindrucksvoll ist dabei die Bedeutung normativer Äußerungen von Juristen, ohnehin 63 Mario Sbriccoli: Storia del diritto e storia della società. Questioni di metodo e problemi ricerca, in: Storia sociale e dimensione giuridica. Strumenti d’indagine e ipotesi di lavoro (Atti dell’incontro di studio, Firenze 26 - 27 aprile 1985), a cura di Paolo Grossi, Milano 1986 (Biblioteca del Centro di studi per la storia del pensiero giuridico moderno, 22), 127 - 148. Entgegnung aus sozialhistorischer Sicht Edoardo Grendi: Sulla ›storia criminale‹: risposta a Mario Sbriccoli, in: Quaderni storici 73 (1990), 269 - 275. 64 »L’opinione che il crimine abbia cause (...) possiede tutta la forza di inerzia«, »non negherò l’esistenza di qualche naif che concepisce la storia criminale come la scienza del determinato, della misura e della quantità (...)«: Sbriccoli: Fonti giudiziarie (wie Anm. 65), 492 - 493. 65 Mario Sbriccoli: Fonti giudiziarie e fonti giuridiche. Riflessioni sulla fase attuale degli studi di storia del crimine e della giustizia, in: Studi storici 29 (1988), 491 - 501. 66 Luigi Lacchè: Latrocinium. Giustizia, scienza penale e repressione del banditismo in antico regime, Milano 1988 (Università di Macerata. Publicazioni della Facoltà di giurisprudenza, 2a serie, 55). 67 »Una storia criminale senza il diritto è forse possibile, ma rischia a perdersi, alla fine, in un infruttuoso metodo impressionistico (...)«: Lacchè: Latrocinium (wie Anm. 66), 2 - 3. Peter Blastenbrei 172 der gesellschaftlich unaufhaltsam aufsteigende Stand dieser Zeit, für den Umgang der Obrigkeiten mit dem Raub als Bandendelikt, ja selbst für die Entstehung des Delikttyps überhaupt. Ähnlich wie Lacchè für den Raub verfährt Domenico Zorzi für die Tötungsdelikte am Beispiel Paduas im 18. Jahrhundert 68 und Rita Filippi für das Delikt der Sachbeschädigung in den Statuten des mittelitalienischen Fleckens Magliano Sabina. 69 Mühelos anschließen lassen sich hier einige Arbeiten zum historischen Verfahrensrecht, das von italienischen Rechtshistorikern immer wieder stark beachtet worden ist. Luigi Lacchè hat selbst noch einmal einen verfahrensrechtlichen Aspekt gesondert behandelt, der bei der Diskussion um den Straßenraub eine zentrale Rolle spielt, das prozessrechtliche Ausnahmeverfahren bei außergewöhnlichen oder als außergewöhnlich empfundenen Straftaten zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. 70 Darunter fielen neben dem latrocinium und dem banditismo einige in der Definition wechselnde crimina atrociora, Vergehen von Militärpersonen und die Prominentenkriminalität. Mehrere Arbeiten aus dem venezianischen Raum thematisieren Rolle und Funktion der Aussagen im Prozeßverlauf. Dies ist für diese Region Italiens von besonderer Bedeutung, weil das venezianische Rechtssystem als Ausnahme in Italien und auch ansonsten in Europa für die Urteilsfindung nicht auf das Geständnis fixiert war, sondern auf die Gesamtschau der Zeugenaussagen. Prozeßrechtlich verschob sich damit das Problem auf die Manipulierbarkeit der Zeugen mit ihren unterschiedlichen Interessenlagen, auf die Absprache unter Zeugen und den oftmals inadäquaten Umgang der Richter mit den Aussagen, wie sie Gianni Buganza an Beispielen zwischen 1561 und 1698 analysiert. 71 Vor demselben Hintergrund steht ein etwas früher erschienener Artikel Buganzas zum Blasphemiefall Guarnieri (1755/ 58), der in der Diskussion um die Reform des venezianischen Prozeßrechts eine Rolle spielte. 72 Zu den Besonderheiten des venezianischen Rechts gehörte nicht nur die genannte Gewichtsverschiebung bei den Elementen der Urteilsfindung, sondern auch der gefürchtete Rat der Zehn (Consiglio dei Dieci), der im Lauf der Zeit von einem Sondergerichtshof gegen die politischen Gegner der Republik zum höchsten Kriminalgericht Venedigs geworden war. Das eigene Verfahrensrecht (rito) der Dieci erlaubte die Verteidigung wahlweise durch gelehrte Anwälte oder durch den Angeklagten selbst, ohne aber irgendeine Bindung der richterlichen Entscheidungsfreiheit durch die vorgebrachten Argumente anzuerkennen. Wie gefährlich dies werden konnte, zeigt der von Gaetano Cozzi mit Hilfe der Verteidigungsschrift rekonstruierte Fall eines Vicentiner Adligen, der unter Mordanschuldigung diesen Weg in 68 Domenico Zorzi: Sull’amministrazione della giustizia penale nell’età delle riforme: il reato di omicidio nella Padova di fine Settecento, in: Crimine, giustizia e società veneta in età moderna, a cura di Luigi Berlinguer e Floriana Colao, Milano 1989 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 9), 27 3 -308. 69 Rita Filippi: Il danno dato nello statuto di Magliano Sabina ed alcune considerazioni sulle fonti giudiziarie della comunità in età moderna, in: ›Pro tribunali‹ (wie Anm. 51), 301 - 308. 70 Luigi Lacchè: ›Ordo non servatus‹. Anomalie processuali, giustizia militare e ›specialia‹ in antico regime, in: Studi storici 29 (1988), 361 - 384. 71 Gianni Buganza: Il potere delle parole. La forza e le reponsabilità della deposizione testimoniale nel processo penale veneziano (secoli XVI-XVII), in: La parola all’accusato, a cura di Jean-Claude Maire- Vigeur e Agostino Paravicini Bagliani, Palermo 1991, 124 - 138. 72 Gianni Buganza: Il teste e la testimonianza tra magistratura secolare e magistratura ecclesiastica, in: Atti dell’Istituto veneto di scienze, lettere ed arti. Classe di scienze morali, lettere ed arti 145 (1986/ 87), 257 - 280. Verhörstrategien und Aussagestrukturen thematisiert auch Claudio Povolo: L’interrogatorio di un imputato in un processo penale degli inizi del ’600, in: La parola (wie Anm. 70), 139 - 153. Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 173 der Hoffnung auf einen fairen Prozeß beschritt, schließlich aber 1726 nach siebenjähriger Haft ohne Prozeß im Gefängnis starb. 73 Bibliographie Anton Blok: Die Mafia in einem italienischen Dorf 1860 - 1960. Eine Studie über gewalttätige bäuerliche Unternehmer, Frankfurt a.M. 1981. Luigi Cajani: Giustizia e criminalità nella Roma del Settecento, in: Ricerche sulla città del Settecento, a cura di Vittorio Emanuele Giuntella, Roma 1978, 263 - 312. Oscar Di Simplicio: La criminalità a Siena (1561 - 1808). Problemi de ricerca, in: Quaderni storici 49 (1982), 242 - 264. Marzio A. Romani: Criminalità e giustizia nel ducato di Mantova alla fine del Cinquecento, in: Rivista storica italiana 92 (1980), 680 - 706. 73 Gaetano Cozzi: ›Ordo est ordinem non servare‹: considerazioni sulla procedura penale di un detenuto dal Consiglio dei X, in: Studi storici 29 (1988), 309 - 320. 175 Jens Chr. V. Johansen Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern Bereits in den 40er Jahren wurden in Finnland Artikel und Bücher veröffentlicht, die auf Gerichtsaufzeichnungen basierten und die - in der Tradition von Norbert Elias - das Verhalten und die Mentalität der Finnen im 16. Jahrhundert zum Thema machten 1 . Da diese Artikel jedoch auf Finnisch oder Schwedisch verfaßt waren, blieben diese Pionierarbeiten jenen Wissenschaftlern verschlossen, die weder der einen noch der anderen Sprache mächtig waren 2 . Selbst unter denen, die mit diesen Sprachen vertraut waren, beschäftigte sich niemand weiter mit dieser Idee. Erst als in den siebziger Jahren der internationale Durchbruch der ›new legal history‹, ›legal anthropology‹, ›historischen Kriminalitätsforschung‹ oder ›historical criminology‹ (oder wie immer man die neue Forschungsrichtung ettikettieren möchte) erfolgte, wurde das Thema auch in Skandinavien erneut aufgegriffen. Wieder war es ein Finne, der den ersten Schritt unternahm. 1976 veröffentlichte Heikki Ylikangas auf Englisch einen Artikel über Gewaltverbrechen 3 . In den folgenden Jahren erschienen auch in den anderen skandinavischen Ländern 4 Artikel, jedoch in sehr unterschiedlicher Zahl: Während in Finnland, Norwegen und Schweden in großem Umfang geforscht wurde, blieb dieser Bereich in Dänemark mehr oder weniger vernachlässigt - warum. bleibt ein wenig rätselhaft. Während der achtziger Jahre wurden in den skandinavischen Ländern von den Geschichtsfakultäten mehrere Forschungsprogramme zur historischen Kriminalitätsforschung ins Leben gerufen. In Schweden war die Universität von Lund mit mehreren Projekten unter der Leitung von Eva Österberg führend; weitere Forschungen waren an der Universität von Umeå (Marja Taussi Sjöberg), an der Universität von Linköping (Jan Sundin) und an der Universität von Stockholm (Johan Söderberg) angesiedelt. In Norwegen erzielte die Universität von Oslo mit ihrem Forschungsprogramm über Gerichtaufzeichnungen unter der Leitung von Sölvi Sogner einen entscheidenden Durchbruch auf diesem Gebiet. In Finnland lenkte Heikki Ylikangas von der Universität von Helsinki die Aufmerksamkeit vieler Studierender auf die Kriminalitätsforschung. Dä- 1 Vgl. Veli Verkko: Våldsbrottslighetens utveckling och lagbundenhet i Sverige och Finland åren 1750 - 1940 in : Historisk tidsskrift för Finland 49 (1946) and Pentti Renvall: Suomalainen 1500-luvun ihminen oikeuskatsomustensa valossa, Turku 1949. 2 Skandinavien besteht aus fünf Ländern: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden. Schweden-Finnland kann vom späten Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert als Einheit betrachtet werden, genauso wie Dänemark-Norwegen-Island, die vom gleichen König regiert wurden. Man darf nicht vergessen, daß die Skandinavier untereinander normalerweise ihre Sprachen lesen können. Die Ausnahme bildet Finnisch, da es zu den finnougrischen Sprachen gehört. Da jedoch Schwedisch von klein auf in der Schule gelehrt wird, verstehen finnische Wissenschaftler diese Sprache. 3 Heikki Ylikangas: Major Fluctuations in Crimes of Violence in Finland: A Historical Analysis, in : Scandinavian Journal of History 1 (1976), 81 - 103. 4 Eva Österberg: Våld och våldsmentalitet bland bönder. Jämförande perspektiv på 1500och 1600-talens Sverige, in: Scandia. Tidskrift för historisk forskning 49 (1983), 5 - 30; Hans Eyvind Næss: ›straffes på livet andre til eksempel og forskrekkelse‹. Kriminalitet og bruk av dødsstraff i Rogaland på 1600-tallet, in: Heimen 22 (1985), 53 - 59 und Jens Chr. V. Johansen/ Henrik Stevnsborg: Hasard ou myopie. Réflexions autour de deux théories de l’histoire du droit, in: Annales E.S.C. 41 (1986), 601 - 624. Jens Chr. V. Johansen 176 nemark war das einzige Land, in dem es keine enge Verbindung zwischen dieser Forschungsrichtung und einer historischen Fakultät gab; die meisten Untersuchungen wurden von den wenigen Historikern innerhalb der Juristenfakultäten durchgeführt. Diese strukturelle Differenz hatte zur Folge, daß nur wenige Studierende der ›New Legal History‹ etwas abgewinnen konnten; Studierende wollten ihre Zeit nicht mit einem Thema vergeuden, das sie in ihrer Karriereplanung kaum weiterbringen konnte. Nach einer Konferenz in Oslo im Herbst 1990 über ›Gerichtsaufzeichnungen als historische Quellen‹ und einer Tagung über ›Verbrechensentwicklung und soziale Kontrolle vor 1800‹ im Rahmen des XXI. Treffens skandinavischer Historiker in Umeå im Sommer 1991 wurde im Herbst 1992 ein dreijähriges skandinavisches Gemeinschaftsprojekt ›Normen und soziale Kontrolle in Skandinavien zwischen ca.1550 - 1850: Gerichte und Ortsverbände‹ unter der gemeinsamen Leitung von Eva Österberg, Sölvi Sogner, dem dänischen Professor für ›Legal History‹, Ditlev Tamm und Heikki Ylikangas ins Leben gerufen, das vom ›Scandinavian Research Council for the Humanities‹ gefördert wurde. Für das XXII. Treffen skandinavischer Historiker wurde 1994 ein vorläufiger Bericht, der sich mit dem Gerichtssystem, Gewalt, Diffamierung, Hexerei sowie sexuellen und ökonomischen Verbrechen beschäftigte, veröffentlicht. 5 Als Ergebnis dieses Projektes wird demnächst ein Buch mit dem Titel ›Control, Conflicts and Consensus: People Meet the Law. Scandinavia in the Early Modern Period‹ veröffentlicht. Einer der spannendsten Aspekte in der skandinavischen Forschung über Gerichtsaufzeichnungen ist der unausgesprochene Konflikt zwischen denen, die sich mit ›Kriminalität‹ beschäftigen, um gesamtgesellschaftliche Entwicklungen - ob durch Norbert Elias’ Zivilisationstheorie oder durch Michel Foucaults Theorie des ›Überwachens und Strafens‹ inspiriert - besser verstehen zu können, und jenen, die einen engeren rechtsgeschichtlichen Rahmen wählen, um sowohl Kriminalals auch Zivilprozesse, z.B. um Schulden und Erbschaft, zu studieren. Allerdings muß gesagt werden, daß die Erforschung der ›civil litigation‹ in Skandinavien ebenso wie im übrigen Europa vernachlässigt wurde. 6 Inger Dübeck (heute Professor für Erbrecht an der Universität Århus, ursprünglich aber Rechtshistoriker), Anu Pylkkänen (Universität Helsinki), und die Historiker Hilde Sandvik (Universität Oslo), Maria Ågren (Universität Uppsala) und Grethe Jacobsen (Königliche Bibliothek Kopenhagen) bilden bisher die einzigen Ausnahmen. 7 5 Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstolene i samspill med lokalsamfundet, Oslo 1994. 6 Beim Vergleich der Ergebnisse der skandinavischen Ländern können Schwierigkeiten entstehen, da die Statistik der dänischen Forschung auf einer Zählung aller Aktivitäten des Gerichts (Zivil- und Strafprozesse) basiert, während in den anderen Ländern nur die Strafprozesse gezählt wurden. 7 Vgl. Inger Dübeck: Købekoner og konkurrence. Studier over myndighedsog erhvervsrettens udvikling med stadigt henblik på kvinders historiske retsstilling, København 1978; Anu Pylkkänen: Puoli vuodetta, lukot ja avaimet. Nainen ja maalaistalous oikekeuskäysännön valossa 1660 - 1710, Helsinki 1990; Hilde Sandvik: ›Umyndige‹ kvinner i handel og håndværk. Kvinner i bynæringer i Christiania i siste halvdel av 1700-tallet, Oslo 1992; Maria Ågren: Jord och gäld. Social skiktning och rättslig konflikt i södra Dalarna ca 1650 - 1850, Uppsala 1992 und Grethe Jacobsen: Kvinder, køn og købstadslovgivning 1400 - 1600 - lovfaste Mænd og ærlige Kvinder, København 1995. Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 177 Gesetze und Gerichtsinstanzen Innerhalb des abendländisch-europäischen Rechts können vier Gesetzesfamilien unterschieden werden: römisches Recht, deutsches Recht, anglo-amerikanisches ›Common Law‹ und skandinavisches Recht 8 , wobei es im skandinavischen Recht wiederum Unterschiede gab. Seit dem Mittelalter hatten die verschiedenen Provinzen der einzelnen Länder ihre eigenen Gesetze. Norwegen besaß jedoch seit ca. 1270 mit den Gesetzen von Magnus Lagabøter schon sehr früh ein gemeinsames Rechtssystem. Um 1350 folgte Schweden mit den Gesetzen von Magnus Eriksson. Dänemark erlangte erst 1683 mit der Veröffentlichung eines »dänisches Gesetz« genannten Kodex ein gemeinsames Recht. Auch die Gerichtssysteme unterschieden sich: Dänemark-Norwegen hatten ein dreigliedriges, Schweden-Finnland im allgemeinen ein zweigliedriges System. In den ersten beiden Ländern wirkten sowohl in ländlichen als auch städtischen Gebieten lokale Gerichte unter dem Vorsitz eines Vogtes. Von diesen Gerichten konnten Fälle vor ein Provinzialgericht unter adligem Vorsitz gebracht werden; als letzte Appellationsinstanz fungierte ein Oberster Gerichtshof, der aus dem König und dem königlichen Rat bestand. 9 In Schweden und Finnland spielten die Geschworenen auf der Gemeindeebene eine weit wichtigere Rolle, obwohl die Gerichte unter dem Vorsitz eines Richters tagten, der von der Obrigkeit eingesetzt wurde. Kriminalsachen, die mit peinlichen Strafen sanktioniert werden konnten, sollten vor eines der nach 1614 gegründeten Hochgerichte gebracht werden. Die anderen Fälle wurden erst- und letztinstanzlich vor den örtlichen Gerichten verhandelt. Alle Gerichte bearbeiteten im übrigen sowohl Zivilals auch Strafsachen. In Dänemark ist es schwer zu sagen, welche Faktoren dafür verantwortlich waren, daß die Beteiligten einen Fall vor das Höchste Gericht brachten. Aber seit Mitte des 17. Jahrhunderts spielte die geographische Nähe zu Kopenhagen eine wichtige Rolle, und so ist es bezeichnend, daß weniger als 10% der Berufungen von der Halbinsel Jütland kamen. 10 Ein gemeinsames Merkmal des skandinavischen Rechtssystems im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ist, daß meistens Laienrichter ohne juristische Ausbildung den Gerichten vorsaßen. Nach der Einführung der Hochgerichte in Schweden änderte sich dies: Bereits 1640 hatten 4 von 13 Richtern einen juristischen Doktortitel, 1662 war diese Zahl bereits auf 6 angewachsen. 11 In Dänemark hatte dagegen kein einziger Richter am obersten Gerichtshof eine ähnliche Ausbildung. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Schweden-Finnland und Dänemark-Norwegen bestand in der Verpflichtung der örtlichen Gerichte in Schweden-Finnland, nach der Einführung der Hochgerichtshöfe jährlich die Gerichtsakten zur Überprüfung an diese Oberinstanzen zu schicken. So entstand ein viel zentralisierteres Gerichtssystem als in Dänemark- Norwegen. Seither verfügen wir über zwei getrennte Überlieferungen, nämlich über diejenige des lokalen Gerichts und die aus dem Archiv des Hochgerichts. 8 Konrad Zweigert/ Heinz Kötz: Einführung in die Rechtsvergleichung, 3.Aufl. Tübingen 1996. 9 Dies ist eine Beschreibung der Situation bis zur Einführung des Absolutismus 1660; seit dieser Zeit wurden auch Richter von ›bürgerlicher‹ Herkunft Mitglieder der Provinzialgerichte und des Hohen Gerichts. 10 Vgl. Ditlev Tamm/ Jens Chr. V. Johansen: Retssystemerne i Norden, in: Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstole i samspill med lokalsamfundet, Oslo 1994, 32 - 44: 35. 11 Rudolf Thunander: Hovrätten i funktion. Göta Hovrätt och brottmålen 1635 - 1699, Lund 1993, 32f. Jens Chr. V. Johansen 178 Ein Zankapfel in der skandinavischen Forschung ist die Frage, wie die soziale Kontrolle außer- und unterhalb der gewöhnlichen Gerichte untersucht werden kann. In Schweden scheinen die sogenannten ›Sockenstämmor‹ (Kirchgemeindeversammlungen) von entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung sozialer Kontrolle gewesen zu sein; normalerweise wurden davon Aufzeichnungen gemacht. In Norwegen wurde, wahrscheinlich auf Grund der großen Entfernungen, nie ein ähnliches System ins Leben gerufen, während es in Dänemark Dorfversammlungen gab. Bedauerlicherweise sind außer den Satzungen der Versammlungen keine Quellen erhalten. Ein wichtiger Unterschied zwischen Schweden und Dänemark war, daß die schwedischen Gemeindeversammlungen die Zustimmung der Obrigkeit genossen. 1650 wurden ihre Kompetenzen zum erstenmal durch Privilegien für die Geistlichen beschnitten. 1723 wurde eine Aufgabenverteilung zwischen den weltlichen Gerichten und den Kirchengemeinderäten beschlossen. Die letzteren sollten sich unter anderem um Handlungen kümmern, für die keine gesetzliche Bestrafung vorgesehen und die dementsprechend nicht vor einem regulären Gericht verhandelbar waren. In der Praxis verwischte sich die klare Arbeitsteilung, da Kirchengemeinderäte auch bei kleineren Gewalttaten (oft in oder außerhalb der Kirche) oder bei geringem Diebstahl Strafen verhängten. Allerdings machten derartige Dinge niemals den Hauptteil der Arbeit der Kirchengemeinderäte aus; sie beschäftigten sich vor allem mit den Gebäuden der Kirche, mit Finanzfragen und zunehmend mit der Armenfürsorge. Auch in Schweden entstanden während des späten 18. Jahrhunderts Gemeinderäte. Wie sie funktionierten, ist jedoch unklar. 12 Ähnliches gilt für Finnland. Im Unterschied dazu versuchten die Gemeinderäte in Dänemark, gegen die gewöhnlichen Gerichte anzutreten, und dies mit einigem Erfolg. Viele Statuten schrieben vor, daß kein Bauer wegen einer geringfügigen Straftat vor einem gewöhnlichen Gericht prozessieren durfte; stattdessen sollte sie vor die Gemeinderatsversammlung gebracht werden, wo dann die schuldige Partei eine Strafe zahlen mußte. Diese bestand normalerweise in einem Faß Bier für das nächste Treffen. Die weltlichen Autoritäten verloren so eine wichtige Einnahmequelle 13 und sie forderten wiederholt, daß auch derartige Fälle vor einem weltlichen Gericht entschieden werden sollten. Die geistlichen Gerichte beschäftigten sich hauptsächlich mit Ehefällen. Auch hier gab es innerhalb der skandinavischen Länder Unterschiede. Während die schwedischen Gerichte (die wie vor der Reformation immer noch ›Domkapitel‹ genannt wurden) sich einmal im Monat trafen, trafen sich die Dänen nur viermal im Jahr. Im Gegensatz dazu kamen die weltlichen Gerichte in den ländlichen Gebieten Schwedens zwei oder drei Mal im Jahr zusammen, in Dänemark aber jede Woche (außer während der Erntezeit, wo sie ihre Versammlungen nur zweimal im Monat abhielten). Dieser Aspekt wurde jedoch in der skandinavischen Forschung nie berücksichtigt. Der Unterschied zeigt sich daran, daß das ›Domkapitel‹ im schwedischen Ort Växjö von 1650 bis 1654 jedes Jahr 15 Mal in Ehefällen Recht sprach, während das gleiche Gericht im norwegischen Ort Bergen nur fünf Fälle pro Jahr zwischen 1604 und 1708 verhandelte 14 . Die schwedi- 12 Vgl. Björn Furuhagen: Berusade bönder och bråkiga båtsmän. Social kontroll vid sockenstämmor och ting under 1700-talet, Stockholm 1996, 218. 13 Dasselbe System kann in den Zünften beobachtet werden. 14 Hanne-Marie Johansen: Dømt til eksteskap? Enn rettsog sosialhistorisk undersøkelse av ekteskapssakene ved Kapitelretten i Bergen 1604 - 1708, (Hovedoppgave i historie, Universitetet i Bergen 1984), 62f. Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 179 schen Gerichte wurden hauptsächlich von Frauen aufgesucht, deren Tätigkeit sie, um es mit den Worten von Malin Lennartsson zu sagen, als eine Art »Familientherapie« ansahen. Das ›Domkapitel‹ beschäftigte sich auch viel intensiver mit Sexualverbrechen als die Dänen. Hexerei Obwohl die Hexerei ebenso wie z.B. Bigamie oder Diebstahl als ein gewöhnliches Verbrechen betrachtet werden kann, das von normalen Gerichten abgeurteilt wurde, hat das Delikt der Hexerei im europäischen Kontext ein historiographisches Eigenleben geführt. Auch in den skandinavischen Ländern zog es außergewöhnlich starke Aufmerksamkeit auf sich. Verglichen mit dem internationalen Durchbruch der modernen Hexenforschung 15 wurde die Hexerei in Skandinavien schon früh erforscht; wobei wiederum Finnland führend war, dicht gefolgt von Schweden. 16 Die Hexenprozesse unterschieden sich in den einzelnen skandinavischen Ländern enorm. 17 Zunächst zeigt eine chronologische Betrachtung, daß die Prozesse in Dänemark in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stattfanden, während sie in den anderen Ländern erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einsetzten. Zwischen 1609 und 1687 wissen wir von 494 Prozessen auf der dänischen Halbinsel Jütland, von denen jedoch um die 60% zwischen 1617 und 1625 stattfanden. Die tatsächliche Anzahl der Prozesse in Schweden wird nie genau bekannt werden, weil das Archivmaterial vernichtet ist, aber es scheint, daß sie nach 1600 anstieg. Der Anstieg erreichte jedoch nie die Ausmaße der sogenannten »Blåkulla - Prozesse« 18 zwischen 1668 und 1675. Ein ähnliches Bild präsentiert sich in Finnland, wo 20% der bekannten Prozesse zwischen 1520 und 1639 stattfanden. In Norwegen kann der Höhepunkt der Prozesse in den Jahren nach 1650 angesetzt werden. 19 Die chronologische Betrachtung hilft vielleicht zu klären, warum die finnischschwedischen Prozesse meistens Anklagen wegen Teilnahme am Hexensabbat beinhalteten 20 , während die dänischen und bis zu einem gewissen Grade auch die norwegischen Prozesse sich auf Anschuldigungen wegen Schadenszaubers (Maleficium) beschränkten. 21 Daneben ist der Umfang an dämonologischer Literatur zu berücksichti- 15 Dieser ist zeitlich bestimmt durch die Veröffentlichungen von Alan Macfarlane’s Witchcraft in Tudor and Stuart England im Jahre 1970 und Keith Thomas’ Religion and the Decline of Magic aus dem Jahre 1971. 16 Antero Heikkinen: Paholaisen liittolaiset. Noitaja magiakäsityjsiä ja -oikeudenkäyntejä soumessa 1600-luvun jälkipuoliskolla, Helsinki 1969 ( mit einer ausführlichen englischen Zusammenfassung: Alllies of the Devil. Notions of Witchcraft and Demonic Magic and Trials for Witchcraft and Demonic Magic in the late 17th Century Finland) und Benkt Ankarloo: Trolldomsprocesserna i Sverige, Stockholm 1971. 17 Das folgende basiert auf Jens Chr. V. Johansen: Trolddom, in Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstolene i samspill med lokalsamfunnet, Oslo 1994, 87 - 102. 18 Nach dem Treffpunkt der Hexen benannt. 19 Die jüngere Forschung über Hexenprozesse in Norwegen stimmt nicht ganz mit diesem Bild überein; vgl. Gunnar W. Knutsen: Trolldomsprosessene på Østlandet (Hovedoppgave i historie, Universitetet i Oslo 1996). 20 Obwohl als Thema noch zu erforschen, mag die starke schwedische Teilnahme am dreißigjährigen Krieg ein Teil der Antwort sein. 21 Allerdings wurden die Norwegischen Prozesse nach 1650 auch mit Erzählungen über den Hexensabbat eingefärbt. Jens Chr. V. Johansen 180 gen: Aus Dänemark sind aus dem 17. Jahrhundert nur drei Veröffentlichungen bekannt (alle aus dem letzten Jahrhundertviertel), während sich die Anzahl in Schweden-Finnland auf 13 beläuft, von denen sechs vor der Jahrhundertmitte veröffentlicht wurden. Während des 17. Jahrhunderts wurden vier isländische dämonologische Werke gedruckt, die allerdings die Struktur der Prozesse auf der Insel nicht beeinflußten. Auch der Anteil der Geschlechter an den Angeschuldigten differierte in den skandinavischen Ländern. In Dänemark-Norwegen ähnelte er dem englischen Muster mit einem Frauenanteil von fast 90 Prozent unter den Angeklagten. Das isländische Muster mit nur zehn angeklagten Frauen unter den 120 in Prozesse verwickelten Personen ist diametral entgegengesetzt. 22 Im späten 16. Jahrhundert machten in Finnland Männer fast 60% der Angeklagten aus, während im 17. Jahrhundert der Frauenanteil stieg, ohne jemals zu überwiegen. Das mag damit zu tun haben, daß bei vielen Fällen die traditionelle Magie im Zentrum stand. Nach dem alten religiösen Glaubenssystem der Finnen standen die bei magischen Handlungen beteiligten Geister mit den Männern und nicht mit den Frauen in Verbindung. 23 Schmähung und Beleidigung Forschungen über Schmähungen und Beleidigungen in den skandinavischen Ländern werden durch die Tatsache behindert, daß in den Gerichtsquellen weitgehend Informationen über die tatsächlichen Redewendungen und Begriffe, die zu Beleidigungsklagen führten, fehlen. 24 Wir wissen, daß die Wörter »Hure« und »Hexe« speziell zur Diffamierung von Frauen und die Termini »Schelm« und »Dieb« Männern gegenüber benutzt wurden. Erwähnenswert ist, daß Beleidigungen mit religiösen Konnotationen, wie sie in den südeuropäischen Ländern nachgewiesen sind, so gut wie nicht auffindbar sind. 25 Welche große Bedeutung der persönlichen Ehre zukam, läßt sich im Kontext des Rechts unmittelbar plausibel machen, denn eine ehrlose Person konnte nicht an gerichtlichen Verfahren teilnehmen. Während des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts waren Injurien oft Auslöser für Gewalttaten. Später änderte sich das jedoch. Hans Eyvind Næss hat festgestellt, daß in Stavanger an der norwegischen Westküste eine steigende Zahl von Staatsbeamten in drastische Fälle von Ehrverletzungen verwickelt war. Offenbar wurde das Konzept der Ehre hier zugunsten der Etablierung einer neuen, starken und aufstrebenden Gruppe eingesetzt. 26 Dies gilt auch für Finnland. 1670 wurde ein finnischer Landwirt zum Tode verurteilt, weil er in betrunkenem Zustand geäußert hatte, der Bischof habe seinen kostbaren Hut von Huren in Reval gekauft. Das Gericht entschied, diese Schmähung sei strafbar sowohl aufgrund der Geistlichen als auch aufgrund des Angriff auf die Wür- 22 Kirsten Hastrup: Iceland: Sorcerers and Paganism, in: Bengt Ankarloo/ Gustav Henningsen (Hg.): Early Modern European Witchcraft: Centres and Peripheries. Oxford 1990, 383 - 401: 386. 23 Antero Heikinen/ Timo Kervinen: Finland: The Male Domination in: Ankarloo/ Henningsen: Early Modern European Witchcraft (wie Anm. 22), 319 - 338: 321 - 325. 24 Erling Sandmo: Æren og ærekrnkelsen, in: Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstolene i samspill med lokalsamfundet. Oslo 1994, 81 - 86: 83. 25 Jaime Contreras: El Santo Oficio de la Inquisicion en Galicia 1560 - 1700. Poder, Sociedad y cultura, Madrid 1982, 654 - 662. 26 Sandmo: Æren (wie Anm.24), 83f. Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 181 de des Bischofsamtes. 27 Die ›laws of privilegies‹ schützten Menschen mit hohem gesellschaftlichen Status vor Schmähungen durch Angehörige sozial niedriger Schichten. Zumindest im Finnland des 16. Jahrhunderts kann eine gesellschaftliche Differenz festgestellt werden zwischen Menschen, die Gewaltverbrechen begingen, und denjenen, die zum Mittel der Schmähung griffen. Erstere kamen meist aus den niedrigen Schichten der Gesellschaft, während sich die Injuranten aus Amtsträgern und den höheren Schichten der ländlichen Gesellschaft zusammensetzten. 28 Gerichte, die über Ehrverletzungen urteilten, definierten auch die sozialen Grenzen der Gesellschaft neu. Was den Unterschied der Geschlechter angeht, so scheint es evident, daß die Ehre der Frauen stärker mit Sexualität verknüpft war als die der Männer. Es sollte jedoch betont werden, daß Männer, die wegen Sodomie angeklagt und überführt wurden, als Entehrte betrachtet wurden. 29 Sexualverbrechen Wie in anderen lutheranischen und reformierten Regionen wurden in den skandinavischen Ländern nach der Reformation die sexuellen Sitten genauer unter die Lupe genommen. Sexualität wurde kriminalisiert und auf völlig neue Weise bestraft. Den Geistlichen wurde die Aufgabe zuteil, die Sexualität vor allem vor und neben der Ehe zu kontrollieren. Die Gesetze für Ehebruch, Unzucht und Inzest wurden verschärft. 30 Obwohl nach der Reformation prinzipiell die weltlichen Gerichte die Rechtssprechung bei Sexualverbrechen übernehmen sollten, wurde zumindest von finnischen Kirchengerichten diese Art des Vergehens bis weit ins 17. Jahrhundert weiter bearbeitet. 31 Der Anteil der Sexualverbrechen war am Anfang des 17.Jahrhundert mit 10% eher gering, in Finnland lag er sogar noch niedriger. Danach begann er zu steigen. In einigen Regionen Norwegens waren im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts Sexualdelikte die meistgeahndeten Straftaten, obwohl signifikante regionale Unterschiede existierten. 32 Zwischen 1641 und 1650 machten in Island Sexualdelikte mehr als 90% aller Vergehen auf der Insel aus. 33 Die Kontrolle des Sexualverhaltens gestaltete sich in den Städten weniger effektiv als auf dem Lande, wie am Beispiel der dänischen Insel Falster studiert werden kann. 34 In den meisten Fällen ging es um Unzucht; ungefähr 75% aller Sexualdelikte in skandinavischen Ländern fielen unter diese Kategorie 35 , wobei Finnland mit 88% an der Spitze liegt. 36 27 Heikki Ylikangas: Väkivaltarkosten motivaatiopohja 1500-livulla Suomessa, in: Historiallinen Arkisto 65 (1971), 86 - 205: 137. 28 Ylikangas: Väkivaltarikosten (wie Anm. 27), 164ff. 29 Jonas Liliequist: Brott, synd och straff. Tidelagsbrottet i Sverige på 1600och 1700-talet Umeå 1992, 146f. 30 Gísli Ágúst Gunnlaugsson: Sedlighetsbrott i Norden 1550 - 1850, in Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1 5 5 0 -1850. Domstolene i samspill med lokalsamfundet, Oslo 1994, 105. 31 Seppo Aalto: Sedlighetsbrottslighetens sociala bakgrund i Borgå län 1670 - 1690, in: Historisk Tidskrift för Finland 75 (1990). 32 Margit Løyland: Slagsmål, leiermål og bøtlagte egder 1 6 0 0 -1700, Oslo 1992, 45. 33 Thorgeir Kjartansson: Stóridómur, in: Sagnir 3 (1982), 2 - 12: 10. 34 Jens Chr. V. Johansen: Falster and Elsinore 1680 - 1705: a comparative study of rural and urban crime, in: Social History 15 (1990), 97 - 109: 102. 35 Gunnlaugsson: Sedlighetsbrott (wie Anm. 30), 117. Jens Chr. V. Johansen 182 Während des 17.Jahrhunderts änderte sich die traditionelle Sichtweise, daß es in der Regel die Männer waren, die den Frauen und ihren Familien Wiedergutmachung zu leisten hatten; nun wurden beide Parteien als strafwürdige Sünder behandelt. Bei Fällen von vorehelicher Unzucht betonte die Obrigkeit vor allem deswegen die Verantwortung der Väter, da sie befürchtete, die Männer würden sich andernfalls um ihre Pflicht zur Sorge um ihren Nachwuchs drücken und so die Kosten für die öffentliche Wohlfahrt steigern. 37 In Finnland und Norwegen wurden die Geldstrafen herabgesetzt, wenn sich das Paar zur Heirat entschloß. In Norwegen zahlten meist die Frauen die Strafgelder, da es sich bei den Männern in drei von vier Fällen um Soldaten handelte, die bei ihrer ersten Involvierung in einen Unzuchtsfall nicht zahlen mußten. In Schweden waren Männer nur zur Bußzahlung verpflichtet, wenn es sich bei den beteiligten Frauen um Jungfrauen handelte. Seit 1694 wurden sowohl Männer als auch Frauen der Unzucht angeklagt; durch die enge Zusammenarbeit zwischen Klerus und Gericht wurden beide Parteien zu Strafgeldern, die Männer überdies zur Zahlung eines Kindergeldes, verurteilt. Offensichtlich funktionierte dieses Konzept bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, als immer mehr Männer die Vaterschaft abstritten. 38 Sexualverbrechen wurden zunehmend zu dem Kriminaldelikt mit der größten Beteiligung von Frauen; die Zahl der weiblichen Verurteilten stieg ständig an. 39 Normalerweise kamen diese Frauen aus der gesellschaftlichen Unterschicht. Beamten- und Adelstöchter trifft man selten an. In Finnland waren nicht weniger als 13% der wegen Sexualdelikten verurteilten Männer aus der Oberschicht, zumeist Offiziere der Armee. Der Prozentsatz der Frauen aus denselben gesellschaftlichen Gruppen lag bei nur 0,4%. 40 Im späten 18. Jahrhundert begannen die Obrigkeiten, die Unzucht zu entkriminalisieren. Diebstahl Obwohl der Diebstahl in der Diskussion um die ›de la violence au vol‹-These, die seit den frühen 1960ern geführt wurde, eine wesentliche Rolle spielte 41 , beschäftigten sich nur wenige Forscher ernsthaft mit diesem Delikt. Die einzige Ausnahme bildet die Norwegerin Bodil C. Erichsen, die in ihrem Buch über Kristiania ein wichtiges Kapitel dem Diebstahl gewidmet hat. 42 Während des 16. und fast des gesamten 17. Jahrhunderts war der Prozentsatz von Diebstählen im Vergleich mit anderen Delikten sehr niedrig; völlig in Übereinklang mit der Theorie wurde die 10%-Marke kaum überschritten. 43 In der kleinen schwedischen Stadt Vadstena stieg jedoch der Prozentsatz 36 Aalto: Sedlighetsbrottsligheten (wie Anm. 31), 228 37 Marie Lindstedt Cronberg: Synd och skam. Ogifte mödrar på svensk landsbygd 1680 - 1880, Lund 1997, 176f. 38 Gunnlaugsson: Sedlighetsbrott (wie Anm. 30), 133. 39 Lindstedt Cronberg: Synd (wie Anm. 37), 85f. 40 Aalto: Sedlighetsbrottsligheten (wie Anm. 31). 41 Vgl. Xavier Rousseaux: Existe-t-il une criminalité d´Ancien Régime? Réflexions sur l´histoire de la criminalité en Europe (XIVe -XVIIIe siècle) in Benoît Garnot (Hg.): Histoire et criminalité de l´antiquité au XXe siècle. Nouvelles approches, Dijon 1992, 123 - 148. 42 Bodil Chr. Erichsen: Kriminalitet og rettsvesen i Kristiania på slutten av 1600-tallet. Oslo 1993. 43 Eva Österberg/ Dag Lindström: Crime, and Social Control in Medeieval and Early Modern Swedish Towns, Uppsala 1988, 47 und Petri Karonen: Brottsligheten i städerna i egentliga Finland och Satakunta i början av 1600-talet, in: Historisk Tidskrift för Finland 79 (1994), 75 - 102: 82 - 85. Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 183 während des ersten Jahrzehnts des 17. Jahrhundert auf erstaunliche 16%. 44 Nur im Osten Finnlands wird man Zeuge eines frühen Anstieges; in Savolax von 10% im Jahre 1566 auf 40% im Jahre 1610. In den großen Wäldern mit ihrer Brandrodungsagrikultur waren die Eigentumsgrenzen unsicher. Wenn die Bauern Wälder niederbrannten, um neues Land zu beanspruchen, war es leicht, sich über die zuvor festgelegten Feldergrenzen hinwegzusetzen. Bodil C. Erichsen betont den Gegensatz zwischen der niedrigen Diebstahlrate im späten 17. Jahrhundert in Norwegen und der intensiven zeitgenössischen Diskussion und der Furcht vor diesem Verbrechen. Als Folge dieser Diskussion wurde die Todesstrafe, die 1687 mit dem neuen norwegischen Gesetzeskodex abgeschafft worden war, 1690 wieder eingeführt. Die niedrige Diebstahlsrate verdankte sich jedoch der großen finanziellen Belastung, die ein gerichtliches Vorgehen für private Ankläger bedeutete. Wenn sie selbst kein Geld zum Klagen hatten, konnten arme Leute nicht von der Obrigkeit erwarten, für sie einzuspringen. In Kristiania war die Obrigkeit eher geneigt, reichen Opfern zu helfen. 45 Im Vergleich zu den Städten weisen ländliche Gegenden eine niedrigere Diebstahlsrate auf. In Schweden gilt das sogar noch für die Mitte des 18. Jahrhunderts. Aber dort begingen erstaunlicherweise die reicheren Angehörigen der ländlichen Gesellschaft dieses Verbrechen. 46 Daß die Anzahl der Diebstähle aber auch in den skandinavischen Städten begrenzt war, muß vielleicht auch vor dem Hintergrund deren bescheidener Größe gesehen werden. Nur die Hauptstädte Kopenhagen und Stockholm hatten mehr als 4.000 Einwohner. Dort lag die Diebstahlrate wahrscheinlich beträchtlich höher als in anderen Städten. 47 In den ersten 25 Jahren des 17. Jahrhunderts erreichte der Prozentsatz in Stockholm 25%. 48 Wir haben keine Zahlen für Kopenhagen, aber es war sicherlich kein Zufall, daß 1686 in Kopenhagen extra ein neues Gericht für Fälle von Diebstahl eingerichtet wurde. 49 In allen skandinavischen Ländern schließlich begann die Anzahl der Diebstähle im Laufe des späten 18. Jahrhunderts und des frühen 19. Jahrhunderts zu steigen. 50 Gewalttaten Es ist kaum eine Überraschung, daß die verschiedenen Formen der Gewalt, soweit die Quellen zurückreichen, das Feld der Kriminalität in den skandinavischen Ländern dominierten. 51 Dabei scheint ein allgemeines Einvernehmen darüber zu bestehen, daß ›geringfügige‹ Gewalt vorherrschte. Totschlag und Mord waren relativ selten. 52 Zwischen 1643 und 1705 wurden nur vier Fälle von Mord vor das Hohe Gericht von Stavanger in 44 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm. 43), 54. 45 Bodil Chr. Erichsen: Norsk strafferettspraksis på slutten av 1600-tallet: forskjellsbehandling på økonomisk gruunlag, in: (Norsk) Historisk tidsskrift 75 (1994), 145 - 160: 158. 46 Vgl. Johansen: Falster (wie Anm. 33), 102 und Furuhagen: Berusade bönder (wie Anm. 12), 71 und 99. 47 Für Stockholm vgl. Hans Andersson: Genus och rättskultur. Kvinnlig brottslighet i stormaktstidens Stockholm, in: (Svensk) Historisk tidsskrift 1995: 2, 129 - 159: 144 - 147. 48 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm.43), 85. 49 Henrik Stevnsborg: ›Samfundets‹ og ›statens‹ strafferetspleje. Lovgivning og praksis i Københavnske prostitutionssager i slutningen af det 17. og begyndelsen af det 18. århundrede, in: (Dansk) Historisk tidsskrift 82 (1982), 1 - 26: 14. 50 Johansen/ Stevnsborg: Hasard, (wie Anm.4), 608 - 614. Jens Chr. V. Johansen 184 Norwegen gebracht. 53 Auf eine ähnlich geringe Anzahl kommt man in ganz Norwegen. Eine Beobachtung aus der norwegischen Gerichtspraxis vermag jedoch Zweifel an diesem Befund zu wecken. Um sich des korrekten Urteils sicher zu sein, konsultierte der Richter des lokalen Gerichts das übergeordnete Hochgericht, bevor er sein eigenes Urteil verlas. Dies passierte auch in Fällen von Totschlag. 54 Diese Fälle jedoch tauchen in den Aufzeichnungen des Hohen Gerichts nie auf. Zu einem geringeren Grad scheint auch die in der Praxis mögliche Purgation von Tötungen, die bis 1687 sogar Morde einschloß, für die geringe Zahl der nachgewiesenen Fälle verantwortlich zu sein. 55 In den Amtsberichten von Stavanger taucht zudem eine sehr viel höhere Zahl auf: Zwischen 1610 bis 1660 stößt man auf 54 Mordfälle, wobei ein Höhepunkt in den 30er Jahren lag. In Norwegen dominierten bis Mitte des 17. Jahrhunderts geringfügige Gewalttaten. Verglichen mit den Morden in Stavanger finden wir von 1623 bis 1629 232 Fälle von Übergriffen, und in den Aufzeichnungen von Nedenes und Lista sind die Zahlen für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts ähnlich hoch. 56 Um 1700 geht die Zahl der Morde wie auch der Übergriffe zurück. Von den Aufzeichnungen über Geldbußen des schwedischen Hochgerichts wurde in der Forschung reger Gebrauch gemacht; ihnen zufolge ging die Anzahl der aufgezeichneten Fälle von Gewalt nach 1640 zurück - wann genau dieses geschah, steht zur Diskussion. 57 Jan Sundin hat gezeigt, daß die Anzahl der Gewalttaten in der Stadt Linköping von 1610 bis 1650 dramatisch abfiel. Am Ortsgericht von Gullberg stieg die Anzahl bis 1630 und fiel dann. 58 In Finnland bestehen die Quellen wie in Norwegen und Schweden aus den Rechnungen über die Geldbuße und den Aufzeichnungen der örtlichen Gerichte, da die Archive des Hochgericht in Åbo vom Feuer zerstört wurden. Heikki Ylikangas konstatiert ein starke Konjunktur der Gewaltdelikte während des 16. Jahrhunderts. Jede Kleinbauernfamilie mußte alle sechs oder sieben Jahre eine Buße für Gewalttaten bezahlen. 59 Kurz nach 1580 nahm jedoch die Gewalt ab. 60 In einigen Gemeinden findet man jedoch auch im 17. Jahrhundert ein hohes Maß an Gewalt. Wäh- 51 Vgl. zu den schwedischen Städten Arboga, Vadstena und Stockholm im 15. Jahrhundert Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm. 43), 43, 54 und 79; für Finnland im 16. Jahrhundert Heikki Ylikangas: Ätten och våldet. Våldsbrott i Norden vid övergången til nya tiden, in: Historisk tidsskrift för Finland 79 (1994), 3 - 25; für Norwegen im 15. Jahrhundert Jørn Sandnes: Kniven, ølet og æren. Kriminalitet og samfunn i Norge på 1500og 1600-tallet, Oslo 1990, 46 und für Dänemark im 16. Jahrhundert Henrik Stevnsborg: ›Tak Gud min søn, at du ikke kom for Riberret‹ Retspleje i Ribe 1590 - 1594, in: Grethe Christensen (et al.) (Hg.): Tradition og kritik. Festskrift til Svend Ellehøj den 8. September 1984, København 1984, 205 - 233: 217. 52 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm.43), 46 und 79 - 85; Thunander: Hovrätt (wie Anm. 11), 132. 53 Hans Eyvind Næss: Vold, in: Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstolene i samspill med lokalsamfundet, Oslo 1994, 62 - 80: 65. 54 Dasselbe passierte auch bei Schmähung, Diebstahl und Hexerei. 55 Hans Eyvind Næss: Mededsinstituttet. En undersøkelse av nektelsesedens utbredelse og betydning i norsk rettsliv på 1600-tallet, in (Norsk) Historisk tidsskrift 1991: 2, 179 - 201: 200f. 56 Næss: Vold (wie Anm. 53), 68. 57 Vgl. Johan Söderberg: En fråga om civilisering. Brottsmål och tvister i svenska häradsrätter 1540 - 1660, in: (Svensk) Historisk Tidskrift 1990, 229 - 258: 232 - 237 und Eva Österberg: Kontroll och kriminalitet i Sverige från medeltid til nutid. Tendenser och tolkninger, in: Scandia. Tidskrift för historisk forskning 57 (1991), 65 - 87: 74f. 58 Jan Sundin: För Gud, Staten och Folket. Brott och rättskipning i Sverige 1600 - 1840, Lund 1992, 90f. 59 Ylikangas: Major Fluctuations (wie Anm. 3), 83. 60 Der dänisch-amerikanische Historiker John Mårberg behandelt dasselbe Problem in einem demnächst erscheinenden Artikel über Kleinbauern in Österbotten. Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 185 rend des zweiten Viertels des 17. Jahrhunderts war in den drei finnischen Orten Raumo, Björneborg und Nystad Gewalt nicht das dominierende Verbrechen, sondern die Schmähung spielte eine gleichwertige Rolle. 61 Der Vergleich der norwegischen und schwedisch-finnischen Darstellungen mit denen in Dänemark ist schwierig, vor allem aufgrund der unterschiedlichen Überlieferung. Wurde ein Bauer in Dänemark straffällig, so hatte er seine Geldbuße dem Adligen zu entrichten, auf dessen Land er saß. (In Schweden konnte das prinzipiell auch passieren, aber die Zahl der berechtigten Adligen war sehr viel kleiner als in Dänemark.) Zudem existierte in Dänemark lange kein zentralisiertes Hochgericht, das die Gerichtsakten zu überprüfen hatte. Bis 1636 müssen wir uns auf die eher spärlichen Akten der lokalen Gerichte verlassen, die Fälle der Gewalt festgehalten haben. Erst nach diesem Datum mußten Urteile über Mord und Totschlag vor ein Hochgericht gebracht werden. Am Hohen Gericht in Jütland hatten Mord und Totschlag während des ersten Viertels des 17. Jahrhundert Konjunktur, während zumindest nach 1640 diese Delikte an Häufigkeit abnahmen. 62 Vielleicht kann die Tätigkeit der örtlichen Gerichte von Elsinore diese Tendenz erklären. Von der Mitte des 16. Jahrhundert an bis ins späte 17. Jahrhundert sank der Prozentsatz der Gewalttaten von 16% aller Fälle (Zivil und Gewalt) auf 4%. (Diese Zahlen können vielleicht mit denen von Raumo, Björneborg und Nystad verglichen werden). Auf der Insel Falster war der Prozentsatz der Gewaltverbrechen während des letzten Viertels des 17. Jahrhunderts sehr niedrig; obwohl ein solches Vorgehen vielleicht methodisch problematisch erscheint, zeigt der Vergleich zu einigen örtlichen Gerichten im Südwesten Jütlands während des ersten Viertels des 17. Jahrhunderts einen Rückgang von 10% in Jütland auf 2% auf Falster. 63 Im allgemeinen war es in ländlichen Gebieten ruhiger und friedlicher als in den Städten. Dabei erscheint die Gewalt besonders in den nördlichen Gegenden Finnlands und Norwegens sehr ausgeprägt im Unterschied zu Gebieten, die eine größere räumliche Nähe zu kulturellen Zentren aufwiesen. Im Laufe der Jahrhunderte änderten sich auch die Gewalttäter. Im Finnland des 16. Jahrhunderts begingen Mitglieder der Geschworenengerichte, die normalerweise reicher als einfache Bauern waren, auch öfter schwerwiegende Gewaltverbrechen als andere Dorfbewohner. 64 Im Laufe des 17. Jahrhunderts näherte sich das Täterprofil immer mehr dem bekannten Bild von den jungen gewaltsamen Männern aus den ärmeren Schichten der Gesellschaft an. Am frühesten läßt sich diese Entwicklung in den Städten beobachten, wo Landstreicher, Bettler und Menschen ohne Familienanbindung seit dem späten 16. Jahrhundert an Zahl zunahmen. 65 Allmählich breitete sich das Muster auch auf ländliche Gebiete aus, wo vor allem Soldaten aus Finnland-Schweden einen Hang zur Gewalt hatten. 66 Im Gegensatz dazu begingen die Soldaten in Dänemark nicht so viele Verbrechen, zumindest nicht bis zum 18. Jahrhundert 67 . Es könnte ein In- 61 Karonen: Brottsligheten (wie Anm. 43), 80 - 85. 62 Næss: Vold (wie Anm. 53), 71. 63 Jens Chr. V. Johansen: Kvinderne og tinget på Falster og i Helsingør i det 17. århundredes sidste halvedel. Paper vom Workshop: Actors of the Court. Uppsala, 27 - 29. October 1995 und ders.: Da Djævelen var ude. Trolddom i det 17. århundredes Danmark, Odense 1991, 102. 64 Ylikangas: Väkivaltarikosten (wie Anm. 27), 132f. 65 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm. 43), 95. 66 Sundin: För Gud (wie Anm. 58), 101 und Furuhagen. Berusade bönder (wie Anm. 12), 99. 67 Tyge KROGH, Oplysningstiden og det magiske - Henrettelser og korporlige straffe i 1700-tallets første halvdel (im Druck). Jens Chr. V. Johansen 186 diz für die Militarisierung der schwedisch-finnischen Gesellschaft an einem frühen Punkt sein. Die erfolglose Teilnahme der Dänen am dreißigjährigen Krieg basierte auf dem Aufmarsch angestellter Söldner, während die erfolgreiche schwedische Teilnahme aus der Einberufung von Soldaten aus Finnland und Schweden resultierte. Wie läßt sich die verbreitete Gewaltsamkeit erklären? Die Theorien von Norbert Elias haben einen großen Einfluß auf die skandinavischen Forschungen gehabt, obwohl sie in letzter Zeit etwas an Boden verloren haben. Der Norweger Jørn Sandnes hat mit seiner Behauptung, die Gewalt in Skandinavien sei ein Überbleibsel der »Wikinger-Mentalität«, die provozierendste Erklärung vorgelegt. 68 Eva Österberg interpretiert die Gewalt als Teil einer Kultur der Ehre, in deren Kontext das Austeilen von Schlägen keine gesellschaftliche Stigmatisierung zur Folge hatte. 69 Heikki Ylikangas legt die Betonung auf die Trinkgewohnheiten und die Wichtigkeit des Verwandtschaftssystems. Selbst kleinste Angriffe wurden als Beleidigung der gesamten Familie betrachtet. Die entsprechenden Fälle wurden vor Gericht gebracht, damit jeder der Rechtfertigung beiwohnen konnte und um die Bezahlung einer angemessenen Kompensationssumme zu sichern. Zusammen mit der Entstehung des modernen Staates begann die Auflösung dieses Verwandtschaftssystems, was wiederum zu einer Reduktion der Gewalt führte 70 . Der Staat war fortan in der Lage, seine Bürger zu schützen, ohne daß diese zu privater Gewaltanwendung greifen mußten. Als die Zahl der Gewaltfälle abnahm, begann die Zahl der Beleidigungsdelikte im übrigen zu steigen. Frauen vor Gericht Es ist kaum überraschend, daß die Zahl der Frauen, die in Skandinavien in Kriminalfälle verwickelt waren, derjenigen in ganz Europa gleicht. Deshalb wurde diese Frage auch nie ernsthaft diskutiert. Jedoch hat eine Debatte über die Beteiligung von Frauen an Zivilprozessen begonnen, in deren Verlauf die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Frauen in Skandinavien kontrovers beurteilt wird. 71 Hilde Sandvik zeichnet ein sehr viel freundlicheres Bild über die Möglichkeiten von Frauen im Handel bzw. ökonomischem Leben allgemein als Grethe Jacobsen. Geteilte Verantwortung ist eines von Sandviks Hauptkonzepten. Sie geht von der Annahme aus, daß der eheliche Status wichtiger als die Geschlechtszugehörigkeit war. Demgegenüber akzentuiert Jacobsen 68 Sandnes: Kniven (wie Anm. 51), 117. 69 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm. 43), 55. 70 Heikki Ylikangas: Knivjunkarna: Våldskriminaliteten i Sydösterbotten 1790 - 1825, Borgå 1985. 71 Hilde Sandvik: ›Kvinners rettslige handleevne‹. Tingbøker som kilde til forholdet mellom kjønnene, in: (Norsk) Historisktidsskrift (1991: 2), 282 - 292; Grethe Jacobsen/ Anna Christine Ulfsparre: Kommentarer til Hilde Sandvk, in: (Norsk) Historisk tidsskrift (1991: 2), 293 - 306; Marja Taussi Sjöberg: Kvinnorna på Njurundatinget på 1600-tallet, in: (Svensk) Historisk tidskrift (1992: 2), 141 - 171; Anu Pylkkänen: Kvinnan, hushållet och rätten - Regionala variationer i stormaktstidens Finland, in: (Svensk) Historisk tidskrift (1994: 3), 365 - 388; Andersson: Genus (wie Anm. 47); Åsa B. Karlsson: Kvinnan, staden och rätten under 1600-talet, in: (Svensk) Historisk tidskrift (1995: 4), 536 - 559; Marja Taussi Sjöberg: Rätten och kvinnorna. Från släktmakt till statsmakt i Sverige på 1500och 1600-tallet, Stockholm 1996; Maria Sjöberg: Hade jorden ett kön? Något om genuskonstruktion i det tidigmoderne Sverige, in (Svensk) Historisk tidskrift (1996: 3), 363 - 393; Gudrun Andersson: Kvinnans underordning: axiom eller öppen fråga? und Maria Sjöberg: Kvinnans underordning - en undantagshistoria? , in (Svensk) Historisk tidskrift (1997: 3), 452 - 462. Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 187 die Bedeutung der Kategorie ›Geschlecht‹ und den ideologischen Charakter des Rechts. Sie räumt zwar ein, daß Frauen durchaus politische oder ökonomische Macht ausüben konnten, betont aber, daß Frauen niemals eine rechtlich legitimierte Autorität für sich reklamieren konnten. 72 Haupttendenzen der historischen Entwicklung Trotz unterschiedlicher Quantifizierungsmethoden in den skandinavischen Ländern herrscht über die Tatsache Einvernehmen, daß während des späten 17. Jahrhunderts und des frühen 18. Jahrhunderts Zivilprozesse immer mehr Zeit und Ressourcen der Gerichte in Anspruch nahmen. Um es mit den Worten der Schwedin Maria Ågren zu sagen: Die Gerichte wurden ein Weg, um ökonomische Dispute zu lösen. Hatten sie sich ursprünglich vor allem mit Delikten wie Gewalt und Schmähungen zwischen Einzelpersonen zu beschäftigen, so wurden sie allmählich zu einem Forum des Austrags von Konflikten mit finanziellen Hintergründen. Die während des späten Mittelalters und des 16. Jahrhunderts beinahe ausschließlich mit Laienrichtern besetzten Gerichte waren - allerdings mit Ausnahme der Kapitaldelikte (»crimina excepta«, »kwade feiten«, »henious crimes«) - an der Verhängung von Strafen nicht interessiert. Die Sanktionierung brachte den Opfern keinen finanziellen Ausgleich. Infolgedessen strebten die Gerichte private Regelungen mit Entschädigungen an, die den Beschuldigten ohne Verlust der Ehre wieder in die Gesellschaft zurückführten. Seit dem 17. Jahrhundert begannen die Gerichte immer mehr, den Interessen der Obrigkeit zu dienen. Dies kann an den Prozessen gegen illegalen Handel und Schmuggel ebenso gezeigt werden wie an der Anzahl der Prozesse, die sich mit Schulden und Verträgen beschäftigen. Sie stieg an, als der Prozentsatz von Kriminalfällen zu sinken begann. Insgesamt befanden sich die skandinavischen Länder auf einem beschleunigten Modernisierungskurs. (Übersetzung aus dem Englischen von Axel Fischer) 72 Jacobsen: Kvinder (wie Anm. 7), 280 - 286. Jens Chr. V. Johansen 188 Bibliographie Seppo Aalto: Sedlighetsbrottslighetens sociala bakgrund i Borgå län 1670 - 1690, in: Historisk Tidskrift för Finland 75 (1990). Gudrun Andersson: Kvinnans underordning: axiom eller öppen fråga? , in: (Svensk) Historisk tidskrift (1997: 3). Hans Andersson: Genus och rättskultur. Kvinnlig brottslighet i stormaktstidens Stockholm, in: (Svensk) Historisk tidsskrift (1995: 2). Bengt Ankarloo: Trolldomsprocesserna i Sverige, Stockholm 1971. 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Jahrhundert) Von den Historikern aus Ostmittel- und Osteuropa haben bislang allein die polnischen einen nennenswerten Beitrag zur Erforschung der Kriminalitätsgeschichte geleistet. In quantitativer Hinsicht ist er mit dem aus England oder Frankreich nicht annähernd vergleichbar, in qualitativer teilweise schon. Da die Geschichte der Kriminalität ja nicht nur Fächer oder Epochen übergreift, sondern auch Länder, liegt es nahe, im Rahmen dieser Zwischenbilanz einen Blick auf die Arbeiten polnischer Historiker zu werfen. Auch in Polen galt die Kriminalitätsgeschichte lange Zeit nicht unbedingt als zentrales Anliegen, wurde aus drei Gründen aber vergleichsweise früh thematisiert. Zunächst hat die polnische Geschichtsschreibung traditionell engere Verbindungen zur französischen unterhalten als die deutsche. Im Kern gingen diese auf das 19. Jahrhundert zurück, als Paris nach dem tragischen Ausgang der polnischen Aufstände zum intellektuellen Zentrum der polnischen Emigration aufstieg. Als Treffpunkt patriotisch - und das hieß antisowjetisch - Gesinnter bot sich Paris aber auch in der Epoche des Kalten Krieges an, so für BronisÎaw Geremek, der bei Fernand Braudel an der »École des Hautes Études« studiert hatte und mit mehreren Studien zu spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Randgruppen internationale Beachtung erfuhr. 1 Nach Warschau zurückgekehrt, wirkte Geremek an der polnischen Akademie der Wissenschaften sowohl auf eine rege Diskussion zwischen polnischen und französischen Historikern als auch auf eine verstärkte Erforschung von Außenseitern und Delinquenz in Polen hin. 2 Zweitens profitierte die Kriminalitätsgeschichte davon, daß die Bedeutung der Frühen Neuzeit im polnischen Geschichtsbild weitaus größer ist als etwa im deutschen, wohl eine zwangsläufige Folgeerscheinung der polnischen Katastrophe schlechthin: Den Teilungen von 1772 bis 1795. Mit diesem Spezifikum ging ein stärkeres Interesse an Disziplinen wie der Rechts- oder Wirtschaftsgeschichte einher. Erstere war dazu angetan, die notorische Autoritätskrise des polnischen Königtums näher zu beleuchten, letztere diskutierte die Unterfinanzierung von Heer und Verwaltung im alten Polen. Ein dritter Grund für das frühe Einsetzen kriminalitätshistorischer Untersuchungen ist 191 1 BronisÎsaw Geremek: Les marginaux parisiens aux XIV e et XV e siècles. Paris 1976; ders.: Truands et misérables dans l’Europe moderne. Paris 1980; ders.: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München 1988; ders.: PrzestøpczoÃÅ a ÃwiadomoÃÅ spoÎeczna we wczesnonowoîytnej Europie (Kriminalität und soziales Bewußtsein im frühneuzeitlichen Europa), in: Antoni Måczak (Hg.): Europa i Ãwiat w poczåtkach epoki nowoîytnej (Europa und die Welt zu Beginn der Moderne), Warszawa 1991, 39-67. 2 Andrzej Karpi¢ski: Pauperes. O mieszka¢cach Warszawy XVI i XVII wieku (Pauperes. Über die Einwohner Warschaus im 16. und 17. Jahrhundert). Warszawa 1983; Jan Kracik/ MichaÎ Roîek: Hultaje, îÎoczy¢cy, wszetecznice w dawnym Krakowie. O marginesie spoÎecznym XVI-XVIII wieku. (Halunken, Übeltäter und Huren im alten Krakau. Soziale Marginalitäten vom 16. bis 18. Jahrhundert), Kraków 1986; Bohdan Baranowski: Ludzie goÃci¢ca w XVII-XVIII w. (Fahrendes Volk im 17. und 18. Jahrhundert), ŸódÏ 1986. Im Umkreis der Forschungen zu den Marginalitäten ist auch die 1992 erschienene Festschrift zu Geremeks 60. Geburtstag angesiedelt. Vgl. Maurice Aymard (Hg.): Biedni i bogaci. Studia z dziejów spolecze¢stwa i kultury (Arme und Reiche. Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte), Warszawa 1992. schließlich damit verbunden, daß Volk und Obrigkeit aus polnischer Sicht immer wieder als Opponenten galten - auch dies eine Konsequenz aus der Teilungszeit, als sich die polnische Gesellschaft einem nichtpolnischen Staat gegenübersah. Nicht zuletzt deshalb hat die Geschichte Polen noch im 18. und 19. Jahrhundert mit großen Rebellen gesegnet, gleichfalls ein Phänomen, das den Deutschen ermangelt. Vor diesem Hintergrund war die Schwelle, die der Historiker zur Erforschung von Unterwelt und Subkultur überschreiten mußte, in Polen bedeutend niedriger als bei seinem Nachbarn im Westen. Die vorliegende Skizze versucht, eine vorläufige Bilanz der polnischen Beiträge zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz zu ziehen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf neueren Arbeiten zur Epoche der Frühen Neuzeit, da das späte Mittelalter von polnischen Kriminalitätshistorikern bislang ausgespart blieb. Eine Ursache dieser Zurückhaltung ist wohl darin zu suchen, daß die großen polnischen Mediävisten wie Marian Biskup, Aleksander Gieysztor, Gerard Labuda oder Benedykt Zientara durch die Ostsiedlung oder den Gegensatz zwischen polnischer Krone und Ordensstaat in gewisser Hinsicht »nationaler« eingestellt waren als zum Beispiel die Dixhuitièmisten und ihr Lebenswerk demzufolge nicht der Rechts- und Sozialhistorie, sondern der Agrar- oder der äußeren Geschichte gewidmet haben. Die nicht ganz unerhebliche Literatur zu vermeintlichen Hexen bleibt ausgeklammert, 3 desgleichen die zu Ritualmordprozessen. 4 Zunächst soll ein knapper Überblick drei Generationen polnischer Kriminalitätshistoriker vorzustellen, danach folgt je ein Abschnitt zu Delinquenz und Sanktion. Am Schluß dieser Skizze steht die Frage nach kriminalitätshistorischen Charakteristika des alten Polen, soweit es der bisherige Forschungsstand zuläßt. 1. Generationen Als Urvater der polnischen Kriminalitätsgeschichte muß wohl WÎadysÎaw Ÿozi¢ski gelten, ein Kulturhistoriker Lemberger Tradition, der auch eine Geschichte des Patriziats seiner Heimatstadt verfaßt hat. Im vergleichsweise liberal verwalteten österreichischen Teilungsgebiet veröffentlichte er 1903 eine zweibändige Darstellung des Justizalltags im südöstlichen Polen vor 1700. Auch wenn dieser Landesteil durch das Vorherrschen der Magnaten für Polen als Ganzes nicht immer typisch ist, haben die großen Adelsfamilien und deren Güter Ÿozi¢ski doch die Quellen geliefert, um dem tatsächlich Bestehenden in vorbildlicher Seite weit mehr Platz einzuräumen als dem gesetzlich Verlangten. Die Schattenseiten der polnischen Adelsrepublik arbeitet Ÿozi¢ski damit gnadenlos heraus: Die Ohnmacht der Krone, resultierend im weitgehenden Fehlen einer zentralen Strafverfolgung, insbesondere in bezug auf die Straßenräuber, die Lynchjustiz mancher Szlachtafamilien untereinander, die das Verfassungsrecht auf Bildung einer Konföderation zu Privatfehden mißbrauchten, und nicht zuletzt das infernus rusticorum, hier also 192 Christoph Schmidt 3 Vgl. dazu den (nicht gänzlich gelungenen) Artikel von Janusz Tazbir: Hexenprozesse in Polen, in: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1980), 280-307. Neuere Literatur bei Andrzej Karpi¢ski: Kobieta w mieÃcie polskim w drugiej poÎowie XVI i w XVII wieku (Die Frau in der polnischen Stadt in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhundert), Warszawa 1995, 392-97. Zum schlesischen Oszillationsraum s. Karen Lambrecht: Hexenverfolgung und Zaubereiprozesse in den schlesischen Territorien, Köln 1995. 4 Dazu etwa Hanna Wøgrzynek: LudnoÃÅ îydowska wobec oskarîe¢ o popeÎnianie przestøpstw o charakterze rytualnym (Die jüdische Bevölkerung und Anklagen auf Ritualmord), in: Kwartalnik Historyczny 101 (1994), Heft 4, 13-26. Willkür und Machtmißbrauch der Gutsbesitzer gegenüber ihren Leibeigenen. Auch wenn die großen Linien hinter der Fülle des Archivmaterials manchmal zurücktreten und Ÿozi¢ski keinen quantifizierenden Zugang findet - dafür sind die verwendeten Akten zu disparat -, liefert der Verfasser dennoch eine so nüchterne Beschreibung des Gerichtswesens, wie sie für das Deutschland der wilhelminischen Zeit in dieser Form kaum denkbar war. 5 Hat die Teilungsepoche den Blick »von unten« somit begünstigt, traten nicht wenige der polnischen Historiker nach der Wiedererlangung der nationalen Souveränität 1918 in eine neue Rolle ein. Ganz unverkennbar, daß nunmehr eine Orientierung am Offiziellen und Staatstragenden um sich griff, ablesbar etwa an der ebenfalls zweibändigen polnischen Kulturgeschichte von Jan StanisÎaw Bystro¢, erstmals erschienen von 1932 bis 1934. Ganz anders als Ÿozi¢ski begnügt sich Bystro¢ mit einer im Grunde banalisierenden Beschreibung der Offizialkultur. Die Passagen zu Justiz und Kriminalität sind dem sterilen Duktus von Radbruch/ Gwinner daher nicht ganz unähnlich. 6 Die zweite Generation der polnischen Kriminalitätshistoriker setzt also erst mit der Rezeption des historischen Materialismus nach 1945 ein. Ein genuin marxistisches Interesse hat zunächst Jerzy Topolski verfolgt, das ihn ausgehend vom Theorem des bäuerlichen Klassenkampfes bald auf die Läuflingsbewegung aufmerksam machte. Topolskis Schätzung zufolge schloß sich ein Zehntel der polnischen Leibeigenen dieser kriminalisierten Form des Widerstandes an. 7 Anders als in der Sowjetunion oder in der DDR waren viele polnische Historiker allerdings eigenständig genug, sich der Parteilinie nicht blindlings zu unterwerfen. Dieser Haltung verdanken wir mehrere Studien zu den Entstehungsbedingungen frühneuzeitlicher Kriminalität, so von Bohdan Baranowski. Hatte StanisÎaw Grodziski das fahrende Volk 1961 noch als Opfer zahlreicher Repressionen geschildert, 8 sah Baranowski in den Landstreichern auch Täter. Das von sowjetischen Historikern nicht selten bemühte Bild vom Räuber als Klassenkämpfer löste sich dabei in Ideologieschwaden auf: So wertete Baranowski 119 Raubüberfälle bei Ëywiec in den Beskiden aus der Zeit von 1589 bis 1782 aus, wobei 59% der Überfallenen Bauern waren, aber nur 16% Adlige. Ein weiteres Verdienst von Baranowskis Untersuchung besteht darin, daß erhebliche landschaftliche Unterschiede bei der Verbreitung der Bettler hervortreten. Am Ende des 18. Jahrhunderts lag deren Bevölkerungsanteil im zurückgebliebenen Masowien bei ca. 4,8%, in Kalisch, einem Zentrum der Frühindustrialisierung, aber bei nur 2,1% 9 . 193 Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz 5 WÎadysÎaw Ÿozi¢ski: Prawem i lewem. Obyczaje na Czerwonej Rusi w pierwszej poÎowie XVII wieku (Mit Recht oder Unrecht. Bräuche der Czerwoner Rus’ in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts), 2 Bde., Kraków 6 1960. 6 Jan StanisÎaw Bystro¢: Dzieje obyczajów w dawnej Polsce wiek XVI-XVIII (Kulturgeschichte des alten Polen vom 16. bis 18. Jahrhundert), 2 Bde., Nd. Warszawa 1994. 7 Jerzy Topolski: Zbiegostwo chÎopów w dobrach kapituly gbieÏnie¢skiej w pierwszej poÎowie XVIII w. (Die Flucht der Bauern von den Gütern des Gnesener Kapitels in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts), in: Roczniki dziejów spoÎecznych i gospodarczych 16 (1954), 95-112; ders.: PoÎoîenie i walka klasowa chÎopów w dobrach arcybiskupstwa gnieÏnie¢skiego w XVIII w. (Lage und Klassenkampf der Bauern auf den Gütern des Erzbischofs von Gnesen im 18. Jahrhundert), Warszawa 1956. Mit ähnlicher Interpretation schon WÎadysÎaw Ochma¢ski: Zbójnictwo góralskie. Z dziejów walki klasowej na wsi góralskiej (Bergräuber. Zur Geschichte des Klassenkampfes im Bergdorf), Warszawa 1950. 8 StanisÎaw Grodziski: Ludzie luÏni. Studium z historii pa¢stwa i prawa polskiego (Homines vagi. Eine Studie zur Staats- und Rechtsgeschichte Polens), Kraków 1961. In manchem vergleichbar MirosÎaw FranciÅ: Ludzie luÏni w osiemnastowiecznym Krakowie (Die Homines vagi im Krakau des 18. Jahrhunderts), Warszawa 1967. 9 Baranowski: Ludzie (wie Fn. 2), 191. Die dritte Generation polnischer Kriminalitätshistoriker ist schließlich die heutige. Ein deutliches Kennzeichen dieser Gruppe ist die Internationalisierung, die in Polen gründlicher als in Deutschland betrieben wird, beginnend mit der Rezeption der englischen und französischen Forschung. Das besondere Augenmerk aber besteht darin, selbst in englischer oder französischer Sprache zu veröffentlichen. Mehrere historische Fachzeitschriften Polens dienen allein diesem Zweck. Der wohl bedeutendste Beitrag dieser vorerst letzten Generation ist das Buch Marcin Kamlers zur registrierten Kriminalität in Posen (1550-1633), Lublin (1550-1565, 1622-1648) und Krakau (1550-1635). Dabei gilt sein Augenmerk vor allem der kriminellen Subkultur, ihrer Rekrutierung und sozialen Zusammensetzung, den verschiedenen Delikten, der Gaunersprache und -mentalität. Hier zeichnet Kamler das Bild eines nahezu stabilen Mikrokosmos mit der Kneipe als Angelpunkt. Im Grunde trug diese Subkultur nahezu »demokratische« Züge, waren Bauern und Adlige, Städter und Juden nach dem Eintritt doch vollkommen gleichberechtigt. 10 Ein derartiges Fazit wird man jedoch nicht nur in Polen ziehen können. 2. Delinquenz Wie in Westeuropa sahen sich auch die polnischen Kriminalitätshistoriker vor dem Dilemma, zu den städtischen Delikten weitaus bessere Quellen vorzufinden als zu den auf dem Dorf begangenen. Einen Sonderfall stellen allein die Straßenräuber dar, da sie in der Stadt vor Gericht standen, zumeist aber auf dem Land straffällig wurden. 299 mutmaßliche highwaymen hat Kamler nach ihrer sozialen Herkunft aufgeschlüsselt und dabei festgestellt, daß 50% aus dem Dorfe kamen, 42% aus der Stadt und 7% aus dem Adel. Verglichen mit der Zusammensetzung aller Angeklagten waren die Bauern unter den Straßenräubern deutlich überrepräsentiert (sonst 39%), desgleichen die Szlachta (sonst 2%). Angaben zum Beruf lagen in nur wenigen Beispielen vor, so bei entlassenen Soldaten (sieben Fälle), Schneidern (vier) oder Müllern (drei). Von Straßenräubern besonders frequentiert waren die von Kaufleuten befahrenen Überlandrouten etwa zwischen Posen und Schlesien, um entweder aus dem Hinterhalt loszuschlagen oder die Reisenden zu verfolgen und einzuholen. In aller Regel umfaßten die Banden um die fünf Mitglieder, die fast immer in Waffenbesitz waren und zur Einschüchterung der Opfer von ihren Pistolen auch gerne Gebrauch machten. Der »edelmütige Räuberhauptmann«, von dem Antoni Måczak für England und Italien spricht, 11 läßt sich zumindest in polnischen Akten nicht finden. Vielmehr wurde die überwiegende Zahl der Überfallenen vorsätzlich und grausam umgebracht. So gaben die von Kamler untersuchten 299 Räuber 310 Mordfälle zu. Stellt man die polnischen Daten ansatzweise in den europäischen Zusammenhang, so ist Kamlers These von einer höheren Gefährdung auf polnischen Landstraßen nicht ganz überzeugend. Vor dem Posener Stadtgericht stellten die Räuber 8% der Angeklagten, in Lublin 18% und in Krakau 11,8%. Demgegenüber verweist Kamler aufgrund der englischen Literatur für Straßenräuber in Essex, Herts und Sussex zwischen 1556 und 1625 auf einen Anteil von 3,4% an allen Angeklagten bzw. von 7,6% in Surrey (1660-1800). 194 Christoph Schmidt 10 Marcin Kamler: Õwiat przestøpczy w Polsce XVI i XVII stulecia (Die Welt des Verbrechens im Polen des 16. und 17. Jahrhunderts), Warszawa 1991, 189-97. 11 Antoni Måczak: Ëycie codzienne w podróîach po Europie w XVI i XVII wieku (Der Alltag auf europäischen Straßen im 16. und 17. Jahrhundert), Warszawa 1978, 179-81. Ein derartiger Prozentualvergleich liefert jedoch keinen ausreichenden Anhaltspunkt, um auf ein von West nach Ost ansteigendes Gewaltniveau zu schließen, weil so grundlegende Faktoren wie das Verhältnis der Überfälle zur Bevölkerungsdichte, die Variationsbreite des Begriffs »Raubüberfall« und die unterschiedliche Effizienz der Strafverfolgung nicht berücksichtigt werden. Im ersten russischen Strafgerichtshof, dem Moskauer Sysknoj Prikaz, lag der Anteil des Delikts Straßenraub ebenfalls bei nur 5,7% aller Anklagen (1730-1740). 12 Niemand wird hieraus jedoch den Schluß ziehen wollen, die russischen Landstraßen seien sicherer als die polnischen gewesen. Beschränkt man die Frage auf die städtische Kriminalität, werden die Aussagen merklich präziser. Auch die polnische Forschung ist zunächst den Weg über Lokalstudien gegangen, zu dem eine Alternative ja auch kaum denkbar ist. 13 In bemerkenswerter Weise zeigte die polnische Historiographie dabei eine Vorliebe für »alte« Städte wie Posen, Lublin, Krakau oder Lemberg, währenddessen »neue« Städte wie Danzig (1466 zur Krone) oder Warschau (1529 zur Krone) bislang fast übergangen wurden. Hierin mag sich die Tatsache widerspiegeln, daß die »alten« Städte eben auch eingewurzelte Justizorgane aufwiesen, allen voran den Oberhof in Polens alter Hauptstadt Krakau. In bewußter Anknüpfung an Ÿozi¢ski hat unlängst Andrzej Karpi¢ski aus den Lemberger Akten des 17. Jahrhunderts 560 Anklagen analysiert, davon 450 gegen Männer und 110 gegen Frauen. 45% der Delinquenten entstammten den Stadtständen, ein Drittel den Bauern und 20% der Szlachta. Die Berufsangaben fallen hier nicht so lückenhaft aus wie bei Kamlers Aufsatz zu den Straßenräubern: Karpi¢ski beziffert den Anteil der Handwerkerkinder auf 35%, den der Gesellen auf 23 bzw. den von Soldaten auf 25%. Diese Daten bedürfen jedoch eingehenderer Diskussion, als Karpi¢ski sie bietet; für sich genommen besagen sie wenig. 60% der erfaßten Straftaten machten die Eigentumsdelikte aus. Es ist nur zu bedauern, daß sich Karpi¢ski - obschon er einen vergleichsweise großen Zeitraum behandelt - mit einem statischen Blick auf die einzelnen Delikte begnügt. Wir erfahren daher nicht, ob die Eigentumsvergehen auch in Polen peu à peu zunahmen, die Gewalttaten aber zurückgingen, wie es im Zuge der langsamen Urbanisierung für das Paris oder Moskau des 18. Jahrhunderts dann beobachtet wurde. 145 Anklagen oder 23% entfielen auf die Schwerkriminalität gegen Leben und Gesundheit; hier lag der Anteil männlicher Straftäter mit 80% erstaunlicherweise niedriger als bei der Besitzkriminalität (87%). Karpi¢ski erklärt dies mit dem Kindsmord als »dem typisch weiblichen Delikt«. Mit 15 Fällen machten die Kindstötungen in Lemberg rund 10% der Schwerkriminalität aus. 14 Eine besondere Kategorie stellen schließlich die Kirchendiebstähle dar (34 Fälle insgesamt), ebenso die Anklagen wegen Hexerei (10) und wegen verschiedener Sittlichkeitsvergehen wie Prostitution 15 oder Bigamie (41). 16 195 Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz 12 J.S. Cockburn: The Nature and Incidence of Crime in England 1559-1625. A Preliminary Survey, in: J.S. Cockburn (Hg.): Crime in England 1550-1800. London 1977, 55; John M. Beattie: Crime and the Courts in England 1660-1800. Oxford 1986, 147. Zum Sysknoj Prikaz s. Christoph Schmidt: Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft 1649 bis 1785. Stuttgart 1996, 270-72. 13 Als ersten, nicht ganz befriedigenden Versuch einer Bilanz s. den Beitrag von Maria Bogucka: Law and Crime in Poland in Early Modern Times, in: Acta Poloniae Historica 71 (1995), 175-96. Die mittlerweile ans Tageslicht beförderten Daten werden kaum diskutiert. Dies gilt auch für das rechtsbzw. kriminalitätshistorische Kapitel in: Dies.: The Lost World of the »Sarmatians«. Custom as the Regulator of Polish Social Life in Early Modern Times. Warszawa 1996, 160-80. 14 Dabei waren die Mütter ausnahmslos ledige Hausbedienstete. Artikel 80 des Magdeburger Rechts (Krakauer Ausgabe von 1559) schrieb als Strafe die Verbrennung bei lebendigem Leibe vor, zusätzlich sollten die Verurteilten gepfählt werden. Vgl. Marcin Kamler: Infanticide in the Towns of the Kingdom of Poland in the Second Half of the 16th and the First Half of the 17th Century, in: Acta Poloniae Historica 58 (1988), 33-50. Woran es dem Aufsatz Karpi¢skis mangelt, ist die Bewertung dieser Befunde. Weitaus differenzierter erscheint hier Kamlers Untersuchung zu Posen, Lublin und Krakau, die allerdings auch auf einer größeren Aktengrundlage beruht. Insgesamt betrug der Anteil männlicher Adliger zwischen 1550 und 1650 bei allen Verurteilten 2,1%. Während im Durchschnitt 69% der angeklagten Männer wegen Diebstahls belangt wurden, waren es bei der Szlachta nur 52%. Andererseits wirkte sich das Privileg des wohlgeborenen Standes auf den Besitz von Waffen in einem deutlich höheren Anteil am Straßenraub aus (21,3% beim Adel gegenüber 11,9% im Durchschnitt aller Männer). Da den polnischen Juden zahlreiche Tätigkeitsfelder verwehrt waren, sie von den Magnaten aber gern als Kneipenpächter geschröpft wurden, 17 sahen sich Juden in überdurchschnittlichem Maße als Hehler bezichtigt. Bei den Schwerdelikten lag der jüdische Anteil dagegen außerordentlich niedrig. Frauen stellten 13% der männlichen Angeklagten, nach Stand und Ethnie traten dabei jedoch erhebliche Differenzen auf. Unter den Städtern umfaßte ihr Anteil 20%, bei den Bauern 7%, bei der Szlachta 21% und bei den Juden 6%. Bei den Männern entfielen rund 70% der registrierten Straftaten auf nur ein Delikt, den Diebstahl, während Hehlerei und Falschmünzerei mit weniger als 10% deutlich schwächer ins Gewicht fallen. Die Kriminalität der Frauen war dagegen nahezu gleichmäßig auf vier Tatbestände verteilt: Beihilfe, Diebstahl, Hehlerei und Unzucht. 18 3. Sanktion Für die Rechts- und Strafrechtsgeschichte haben polnische Juristen und Historiker auf Grundlage der Gesetze eine Vielzahl gediegener Untersuchungen und eine nahezu mustergültige Synthese vorgelegt, 19 auf dem Gebiet der Justizpraxis tut sich jedoch eine Lücke auf. Eher unfreiwillig deckt Jerzy Malec dieses Defizit auch in seinem unlängst erschienenen Überblick zur Geschichte der polnischen Polizei auf. Vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts begegnet uns das Wort »Policya« allein im Sinne der Politeia des Aristoteles; eine institutionelle Verdichtung, wie sie etwa den französischen maréchaussés vergleichbar wäre, blieb infolge des in Polen fehlenden Absolutismus bzw. der verfassungsrechtlichen Allmacht der Szlachta jedoch aus. Erst unter dem Eindruck der inneren Krise, die von den Teilungsmächten dann so rücksichtslos ausgenutzt wurde, setzte ein Umdenken zur Stärkung der Exekutive ein. Nach den Schatz- und Militärkommisionen von 1764 und der für Bildung 1773 schuf der Sejm 1775 als vierte ständige Verwaltungsbehörde den sogenannten Immerwährenden Rat mit fünf Departements, davon einem für Polizei. Über Organe in der Provinz verfügte das Departement nicht. Das über Jahr- 196 Christoph Schmidt 15 Prostitution war nur dann strafbar, wenn sie versteckt betrieben wurde. Vgl. Andrzej Karpi¢ski: La prostitution dans les grandes villes polonaises aux XVI e et XVII e siècles (Cracovie, Lublin, Pozna¢, Varsovie), in: Acta Poloniae Historica 59 (1989), 5-40. 16 Andrzej Karpi¢ski: PrzestøpczoÃÅ we Lwowie w ko¢cu XVI i w XVII wieku (Kriminalität in Lemberg am Ende des 16. und im 17. Jahrundert), in: Przeglåd Historyczny 87 (1996), 753-68. 17 Dazu jetzt Jacob Goldberg: Die jüdischen Gutspächter in Polen-Litauen und die Bauern im 17. und 18. Jahrhundert, in: Manfred Alexander (Hg.): Kleine Völker in der Geschichte Osteuropas, Stuttgart 1991, 13-21. Goldbergs Annahme, mehr als ein Viertel der jüdischen Bevölkerung Polen-Litauens habe dem Stand der Schenkenpächter angehört, erscheint jedoch als etwas überzogen. 18 Kamler: Õwiat (wie Fn. 10), 31. 19 Juliusz Bardach/ BogusÎaw LeÃnodorski/ MichaÎ Pietrzak: Historia pa¢stwa i prawa polskiego (Polnische Staats- und Rechtsgeschichte), Warszawa 1985. hunderte gewachsene Bollwerk der Gutsherrschaft als einer Form von Komplementärobrigkeit war so stark, daß noch die Verfassung vom 3. Mai 1791 - die erste geschriebene Europas - auf dem flachen Land die Vollzugskompetenz den Gutsbesitzern überließ. Auch als die Polizeibehörde ebenfalls 1791 zur eigenständigen Kommission aufgewertet wurde, war es den acht Intendanturen in der Provinz untersagt, in private Städte oder Dörfer einzugreifen. Damit hat die Gutsherrschaft die Entwicklung eines übergreifenden Polizeiwesens bis zum Ende der polnischen Adelsrepublik erfolgreich unterdrückt. 20 Aufgrund dieser Eigenheiten der polnischen Verfassungsgeschichte hat sich die polnische Historiographie kaum mit der Polizei, sondern zumeist mit der kommunalen Strafjustiz befaßt. Zur Rechtsprechung der königlichen Tribunale über den Adel, des Hetmans im Heer sowie über die Patrimonialgerichtsbarkeit auf den Gütern können wir bislang keine triftige Aussage machen. Besser steht es um die Städte. Als Grundlage der Urteile zumal in Posen, Lublin oder Krakau diente das Magdeburger Recht oder Speculum Saxonum, 1582 von PaweÎ Szczerbic aus dem Lateinischen ins Polnische übersetzt. Auch hierzu hat Marcin Kamler unlängst eine bemerkenswerte Studie erarbeitet, die auf 1.126 Sprüchen aus Posen, 161 aus Lublin sowie auf 506 Urteilen aus Krakau zwischen 1550 und 1635 beruht. Dabei schwankte der Anteil verurteilter Frauen zwischen elf (Lublin) und 27% (Posen). Vor der Verhängung der Todesstrafe zeigten die Richter dabei wenig Scheu. Bei Männern wurde sie in 54% aller Fälle befohlen, bei Frauen in 25. Mutmaßliche Mörder, Brandstifter und Sodomiten knüpfte man ohne Ausnahme auf, Räuber zu 91%, Kirchenfrevler zu 74 und Diebe zu 47%. Kindsmörderinnen wurden verbrannt. 21 Wieviele dieser Hinrichtungen auf einem unter Folter erpreßten Geständnis beruhen, ist neuerdings umstritten. 1979 hatte Witold Maisel einen Wert von 12% aller Angeklagten angenommen, die in Posen vom 16. bis 18. Jahrhundert peinlich verhört worden seien. Grundlage für die Anwendung der Folter war der Sejmbeschluß von 1532, demzufolge die Constitutio Criminalis Carolina auch für Polen Rechtskraft erhielt. Eine polnische Fassung brachte Bartholomäus Groicki 1559 in Krakau heraus. In einer sehr lesenswerten Untersuchung zum Beruf des Henkers in Polen hat Hanna Zaremska die These Maisels 1986 angezweifelt; vielmehr sprach sie von einer minimalen Bedeutung, die dem Geständnis und der Zeugenaussage gegenüber der Folterung zugekommen sei. 22 Kamlers Studium der städtischen Quellen hat auch hier neues Material zutage gefördert, das zunächst erhebliche regionale Abweichungen beim Gebrauch der Folter belegt. In Posen gestanden 7% der Angeklagten unter Tortur, in Lublin 62 und in Krakau 26%. Eine Korrelation zwischen der Anwendung der Folter und der Todesstrafe bestand nicht. In Posen wurden 53% der Belangten gehenkt, in Lublin 74 und in der alten Uni- 197 Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz 20 Jerzy Malec: Policey im frühneuzeitlichen Polen: Gesetzgebung und Literatur, in: Michael Stolleis (Hg.): Policey im Europa der Frühen Neuzeit, Frankfurt/ M. 1996, 407-19. 21 Marcin Kamler: Penalties for Common Crimes in Polish Towns 1550-1650, in: Acta Poloniae Historica 71 (1995), 161-74. Vgl. die vorangehende Studie von Hubert Ÿaszkiewicz: Kary wymierzone przez såd miejski w Lublinie w drugiej poÎowie XVII wieku (Die vom Lubliner Stadtgericht in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verhängten Strafen), in: Czasopismo prawno-historyczne 41, 1998, Heft 2, 139-51. Die Aufschlüsselung nach Delikten fällt hier teilweise genauer als bei Kamler aus. 22 Witold Maisel: Tortury w praktyce sådu kryminalnego miasto Poznania w wiekach XVI-XVIII (Die Folter in der Gerichtspraxis der Stadt Posen vom 16. bis 18. Jahrhundert), in: Studia i MateriaÎy do Dziejów Wielkopolski i Pomorza 13 (1979), 115-25; Hanna Zaremska: Niegodne rzemiosÎo. Kat w spoÎeczenstwie Polski XIV-XVI w. (Das unehrenhafte Handwerk. Der Henker in der polnischen Gesellschaft vom 14. bis 16. Jahrhundert), Warszawa 1986. Vgl. zum Hintergrund Maria Bogucka: Les origines de la pensée pénitentiaire moderne en Pologne du XVII e siècle, in: Acta Poloniae Historica 56 (1987), 19-28. versitätsstadt Krakau, wo man der Folter ja so argwöhnisch gegenüberstand, 89% der Angeklagten. Kamler begründet diese hohe Hinrichtungsquote Krakaus damit, daß sich dort anders als im kleineren Posen ein Zentrum professioneller Kriminalität entwickelt habe. Die Sonderstellung Lublins beruhe auf einem Quellenfehler, da Akten zur leichten Kriminalität dort nicht durchweg überliefert worden seien. Kamler stimmt Maisel damit zu, daß in Posen nur etwa jeder zehnte strafrechtlich Angeklagte peinlich verhört worden sei. Für Polen als ganzes - so wäre Kamler entgegenzuhalten - ist Posen aber kaum typisch. 23 4. Spezifika Vor den Augen der Historiker kann die polnische Justiz offenbar nicht auf Milde hoffen. Zumindest hat Maria Bogucka unlängst das Verdikt gefällt, nach dem Recht und Gericht zu den dunkelsten Flecken in der Geschichte des alten Polen zu zählen seien. In einer Zeit, in der westeuropäische Nationen das harte, aber fruchtbare »Training« des Absolutismus durchlaufen hätten, habe sich Polen an ein gesetzloses Dasein gewöhnt. 24 Obwohl auch Kamlers These von der höheren Überfallsgefahr auf polnischen Landstraßen zu diesem Urteil zu passen scheint, fügt Bogucka doch zwei unvereinbare Dinge zusammen. Das eine ist die bis zum Überdruß wiederholte Absicht der sogenannten Sozialdisziplinierung, die Gerhard Oestreich unseligerweise allein auf Westeuropa bezogen hat, obwohl es ein leichtes wäre, derartige Vorsätze auch für Polen, Schwedisch-Livland oder den Zarenstaat zu belegen. Von diesen Vorsätzen jedoch auf das Erreichte zu schließen, wie es Maria Bogucka tut, käme der Kapitulation des Historikers gleich. Für Polen dagegen legt die Warschauer Historikerin anders als für den Westen nicht den Maßstab des de jure-Verlangten an, sondern den des de facto-Dokumentierten. Auf derartige Weise kann man die Frage nach den polnischen Charakteristika wohl kaum beantworten. Plausibler erscheint es dagegen, bei den sozialhistorischen Voraussetzungen der polnischen Adelsrepublik anzusetzen. Durch das Fehlen jeglicher Matrikel wuchs die Szlachta zu einem auch zahlenmäßig imponierenden Stande heran, der rund ein Zehntel der Gesamtbevölkerung ausmachte. In Masowien lag ihr Prozentsatz noch darüber. Es klingt daher nicht überraschend, daß der polnische Adel mit Zunahme der sozialen Differenzierung auch in der Kriminalstatistik überdurchschnittlich häufig vertreten war: Unter den angeklagten Straßenräubern stellte die Szlachta 21,3%, unter den Gefolterten sogar 36%. Kein Spezifikum, aber ein Unterschied zu Westeuropa ergibt sich aus der Leibeigenschaft. Wie in den norddeutschen Kolonisationsgebieten und in Rußland erzwang der Adel seit dem 15. Jahrhundert auch in Polen eine Spaltung der Rechtssphäre in enge hoheitliche und ausgedehnte private Zuständigkeit, so daß der Landesherr die Mehrzahl der Bauern an die Ritter auslieferte. In Norddeutschland und Polen blieb die Präsenz des Landesherrn auf dem Dorf zumindest latent erhalten, indem bevorzugte bäuerliche Kategorien auch weiterhin Zugang zum öffentlichen Justizwesen hatten. Im Zarenstaat setzte dagegen eine vollständige Verdrängung der Autokratie aus den Dörfern ein, die Zentraljustiz kam hier generell zum Erliegen. Polen kann somit in gar keiner Weise als 198 Christoph Schmidt 23 Marcin Kamler: The Role of Torture in Polish Municipal Judicature in the Second Half of the 16th and the First Half of the 17th Century, in: Acta Poloniae Historica 66 (1992), 53-74. 24 Bogucka: Law and Crime (wie Fn. 13), 195. typisch für Osteuropa gelten: Während institutionelle Formen der Konfliktbeilegung in Polen immerhin in Erinnerung blieben, erlebte Rußland eine Entrechtung der Leibeigenen sondergleichen. Nicht zuletzt deshalb wurde allein der Zarenstaat durch große Bauernaufstände erschüttert. Über soziale Wirklichkeiten sagt der polnische Justizapparat also deutlich mehr aus als der russische. 25 Dennoch ist unverkennbar, daß die Leibeigenschaft auch in ihrer polnischen Ausprägung der Gesellschaft ein beträchtliches Konfliktpotential beschert hat, das der Kriminalitätsgeschichte mit zugrunde lag. 26 Hieraus speiste sich nicht zuletzt die Fluchtbewegung. Gerade für das südöstliche Polen und die Rekrutierung der Kosaken hatte sie erheblich größere Bedeutung als im Rahmen der deutschen Landesgeschichte. Ein vergleichender Blick auf die Läuflingsbewegungen Ostmittel- und Osteuropas steht allerdings noch aus. Schon jetzt läßt sich aber erkennen, daß das östliche Europa eigene Widerstandsformen hervorgebracht hat, die als »Kriminalität« nicht adäquat zu beschreiben sind, unterhielten die Kosaken doch sowohl zu Polen als auch zu Rußland offizielle Beziehungen, auch um das Vergehen der Flucht von offizieller Seite legalisieren zu lassen. Das wohl schwerwiegendste Defizit besteht wohl im Hinblick auf die Frage, welche Reichweite das in Europa einmalige Herrschaftssystem der polnischen Adelsrepublik ausgeübt hat. Maria Boguckas Pauschalanklage ist schon deshalb verfehlt, weil die föderale Struktur Polens mit seinen adligen Landtagen oder Sejmiki durchaus in der Lage war, sozialdisziplinierende Initiativen zu ergreifen. Bei der Erforschung dieser Sejmiki hat sich die Forschung bisher in einseitiger Weise von politikhistorischen Fragen leiten lassen. Immerhin ergibt sich an dieser Stelle, daß die polnische Verfassung dem Kriminalitätshistoriker gerade zur Erforschung der Peripherie erhebliche Quellen anbietet. In welchem Maße die polnischen Städte Spezifika geliefert haben, ist generell fraglich, besonders für die protestantisch regierten im Königlichen Preußen wie Danzig, Elbing und Thorn. Hier ließe sich polnische Geschichte anhand deutschsprachiger Akten erforschen - ein Umstand, den sich auch die westliche Kriminalitätsforschung zunutze machen sollte. Alles in allem kann man das Fazit ziehen, daß die polnischen Historiker ihrer traditionellen Pionierrolle auch auf dem Feld der Kriminalitätsgeschichte gerecht wurden, ihre Quellen bislang aber erst ansatzweise erschöpft haben. Die »Entzifferung Europas«, betrieben durch die Ökumene der Historiker, steckt somit auch in dieser Frage noch in den Anfängen. 199 Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz 25 Hinzu kommt, daß Polen im Hinblick auf rechtshistorische Forschungen ein hohes Maß an Kontinuität aufweist. Dagegen wurde die Disziplin Russische Rechtsgeschichte nach 1917 kaum noch betrieben. Vgl. dazu den Forschungsbericht von Christoph Schmidt: Spaltung der Rechtskultur? Neuansätze zur Erforschung der russischen Rechtsgeschichte (16. bis 18. Jahrhundert), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43 (1995), 482-92. 26 Vgl. etwa Janusz Tazbir: Okrucie¢stwo w nowoîytnej Europie (Die Grausamkeit im Europa der Neuzeit), Warszawa 1993, 108-19. Daß die Verrechtlichung sozialer Konflikte von West nach Ost abnahm, die Gewaltsamkeit der bäuerlichen Renitenz sich aber verstärkte, dürfte kaum bezweifelbar sein. Zur Eskalationsspirale bei den Widerstandsformen Leibeigener zwischen Mecklenburg und Moskau Christoph Schmidt: Leibeigenschaft im Ostseeraum. Versuch einer Typologie, Köln 1997, 82-104. Bibliographie Maurice Aymard (Hg.): Biedni i bogaci. Studia z dziejów spolecze¢stwa i kultury (Arme und Reiche. Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte). Warszawa 1992. Bohdan Baranowski: Ludzie goÃci¢ca w XVII - XVIII w. (Fahrendes Volk im 17. und 18. Jahrhundert). ŸódÏ 1986. Juliusz Bardach, BogusÎaw LeÃnodorski, MichaÎ Pietrzak: Historia pa¢stwa i prawa polskiego (Polnische Staats- und Rechtsgeschichte). Warszawa 1985. John M. Beattie: Crime and the Courts in England 1660 - 1800. Oxford 1986. Maria Bogucka: Law and Crime in Poland in Early Modern Times, in: Acta Poloniae Historica 71 (1995), 175 - 96. Dies.: Les origines de la pensée pénitentiaire moderne en Pologne du XVII e siècle, in: Acta Poloniae Historica 56 (1987), 19 - 28. Dies.: The Lost World of the »Sarmatians«. Custom as the Regulator of Polish Social Life in Early Modern Times. Warszawa 1996. Jan StanisÎaw Bystro¢: Dzieje obyczajów w dawnej Polsce wiek XVI - XVIII (Kulturgeschichte des alten Polen vom 16. bis 18. Jahrhundert), 2 Bde. Nd. Warszawa 1994. J.S. Cockburn: The Nature and Incidence of Crime in England 1559 - 1625. A Preliminary Survey, in: J.S. Cockburn (Hg.): Crime in England 1550 - 1800. London 1977. MirosÎaw FranciÅ: Ludzie luÏni w osiemnastowiecznym Krakowie (Die Homines vagi im Krakau des 18. Jahrhunderts). Warszawa 1967. BronisÎaw Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München 1988. Ders.: Les marginaux parisiens aux XIV e et XV e siècles. Paris 1976. Ders.: Truands et misérables dans l’Europe moderne. Paris 1980. Ders.: PrzestøpczoÃÅ a ÃwiadomoÃÅ spoÎeczna we wczesnonowoîytnej Europie (Kriminalität und soziales Bewußtsein im frühneuzeitlichen Europa), in: Antoni Måczak (Hg.): Europa i Ãwiat w poczåtkach epoki nowoîytnej (Europa und die Welt zu Beginn der Moderne). Warszawa 1991, 39 - 67. Jacob Goldberg: Die jüdischen Gutspächter in Polen-Litauen und die Bauern im 17. und 18. Jahrhundert, in: Manfred Alexander (Hg.): Kleine Völker in der Geschichte Osteuropas. Stuttgart 1991, 13 - 21. Zenon Guldon, Jacek Wijaczka: Procesy o mordy ritualne w Polsce w XVI - XVIII wieku (Ritualmordprozesse in Polen vom 16. bis 18. Jahrhundert). Kielce 1995. StanisÎaw Grodziski: Ludzie luÏni. Studium z historii pa¢stwa i prawa polskiego (Homines vagi. Eine Studie zur Staats- und Rechtsgeschichte Polens). Kraków 1961. Marcin Kamler: Infanticide in the Towns of the Kingdom of Poland in the Second Half of the 16th and the First Half of the 17th Century, in: Acta Poloniae Historica 58 (1988), 33 - 50. 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Theoretische Perspektiven 205 Andrea Griesebner, Monika Mommertz Fragile Liebschaften? Methodologische Anmerkungen zum Verhältnis zwischen historischer Kriminalitätsforschung und Geschlechtergeschichte Noch zu Beginn der neunziger Jahre kritisierte Robert Jütte die deutschsprachige Geschichtswissenschaft wegen ihrer Ignoranz gegenüber andernorts längst in Angriff genommenen Fragen nach geschlechtsspezifischer Kriminalität im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. 1 Nur acht Jahre später hat sich das Bild verschoben. Wie ein Blick in historische Fachzeitschriften und kriminalitätsgeschichtliche Sammelbände zeigt, befaßten sich seitdem zahlreiche Studien mit »weiblicher Kriminalität«, »weiblicher Delinquenz«, »weiblicher Devianz« oder mit »Frauen vor Gericht«. Auch liegt ein erster Sammelband zu Geschlecht und Kriminalität vor. 2 Wenigstens für jüngere Generationen sozial- oder kulturgeschichtlich arbeitender KriminalitätshistorikerInnen scheint die Kategorie Geschlecht zum Handwerkszeug zu gehören; wer nicht wenigstens ›einen Blick‹ auf Frauen einzuarbeiten versteht, muß auf den Tagungen der Zunft mit Befremden oder gar mit ›peinlicher Befragung‹ durch KollegInnen rechnen. Für diese im Vergleich zu anderen historischen Forschungsschwerpunkten bemerkenswerte Aufmerksamkeit sind mehrere Momente auszumachen. Im deutschsprachigen Raum ist die historische Kriminalitätsforschung ein sehr junges Forschungsfeld, an dessen Ausgestaltung an Frauen- und Geschlechtergeschichte interessierte HistorikerInnen nicht unwesentlich beteiligt waren. Gilt das Forschungsinteresse semi-oralen bzw. illiteraten Gesellschaften, so verbindet Historische Kriminalitätsforschung und Frauen- und Geschlechtergeschichte nicht zuletzt das gemeinsame Interesse an den im Kontext obrigkeitlicher Verfolgung produzierten Texten. Bei genauerer Betrachtung erweist sich allerdings, wie ungleichzeitig bzw. ausgesprochen selektiv Diskussionsprozesse und Thesen der Frauen- und Geschlechtergeschichte im Feld der historischen Kriminalitätsforschung rezipiert wurden und werden. Die Rezeptions- und Gedankenarbeit ist unserer Beobachtung nach ziemlich disparat verteilt: Während in einigen Ecken des ›kriminellen‹ Wissenschaftsfeldes selbst die für die ersten Anfänge feministischer Geschichtsforschung charakteristischen Axiome einer Kritik der androzentrischen Vernunft noch kaum angekommen sind, wird in anderen Ecken längst über die durchaus nicht unproblematischen Implikationen und Begrenzungen des Sex-Gender-Konzepts nachgedacht. Wie facettenreich der Forschungsstand ist, der sich unter den Stichworten Frauen/ Geschlecht/ Kriminalität ansiedeln läßt, kann an vielen Orten, nicht zuletzt auch in 1 Robert Jütte: Geschlechtsspezifische Kriminalität im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte (Germ. Abt.) Heft 108/ 1991, 86 - 115, hier: 91. 2 Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 206 verschiedenen Beiträgen dieses Sammelbandes nachgelesen werden. 3 In unserem Beitrag wollen wir den Schwerpunkt daher auf methodologische und theoretische Fragen legen. In einem ersten Abschnitt sollen die kritischen Stimmen zur Verwendung der Kategorie Geschlecht durch historische KriminalitätsforscherInnen gebündelt werden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil in neueren ›allgemeinen‹ Forschungsüberblicken zwar auf geschlechtergeschichtliche Studien Bezug genommen wird, die aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung formulierten methodologischen Bedenken gegenüber gängigen Methoden bzw. Vorannahmen der historischen Kriminalitätsforschung hingegen gänzlich ausgespart bleiben. 4 Die Einwände wie die daraus abgeleiteten Postulate der SkeptikerInnen speisen sich aus einer theoretisch informierten Reflexion empirischer Befunde. Will sich die historische Kriminalitätsforschung den Anschluß an neuere Entwicklungen der Geschichtswissenschaft nicht versperren, so sollte sie unseres Erachtens die Erkenntnisse der ›Gender Studies‹ nicht ausklammern. In einem zweiten Schritt wollen wir deshalb auf die - in weiten Teilen der historischen Kriminalitätsforschung unbeachtet gebliebenen - Gender-Debatten aufmerksam machen und damit einhergehende grundlegende theoretische Positionsverschiebungen umreißen. Dabei ist über das historiographische Feld hinauszugreifen, denn gewissermaßen traditionell hat sich die überwiegend unter feministischen Vorzeichen betriebene Reflexion der Kategorie Geschlecht in den Zwischenräumen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen abgespielt. Wenn wir im letzten Teil unseres Beitrags den Bogen zu methodologischen Überlegungen aus unseren eigenen Forschungen spannen, so geschieht dies in der Absicht, exemplarisch einige von sicherlich vielen Möglichkeiten zu skizzieren, wie diese Gender-Debatten für das wissenschaftliche Nachdenken produktiv gemacht werden können. Kritische Stimmen Würde man aus den bislang vorliegenden kritschen Beiträgen zu ›Geschlecht‹ und ›Kriminalität‹ eine Problemliste erstellen, so müßte wohl der allzu unbefangene Umgang mit statistisch erhobenen Daten an erster Stelle stehen. Schon früh setzten Susanna Burghartz und Michaela Hohkamp einer geschlechtsspezifischen Quantifizierung ihre Beobachtung entgegen, daß in ›vormodernen‹ Gesellschaften die Gerichte in aller Regel kein »Ort für Frauen« waren. 5 Nimmt man hinzu, daß in der Frühen Neuzeit die Gerichtsherrschaft regional sehr unterschiedlichen Spielregeln gehorchte, so ist zu bezweifeln, ob sich aus einer numerischen Erfassung der DelinquentInnen brauchbare Aussagen 3 Neben den Beiträgen dieses Bandes vgl. exemplarisch auch die Forschungsüberblicke von Claudia Ulbrich: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« in der Frühen Neuzeit. Kritische Bemerkungen zum Forschungsstand, in: Martina Althoff/ Sabine Kappel (Hg.): Geschlechterverhältnis und Kriminologie (=Kriminologisches Journal/ 5. Beiheft 1995), Weinheim 1995, 208-220; Susanna Burghartz: ›Geschlecht‹ und ›Kriminalität‹ - ein ›fruchtbares‹ Verhältnis? , in: Rudolf Jaun/ Brigitte Studer (Hg.): weiblich - männlich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz: Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken (Originaltitel: féminin - masculin. Rapports sociaux de sexes en Suisse: législation, discours, pratiques. Zürich 1995, 23-31); Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität« in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2), 39-62 und Otto Ulbricht: Einleitung, in: ders. (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2), 1-37. 4 Vgl. exemplarisch Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift Heft 263/ 1996, 681 - 715. Fragile Liebschaften? 207 über eine ›geschlechtsspezifische Kriminalität‹ gewinnen lassen. Spätestens wenn es um überregionale oder über längere Zeiträume reichende Vergleiche geht, lassen sich die unterschiedlichen Entstehungskontexte der einzelnen Datensätze kaum mehr in die Analyse der Zahlenreihen miteinbeziehen. Zu denken ist hier sowohl an justizinterne Faktoren - an die Divergenz der Normensysteme und Strafverfahrensweisen, die unterschiedliche Effizienz der Strafverfolgung, die komplexen Auswirkungen von Regelungen, die den Zugang zu Rechtsinstanzen bestimmten - als auch an die Bandbreite der jeweils konkreten sozialen und kulturellen Bedingungen, die in die Entscheidungen einflossen, wer für welche Handlung vor Gericht zitiert wurde. 6 Mit verschiedenen Argumenten wurde unterstrichen, daß Kriminalstatistiken Ergebnisse geschlechtsspezifischer Zuschreibungen enthalten. Heide Wunder etwa betonte die produktive Wirkung von Geschlechterstereotypen sowohl für die ›Herstellung‹ wie für die Verfolgung von Kriminalität. Von der These ausgehend, daß die ZeitgenossInnen die Fähigkeit, die gesellschaftliche Ordnung zu gefährden, in bestimmten Bereichen eher Frauen, in anderen eher Männern zuschrieben, forderte sie, die Kriminalität von Frauen im Kontext sozialer Ungleichheit der Geschlechter zu analysieren. 7 Auf einen anderen für die Datenerhebung ebenfalls ausschlaggebenden Punkt machte Ulrike Gleixner aufmerksam, die am Beispiel von ›Unzuchts‹verfahren zeigte, wie gerade im richterlichen Verhör Geschlechterkonzepte entworfen wurden, die der Komplexität der ökonomischen und sozialen Beziehungen entgegenstanden, aus denen heraus KlägerInnen und Beklagte vor Gericht traten oder zitiert wurden. 8 Nicht zuletzt gilt es, recht einfach erscheinende Quellenprobleme zu beachten: Wie Gerd Schwerhoff anmerkt, unterscheiden historische Statistiken meist nicht zwischen Verhafteten und Verurteilten und sind schon allein aus diesem Grund für geschlechtsspezifische Vergleiche ungeeignet. 9 Auch berücksichtigen weder zeitgenössische noch historische Kriminalstatistiken, daß die DelinquentInnen sich oft wegen mehrerer ›Delikte‹ gerichtlich zu verantworten hatten. Dem »befremdlichen Statistikfetischismus« mancher historischer KriminalitätsforscherInnen hielt u.a. Claudia Ulbrich entgegen, erst jene quantitativen Befunde zu erzeugen, die scheinbar objektiv belegen, daß Frauen mit dem Strafrecht weniger oft in Konflikt kamen als Männer. Derart zustandegekommene Forschungsergebnisse führten vorschnell zur These einer jenseits aller Kultur und Geschichte »friedfertigen Frau«, eine These, welche nahtlos in gegenwärtig wirkungsmächtige Geschlechterstereotypen paßt. 10 5 Susanna Burghartz: Kein Ort für Frauen? Städtische Gerichte im Spätmittelalter, in: Bea Lundt (Hg.): Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991, 49 - 64; Michaela Hohkamp: »Auf so ein erlogenes Maul gehört eine Maultaschen«. Weibliche Gegen-Gewalt. Ein Fallbeipiel aus dem Schwarzwald des 18. Jahrhunderts, in: Werkstatt Geschichte, 2. Jg./ Heft 4/ 1993, 9 - 19 sowie dieselbe: Häusliche Gewalt. Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes im 18. Jahrhundert, in: Thomas Lindenberger/ Alf Lüdtke (Hg.): Physische Gewalt. Historische Studien zu einer verschwiegenen Kontinuität, Frankfurt am Main 1995, 276 - 302. 6 Vgl. dazu auch Claudia Ulbrich: Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2), 281 - 312, hier: 282. 7 Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität« (wie Anm. 3) 8 Ulrike Gleixner: ›Das Mensch‹ und ›der Kerl‹. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700 - 1760), Frankfurt am Main/ New York 1994 sowie dies.: Geschlechterdifferenzen und die Faktizität des Fiktionalen. Zur Dekonstruktion frühneuzeitlicher Verhörprotokolle, in: Werkstatt Geschichte, 4. Jg./ Heft 11/ 1995, 65 - 70. 9 Gert Schwerhoff: Geschlechtsspezifische Kriminalität im frühneuzeitlichen Köln, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2) , 83 - 115. 10 Claudia Ulbrich: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« (wie Anm. 3), 208. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 208 Trotz der relativen Offenheit für geschlechtergeschichtliche Fragestellungen läßt sich für das Gros der kriminalitätshistorischen Arbeiten konstatieren, daß auch hier Geschlecht nicht als analytische Kategorie genutzt wurde, sondern meist als bloßes Synonym für ›Frauen‹ 11 Verwendung fand. Es verwundert deshalb nicht, daß ›Männer‹ oder ›Männlichkeit‹ als Problemstellung noch kaum in den Blick genommen werden. 12 Nach wie vor haben Studien, die ihre Beobachtungen an männlichen ›Objekten‹ nonchalant zu übergreifenden Aussagen wie beispielsweise zur Kriminalitätsentwicklung in der Frühen Neuzeit verarbeiten, weder an Attraktivität noch an wissenschaftlicher Legitimität verloren. Wo aber lediglich Frauen als geschlechtliche Individuen wahrgenommen werden, muß folgerichtig die Kriminalität von Männern als allgemeine, die Kriminalität von Frauen dagegen als abweichende Kriminalität konstruiert werden. Wie Susanna Burghartz hervorhob, haben diese Konzeptionen die Kriminalität von Frauen »zu einem bevorzugten Thema kriminalbiologischer und kriminalanthropologischer Theoretiker gemacht.« 13 In Distanz zu einer normativ ausgerichteten und an »dem Kriminellen« orientierten traditionellen Rechtsgeschichte bevorzugen die ›jüngeren‹ VertreterInnen der historischen Kriminalitätsforschung bekanntlich das ›weichere‹ und zugleich zur soziologischen Kriminologie hin offene Konzept des »abweichenden Verhaltens«. 14 Frauen- und GeschlechterforscherInnen griffen das Devianz-Konzept unter anderem deshalb auf, weil es biologistische Erklärungsansätze der ›Frauenkriminalität‹ zu überwinden versprach und zugleich die Annahme eines universellen Konsenses über Normen und Werte in Frage stellte. Damit wurde es möglich, nach den spezifischen Konstruktionen von Kriminalität und den ihnen zugrundeliegenden geschlechtsspezifischen Festschreibungen zu fragen. 15 Nimmt man dieses Konzept etwas genauer unter die Lupe, so zeigt sich jedoch, daß die programmatische Festlegung auf abweichendes Verhalten auch gewichtige Nachteile mit sich bringt. Gewissermaßen konzeptionell verfehlt eine über den Gegenstand Devianz zusammengehaltene historische Kriminalitätsforschung eines ihrer formulierten Ziele, nämlich in »Menschen vergangener Tage nicht allein Objekte obrigkeitlicher Disziplinierung«, sondern »eigenwillige Subjekte« sehen zu wollen. 16 Im Begriff des abweichenden Verhaltens mischen sich regelmäßig analytischer Anspruch und die in Gerichtsquellen vorgezeichnete Perspektive auf das Verhalten frühneuzeitlicher Frauen und Männer: Was sich im Rahmen der einschlägigen Akten als Devianz jeweils ermitteln läßt, wurde eben nicht bloß »durch die verfolgenden Instanzen - Polizei, Justizapparat und Gerichte - registriert, bewertet und sanktioniert« 17 , sondern auch in der Praxis dieser Institutionen erzeugt. Obwohl VertreterInnen des Devianz-Ansatzes durch- 11 Diesen Aspekt heben vor allem Claudia Ulbrich: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« (wie Anm. 3), 212 sowie Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität« (wie Anm. 3) hervor, auf Implikationen ist weiter unten noch einzugehen. 12 Als eine der wenigen Ausnahmen vgl. Brigitte Rath: »(...) und wolt das Schwert durch in stossen.« Zur physischen Gewalt in Südtirol um 1500, in: L'Homme. Z.F.G. 7. Jg./ Heft 2/ 1996, 56 - 69. 13 Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität« (wie Anm. 3), 23ff. 14 Trotz ihrer Distanz zum Konzept der »weiblichen Kriminalität« setzt z.B. auch Heide Wunder explizit auf das Konzept des »abweichenden Verhaltens«, vgl. dies.: »Weibliche Kriminalität« (wie Anm. 3). 15 Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität« (wie Anm. 3), 27. 16 Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung. Band 19/ Heft 4/ 1992, 385 - 414, hier: 413. 17 Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität« (wie Anm. 3), 42. Fragile Liebschaften? 209 aus auf diese Problematik zu sprechen kommen, werden die Konsequenzen für die Bestimmung des Untersuchungsgegenstands oft nicht mitbedacht: Da das in Gerichtsquellen sichtbare Verhalten vorweg als deviant qualifiziert wird, ist quasi definitorisch ausgegrenzt, daß dem vor Gericht verhandelten und damit immer schon auf spezifische Weise präsentierten Verhalten im Kontext anderer sozialer Institutionen oder Handlungsfelder ein radikal anderer »sozialer Sinn« zukommen könnte. 18 Unberücksichtigt bleibt, daß die in Gerichtsakten als deviant wahrnehmbaren Handlungen eng an die verfolgten Individuen gebunden sind, identische Handlungen von anderen Individuen nicht per se ebenfalls als deviant bewertet wurden. Funktionieren Gerichtsquellen also bereits aus ihrem Entstehungshintergrund als hochgradige Filter sozialer Wirklichkeit, so wird mit der programmatischen Ausrichtung auf Devianz im nachhinein ein weiterer Filter vor die Erkenntnis sozialer wie kultureller Bedeutungen der in Justizakten zugänglichen Handlungs- und Verhaltensweisen geschoben. Dem entgeht auch ein um den »labeling-approach« erweiteter Devianzbegriff nicht grundsätzlich: Wenngleich damit zurecht angeregt wird, abweichendes Verhalten als Ergebnis von »Etikettierungsprozessen« 19 zu begreifen, die bereits im sozialen Umfeld der vor Gericht zitierten Personen zu untersuchen sind, schwenkt auch der »labeling-approach« wieder auf Devianz als eigentliches Untersuchungsfeld ein: Das wechselseitige Verhältnis zwischen DelinquentInnen und anderen in den Quellen greifbaren Personen interessiert primär, wenn nicht ausschließlich aus der Perspektive jener Prozesse, in denen das Etikett deviant einer Handlung bzw. den handelnden Personen aufgedrückt wird. 20 Für die wissenschaftliche Wahrnehmung von Geschlecht wirkt sich dies in doppelter Weise aus: Vor dem Hintergrund der im allgemeinen geringen Sichtbarkeit von Frauen in der vormodernen Überlieferung gerät das als deviant kenntlich gemachte Handeln von Frauen unversehens zum einzig möglichen - oder aber zum ›weiblichen‹ Verhalten schlechthin: Gemessen an jenem von Männern muß dieses fast zwangsläufig als »defizitär« registriert werden. 21 Wer solchen Kurzschlüssen entgegenarbeiten möchte, darf sich unseres Erachtens nicht durch eine einseitige Ausrichtung auf abweichendes Verhalten die Chance vergeben, Gerichtsquellen systematisch zur Re-Konstruktion von Lebenswelten, Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungsmustern historischer Frauen bzw. Männer zu nutzen - etwa indem die Akten auch als »Ego-Dokumente« begriffen werden. 22 Aus der Sicht der Geschlechterforschung scheinen darüber hinaus auch einige methodisch- 18 Vgl. dazu Monika Mommertz: Handeln, Bedeuten, Geschlecht. Konfliktaustragungspraktiken in der ländlichen Gesellschaft der Mark Brandenburg (Zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum Dreißigjährigen Krieg), unveröffentlichte Dissertation, Europäisches Hochschulinstitut Florenz 1997. 19 Gerd Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 16), 396. 20 Ebd., 396. 21 Auf den Effekt, daß die Suche nach »weiblicher Kriminalität« nicht selten diese als »Sonderfall« der selbstredend als männlich gedachten Kriminalität hervorbringt, verweist Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität« (wie Anm. 3). Claudia Ulbrich hebt hervor, daß ein »unreflektiertes Sichtbarmachen ›weiblicher Kriminalität‹ keineswegs eine harmlose Ergänzung des Forschungsstandes« ist, sondern im Gegenteil die Gefahr berge, »tradierte Vorstellungen von Weiblichkeit festzuschreiben und damit zu einer erneuten Verdrängung von Frauen beizutragen«. Dies.: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« (wie Anm. 3), 217. Mit dem ›Devianz-Konzept‹ wird dieses Problem nur auf eine andere Ebene verschoben. 22 Vgl. dazu Claudia Ulbrich: Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 207 - 226. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 210 theoretische Horizontverschiebungen angebracht. Um diese auch für LeserInnen, die mit den Gender-Debatten der letzten Jahrzehnte weniger vertraut sind, nachvollziehbar zu machen, sollen zunächst - und in aller gebotenen Kürze - einige der wichtigsten Entwicklungslinien nachgezeichnet werden. Geschlecht als analytische Kategorie Die überwiegend unter feministischen Vorzeichen betriebene Reflexion der Kategorie Geschlecht hat seit ihren Anfängen in den siebziger Jahren die nationalen wie disziplinären, aber auch die akademischen Diskussionsräume überschritten. Die von US-amerikanischen Theoretikerinnen vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Sex (biologisches/ anatomisches Geschlecht) und Gender (soziales/ kulturelles Geschlecht) 23 rief international breite Resonanz hervor und fand rasch Eingang in die deutschsprachige Forschung. Der entscheidende Vorteil der analytischen Trennung von Sex und Gender lag in der Möglichkeit, die in der Vergangenheit vorgefundenen Geschlechterrollen zu historisieren und damit zuvor dominanten biologistischen Geschlechtertheorien den argumentativen Boden zu entziehen. Lag am Beginn des Neuaufbruchs der feminstischen Forschung der Fokus auf dem ›Sichtbarmachen‹ von Frauen, so erwiesen sich die kompensatorischen wie die kontributorischen Konzepte 24 relativ rasch als zu eng. Insbesondere Historikerinnen forderten ein relationales Verständnis der Kategorie Geschlecht ein. Wir erinnern etwa an die berühmt gewordene Analogie, die Natalie Zemon Davis zur Sozialgeschichte zog: Historikerinnen sollten »nicht ausschließlich über das unterdrückte Geschlecht arbeiten (...), ebensowenig wie ein Historiker, der sich mit Klassenkategorien beschäftigt, sich ausschließlich auf Bauern konzentrieren kann.« 25 Auch wenn in der Folge die ›Frauengeschichte‹ zunehmend durch eine ›Geschlechtergeschichte‹ ersetzt wurde: Mit der Betonung der sozialen und kulturellen Konstruktionen von Gender blieb das biologische/ anatomische Geschlecht, sprich der Körper außerhalb des Blickfeldes der historischen Forschung. ›Frauen‹ wie ›Männer‹ wurden als biologisch fundierte Bezugsgrößen und damit stillschweigend als in ihrer Grundkonstitution konstant und geschichtsunabhängig gedacht. Auf diese dem Sex- Gender-Konzept inhärenten Vorannahmen machten in den letzten Jahren neben femi- 23 Die US-amerikanische Soziologin Ann Oakely führte folgende Unterscheidung ein: »›Sex‹ is a word that refers to the biological differences between male and female (...) ›gender‹ however, is a matter of culture: it refers to the social classification into ›masculine‹ and ›feminine‹. The constancy of sex must be admitted, but also must the variability of gender«. Ann Oakely: Sex, Gender and Society, New York 1972, hier: 16. Ähnlich argumentierte auch die US-amerikanischen Anthropologin Gayle Rubin: The Traffic in Women: Notes on the Political Economy of Sex, in: Rayna Reiter (Hg.): Toward an Anthropology of Women, New York 1975, 175 - 210. 24 Diese Systematisierung geht auf Gerda Lerner zurück. In Anlehnung an Mari Jo Buhle, Ann Gordon und Nancy Schrom teilte sie in einem ersten Forschungüberblick die Forschungen, je nachdem welche Gruppe von Frauen sie sichtbar machten, in kompensatorische und kontributorische Ansätze. Gerda Lerner: Placing Women in History, in: Feminist Studies III/ 1975, 5 - 14. Zur Konzeptualisierung von Geschlecht im feministisch-historischen Diskurs seit den siebziger Jahren vgl. auch Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen. ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ in einem niederösterreichischen Landgericht im 18. Jahrhundert, unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1998, 40 - 76. 25 Natalie Zemon Davis: ›Women's History‹ in Transition: The European Case, in: Feminist Studies III/ 1976, 83 - 103 (deutsch: Gesellschaft und Geschlechter. Vorschläge für eine neue Frauengeschichte, in dies.: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Frankfurt am Main 1986. Fragile Liebschaften? 211 nistischen PhilosophInnen und AnthropologInnen insbesondere auch an Körpergeschichte interessierte HistorikerInnen aufmerksam. Schon früh hatten Caroline Walker-Bynum 26 , Gianna Pomata 27 und Barbara Duden 28 die Erforschung der Geschichte von Leiblichkeit, Sexualität und Körpererfahrungen mit der Frage nach Geschlecht verknüpft. 29 Ihre Arbeiten, die das in den letzten Jahren sprunghaft gestiegene Interesse an der Be-Deutung des Körpers gewissermaßen vorbereiteten, 30 belegten eindrucksvoll, wie durchgreifend man sich die Historizität von Sex vorzustellen hat. Geht man davon aus, daß Vorstellungs- und Deutungsmuster von Leiblichkeit, Natur und Materie auf der einen, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf der anderen Seite in gesellschaftliche Prozesse eingebettet sind, so können keine biologischen Fixpunkte angenommen werden, auf denen ein jeweils veränderliches ›Gender‹ gewissermaßen aufsetzt. Auch wenn alle uns bekannten historischen Gesellschaften zwischen Männern und Frauen unterschieden und diese Unterscheidung häufig in irgendeiner Weise am Körper festmachten, so können, wie dies jüngst Linda Nicholson auf den Punkt brachte, »die subtilen Unterschiede in der Betrachtung des Körpers sehr grundlegende Implikationen für die Bedeutung des Mann- oder Frauseins und für das Ausmaß und den Charakter des Sexismus besitzen« 31 . Eine solche historisierte Sicht auf den Körper bedeutet keineswegs, wie häufig eingewandt wird, 32 daß der Körper als ein leeres Blatt für soziale Einschreibungen vorzustellen sei. Im Gegenteil. Die Historisierung eröffnet die Frage nach den Wechselwirkung zwischen Sex und Gender. Der Körper wird von einer vorgeblich konstanten zu einer variablen Größe, die auf ihre Bedeutungsvielfalt hin zu analysieren ist. 26 Caroline Walker Bynum: Fragmentierung und Erlösung, Frankfurt am Main 1996 (englisch 1991). 27 Gianna Pomata: Die Geschichte der Frauen zwischen Anthropologie und Biologie, in: Feministische Studien, 2. Jg./ Heft 2/ 1983, 113 - 127 (italienisch 1983). 28 Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987. 29 Barbara Duden baut ihre Kritik an der gegenwärtigen medizinischen Praxis, die ihrer Ansicht nach die Körpererfahrungen von Frauen überformt, tendenziell auf der Matrix einer als authentisch geschilderten Körpererfahrung im 18. Jahrhundert auf. Vgl. Barbara Duden: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben, Hamburg 1991 und dieselbe: Die Frau ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung, in: Feministische Studien 11. Jg./ Heft 2/ 1993, 24 - 33. 30 Für diesen neuen Blick auf einen historisierten Körper vgl. Richard van Dülmen (Hg.): Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt am Main 1996. Vgl. insbesondere den Beitrag von Maren Lorenz: »(...) als ob ihr ein Stein aus dem Leibe kollerte (...).« Schwangerschaftswahrnehmungen und Geburtserfahrungen von Frauen im 18. Jahrhundert, 99 - 121 sowie dieselbe: Devianz und Gesellschaft. Selbst- und Fremdwahrnehmung von Körper und Seele im Spiegel gerichtsmedizinischer Fallsammlungen des 18. Jahrhunderts, unveröffentlichte Dissertation, Universität des Saarlandes 1997. 31 Linda Nicholson: Was heißt ›gender‹, in: Institut für Sozialforschung Frankfurt (Hg.): Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt am Main 1994, 212. Vgl. dazu auch dieselbe: Geschlechtsidentität und sexuelle Praxis. ›Tommy‹ und ›Molly‹ als Verkehrung der Geschlechterrollen, in: Neue Rundschau 104. Jg./ Heft 4/ 1993, 71 - 80. 32 Vgl. exemplarisch die polemische Argumentation von Barbara Duden: Die Frau ohne Unterleib (wie Anm. 29), außerdem Hilge Landweer: Kritik und Verteidigung der Kategorie Geschlecht. Wahrnehmungs- und symboltheoretische Überlegungen zur Sex/ Gender-Unterscheidung, in: Feministische Studien 11. Jg./ Heft 2/ 1993, 34 - 43. Hilge Landweer führt »Sterblichkeit, Geburtigkeit und damit Generativität« als anthropologische Grundkonstanten an, die in jeder Kultur zur »Kategorisierung von ›Geschlecht‹« führen würden. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 212 Problematisch am Sex-Gender-Konzept erwies sich zudem, daß es der Vorstellung einer Zeit und Raum transzendierenden Dualität der Geschlechter verhaftet blieb. Kritik an der Annahme eines kollektiven Subjekts ›Frauen‹ (oder ›Männer‹), wie sie im deutschsprachigen Raum vor allem mit Judith Butlers dekonstruktivistischen Überlegungen in »Gender trouble« verknüpft wird, übten zu Beginn der achtziger Jahre vorwiegend afro- und lateinamerikanische sowie lesbische Theoretikerinnen, die darauf aufmerksam machten, daß das kollektive Subjekt ›Frau‹ - auch in seiner Erweiterung auf ›Frauen‹ - eine gemeinsame Identität und gemeinsame Eigenschaften derjenigen voraussetze, die es zu repräsentieren vorgibt. 33 Das Ein- und Ausgeschlossene erzeugende und die Wahrnehmung von Wirklichkeit strukturiende Kollektivsubjekt ›Frauen‹ bzw. ›Männer‹ ist in dieser Lesart weder vordiskursiv 34 noch ›natürlich‹, sondern das Produkt verschiedener Diskurse und Praktiken, nicht zuletzt auch der feministischen. Subjekt- und Gender-Konzepte, die versuchen, dem Paradoxon Rechnung zu tragen, daß die Zurückweisung eindimensionaler Identitätskategorien - sei es Geschlecht, Rasse oder sexuelle Orientierung - ihre Konstruktion gleichsam voraussetzen, wurden in den letzten Jahren vor allem im framework postmoderner und postkolonialer Ansätze entwickelt. 35 Anstatt analytische Dichotomien weiter fortzuschreiben, gehen diese neueren Ansätze davon aus, daß Menschen an Schnittpunkten verschiedener Diskurse denken und handeln. In den Blick geraten die Überschneidungen und Verwebungen, die ›intersections‹ zwischen verschiedenen Klassifizierungs- und damit Positionierungssystemen. Daß mit der Verabschiedung des cartesianischen Subjekts eine generelle Suspendierung des handlungsfähigen Subjekts einhergehe - KritikerInnen sprechen polemisch vom »Tod des Subjekts« durch postmoderne Theorien 36 - sehen wir nicht. Die These des konstituierten Charakters des Subjekts stellt gerade die Vorbedingung für seine Handlungsfähigkeit dar, ermöglicht es, gegenwärtige wie historische Individuen als innerhalb eines historischen Kontextes hervorgebrachte und konstituierte zu begreifen. 37 33 In aktuelle politische Debatten eingreifend, kritisierte etwa Hazel V. Carby das feministische »Wir« als ein Konstrukt, das auf der Verschleierung von Machtbeziehungen zwischen Frauen beruht und durch die Ausblendung historischer rassistischer Kontexte »within the relations of racism« bleibt. Hazel V. Carby: White Women Listen! Black Feminism and the Boundaries of Sisterhood, in: Centre for Contemporary Cultural Studies (ed.): The Empire Strikes Back. London 1988 (1982), 212 - 235. Zur Kritik am Rassismus feministischer Theorien vgl. Brigitte Kossek: Überschneidungen, Zwischenräume & Grenzziehungen, in: Gerlinde Schein/ Sabine Strasser (Hg.): Intersexions. Feministische Anthropologie zu Geschlecht, Kultur und Sexualität, Wien 1997 (Reihe Frauenforschung Band 34), 177 - 230. Die Konflikte, die die wissenschaflichen Debatten vorantrieben, werden auch an einem vielzitierten Satz von Monique Wittig greifbar: »Ich bin keine Frau, ich bin eine Lesbe.« 34 Mit vordiskursiv meinen wir, daß es keine Ich-Position außerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse gibt. Vgl. dazu auch Isabell Lorey: Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler. Tübingen 1996, 10. 35 Für die Identitätskategorie ›Frau‹ vgl. exemplarisch Joan Wallach Scott: Only Paradoxes to offer. French Feminists and the Rights of Man. Harvard 1996; für die Identitätskategorie ›Lesbe‹ vgl. exemplarisch Sabine Hark: Einsätze im Feld der Macht. Lesbische Identitäten in der Matrix der Heterosexualität, in: L'Homme. Z.F.G., 4. Jg./ Heft 1/ 1993, 9 - 17, für die Identitätskategorie ›schwarz‹ vgl. exemplarisch Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994. 36 Vgl. etwa Seyla Benhabib: Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis, in: dieselbe/ Judith Butler/ Drucilla Cornell/ Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, 9 - 30. 37 Vgl. dazu auch Judith Butler: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ›Postmoderne‹, in: Seyla Benhabib/ Judith Butler/ Drucilla Cornell/ Nancy Fraser, Der Streit um Differenz (wie Anm. 36), 31 - 58. Fragile Liebschaften? 213 Die kurz umrissenen Forschungspositionen, die von HistorikerInnen ebenso aufgegriffen wie angeregt wurden, eröffneten den Raum für veränderte Fragestellungen und führten zu bemerkenswerten Ergebnissen. Bereits Anfang der neunziger Jahre vertrat etwa Heide Wunder die Ansicht, daß frühneuzeitliche Gesellschaften mit einem binären Geschlechtermodell nicht angemessen analysiert werden können. Ihre Forschungen resümierend hielt sie fest, »daß in der ständischen Gesellschaft die ›Kategorie Geschlecht‹ nicht die universelle Strukturierungskraft wie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts besaß. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein war die Wirksamkeit der Geschlechtszugehörigkeit nach Lebensalter, Zivilstand und sozialer Schicht gestuft.« 38 Claudia Ulbrich förderte in ihrer mikrohistorischen Re-Konstruktion der Handlungsräume und Erfahrungswelten von Frauen eine Ordnung zutage, »die in Pluralität begründet war und Geschlecht nicht als polares Deutungsmuster, sondern in Interdependenz mit anderen Kriterien sozialer Ungleichheit erscheinen ließ.« 39 Wichtige Erkenntnisse lieferten gleichermaßen die von Michel Foucault inspirierten Studien, deren Interesse der Repräsentation sowie der Konstruktion der ›sexuellen Differenz‹ in verschiedenen Diskursformationen galt. Claudia Honegger beschrieb, wie im Laufe des 18. Jahrhunderts neben den »Wissenschaften vom Menschen« auch die »Wissenschaft vom Weib« und mit ihr eine binäre Ordnung entstand, die bis in die Gegenwart für das Geschlechterverhältnis prägend ist. 40 Londa Schiebinger arbeitete heraus, wie im Denk- und Wissenschaftssystem der Aufklärung ›Volkszugehörigkeit‹ und Geschlecht zu zentralen Analyse- und Klassifikationskriterien wurden und nach langem Wenn und Aber die Differenz zwischen den Geschlechtern als sekundär gegenüber jenen der ›Rasse‹ gefaßt wurde 41 . Thomas Laqueur machte darauf aufmerksam, daß den anatomischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern noch im 18. Jahrhundert kaum Erklärungskraft zukam. 42 Wurden die jeweils wahrgenommenen körperlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern in den ›vormodernen‹ Gesellschaften als graduelle gedacht, 43 so be- 38 Heide Wunder: »Er ist die Sonn', sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, 264; vgl. dazu auch dieselbe: Wie wird man ein Mann? Befunde am Beginn der Neuzeit (15. - 17. Jahrhundert), in: Christiane Eifert u. a. (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt am Main 1996, 122 - 155. 39 Claudia Ulbrich: Frauen im Dorf. Handlungsräume und Erfahrungswelten von Frauen im 18. Jahrhundert aus der Perspektive einer lokalen Gesellschaft, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Ruhr-Universität Bochum 1994, 411 (Sulamith und Margarete. Religion, Macht und Geschlecht in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Wien/ Köln/ Weimar 1999 in Vorbereitung). 40 Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750 - 1850, Frankfurt am Main/ New York 1991. Vgl. dazu auch Ludmilla Jordanova: Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine between the Eighteenth and Twentieth Centuries, New York/ London u.a. 1989. 41 Londa Schiebinger: Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft, Stuttgart 1995 (englisch 1993). 42 Nach Thomas Laqueur galt es bis ins späte 18. Jahrhundert als »Allerweltsweisheit«, daß die Frauen über dieselben Genitalien wie die Männer verfügten, mit dem einzigen Unterschied, daß die imaginierte geringere Hitze der Frauen sie innerhalb ihres Körpers ließ. Das vorherrschende »Ein-Geschlecht-Modell« kannte keine Begrifflichkeiten für die weiblichen Geschlechtsorgane, sondern beschrieb sie als die mindere Version der männlichen. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main 1994 (englisch: 1990). 43 Während Thomas Laqueur diese Lesart der ›sexuellen Differenz‹ als ›Ein-Geschlecht Modell‹ begrifflich zu fassen sucht, spricht Stephen Greenblatt vom ›Konzept der teleologischen Männlichkeit‹. Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben (wie Anm. 42); Stephen Greenblatt: Dichtung und Reibung, in ders.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990, 66 - 91 (englisch 1988). Andrea Griesebner, Monika Mommertz 214 gann sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts auch in der Lesart der ›sexuellen Differenz‹ eine neue Logik durchzusetzen: eine Logik, die sich entlang der von Michel Foucault analysierten epistemologischen Verschiebungen entwikkelte und anstelle von Ähnlichkeit mit sich gegenseitig ausschließenden Gegensätzen operierte. 44 Historische wie ethnologische Forschungen haben vorgeführt, daß körperliche Differenzen zwischen Männern und Frauen an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten mit einem großen Reichtum an Varianten wahrgenommen, gedeutet und gelebt wurden, ›westliche‹ Geschlechterkonzepte der Gegenwart weder in andere ›Kulturen‹ noch in andere ›Zeiten‹ übertragen werden können 45 . Letzteres scheint uns dort der Fall zu sein, wo historische KriminalitätsforscherInnen wider die sonst so eingängige Forderung nach einer differenzierten Betrachtungsweise die historischen Individuen lediglich auf der Grundlage einer einzigen Zuordnung - der nach Geschlecht - sortieren und die derart zutage geförderten Unterschiede unmittelbar auf die Geschlechtszugehörigkeit der untersuchten Individuen zurückführen. Auch wenn solche Unterschiede in der Tradition des Sex-Gender-Konzepts nicht mehr als biologisch, sondern als sozial und kulturell fundierte betrachtet werden, so überträgt dieser methodische Zugriff stillschweigend ein dualistisches und komplementäres Gender-Konzept in die Vergangenheit, welches - Karin Hausen hat bereits vor mehr als zwanzig Jahren darauf hingewiesen - konstitutiv für moderne Auffassungen von Geschlecht ist. 46 Aber auch eine qualitativ erweiterte bzw. interpretative Herangehensweise schließt nicht per se aus, daß Geschlechterbilder in die Vergangenheit transportiert werden, die eher die unhinterfragten Vorannahmen der Forschenden als die spezifischen Geschlechterkonzepte der untersuchten Gesellschaften beschreiben. Einer Geschichtsforschung, die sich nicht an einer Ontologisierung und Naturalisierung der ›sexuellen‹ Differenz beteiligen möchte, muß es also grundsätzlich darum gehen, die binäre Opposition zu dekonstruieren und nach den Bedingungen ihrer Entstehung zu fragen. 47 Auf die Kriminalitätsforschung bezogen gilt es, Konzepte und Methoden zu entwickeln, welche die herkömmlichen Dichotomien wie Opfer/ Täter oder Männer/ Frauen überwinden. 48 Wenngleich es keinen KönigInnenweg für historische Forschungen geben kann und ein solcher auch gar nicht wünschenwert wäre, so lassen sich dennoch einige allgemeinere Überlegungen anstellen, wie vermieden werden könnte, der Verquickung der dop- 44 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1995 (französisch 1966). 45 Die Forschungsergebnisse von Wissenschaftlerinnen, deren Forschungsinteresse im Gegensatz zum Beginn der Frauen- und Geschlechtergeschichte ›vormodernen‹ europäischen Gesellschaften galt, korrelieren hier deutlich mit Beobachtungen feministischer Ethnologinnen. Vgl. etwa die Beiträge in dem von Ilse Lenz und Ute Luig herausgegebenen Sammelband: Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften, Berlin 1990; desweiteren: Kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Geschlechterkonstruktionen, Nr. 7/ 1994 sowie Gerlinde Schein / Sabine Strasser (Hg.): Intersexions (wie Anm. 33). 46 Vgl. den wegweisenden Artikel von Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 368 - 393. Vgl. dazu auch Gisela Bock: Historische Frauenforschung. Fragestellungen und Perspektiven, in: Karin Hausen (Hg.): Frauen suchen ihre Geschichte. München 1983, 22 - 60. 47 Vgl. den wegweisenden Artikel von Joan Wallach Scott: Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hg.): Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, 27 - 75 (englisch 1986). 48 Ein Postulat, welches trotz aller Unterschiede im Einzelnen auch von der Mehrheit der BeiträgerInnen des Sammelbandes: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2) vertreten wird. Fragile Liebschaften? 215 pelten Konstruktion von ›Kriminalität‹ und ›Weiblichkeit‹ 49 in den Akten aufzusitzen und diese fröhlich fortzuschreiben. Grundsätzlich scheint es uns überfällig, die längst breit akzeptierten Grundannahmen der historischen Anthropologie auch dann ernst zu nehmen, wenn das Forschungsinteresse der ›sexuellen Differenz‹ gilt. Die bislang ausgeführten Beobachtungen lassen sich zu der These verdichten, daß ›fremde‹, vormoderne Gesellschaften auch ›fremde‹ Konstruktionen von Geschlecht hervorbrachten. 50 Die unvertraute historische Seite von Sex wie Gender mitbedenkend, können historische Frauen und Männer folglich nicht vorweg definiert, sondern müssen gewissermaßen in Anführungszeichen gesetzt werden. Auf der Begriffsebene scheint es uns sinnvoll, von geschlechtlich markierten Personen zu sprechen. Will man die Prägekraft der geschlechtlichen Zuordnung berücksichtigen und zugleich im Auge behalten, wie weit die damit verbundenen Vorstellungen und Wahrnehmungsweisen von gegenwärtigen Konzeptionalisierungen entfernt sein können, so ist nach den Bedeutungen zu fragen, die in einer spezifischen historischen Gesellschaft jeweils mit der geschlechtlichen Markierung Frau oder Mann verbunden waren. Erkenntniswie Aussagemöglichkeiten sind eng an die jeweilige Quellenlage und damit an deren lokale oder regionale Entstehungs- und Funktionszusammenhänge gebunden. 51 Die Heterogenität und Vielgestaltigkeit der von Justiz- und Verwaltungsinstitutionen produzierten Texte kann, wie wir im folgenden exemplifizieren werden, unseres Erachtens erst in einer qualitativen und deliktüberschreitenden Analyse genutzt werden. Handeln und Bedeuten: Geschlecht in einer ›fremden‹ Gesellschaft Unser erster methodischer Vorschlag bezieht sich auf die Analyse von für die historische Kriminalitätsforschung typischem Aktenmaterial mit begrenztem Informationsgehalt. Wie narrative Texte, die aus der alltäglichen Gerichtspraxis hervorgingen, für eine interpretative Re-Konstruktion von ›Bedeutungen‹ von Geschlecht genutzt wer- 49 Vgl. Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität«; Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität«; Claudia Ulbrich: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« (alle wie Anm. 3). 50 Anschließen läßt sich hier an die Grundannahmen einer historischen Anthropologie, welche in Anlehnung an die »social« und »cultural anthropology« davon ausgeht, daß vorindustrielle westliche Gesellschaften als ähnlich »fremd« zu betrachten seien, wie diejenigen sozialen Gebilde, die das (traditionelle) Forschungsfeld der Ethnologie darstellen. Soziale und kulturelle Phänomene der Frühen Neuzeit sind mit Peter Burke demnach vor allem »in terms of that society's own norms and categories« zu verstehen. Peter Burke: The historical anthropology of early modern Italy: essays on perception and communication, Cambridge 1987, 3. Programmatisch für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft: Hans Medick: »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989, 48 - 84, hier: 49f. Zu einem ersten Systematisierungsversuch des methodischen Spektrums vgl. Gert Dressel: Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien 1996. Zu einem zur Erforschung historisch-spezifischer Gesellschaften geeigneten Kulturbegriff vgl. Lynn Hunt: Introduction: History, Culture, Text, in: dieselbe. (Hg.): The New Cultural History, Berkeley/ Los Angeles/ London 1989 und weitere Beiträge im gleichen Band. 51 Wenngleich den von Justizinstitutionen überlieferten Schriftstücken ihre Entstehung im Kontext strafrechtlicher Verfolgung gemeinsam ist, so liegen den einzelnen Texten - Verhörprotokollen, ZeugInneneinvernahmen, rechtliche und medizinische Gutachten, Anfrageschreiben und Berichte an übergeordnete Justiz- und Verwaltungsinstitutionen, Gnadengesuche, Urteile etc. - ganz unterschiedliche Entstehungssituationen und Aussageniveaus zugrunde. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 216 den können, leitet sich aus methodisch-theoretischen Überlegungen her, die an dieser Stelle nur knapp umrissen werden können. Wir arbeiten hier mit einem Bedeutungsbegriff, der auf die kulturellen Implikationen der Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz zielt. Zu den ›kulturellen‹ Bedeutungen von Geschlecht wären etwa Geschlechterbilder, -ideale und -normen, aber auch Geschlechtersymbolik und -metaphorik zu zählen. Unser Interesse gilt demgegenüber der Frage, wie Frauen und Männer einer frühneuzeitlichen Gesellschaft Geschlecht konzeptionalisierten, die sich nicht explizit oder wenigstens nicht in für uns direkt zugänglicher Weise dazu geäußert haben. Im folgenden Abschnitt wird ein möglicher Weg abgesteckt, wie diesem ›Unausgesprochenen‹ beizukommen und wie es in heutige Begrifflichkeiten, wenn man so will, übersetzt werden könnte. Ein Fallbeispiel aus der Mark Brandenburg der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, interpretiert vor dem Hintergrund von noch unveröffentlichten Forschungsergebnissen zu diesem Untersuchungsraum 52 , soll im Anschluß illustrieren, wie sich auf konkrete Quellen bezogen ›Redeweisen‹ über Geschlecht entwickeln lassen, in denen die Brüche zum modernen Denken mitreflektiert und zum Ausdruck gebracht sind. Methodisch verknüpft unsere Vorgehensweise die Frage nach »Bedeutungen von Geschlecht« mit der Untersuchung von Praktiken, worunter hier kulturell geprägte und sozial funktionsfähige 53 Handlungsformen gefaßt werden. Für diese Schwerpunktsetzung spielt u.a. eine in verschiedenen Richtungen der interpretativen Ethnologie bzw. Anthropologie vertretene Grundannahme eine Rolle, nach der die Handlungsformen, Rituale und Verhaltensmuster einer Gesellschaft als ein Medium kultureller Bedeutungsgebung zu verstehen sind. 54 Die Geschlechterforschung hat an dieses Postulat insofern angeknüpft, als feministische WissenschaftlerInnen wie etwa Maureen A. Mahoney und Barbara Yngvesson im Hinblick auf die Konstruktion von »Gender« auf »agency« aufmerksam machten, d.h. auf die Kapazität der Subjekte »to make meaning in her interaction with others«. 55 Pointiert findet man den Gedanken einer »interaktiven Herstellung von Geschlecht« bei Candace West, Don Zimmerman und Sarah Fenstermaker ausgeführt 56 . In der Theorietradition der Ethnomethodologie verankert, setzen diese WissenschaftlerInnen auf der Ebene des individuellen Handelns an, um Konstruktionsvorgänge von Geschlecht in gewöhnlichen Kommunikationssituationen der modernen westlichen Lebenswelt sichtbar zu machen. Zwar beschäftigen sich ihre Arbeiten weniger mit den Macht- und Herrschaftsbeziehungen, in die die interagierenden 52 Die folgenden Ausführungen basieren auf Monika Mommertz: Handeln, Bedeuten, Geschlecht (wie Anm. 18). 53 Für eine ausführliche Begründung des im folgenden vorgeschlagenen »Praxis«-Begriffs sowie eine Diskussion der dafür verwendeten vorwiegend ethnologischen Literatur vgl. ebd. (wie Anm. 18), Erster Teil, Kap 3.6. Einen Überblick über verschiedene »practice-approaches« bietet der immer noch sehr informative Artikel von Sherry B. Ortner: Theory and Anthropology since the Sixties, in: Comparative Studies in Society and History 26 Jg./ Heft 1/ 1984, 126 - 166. 54 Einen neueren Überblick gibt Irmtraud Stellrecht: Interpretative Ethnologie, in: Thomas Schweizer/ Margarete Schneider/ Waltraud Kokot (Hg.): Handbuch der Ethnologie: Festschrift für Ulla Johansen, Berlin 1993, 29 - 78. 55 Maureen A. Mahoney/ Barbara Yngvesson: The Construction of Subjectivity and the Paradox of Resistance: Reintegrating Feminist Anthropology and Psychology, in: Signs 18 Jg./ Heft 1/ 1992, 44 - 73. 56 Candace West/ Don H. Zimmermann: Doing Gender, in: Judith Lorber/ Susan A. Farell (Hg.): The Social construction of gender, 13 - 37 (reprint von 1987). Vgl. dazu auch Candace West/ Sarah Fenstermaker: Doing difference, in: Gender & Society 9, H.1, 1995, 8 - 37. Fragile Liebschaften? 217 Personen jeweils eingebunden sind, die AutorInnen können aber - was für unseren Ansatz maßgeblich ist - zeigen, wie Geschlechtszugehörigkeit in der alltäglichen Interaktion ständig hervorgebracht, validiert und reproduziert werden muß. Für die Frühneuzeitforschung eröffnet die These des »doing gender« die Möglichkeit, auch umgekehrt zu denken: Wenn Geschlecht etwas ist, das man nicht ›hat‹, sondern ›tut‹, so wird das wissenschaftliche Erkennen von Geschlecht für diese ›fremde‹ Periode zu einer Frage des ›Lesens‹. Ausgehend von der »interaktiven Herstellung« von Geschlecht liegt es nahe, Konzeptionalisierungen der Geschlechterdifferenz in einer nicht vertrauten Gesellschaft aus der Analyse von Handlungs- und Interaktionsformen der geschlechtlich markierten Personen zu erschließen. Im Fokus auf ›Praktiken‹ kann die Untersuchung auf eine für das alltägliche Zusammenleben elementare - und in der Geschichtswissenschaft bislang kaum thematisierte - Ebene eingegrenzt werden: Unter ›Bedeutungen von Geschlecht‹ lassen sich handlungsleitende Dispositionen verstehen, d.h. jene selbstverständlichen Denk- und Wahrnehmungsvoraussetzungen, an denen sich die Interaktion von ›Frauen‹ oder ›Männern‹ in einer spezifischen Gesellschaft orientierte. 57 Eine solche Herangehensweise scheint insbesondere im Hinblick auf die in der Überlieferung kaum mit Selbstzeugnissen im engeren Sinne vertretene frühneuzeitliche Bevölkerungsmehrheit sinnvoll zu sein, die ihre Geschlechterkonzepte vermutlich kaum thematisierte oder reflektierte. Hier ist im alltäglichen Verhalten ein, wenn nicht das wesentliche Medium der Vermittlung, Reproduktion, aber auch der Verschiebung von Geschlechtsbedeutungen zu sehen. Ein an Dispositionen festgemachter Bedeutungsbegriff zielt also auf Verhaltensorientierungen, die jenseits der Norm, der Präskription oder des Ideals anzusiedeln sind. Methodisch von Vorteil ist dabei nicht zuletzt, daß offen gehalten wird, ob und inwieweit die Zugehörigkeit zu einer Geschlechtergruppe in bestimmten Situationen und Handlungszusammenhängen bedeutungsvoller sein konnte als in anderen - bis hin zur Insignifikanz. Was die Arbeit an Gerichtsquellen betrifft, wirft dieser Gedankengang erneut die Frage nach den schriftlich festgehalten Handlungen auf: Um die Bedeutungen von Geschlecht als gesellschaftliche Konstruktion in ihrem spezifischen Gehalt zu ermitteln, muß es darum gehen, den ›sozialen Sinn‹ der in den Quellen greifbaren Handlungsmuster zu ermitteln. Der aber wird in den Präsentationsformen der Justiz- und Verwaltungsinstanzen gewissermaßen systematisch verdeckt. Einer Re-Konstruktion von Bedeutungen muß also eine Re-Konstruktion von sozialen Interaktionsformen vorausgehen. Für diesen Arbeitsschritt scheint uns ausschlaggebend, die besondere Textqualität des typischen Untersuchungsmaterials der historischen Kriminalitätsforschung zu berücksichtigen. Bei aller durch Zeit und Raum bestimmten Diversität ist narrativen Gerichtsakten vielfach eine Erzählstruktur gemeinsam, die man generalisierend als ›Schulderzählung‹ bezeichnen kann, und zwar insofern, als Anklageschriften, Verhörprotokolle, Rechtsanfragen und -gutachten etc. die Konstruktion einer strafwürdigen Handlung und einer bestrafbaren Person voraussetzen. Selbst wenn es nicht zu einer 57 Nach »meanings of gender« wurde in der feministisch inspirierten anthropologischen Forschung schon früh gefragt, allerdings wurde »kulturelles« Geschlecht im Gegensatz zu Sex konzipiert. Wegweisend waren die Beiträge des Bandes Sherry B. Ortner/ Harriet Whitehead: Sexual Meanings. The Cultural Construction of Gender and Sexuality, Cambridge u.a. 1981. Ähnlich auch in: Peggy Reeves Sanday/ Ruth Gallagher Goodenough (Hg.): Beyond the second sex. New directions in the anthropology of gender, Pennsylvania 1990. Für eine Kritik siehe Henrietta L. Moore: Understanding sex and gender, in: Tim Ingold (Hg.): Companian Encyclopedia of Anthropology, London/ New York 1994, 813 - 830. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 218 Verurteilung der DelinquentInnen kam, ist dadurch abgesteckt, welche Ausschnitte einer Ereigniskette die jeweiligen ›ErzählerInnen‹ auswählten oder ausließen, welche Akte sie hervorhoben oder ausblendeten, wie sie Verhalten bewerteten, konnotierten und für welchen Darstellungsrahmen sie sich dabei entschieden. Auf der Ebene der Verschriftlichung ist das präsentierte Handeln tatsächlich meist schon im Hinblick auf ein ›Delikt‹ konstruiert und kategorisiert. Den möglichen ›sozialen Sinn‹ dieses Handelns zu erschließen erfordert daher eine Lesart der Quellen gegen ihren gewissermaßen ›genre‹spezifischen Strich: In der Quelleninterpretation muß es darauf ankommen, die sozialen Bedeutungen der im einzelnen meist nur in Bruchstücken erkennbaren Verhaltensweisen auch und gerade jenseits ihrer in der Überlieferung schon erfolgenden Festschreibung als ›Tat‹ zu lesen. Notwendig erscheint es uns, zum einen die in den Justizakten favorisierte Blickrichtung auf die individuellen ›TäterInnen‹ zu ›hintergehen‹ und zum anderen zu vermeiden, die in Gerichtsquellen angelegte Klassifizierung der verhandelten Praktiken als Delikte fortzuschreiben. Ein grundlegender Perspektivenwechsel ist also nötig. In vielen Fällen, so meinen wir, kann dies dadurch umgesetzt werden, daß die Untersuchung auf eine Erschließung von Praktiken im Sinne der oben gegebenen Definition hin angelegt wird. Systematisch lassen sich auf diese Weise die einzelnen Erzählelemente der ›Schulderzählung‹ aus der für sie konstitutiven Teleologie herauslösen: etwa, indem man nach ritualisierten, wiedererkennbaren und wiederholbaren Handlungen fragt; nach deren markierenden Momenten wie Orten, Gesten, Wortgebrauch, Sprechweisen; nach ähnlichen Situationselementen, kommunikativen Ereignissen und Handlungsabläufen oder auch danach, in welcher Weise kriminalisierte und nichtkriminaliserte Verhaltensweisen verschiedener Personen ineinandergreifen 58 . Von daher sind insbesondere auch die Vor- und Nebengeschichten, überhaupt all jene selbstverständlichen Wissensbestände in die Analyse miteinzubeziehen, ohne die weder die obrigkeitlichen Verfasser noch die verhörten ZeugInnen und DelinquentInnen eine kohärente Narration erzeugen konnten. In einer deliktübergreifend vergleichenden Interpretation kann man sich zunutze machen, daß ähnliche Verhaltensweisen im Rahmen verschiedener Deliktkategorien jeweils unterschiedlich geschildert und bewertet wurden. Im Ergebnis ist auf diese Weise jener Kontext zu rekonstruieren, der sich quer zur Erzählstruktur der Quellen aus dem funktionalen Zusammenhang einzelner Verhaltensweisen ergibt. Zu welchen Ergebnissen man mit einem derartigen Zugang gelangen kann, soll im folgenden in einer Skizze zur sozialen Bedeutung einer einzelnen Praktik, der »warsagerei«, veranschaulicht werden, die in der ländlichen Mark Brandenburg des ausgehenden 16. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Position innerhalb eines eigenständigen Praxisfeldes, dem der nicht-gerichtlichen Konfliktaustragung einnahm und auch für die obrigkeitliche Rechtsprechung nicht unbedeutend war. Unser Ausgangsfall ist der Sammlung des »Brandenburger Schöppenstuhl« entnommen, einer für das gesamte Territorium zuständigen Rechtsbelehrungs- und Spruchinstanz 59 . Betrachten wir die überlieferten Texte zunächst daraufhin, wie es zur gerichtlichen Verfolgung der wahrsagerischen Tätigkeiten der in der altmärkischen Stadt Tangermünde ansässigen »Hilbischen«, »hausfraw« des Matthias Hillen, kam. 58 Mit diesen Fragen sind die wesentlichen Elemente eines ethnologisch informierten und im Hinblick auf die Textanalyse operationalisierbar gemachten Praxisbegriffs umrissen, der es erlaubt, den oben eingeführten Definitionsrahmen von »Praktik« zu nutzen. Fragile Liebschaften? 219 In einem Brief, der Teil eines umfangreicheren Rechtsbelehrungsgesuchs von Ratsleuten der Stadt Tangermünde an den »Brandenburger Schöppenstuhl« ist 60 , schildert der Schreiber Christoph Wolff, was sich um den 16. Dezember des Jahres 1586 auf dem wenige Kilometer entfernten, dem Fritz von der Schulenburg gehörigen Rittersitz Uetz zugetragen haben soll 61 . Diesem seinem Herrn, so berichtet der Schreiber, seien aus einer Lade hundert Taler abhanden gekommen. Da sich zum Zeitpunkt des Verlustes kein Fremder auf dem Hofe befand, habe der Junker zunächst das Gesinde verhört, sich schließlich aber mit dem Auftrag, eine »weise fraw« zu befragen, an ihn gewandt. Auf Rat des örtlichen Krügers habe er sich mit der allgemein für ihre einschlägigen Fähigkeiten bekannten »Hilbischen« in Verbindung gesetzt, welche bereits zuvor Diebstähle aufgeklärt und die Schuldigen den Gerichten zugeführt hätte. Von ihr habe er die Auskunft erhalten, daß das Geld tatsächlich gestohlen worden sei und es sich bei den Schuldigen um Gutsbewohner handle, die »keine schwerter an ihren seiten« trügen. Daraufhin habe sein Herr die »weise fraw« mit der Kutsche auf seinen Hof bringen lassen, wo sie im Beisein der Hausherrin und unter Zuhilfenahme eines Paares alter Schuhe, eines Topfes und von etwas Fett ein Finderitual veranstaltete. Als um Mitternacht der Junker das Ergebnis erfahren wollte, habe sie ihm zur Antwort gegeben, der Täter - nunmehr also nur eine Person - wäre einer seiner nächsten Diener. Für diese ihre »nachrichtungen« habe ihr der Junker die geforderte Entlohnung - zwei Scheffel Hafer, einen Scheffel Roggen - gegeben, offenbar auch noch etwas Geld dazugelegt und sie am folgenden Morgen mit dem Wagen in die Stadt zurückbringen lassen. Obwohl der Kontakt zwischen dem Guts- und Gerichtsherrn und der »weisen fraw« damit abgeschlossen ist, wird diese im Anschluß an jene Ereignisse verklagt und somit zum Gegenstand einer Anfrage auf Rechtsbelehrung. Ihre Verfolgung als »Zaubersche« geht von Christoph Wolff aus, der - als einer der nächsten Diener seines Herrn - des Diebstahls der besagten hundert Taler verdächtigt wird. Von seinem Herrn nach Tangermünde geschickt, um seine »Ehr und redlichkeit zuvortreten«, verklagt der Schreiber die »weise fraw« vor den städtischen Ratsleuten der »Zauberey«. Wohl, weil das Tangermündsche Gericht der Beklagten nicht nachweisen kann, ihre »kunst« zu schädlichen 59 Der »Brandenburger Schöppenstuhl« fungierte als wichtigste Rechtsbelehrungsinstanz der Mark in Erb- und Strafsachen und wurde auch aus benachbarten Territorien angeschrieben. Unter den strafrechtlichen Anfragen der städtischen bzw. patrimonialen Gerichtsobrigkeiten überwiegen solche zur Bewilligung der Tortur und zu Leibesbzw. Todesstrafen gegenüber jenen, die sich mit weniger schweren Delikten oder anderen Problemen der Gerichtspraxis befassen. Auch Einzelpersonen konnten das Gremium anrufen; der Verkehr erfolgte in der Regel ausschließlich schriftlich, und die Umsetzung des prinzipiell rechtsverbindlichen brandenburgischen »Urthels« konnte nicht kontrolliert werden. Das Fallbeispiel ist der Sammlung des Brandenburger Schöppenstuhls entnommen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Postdam, Pr. Br. Rep. 4D, Bd. 27, f. 548 - 559 (1587). 60 Neben dem erwähnten Brief liegen dem Schreiben des Tangermünder Rats auch Zeugenaussagen von Bürgern der Stadt sowie die in einem »gütlichen« Verhör gegebenen Antworten der Beklagten bei. 61 Fritz (»der Neunte«) von der Schulenburg, war Mitglied eines der wohlhabendsten und einflußreichsten altmärkischen Adelsgeschlechter und wurde als erster seiner Familie, in dem ca. 3 km jenseits der märkischen Grenze im Magdeburgischen gelegenen Uetz ansässig. Vgl. Johann Friedrich Danneil: Das Geschlecht der von Schulenburg, Bd. 1, Salzwedel 1842, 576. Guts- und Gerichtsherrschaft lagen in der Mark Brandenburg meist in einer Hand, die Familie von Schulenburg wickelte die betreffenden obrigkeitlichen Funktionen über ein gemeinsames Gericht ab, das seit 1597 als das »Gesamtgericht« belegt ist. Vgl. Friedrich Julius Kühns: Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozesses in der Mark Brandenburg vom X. bis zum Ablauf des XV. Jahrhunderts, Bd. 2, Berlin 1867. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 220 Zwecken eingesetzt zu haben, 62 holt man beim »Brandenburger Schöppenstuhl« die Erlaubnis zur Anwendung der Folter ein. Die Antwort der Schöppen auf die Anfrage fällt positiv aus; ob die Folter tatsächlich durchgeführt und was am Ende mit der Beschuldigten unternommen wurde, bleibt von der Quelle her offen. Sowohl im Hinblick auf klassische Fragen der Kriminalitätsbzw. Hexen(verfolgungs)forschung als auch im Hinblick auf die Verflechtung von Gender mit anderen sozialen Parametern setzt die spezifische Anlage der Schöppenstuhlakten einer Interpretation enge Grenzen: So sind Angaben wie das Alter der Beschuldigten, ihr Familien- oder Besitzstand oft nicht bzw. nicht durchgängig zu ermitteln. Die Überlieferung der unteren Ebene patrimonialer Gerichtsbarkeit ist in der Mark weitgehend vernichtet. Allerdings lassen sich aus der referierten Geschichte einer »Zauberey«Beschuldigung - interpretiert man sie vor dem Hintergrund weiterer Rechtsanfragen auch zu anderen Delikten - Aspekte des ›sozialen Sinns‹ der magischen »nachrichtung« erkennen: 63 Zum Verständnis der »warsagerei« sind jene Vorgänge in Betracht zu ziehen, auf denen die Auskunft einer »weisen fraw« beruht bzw. die sich daraus entwickeln. Der Kontext des Finderituals selbst sowie der formal-sprachliche Aufbau der darin ermittelten »nachrichtung« sind dabei gleichermaßen aufschlußreich: Um einen magischen Bescheid geben zu können, mußte die um ihren »Rat« gebetene Findespezialistin ein bestimmtes Vorwissen haben. Lebte sie nicht ohnehin am selben Ort wie ihre Klientel, wo sie unvermeidlich in die »rede«, das »gerücht« und die »gemeine wissenschafft« der Gemeinde eingebunden war, so wurde sie von ihren AuftraggeberInnen informiert bzw. nahm selbst mit anderen Haushalts- oder Gemeindemitgliedern Kontakt auf. Das eigentliche »warsage«Ritual schuf eine Situation, welche der Ratgebenden erlaubte zuzuhören und den Ratsuchenden Gelegenheit gab, ihre Beobachtungen und Verdächtigungen auszudrücken. Aus derart zustandegekommenem Wissen setzte sich denn auch der Wahrsagespruch zusammen: Die als Fremde auf das schulenburgsche Gut gerufene »Hilbische« mußte z.B. gewußt haben, daß hier nicht nur mehrere »nahe Diener« lebten, sondern auch Personen, die »schwerter an ihrer seite« trugen. Die Junkerin dürfte ihren Verrichtungen kaum wortlos gefolgt sein, wahrscheinlich ist, daß sie der »weisen fraw« eine Reihe von Informationen anbot und ihr eigene Überlegungen nahelegte. Eine genauere Betrachtung der sprachlichen Gestaltung von Wahrsagesprüchen zeigt, daß damit nicht auf die für das moderne Rechtsbewußtsein so zentrale Frage nach der/ dem ›wahren‹ TäterIn abgehoben wurde. Charakteristischerweise legte die Wahrsagende die schuldige Person gerade nicht eindeutig fest, sondern grenzte lediglich über einige Merkmale den in Frage kommenden Personenkreis ein - womöglich in durchaus ›realistischer‹ Weise. 64 62 Dies wäre nach dem berühmten § 109, »Straff der zauberey« der auch in Brandenburg gültigen »Carolina« normative Voraussetzung einer Verurteilung wegen »zauberey« gewesen. Vgl. Gustav Radbruch (Hg.): Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls des V. von 1532 (Carolina), Stuttgart 1975 (6. Auflage), 78. 63 Quellengrundlage sind ca. 325 Rechtsbelehrungsgesuche zu Delikten wie Beleidigung, Diebstahl, Brandstiftung und Branddrohung, Körperverletzungs-, Tötungs- und Unzuchtsdelikten, Kindsmord, »Zauberey« u.a. Für weitere Einzelbelege zu den folgenden Ausführungen sei verwiesen auf Monika Mommertz: Handeln, Bedeuten, Geschlecht (wie Anm. 18), besonders Teil II, Kap. II.4. 64 Im geschilderten Fall geschah dies zudem in zeitlichen Abständen, sodaß eine fortschreitende Eingrenzung der möglichen Personen stattfand, in die wohl neue Informationen mit aufgenommen werden konnten. Fragile Liebschaften? 221 Ein so angelegter ›Bescheid‹ bot den Ratsuchenden - und denjenigen, die davon zu wissen bekamen - Spielräume für eigene Interpretationen. Er forderte, wie das Schreiben des Christoph Wolff eindrücklich belegt, zugleich zum Handeln auf. Auf den Spruch der »Hilbischen« hin wurde zunächst der »Petagogus«, also der Schullehrer des Ortes, aktiv. Er, der offensichtlich unverzüglich über die Auskünfte der »weisen fraw« informiert worden war - auch hier spielt die »gemeine rede« eine Rolle -, mußte sich als einer der nächsten Diener des Junkers angesprochen fühlen. Wie Christoph Wolff berichtet, habe der Lehrer der Frau eine Stellungnahme abverlangt, sie allerdings hätte ihn beruhigt: »ihr gutt gesell macht euch keine gedancken man weiß ohne das daß ihr dieser sachen nicht schuldig«. Auf seine Nachfrage, ob sie denn dann den Schreiber, also Christoph Wolff meine, wäre sie jedoch unbestimmt geblieben. Wie dem Schreiben zudem zu entnehmen ist, griff auch der Gutsherr zu weiteren Maßnahmen: Unmittelbar nachdem die »weise fraw« den Gutsbezirk verlassen hatte, sei dieser mit einem Aushang an seine Untertanen herangetreten. Er »hette durch gebrauchte mittel so viell erfaren daß ehr den Teter so ihm sein gelt gestolen wuste«, und wenn dieser die entfremdete Summe wieder einbrächte, so werde er den Vorfall ungestraft vergessen. Christoph Wolff selbst wurde, seinen eigenen Angaben nach, in der Folge sowohl durch den Schafmeister des Gutes als auch durch einige Adelige unter Druck gesetzt; ersterer habe ihm mitgeteilt, daß der Gutsherr ihn für schuldig halte, und ihn ermahnt, den Verdacht »ordentlicher Weise« von sich zu bringen. Als ihn schließlich sein Herr selbst aufforderte, nach Tangermünde zu ziehen, um den Vorwurf zu klären, habe er sich gezwungen gesehen, »mein Ehr und redlichkeit zu vertreten«, und sich in die Stadt begeben. Auf dem Weg dorthin wäre er auf die »Hilbische« und deren Bruder getroffen. Nach einem verbalen und offenbar auch handgreiflichen Schlagabtausch zwischen ihm und der »Hilbischen« habe sie ihm bedeutet, daß sie kaum anders könne, als in ihm den Schuldigen zu vermuten, da er doch über ihre »geringe worte« so aufgebracht sei. Im Übrigen habe sie schon ganz andere Leute als ihn an den Galgen gebracht. Eine solche Entwicklung im Vorfeld wie im Fortgang einer durchaus vor Gericht inkriminierbaren Handlung illustriert, in welchem Maße das Finden von TäterInnen auf magischem Wege ein soziales Ereignis darstellt, in dem der Wahrsageakt selbst nur ein einzelnes Moment ausmacht. Der Spruch der Findespezialistin gibt keine glatte Auflösung der an sie gerichteten Frage, sondern muß aktiv umgesetzt werden, sein ›Sinn‹ realisiert sich mithin erst durch den sich ausdehnenden Kreis von Wissenden, Kommentierenden und Eingreifenden. Die Wahrsagung bringt eine Dynamik in Gang, in der weitere kommunikative Praktiken der Konfliktaustragung zum Einsatz kommen: In der »rede« oder »sage« wird eine spezifische Form der Öffentlichkeit hergestellt, gegenüber der Verdächtige wie Christoph Wolff und der Schullehrer sich »verantwortten« müssen - beide reagieren damit wie auf einen ritualisierten verbalen Angriff, der vom beschuldigten Teil eine Verteidigung seiner Ehre erfordert. Auch in den Mahnungen, Aufforderungen und Warnungen des Schafmeisters lassen sich aus einer deliktübergreifenden Perspektive übliche Praktiken ausmachen, die sich wiederum in das Muster einer ehrverletzenden »Schelte« einfügen, insofern als diese regelmäßig Interventionen Dritter provoziert. Die »Hilbische« ihrerseits »verantwortet« sich gegenüber Christoph Wolff, als der sie auf dem Weg in die Stadt einer falschen Beschuldigung schilt, so, wie man dies gängigerweise tat: mit Worten, Schlägen und einer Gegenschelte. Daß in den Weiterungen einer Wahrsagung tatsächlich eine Reihe von anderen Streitpraktiken zum Tragen kommen, daß magische Handlungsmuster in ihrer sozialen Di- Andrea Griesebner, Monika Mommertz 222 mension also erst im Zusammenhang mit nicht-magischen Praktiken verständlich sind, ist allein anhand einer Deliktgruppe nicht freizulegen 65 . In diesem Kontext gesehen stellt sich Findemagie nicht als isolierter Akt dar, sondern als Ergebnis eines sehr viel umfassenderen Kommunikations- und Interaktionsprozesses, in dessen Verlauf Interpretationsangebote vor einem größeren Publikum auseinandergesetzt und ausgefüllt werden mußten. Da die Möglichkeiten, auf das Ergebnis Einfluß zu nehmen, keineswegs gleich verteilt waren, hingen die Chancen, den von seiner ganzen Anlage her kollektiven Auslegungsverlauf zu steuern, mit der Position der Beteiligten im Beziehungsgefüge des ländlich-gutsherrschaftlichen Lebenszusammenhangs eng zusammen. Magische Findeverfahren, die aus heutiger Sicht zunächst unverständlich und in ihrem Resultat willkürlich erscheinen, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Praktiken, die in einer von spezifischen wechselseitigen Abhängigkeiten bestimmten Lebens- und Vorstellungswelt einen ›eigenen Sinn‹ machten. Ihre Wirkungsmächtigkeit bezogen sie letztlich aus einem Gesamtkomplex von Handlungsmustern, die einer außergerichtlichen ›Rechtsfindung‹ dienten, welche sich nicht einfach an allgemeinverbindlichen Normen, sondern an einer zutiefst relationalen Logik orientierten: Praktiken, über die im unmittelbar zwischen einzelnen Parteien aufbrechenden Konflikt die damit quasi notwendig hervorgerufenen vieldimensionalen Beziehungsverschiebungen dorföffentlich geregelt und festgelegt wurden. Die Figur der Finderin erscheint vor diesem Hintergrund als Interpretierende, Katalysatorin und Vermittlerin dieser Prozesse. Betrachten wir abschließend, welche ›Redeweisen‹ im Hinblick auf Geschlecht die ausgeführten Beobachtungen zulassen. Wie lassen sich Bedeutungen von Geschlecht, die in diesem Beispiel die Interaktion der verschiedenen Beteiligten anleiten, greifbar und beschreibbar machen? Dieser Frage kann man sich auf verschiedenen Ebenen annähern. Zunächst läßt sich festhalten, daß dem »warsagen« im Untersuchungszeitraum eine Perzeption von Geschlecht/ weiblich zugrundeliegt, mit der sich eine Disposition zur Erkenntnis und Aufklärung unrechter Handlungen verbinden läßt. Im Gegensatz zu den meisten anderen ritualisierten Verhaltensweisen, die im Rahmen von Kon- 65 Frühneuzeitliche volksmagische Praktiken wurden bislang vor allem im Rahmen von »Hexenfoschung« untersucht. Vgl. den Forschungsüberblick von Gerd Schwerhoff: Vom Alltagsverdacht zur Massenverfolgung. Neuere deutsche Forschungen zum frühneuzeitlichen Hexenwesen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 7/ 8, 1995, 359 - 380. Anhand des Gegenstandes »Hexenverfolgung« nach »Bedeutungen« zu fragen, die Denken und Handeln der ZeitgenossInnen bestimmten, liegt grundsätzlich bereits deshalb nahe, weil »Magie« sich eben dadurch auszeichnet, daß sie heutiger Alltagsbzw. Wissenschaftslogiken auf unmittelbar einleuchtende Weise nicht entspricht. Die »Hexenforschung«, soweit sie sich mit »Magie« befaßt, greift denn auch gegenüber der üblichen Kriminalitätsforschung oft insofern weiter, als sie kriminalisierte Praktiken bewußt »auslegt« und zunehmend auch deren soziale Wirkmächtigkeit berücksichtigt. Für den deutschsprachigen Raum vgl. etwa die Arbeiten von Eva Labouvie, Ingrid Ahrendt-Schulte, Heide Dienst, Lyndal Roper und Rainer Walz. (Genaue bibliographische Angaben bei Schwerhoff: Alltagsverdacht, (wie oben). Hinsichtlich des »sozialen Sinns« magischer Verhaltensweisen wirken sich jedoch unseres Erachtens die für das Gros der einschlägigen Studien zentralen Fragestellungen und die damit einhergehende, fast durchgängige Beschränkung auf den Deliktbereich des Schadenszaubers bzw. der »Hexerei« wiederum in ähnlicher Weise aus wie in der Kriminalitätsforschung: In dem Maße, in dem die Aufmerksamkeit den Verfolgungsursachen von »Hexerei« gilt, geraten die vor Gericht gebrachten Handlungen ebenfalls in erster Linie als Verfolgungsgrund und damit als deviant ins Blickfeld. Zugleich können in die Interpretation der gewonnenen Beobachtungen lediglich jene Handlungen einbezogen werden, die in den mit Zauberei befaßten Akten als kriminalisierte präsentiert, bzw. in diesem Kontext angesprochen werden. Die wechselseitige Bedingtheit von magischen und nicht-magischen Verhaltensmustern und Denkweisen, z.B. im Konfliktaustrag, bleibt dann unberücksichtigt bzw. wird in ihrer Reichweite unterschätzt. Fragile Liebschaften? 223 fliktaustragung relevant werden, ist das »warsagen« deutlich von Frauen dominiert, wobei Stand, Alter oder Familienposition, soweit erkennbar, diese Fähigkeit in keiner verallgemeinerbaren Form beeinflussen. 66 Dennoch überschreitet diese »kunst« die Geschlechtergrenzen: So kann ein Mann, auch wenn dies selten vorkommt, das »warsagen« lernen oder lehren, ohne daß deswegen die starke »weibliche Besetzung« dieser Praktik, die sich u.a. in den feststehenden Personenbezeichnungen wie »weise fraw« niederschlägt, aufgehoben wäre. Ohne also ›typisch weiblich‹ zu sein, ist das »warsagen« dennoch nicht ›geschlechtsneutral‹. Festzuhalten ist darüber hinaus, daß das Wirkungspotential der »warsage«Kunst an ein breiteres Spektrum von Fähigkeiten gebunden ist, auf welchen gewissermaßen anschließende Praktiken basieren: Zum einen sind dies andere magische Verhaltensweisen. So ist das »warsagen« mit dem Deuten von Zeichen, die der Unterscheidung von Recht und Unrecht dienen, eng verwandt - hier aber sind die entsprechenden Kompetenzen weniger stark auf Geschlecht/ weiblich als vielmehr auf ein aus Männern und Frauen zusammengesetztes Kollektiv bezogen 67 . Gleichzeitig wird die Autorität der »nachrichtung« durch die verbreitete Auffassung gestützt, daß die »kunst« letztlich auch zu »zauberischer« Gewalt dienen könne 68 . Auf magischer Ebene sind mit Geschlecht/ weiblich somit auch Dispositionen wie Gewaltbereitschaft und Gewaltfähigkeit zu verbinden. Diese sind zwar ebenfalls deutlich weiblich besetzt, sie können aber, in bestimmten verwandtschaftlichen, sozialen, zeitlichen und Streitkonstellationen, an einen Mann übergehen bzw. von ihm angeeignet werden. 69 Beim »warsagen« kann daher nicht von einer im modernen Sinne geschlechtsspezifischen Verhaltensweise gesprochen werden: Männer sind davon nicht nur nicht per Geschlecht ausgeschlossen, sondern sind auch nicht als ›Ausnahme‹ zu betrachten. Ebensowenig sind alle Frauen durchgängig und per Geschlecht zur Wahrsagung befähigt. Ob der einzelnen Frau entsprechende Potenzen zugeschrieben werden, entscheidet sich im Wechselspiel zwischen der Aneignung der entsprechenden Handlungsweisen und den Reaktionen, die ihren Handlungen entgegengebracht werden, also in der Interaktion. Zum anderen ist in Betracht zu ziehen, daß das »warsagen« erst über den Einsatz weiterer, nicht-magischer Praktiken realitätsmächtig wird. Es umfaßt ein Spektrum von Handlungsformen, deren Sinn und Auswirkungen nicht von vornherein feststeht, sondern erst im Handeln dritter Personen umgesetzt und entfaltet wird. Welche Bedeutungen der Geschlechtsmarkierung dabei jeweils relevant werden - etwa die positiv konnotierte Fähigkeit zur Aufklärung unrechter Handlungen oder die negativ konnotierte zur Schaden verursachenden »Zauberey« - ergibt sich regelmäßig erst im Laufe 66 Um eine derartige Aussage zu treffen, kann man sich bei den hier untersuchten Quellen, die ja nicht immer Angaben zur sozialen Position der Beklagten enthalten, nicht unmittelbar auf statistische Befunde stützen, sondern muß Einzelbeobachtungen diskutieren. So ist im Fall des »warsagens« auch der Begriff »wise magdt« überliefert, außerdem sind verheiratete und unverheiratete sowie ältere und jüngere Frauen unter den FindespezialistInnen vertreten. 67 Vgl. Monika Mommertz: Handeln, Bedeuten, Geschlecht (wie Anm. 18), besonders Teil II, Kap. II.4.3 und II.4.4. 68 Ebd. Teil II, Kap I.3.2 und Kap. IV.8. 69 Bezeichnend ist, wie vor Patrimonialgerichten aussagende DorfbewohnerInnen gegenüber den wenigen einer negativen, »zauberischen« Handlung verdächtigten männlichen Angeklagten gängigerweise damit argumentieren, diese stünden in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zu einer in der »kunst« bewanderten Frau, lebten mit ihr bereits lange Zeit zusammen, hätten Zugang zu den von ihr bereiteten Güssen oder Tränken etc. oder aber, sie teilten den »zorn« ihrer weiblichen Angehörigen, also die leiblichemotionale Komponente der Wirkkraft des Schadenszaubers. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 224 eines kommunikativen Prozesses zwischen mehreren Personen. Potentiell kann die gesamte dörfliche Gemeinde in diesen Prozeß einbezogen werden. Der eigentliche Wahrsageakt kann also auf das hinführen, was man als seine Etikettierung, als deviant bezeichnen könnte, er geht darin aber keineswegs auf. Analoges gilt im Übrigen auch für andere Praktiken. Anders gesagt: Verhalten, ›Abweichung‹ und Geschlecht können nicht in ein lineares Verhältnis gestellt werden. Nimmt man das gesamte Praxisfeld der Konfliktaustragung in den Blick, so läßt sich für den hier vorgestellten Untersuchungszeitraum konstatieren, daß die Wahrnehmung der Geschlechtsmarkierung keineswegs mit der Vorstellung einer jeweils allen Frauen bzw. allen Männern gemeinsamen sozialen oder körperlichen Konstitution einhergehen konnte. Kennzeichnend für die Wirkungsweise der Geschlechterdifferenz sind vielmehr eine Reihe von Übergängen und zugleich breite Überschneidungen zwischen den in divergierendem Maß mit Geschlecht assoziierten Handlungspotentialen, denen nicht die Qualität verallgemeinerbarer, konstanter oder gar sich gegenseitig ausschließender »Geschlechtseigenthümlichkeiten« zukommt: Eine, wenn man so will, besondere »Eigenthümlichkeit« dieser Bedeutungsmatrix läßt sich indessen gerade daran festmachen, daß sich letztlich erst im konkreten Interaktionsverlauf zwischen Aneignung einer Praktik einerseits und den (ritualisierten) Reaktionen eines ganzen Beziehungsgefüges andererseits entschied, welche Dispositionen der einzelnen Frau oder dem einzelnen Mann zugeschrieben, wie diese bewertet werden und welche Folgen dies für die Einzelnen hat. Es ist also auch diese spezifische Relationalität der mit Geschlecht verknüpfbaren Dispositionen, die sich vom Konstruktionsmodus späterer »Geschlechterbilder« unterscheidet. Daß ein dualistisches Geschlechterkonzept in ›vormodernen‹ Gesellschaften immer schon zu kurz greifen muß, verdeutlicht auch unser zweiter methodologischer Vorschlag, mit welchem wir wieder in das ›engere‹ Untersuchungsfeld der historischen Kriminalitätsforschung zurückkehren. Ausgehend von dem im Erzherzogtum Österreich unter der Enns gültigen Strafrecht, der sogenannten Ferdinandea 70 , sollen die Klassifizierungsvariablen herausgearbeitet werden, die in die gerichtliche Konstruktion, Bewertung wie Sanktionierung von ›kriminellen‹ Praktiken einflossen. In unserer Analyse der Ferdinandea werden wir das Augenmerk auf die Kriminalisierung all jener Handlungen legen, die wir aus heutiger Perspektive als sexuelle bezeichnen würden. Diesen Fokus haben wir für diesen Artikel nicht zuletzt deshalb gewählt, weil sowohl in der historischen Kriminalitätsforschung wie in der Geschlechtergeschichte weitgehend die Auffassung geteilt wird, daß speziell bei der Verfolgung und Bestrafung ›sexueller Delikte‹ die geschlechtliche Markierung ausschlaggebend war. 71 Interagierende Differenzen Der engere Geltungsbereich der 1656 in Kraft getretenen und in der Forschung bislang kaum beachteten Ferdinandea umfaßte in etwa das Gebiet des heutigen Niederöster- 70 Land-Gerichts-Ordnung. Deß Erz-Herzogthumbs Oesterreich unter der Ennß, zitiert nach: Codex Austriacus, Band 1, Wien 1704, 659 - 729. Gültig von 1656 bis 1769 bzw. 1770. 71 Vgl. etwa Robert Jütte: ›Geschlechtsspezifische Kriminalität‹ (wie Anm. 1), 114; Susanna Burghartz: ›Geschlecht‹ und ›Kriminalität‹ (wie Anm. 3), 25. Fragile Liebschaften? 225 reich. 72 Die insgesamt 40 Artikel, die die »landgerichtlichen Missethaten« kodifizierten, folgten einer einheitlichen Architektur. 73 Die fortlaufende Numerierung bildete gleichsam die Überschrift der einzelnen Artikel. Der erste Absatz beschrieb in aller Regel sehr detailreich, welche sprachlichen und nicht-sprachlichen Praktiken unter den Artikel fielen. Meist fand sich zudem der Kontext expliziert, in welchem die ›kriminelle‹ Handlung »landgerichtlich« oder »obrigkeitlich« zu verfolgen und zu ahnden war. Eine Kurzfassung dieser Beschreibung war in einer etwas kleineren Schrift am rechten bzw. am linken Papierrand vermerkt. 74 An die Einleitung schlossen fortlaufend numerierte Paragraphen an: Sie definierten, welche Verdachtsmomente zur begründeten Einleitung eines Verfahrens gegeben sein mußten, gaben Anweisungen zum Verfahren, beschrieben die Indizien, die zur ›Verwahrung‹ im Gefängnis und zur Anwendung der Folter ausreichten und listeten spezifische Fragen 75 an den »Missethäter«, die »Missethäterin« auf. Die abschließenden Paragraphen legten das »End-Urtheil« fest und listeten taxativ strafverschärfende bzw. strafmildernde Umstände auf. Hauptadressaten der Ferdinandea waren die Inhaber von Landgerichten, die immer wieder auch direkt angesprochen wurden. Wie eng sich im untersuchten Landgericht die juristisch kaum gebildeten Landgerichtsverwalter an die Ferdinandea hielten, wird offenkundig, wenn Gerichtsakten und Ferdinandea gegengelesen werden. 76 Die Perchtoldsdorfer Landrichter entnahmen ihr die Deliktkategorien, die Regeln für die Durchführung des Strafprozesses ebenso wie die Fragen, die sie im Zuge der Verhöre an die DelinquentInnen richteten. Aber auch den juristisch ausgebildeten Rechtsgutachtern diente die Ferdinandea zur Überprüfung der formellen Korrektheit des Strafverfahrens, zur Ableitung der jeweils in Rechnung stellbaren strafverschärfenden bzw. strafmildernden Umstände und zur Erstellung eines Urteilsvorschlages. Für beide Gruppen erfüllte die Ferdinandea somit quasi die Funktion eines Handbuches. 77 Schon ein flüchtiger Blick in die Ferdinandea läßt die von modernen Strafrechtskodifikationen grundlegend divergierende Konzeption der Individuen erkennen. Geht das 72 1769 von der Constitutio Criminalis Theresiana abgelöst, überdauerte die Ferdinandea ihren juristischen Geltungszeitraum insofern, als die Verfasser der Theresiana die Bestimmungen aus der Ferdinandea und aus der Josephina (1707) kompilierten und den Schwerpunkt dabei eindeutig auf die Ferdinandea legten. 73 Die ersten 58 Artikel der Ferdinandea sind mit heutiger Terminologie als Strafprozeßordnung zu bezeichnen. Daran schließen die 40 Artikel des materiellen Strafrechts an. 74 Zur Benennung der einzelnen Artikel zitieren wir im folgenden diese Kurzfassung. Die Theresiana übernimmt die chronologische Numerierung der kodifizierten ›Verbrechen‹ und verwendet diese Kurzfassungen - meist buchstabengetreu - auch als Überschrift. 75 Die allgemeinen Fragen, die allen DelinquentInnen zu stellen waren, listete ein spezieller Artikel auf: Ferdinandea, Artikel 32: »Von der gütigen Befragung/ und Fragstuck«. 76 Ausgewertet wurden die überlieferten Texte aller Malefizprozesse, die zwischen 1700 und 1789 vor dem in Niederösterreich gelegenen Landgericht Perchtoldsdorf verhandelt worden waren; Texte von Gerichtsverfahren, in welchen sich die DelinquentInnen wegen als ›Verbrechen‹ bewerteter Praktiken wie Abtreibung, Blasphemie, Diebstahl, Ehebruch, GattInnenmord, Kindsmord, Straßenraub, sexueller Gewalt, Sodomie, Totschlag etc. zu verantworten hatten. Vgl. dazu Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen (wie Anm. 24). Auf die Verwendung der Begriffe ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ werden wir noch zurückkommen. 77 Diese Beobachtung steht im Gegensatz zu der von Elisabeth Koch vertretenen These, wonach den juristischen Kodifikationen bis ins 19. Jahrhundert kaum Bedeutung zukam. Vgl. dies.: Die Frau im Recht der Frühen Neuzeit. Juristische Lehren und Begründungen, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, 73 - 93 sowie dieselbe: Maior dignitas est in sexu virili. Das weibliche Geschlecht im Normensystem des 16. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1991. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 226 moderne Strafrecht vom säkularen Grundsatz der ›Gleichheit‹ der Individuen vor dem Gesetz aus, so ist der Bezugspunkt der Ferdinandea das katholische Weltbild, welches die Menschen zwar im imaginierten ›Jenseits‹, nicht aber im realen ›Diesseits‹ als gleich entwirft. Dementsprechend konstruierten die Verfasser der Ferdinandea die ›kriminellen‹ Handlungen nicht nur entlang der sozialen und kulturellen Ungleichheit der Individuen, sondern sahen für identische Handlungen von »höheren Standspersohnen« 78 und »gemeinen Mann=und Weibspersohnen« teilweise divergierende »End Urtheile« vor. 79 Während die Ferdinandea auf den ersten Blick ein männliches Repräsentationssystem kennzeichnet, zeigt eine genauere Analyse des verwendeten grammatikalischen Geschlechts, daß das männliche Repräsentationssystem an verschiedenen Stellen immer wieder durchbrochen wird. So etwa bei der Kriminalisierung sexueller Handlungen, wo explizit sowohl die grammatikalisch weibliche wie die männliche Form verwendet wird. Das männliche Repräsentationssytem ist daher keineswegs als geschlechtsneutral zu sehen. Im Gegenteil: Die Analyse des grammatikalischen Geschlechts bietet einen ersten Aufschluß darüber, bei welchen kriminalisierten Praktiken eher Männer, eher Frauen oder aber beide Geschlechter als AkteurInnen gedacht sind. Auch wenn die ›höhere‹ und die ›niedere‹ Gerichtsherrschaft in manchen Orten bzw. Gebieten des untersuchten Erzherzogtums von den selben Personen ausgeübt wurde, so gehorchten die Strafprozesse - allen verfahrensrechtlichen Übereinstimmungen 80 zum Trotz - divergierenden Spielregeln: Die Unterschiede begannen bei der Entscheidung, ob die DelinquentInnen in den Arrest gesetzt oder aber nur angeklagt wurden. Sie setzten sich fort bei der Frage, welche Verhörtechniken für rechtmäßig erachtet wurden 81 , und sie waren schließlich auch bei der Bemessung des Strafrahmens 82 wie auch des Strafvollzuges 83 von Gewicht. Dennoch ist es wichtig, den Fokus nicht nur auf die zuständigen Gerichtsinstanzen zu legen. Untersucht man, wie es in der Kriminalitätsgeschichte meist geschieht, entweder das Quellenkorpus der einen oder das der an- 78 Sofern diese nicht ohnehin ein Kriminalprivileg besaßen. 79 So etwa beim als ›Verbrechen‹ bewerteten Ehebruch: Personen »höheren Stands« waren beim ersten Mal mit einer Geldstrafe und einigen Tagen Gefängnis bei Wasser und Brot zu bestrafen, während »die gemeinen Mann= und Weibspersohnen (...) mit Ruthen ausgestrichen« und auf eine bestimmte Zeit des Landes verwiesen werden sollten. Waren die Männer und Frauen das zweite Mal des Ehebruchs angeklagt, so sollten die Landrichter bei »höheren Stands Persohnen« die Strafe willkürlich verschärfen, die »gemeinen Persohnen« dagegen zum Tod mit dem Schwert verurteilen. Ferdinandea, Artikel 76: »Von dem Ehebruch«, § 8. 80 Die Verfahren fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, die Individuen waren nicht als Angeklagte, sondern als DelinquentInnen, sprich als Schuldige konzeptionalisiert, sie hatten weder das Recht auf Zuziehung eines Verteidigers, noch durften sie ihre Anklageschrift selbst einsehen. 81 Während bei Prozessen der ›höheren‹ Gerichtsbarkeit die Folter über den Verfahren schwebte, waren wegen eines ›Vergehens‹ bezichtigte DelinquentInnen in keiner Stufe des Gerichtsprozesses von einer Folterung bedroht. Die 1769 in Kraft getretene Theresiana beschrieb die einzelnen Foltergrade und - methoden nicht nur, sondern sie visualisierte diese auch in 28 beigefügten Kupferstichen. Erst Joseph II. ordnete im Ende Dezember 1775 die Streichung der Folter aus der Theresiana an. Vgl. Entscheidung Joseph II., 23. Dezember 1775, zitiert nach Rudolf Hoke/ Ilse Reiter: Quellensammlung zur österreichischen und deutschen Rechtsgeschichte, Wien/ Köln/ Weimar 1993, 476. 82 ›Vergehen‹ konnten oft mit Geld verrechnet werden, ›Verbrechen‹ nicht. Im Gegensatz zu ›Verbrechen‹ waren für ›Vergehen‹ schwere, d.h. oft verstümmelnde Körperstrafen ebensowenig zulässig wie die Verbannung der DelinquentInnen aus bestimmten Orten oder Gebieten. 83 Die Sanktionierung von ›Vergehen‹ erfolgte selten »offentlich«, während jene von ›Verbrechen‹ oft ein Publikum voraussetzte. So war die Umsetzung einer Verbannung ohne die Mitwirkung der Bevölkerung nicht möglich, bezogen ›Ehrenstrafen‹ ihre Wirkung erst aus dem »offentlichen« Vollzug, wurden Hinrichtungen für die Bevölkerung inszeniert. Fragile Liebschaften? 227 deren Gerichtsbarkeit, gerät allzuschnell aus dem Blick, daß strafrechtlich verfolgbare Handlungen nicht per se in die Kompetenz der höheren oder der niederen Gerichtsbarkeit fielen, sondern ihrer Zuordnung ein äußerst komplexer Bewertungsprozeß voranging. Methodisch sinnvoller erscheint es uns daher, neuerlich bei den Praktiken anzusetzen und, um diese Perspektivenwahl auch terminologisch zu fassen, mit dem modernen Begriffspaar ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ zu arbeiten. Der Vorteil dieser Begrifflichkeiten liegt unseres Erachtens darin, daß sie die zuständige Gerichtsobrigkeit zwar implizit mitführen, gleichzeitig aber so offen sind, daß ihr Sinngehalt immer nur kontextuell ermittelt werden kann. Für die modernen Begriffe spricht zudem, daß sie nicht in Dichotomie zueinander stehen, sondern vielmehr auf die fließenden Grenzen zwischen ihnen verweisen. Betrachten wir in einem ersten Schritt, welche sexuellen Handlungen die Ferdinandea als ›Verbrechen‹ qualifizierte und entlang welcher Variablen sie diese von den ›Vergehen‹ schied. Relativ einfach läßt sich feststellen, daß die Ferdinandea den gleichgeschlechtlichen ebenso wie den Geschlechtsverkehr mit Tieren als »Unkeuschheit wider die Natur« konzeptualisierte und diese sexuellen Praktiken ohne Wenn und Aber als ›Verbrechen‹ markierte. 84 Die Schwierigkeit beginnt allerdings bei der Frage, welche Handlungen als ›sodomitische‹ gedacht waren, da die Ferdinandea dazu keine Hinweise enthält. 85 Lenkt die Kriminalisierung sogenannter sodomitischer Praktiken unser Augenmerk auf eine von Gott gewollte bzw. sich aus der Natur ergebende generative Funktion der Sexualität, so verdeutlicht die Kriminalisierung bestimmter ›nicht-ehelicher‹ heterosexueller Paarkonstellationen, daß die Fortpflanzung an die Ehe gebunden werden sollte. Konsequenterweise kriminalisierte die Ferdinandea auch nur den mit einer Penetration verbundenen Geschlechtsverkehr und qualifizierte den coitus interruptus generell als strafmildernd. Für die Grenzziehung zwischen ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ entwarfen ihre Verfasser ein äußerst komplexes Regelsystem. Als ›Verbrechen‹ bewerteten sie den heterosexuellen Geschlechtsverkehr dann, wenn die SexualpartnerInnen erstens verschiedenen Religionsgemeinschaften bzw. Ethnien angehörten 86 , wenn sie zweitens gemäß des katholischen Eherechts so nahe miteinander verwandt waren, daß ihre Verehelichung nur mit einem Ehedispens möglich gewesen wäre, 87 wenn sie drittens zwar miteinander verheiratet waren, eine/ r von ihnen jedoch auch mit einer anderen Person verehelicht war 88 , wenn vier- 84 Ferdinandea, Artikel 73: »Unkeuschheit wider die Natur/ oder Sodomia«, Einleitung. 85 Wenngleich sich etwa im Landgericht Perchtoldsdorf während des gesamten 18. Jahrhunderts weder Männer noch Frauen wegen gleichgeschlechtlicher Praktiken gerichtlich verantworten mußten, ist davon auszugehen, daß sexuelle Handlungen ohne Penetration nicht als ›sodomitisches Verbrechen‹ galten. Für diese These spricht, daß die Ferdinandea auch heterosexuelle Praktiken nur mit erfolgter Penetration kriminalisierte und sexuelle Praktiken mit Tieren per definitionem auf Männer beschränkte. Vgl. Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen (wie Anm. 24), 171 - 214 sowie Maren Lorenz: Devianz und Gesellschaft (wie Anm. 30), 132ff. 86 Ferdinandea, Artikel 82: »Von der Blutschand Nothzuch/ Ehebruch und andern Fleischlichen Sünden/ so sich zwischen Christen und Juden/ Türcken/ oder andern Unglaubigen zutragen«. 87 Ferdinandea, Artikel 74: »Von der Blutschand«. Ob die betroffenen Personen von ihrer Bluts-, Wahl- oder geistigen Verwandtschaft wußten, schied nicht das ›Vergehen‹ vom ›Verbrechen‹, sondern hatte nur strafmildernde Effekte. Zu den kanonischen Eheverboten und den Ehedispensen vgl. Edith Saurer: Stiefmütter und Stiefsöhne. Endogamieverbote zwischen kanonischem und zivilem Recht am Beispiel Österreich (1750 - 1850), in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte (wie Anm. 73), 345 - 366. 88 Ferdinandea, Artikel 77: »Von zweyfacher Ehe«. Der soziale Stand floß in die Konstruktion der Bigamie als ›Verbrechen‹ insofern ein, als in Paarkonstellationen, wo eine »geringere Stands Persohn ein vornehmes Geschlecht überführt hätte«, die Ferdinandea eine strengere Bestrafung festlegte. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 228 tens beide mit anderen Personen verheiratet waren oder wenn fünftens eine verheiratete Frau mit einem ledigen Mann schlief. 89 War dagegen der Mann verheiratet und die Frau ledig, so definierte die Ferdinandea diesen Beischlaf als ›Vergehen‹. Überschritten die SexualpartnerInnen keine der genannten religiös bzw. ethnisch begründeten Grenzen, so war die Häufigkeit der gerichtlichen Ahndung des Beischlafes entscheidend. 90 Standen die DelinquentInnen bei den ersten beiden gerichtlichen Verfahren noch wegen eines ›Vergehens‹ vor Gericht, so verwandelte die dritte gerichtliche Anklage das ›Vergehen‹ in ein ›Verbrechen‹. In einem sehr eingeschränkten Kontext qualifizierte die Ferdinandea die mit Gewalt erzwungene Penetration als »Nothzucht« und hob diese so von den bislang genannten sexuellen Praktiken ab. 91 Als »Nothzucht« bewertete sie die sexuelle Gewalt an »unverleumbteden Jungfrauen«, an Witwen und an Ehefrauen dann, wenn letztere nicht mit dem Vergewaltiger verheiratet waren. Frauen und Mädchen, welchen die Hebammen keine Verletzung der »weiblichen Scham« bestätigten, konnten per definitonem nicht vergewaltigt worden sein, ledige Frauen riskierten bei einer gerichtlichen Klage, selbst wegen »fleischlicher Versündigung« verurteilt zu werden. 92 Der Vollständigkeit halber sei abschließend noch erwähnt, daß der Delinquent oder die DelinquentIn den Beischlaf nicht selbst vollzogen haben mußte, um vor Gericht zitiert zu werden. Als ›Verbrechen‹ qualifizierte die Ferdinandea auch die »Kupplerey«, deren Bedeutungsfeld von der Anstiftung zur Prostitution über die Zurverfügungstellung von Räumlichkeiten an »verdächtige Leuthe« bis zur Duldung des Ehemannes reichte, daß in seiner Gegenwart »verdächtige Manns-Persohnen mit seiner Tochter/ oder Eheweib ungebührlich umbgiengen«. 93 Sollen nun einzelne Gerichtsurteile miteinander verglichen werden, so muß die Analyse noch weiter vorangetrieben werden. Wie wir bereits erwähnten, schrieb die Ferdinandea im Gegensatz zur ›älteren‹ Carolina für jede einzelne als ›Verbrechen‹ markierte Handlung eine Reihe von strafverschärfenden und strafmildernden Umständen fest, die bei ›sexuellen‹ Handlungen neuerlich entlang der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, der geschlechtlichen Markierung, der sozialen Position, des Alters, des Familienstands sowie des »Leumuths« konstruiert waren. Die rechtlichen Gutachten wie auch die Urteile der vor dem Perchtoldsdorfer Landgericht verurteilten DelinquentInnen belegen insbesondere das Gewicht der strafmildernden Umstände. Urteile, in denen die im sogenannten »End Urtheil« angedrohte Todesstrafe in einen kurzen Arrest verwandelt worden war, sind eher die Regel als die Ausnahme. 94 89 Ferdinandea, Artikel 76: »Von dem Ehebruch«. 90 Ferdinandea, Artikel 81: »Von gemeiner Hurerey und andern unzimlichen Beywohnungen«. 91 Ferdinandea, Artikel 75: »Von der Nothzucht«. Frauen waren immer als »Genothzüchtigte«, Männer immer als »Nothzüchtiger« gedacht. 92 Das Strafrecht bietet damit eine erste Erklärung, warum sexuelle Gewalt kaum angezeigt wurde und eine ›deliktspezifische‹ Sortierung der Gerichtsakten daher auch kaum »Nothzuchts«prozesse zutage fördern kann. Im untersuchten Landgericht mußte sich während des 18. Jahrhunderts nur Mathias Kindler 1752 »in puncto attentati stupri violentis« gerichtlich verantworten. Daß Frauen immer wieder von sexueller Gewalt bedroht und betroffen waren, wird dagegen in einer deliktübergreifenden Analye deutlich: So war etwa Susanna Fuxsteinerin, die 25jährig die Tötung ihres Neugeborenen 1761 mit dem eigenen Leben bezahlte, in ihrem kurzen Leben mehrmals vergewaltigt worden. Ausführlicher dazu Andrea Griesebner: »Er hat mir halt gute Wörter gegeben, daß ich es Thun solle.« Sexuelle Gewalt im 18. Jahrhundert am Beispiel des Prozesses gegen Katharina Riedlerin und Franz Riedler, in: Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Band 22/ 1996, 130 - 155. 93 Ferdinandea, Artikel 80: »Von der Kupplerey«. Fragile Liebschaften? 229 Trotz aller gebotenen Kürze sollte deutlich geworden sein, daß die Ferdinandea bei der Konstruktion wie bei der Bewertung ›krimineller‹ Praktiken verschiedenen sozialen und kulturellen Kategorien gleichzeitig Bedeutung verlieh. 95 Anstelle kohärenter Geschlechtergruppen erzeugte sie ein Geflecht von interagierenden Differenzen, welche in die Wahrnehmung wie in die strafrechtliche Bewertung sprachlicher wie nichtsprachlicher Praktiken einflossen. Zu denken ist dabei neben den bereits genannten Differenzen ebenso an Unterschiede, die sich durch die jeweilige Einbettung in Beziehungsnetze oder auch durch den Gegensatz »einheimisch und angesessen« versus »fremd und streichend« 96 ergaben. Anstatt den im Kontext von Strafverfolgungen entstandenen Texten binäre Geschlechterkonzepte überzustülpen, sollte unseres Erachtens das methodologische und theoretische Instrumentarium verfeinert und die Erkenntniswerkzeuge, sprich die einzelnen Kategorien, immer wieder auch zum Erkenntnisgegenstand gemacht werden. Von der Überlegung ausgehend, daß die Relevanz der geschlechtlichen Markierung ebenso wie die Relevanz anderer Markierungen immer nur relational begriffen werden kann, läuft unser zweiter methodischer Vorschlag auf eine mehrfach relationale Analyse hinaus. 97 Analytisch scheint uns das mehrdimensionale Modell des ›sozialen Raumes‹, wie es Pierre Bourdieu auf der Basis seiner Arbeiten über die französische Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre unseres Jahrhunderts entwickelte, auch für das Verständnis ›vormoderner‹ Gesellschaften nützlich. 98 Es muß wohl nicht extra betont werden, daß die von Pierre Bourdieu entwickelten Klassifizierungsvariablen nicht einfach in ›fremde‹ Gesellschaften projiziert werden können, sondern die für den jeweils interessierenden Untersuchungsraum charakteristischen Unterscheidungsprinzipien erst zu erarbeiten sind. Ein erster Einblick in die Wirkungsmächtigkeit bestimmter Klassifizierungs- und damit Positionierungsvariablen kann durch die Dialogisierung der Gerichtsakten und der Strafbücher gewonnen werden. Der enorme Hand- 94 Der Handlungsspielraum der Landrichter war durch keine Mindest- oder Höchststrafen begrenzt. Das sogenannte »End-Urtheil« entzieht sich daher gegenwärtig üblichen rechtstheoretischen Klassifikationen wie Höchst- oder ›Regelstrafe‹. Die vielfach beobachtete Differenz zwischen Strafnorm und Strafpraxis könnte möglicherweise schlicht damit erklärt werden, daß die Drohgebärden der Strafrechte mit Regelstrafen verwechselt werden. Neu zu überdenken wäre, auf welcher Quellenbasis sich überhaupt juristische Normen zur Bestrafung eines ›Vergehens‹ oder ›Verbrechens‹ re-konstruieren ließen. Vermutlich eignen sich die Texte der Juristen dazu eher als die »End-Urtheile« der Ferdinandea, wenngleich nicht vergessen werden darf, daß diese Drohgebärden - wie Einzelbeispiele verdeutlichen - auch in der Praxis umgesetzt werden konnten. Vgl. dazu auch Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen (wie Anm. 24), 259ff. 95 Die Beobachtung läßt sich, wie die einschlägigen Beiträge in dem jüngst von Ute Gerhard herausgegebenen Sammelband zeigen, generell auf das frühneuzeitliche ›europäische‹ Strafrecht übertragen. Vgl. die entsprechenden Artikel des ersten Teiles: Die Ordnung der Geschlechter in der Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte (wie Anm. 73), 27 - 264. 96 Diese Oppositionen durchziehen die einzelnen Artikel der Ferdinandea. 97 Zum folgenden vgl. auch Andrea Griesebner: Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in: Veronika Aegerter u.a. (Hg.): Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich 1999. 98 Im Rahmen dieses Artikels kann dieses Konzept nicht ausgeführt werden, es muß auf die Arbeiten Pierre Bourdieus selbst verweisen werden. Einführend vgl. derselbe: Sozialer Raum und ›Klassen‹, in: derselbe: Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la Leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, 47 - 81 (französisch: 1984). Zum Konzept der Kapitalsorten und der Kapitalstruktur vgl. auch derselbe: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1989 (französisch: 1979). Zum Konzept des Habitus vgl. auch derselbe: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1993, 97 - 121 (französisch 1980). Andrea Griesebner, Monika Mommertz 230 lungsspielraum der Landrichter und ihre Einbindung in lokale Herrschaftszusammenhänge ist methodisch insofern von Vorteil, als der Stellenwert ablesbar wird, der einer bestimmten Praktik ›vor Ort‹ beigemessen wurde. Vor Gericht wurde über individuelle Personen wie auch über legitime und illegitime Praktiken ganz allgemein entschieden, wurde Wahrheit produziert und durch die Produktion von Wahrheit Macht ausgeübt. Der Gerichtsprozeß war im Dorf- und Marktalltag ein herausragendes Ereignis, zu dessen Realisierung die Kooperation der dörflichen Bevölkerung - sei es als ZeugInnen, KlägerInnen oder DenunziantInnen - unumgänglich war. Auch wenn es bei der Analyse dieser Erzählungen immer zu berücksichtigen gilt, daß allen Individuen, die so entscheidend in den Prozeß verwickelt wurden, daß auch ihre Handlungen und Äußerungen uns heute überliefert sind, ein Raum des strategischen Ermessens zur Verfügung stand, 99 so können die vor diesem Hintergrund festgehaltenen Erzählungen für die Re- Konstruktion des sozialen Raumes nutzbar gemacht werden. Für die Positionierung der einzelnen Individuen im sozialen Raum ist es dennoch unerläßlich, die in den Gerichtsakten enthaltenen biographischen Informationen 100 weiter zu verdichten. Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, möchten wir, ohne das Theoriegebäude des sozialen Raumes hier weiter ausführen zu können, festhalten, daß die im sozialen Raum eingenommene Position nicht gleichbedeutend mit dem ist, was in sozialhistorischen Theoriegebäuden sozialer Stand, soziale Schicht oder auch Klasse genannt wird. Der soziale Stand ist neben den bereits genannten und sicherlich noch weiter auszudifferenzierenden Kategorien 101 nur eine, wenngleich wichtige Positionierungsvariable. Die Positionierung der Individuen im sozialen Raum ist folglich erst im Rahmen einer Mikrostudie möglich, die alle verfügbaren Quellengruppen miteinbezieht. Neben traditionellen Quellen der Geschichtswissenschaft denken wir hier auch an alle jene Texte und Bilder, die in der Tradition der deutschsprachigen Wissenschaftskultur zwischen der Rechtsgeschichte, Germanistik, Literaturwissenschaft, Geographie, Philosophie, Kunstgeschichte oder auch der Theologie aufgeteilt sind. Damit verbindet sich nicht die Hoffnung auf eine allumfassende Re-Konstruktion, sondern die Überlegung, daß insbesondere auch die ›fiktiven‹ Geschichten - seien es jene aus literarischen oder aus religiösen Überlieferungen - keine eigene Welt bildeten, sondern die Möglichkeit, die Welt zu interpretieren, die Welt zu erfahren, der Welt Sinn zu verleihen. 102 Es versteht 99 Raum des strategischen Ermessens mit Pierre Bourdieu dahingehend verstanden, daß die Einzelnen nicht nur auswählten, was sie wann und vor allem wie vor Gericht erzählten, sondern sie auch reflektierten, was und vor allem wen sie vor Gericht brachten. Zu den Bedeutungsfeldern der Begriffe Strategie und Taktik vgl. auch Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988 (französisch 1980), Einleitung. 100 Im Untersuchungszeitraum waren dies: Name, Geschlecht, Alter, Religion, ziviler Stand, Kinder, Geburtsort, letzter Aufenthaltsort und Beruf(e) der DelinquentInnen. Abgefragt wurden zudem in aller Regel der Name, Beruf und Aufenthaltsort der Eltern und der Geschwister, bei verheirateten DelinquentInnen auch der Ehefrauen bzw. Ehemänner. Oft finden sich auch noch Angaben zum Besitz und zum Vermögen der DelinquentInnen, zur Höhe des zu erwartenden Erbes von väterlicher und mütterlicher Seite und zu den politischen Partizipationsmöglichkeiten, sprich ob sie InwohnerInnen waren oder aber das Bürgerrecht besaßen. 101 Wir denken hier etwa auch an die Bedeutung der Position in der Geschwisterreihe, die vor allem auch Ulrike Gleixner in ihrer Studie betonte. Vgl. Ulrike Gleixner: ›Das Mensch‹ und ›der Kerl‹ (wie Anm. 8). 102 Carlo Ginzburg führte dies in seiner Studie eines friaulischen Müllers des 16. Jahrhunderts vor mehr als 20 Jahren eindrucksvoll vor: vgl. derselbe: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 1990 (italienisch 1976). Fragile Liebschaften? 231 sich, daß eine solche Herangehensweise nicht einfach umzusetzen ist: Sowohl die Arbeitskapazitäten der einzelnen WissenschaftlerIn als auch die immer nur ausschnitthaften Einblicksmöglichkeiten jeder Quellensorte setzen der Re-Konstruktion des sozialen Raumes wie der Positionierung der Individuen im sozialen Raum ihre Grenzen. Derartige Einschränkungen vorausgesetzt, läßt sich dennoch das methodische Postulat, welches sich aus diesen Überlegungen ergibt, systematisch fassen: Will man die Relevanz der Geschlechtsmarkierung in Relation zu anderen sozialen und kulturellen ›Markierungen‹ erfassen, so müssen ähnliche Praktiken von Frauen und Männern nicht nur in einer doppelten Relation, wie dies Pierre Bourdieu einforderte, 103 sondern in einer vierfachen Relation analysiert werden: erstens in Relation zu Praktiken von Individuen mit der gleichen geschlechtlichen Markierung, die im sozialen Raum eine ähnliche Position einnehmen; zweitens in Relation zu Praktiken von Individuen mit der gleichen geschlechtlichen Markierung, jedoch einer divergierenden Position im sozialen Raum; drittens in Relation zu Praktiken von Individuen mit einer ähnlichen Position im sozialen Raum, die eine andere geschlechtliche Markierung aufweisen; und viertens in Relation zu Praktiken von Individuen mit sowohl einer divergierenden geschlechtlichen Markierung als auch einer divergierenden Position im sozialen Raum. Abschließende Bemerkungen »Wenn Historiker so durch das Schlüsselloch der Kriminal- und Justizquellen in die Räume der Vergangenheit schauen, müssen sie sich fortwährend darüber Rechenschaft ablegen, welchen Ausschnitt des Raumes sie erblicken und was ihren Blicken aus welchen Gründen systematisch entzogen ist. Gleichzeitig werden sie bestrebt sein, aufgrund des Blickes durch das Schlüsselloch eines Raumes Aussagen über das gesamte mentale und soziale Verhaltensgebäude zu machen.« 104 Mit unseren Ausführungen hoffen wir, deutlich gemacht zu haben, daß dieser von Andreas Blauert und Gert Schwerhoff formulierte Anspruch für eine geschlechtergeschichtlich informierte historische Kriminalitätsforschung weitreichende Implikationen hat. Daß, um im Bild zu bleiben, nicht nur die Ränder des jeweils verfügbaren Quellen-Schlüssellochs ein Sichthindernis sind, sondern auch die eigenen Sehgewohnheiten den HistorikerInnen die Sicht auf vergangene Lebenswelten verstellen können, mag ein Erkenntniszuwachs sein, der sich 103 Im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke plädierte Pierre Bourdieu dafür, Frauen in einer doppelten Relation zu betrachten: »im Verhältnis zu den Männern derselben Position und im Verhältnis zu den Frauen anderer Positionen.« Auch wenn er in diesem Gespräch Klassensozialisation und Geschlechtersozialisation zusammendenkt, indem er davon ausgeht, daß die Geschlechtersozialisation nicht von der Sozialisation für eine soziale Position zu trennen ist, so bleibt sein Beispiel: »daß man lernt, eine Frau zu sein, aber man lernt immer zugleich, Tochter oder Frau eines Arbeiters, Tochter oder Frau eines leitenden Angestellten zu sein« androzentristisch. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke (März 1994), in: Irene Dölling/ Beate Krais: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis. Frankfurt am Main 1997, 218 - 230, hier: 219 und 222. Zu seinen geschlechtertheoretischen Überlegungen vgl. auch: derselbe: Die männliche Herrschaft, in: ebd., 153 - 217 und derselbe: Männliche Herrschaft revisited, in: Feministische Studien 15. Jg./ Heft2/ 1997, 88 - 99 (Goffman-Preisrede an der Universität Berkeley vom 4. April 1996). 104 Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff: Vorbemerkungen, in dies.: (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1993, 7 - 15, hier: 11. Andrea Griesebner, Monika Mommertz 232 augenfällig, aber sicher nicht ausschließlich aus der Diskussion der Kategorie Geschlecht ergibt. Wenn also die aktuellen Gender-Debatten auf das Ausmaß der möglichen Befangenheiten im eigenen historisch gewordenen Denken über ›Männer‹ und ›Frauen‹ verweisen, wenn sie die Sensibilität für unreflektiert mitgeführte Implikationen im Umgang mit den Quellen wecken, so ist damit sicher nicht nur der Geschlechtergeschichte gedient. Aus diesem Blickwinkel heraus hat der vorliegende Beitrag dezidiert für eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstands historischer Kriminalitätsforschung, für veränderte Fragestellungen und für neue Annäherungsweisen an Gerichtsquellen plädiert. In der Frage nach den Dispositionen, die in einer spezifischen Gesellschaft mit der geschlechtlichen Markierung verknüpfbar waren, und in der Frage nach der Relevanz, die der geschlechtlichen Markierung zukommen konnte, scheinen uns Möglichkeiten angelegt, systematisch die ›Fremdheit‹ frühneuzeitlicher Geschlechterkonzepte zu berücksichtigen und einen differenzierten Umgang mit den einschlägigen Quellen zu entwickeln. Die hier aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive entworfenen Herausforderungen reichen jedoch weiter. Den Vorgängen, Verhältnissen und Verhaltensweisen vor und außerhalb von gesetztem Recht und Gerichtsbarkeit größeres Augenmerk zu schenken, heißt zu Ende gedacht, den Analysehorizont der historischen Kriminalitätsforschung zu verschieben bzw. die Begrifflichkeiten zu überprüfen und zu erweitern, in denen dieser sich abbildet: Das justizförmig zugängliche Verhalten ist eben nicht lediglich mit Bezug auf justizielle Verfahrensweisen, Beziehungsformen und Institutionen einzuordnen und zu deuten, sondern mit Bezug auf Gesellschaft. 105 Die in Gerichtsakten festgeschriebenen Handlungsweisen sowohl mit der Frage nach ihrer sozialen Sinnhaftigkeit wie nach ihrer möglichen ›Eigenmächtigkeit‹ zu konfrontieren, erscheint uns gerade dann dringlich, wenn unmittelbar Prozesse der Kriminalisierung bzw. Ausgrenzung, also genuine Themen der historischen Kriminalitätsforschung, zur Debatte stehen: Nur wenn den Sichtverengungen der Gerichtsakten bewußt entgegengearbeitet wird, läßt sich umfassend erklären, worauf Obrigkeiten und/ oder andere in die Verfahren involvierte Personen re-agierten, wenn sie beispielsweise »soziale Kontrolle« ausübten. Wo sich aber kriminalisierte und nicht-kriminalisierte Verhaltensweisen systematisch als Praktiken mit eigenständigem ›sozialen Sinn‹ nachweisen lassen, kann wiederum die Frage angeschlossen werden, inwieweit in der obrigkeitlichen Gerichtspraxis, begriffen als Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, selbst Bedeutung - in unserem Falle von Geschlecht - ›verhandelt‹ und damit produziert wurde. 106 105 Es versteht sich, daß hier ein umfassender und kulturtheoretisch gewendeter »Gesellschafts«Begriff zugrundegelegt werden muß. 106 Vgl. dazu auch: Monika Mommertz: »Ich, Lisa Thielen«. Text als Handlung und als sprachliche Struktur - ein methodischer Vorschlag, in: Historische Anthropologie 4, 1996, 303 - 329. 233 Michael Maset Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse für kriminalitätshistorische Forschungen 1. Einleitung: Macht und Herrschaft Gerd Schwerhoff hat die historische Kriminalitätsforschung wie folgt definiert: »Die historische Kriminalitätsforschung als ein Teilbereich der allgemeinen Sozialgeschichte untersucht abweichendes Verhalten in der Vergangenheit im Spannungsfeld von Normen, Instanzen und Medien sozialer Kontrolle einerseits, von gesellschaftlichen Handlungsdeterminanten und sozialen Lagen andererseits. Umgekehrt wird Kriminalität auch als zentraler Indikator für die Erforschung von gesamtgesellschaftlichen Zuständen und von historischem Wandel eingesetzt.« 1 In dieser Beschreibung des Forschungsgebiets finden sich viele Begriffe, die zum gängigen Inventar kriminalitätshistorischer Studien gehören, die Termini ›Macht‹ und ›Herrschaft‹ werden jedoch nicht explizit erwähnt. Sofern die historische Kriminalitätsforschung von ihren Vertretern und Vertreterinnen als Teil der Sozialgeschichte, häufig auch als »Konfliktgeschichte« 2 verstanden wird, nutzen diese Kriminalität als eine Sonde, von der sie sich - zumeist im Rahmen räumlich und zeitlich begrenzter Fallstudien - Einblicke in menschliche Gruppierungen sowie in darin vorzufindende Macht- und Herrschaftsverhältnisse erhoffen. 3 Die historische Beschäftigung mit abweichendem Verhalten und dagegen gerichteter Sanktionsmittel impliziert somit die Analyse des jeweiligen Machtbzw. Herrschaftskontexts, in dem der Untersuchungsgegenstand steht. Deshalb - so meine erste These - benötigt eine historische Kriminalitätsforschung ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse von Macht und Herrschaft. Macht und Herrschaft sind jedoch problematische Begriffe, was sich nicht zuletzt daran zeigt, daß in den Wissenschaften keine einheitliche Auffassung über beide existiert. Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß es sich bei Macht und Herrschaft um ein in allen Gesellschaften und Staaten für ihren Aufbau, ihr Wesen und Funktionieren bedeutsames Grundverhältnis handelt, in dem die Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen, Klassen oder auch Staaten, durch Über- und Unterordnung, durch Be- 1 Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 385 - 414, hier: 387. 2 Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 1), 405. 3 So z.B. Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmöderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts Oberbayern 1848 - 1910, Reinbek 1989, 24; Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/ Berlin 1991, 442. Michael Maset 234 fehl und Gehorsam bestimmt werden. 4 Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Begriffs Herrschaft, wie sie beispielsweise in den Geschichtlichen Grundbegriffen oder im Historischen Wörterbuch der Philosophie dargestellt wird, führt zu einem ähnlichen Ergebnis: Herrschaft wird als historisches Grundverhältnis der Über- und Unterordnung von Herrschenden und Beherrschten beschrieben, als Verhältnis von ›Herrschaft und Knechtschaft‹. In dieser Perspektive erscheint die Dichotomie von Herrschaft und Knechtschaft, die auf Aristoteles zurückgeführt wird und bei Hegel zu einer universalen weltgeschichtlichen Kategorie wurde, als eine anthropologische Konstante in der Geschichte. Macht stellt demzufolge einen vertraglich geregelten oder gewaltsam angeeigneten Besitz dar, der den politischen Souverän dazu berechtigt oder ermächtigt, Herrschaft auszuüben. Es wird von einem machtbesitzenden Subjekt ausgegangen, das geeignete Mittel zur Durchsetzung von Verboten und Anweisungen anwendet, welche die Realisierung von Herrschaftszwecken ermöglichen. 5 Reinhart Koselleck sieht im Oppositionspaar Herr und Knecht, in »Oben-Unten- Relationen« eine transzendentale Kategorie bzw. Minimalbedingung, welche die Möglichkeit von Geschichten benennt, womit gemeint ist, daß Oben-Unten-Relationen konstitutiv für die Entstehung, den Verlauf und die Wirksamkeit von Geschichten sind: »An dem Befund selber, daß sich immer neue Abhängigkeiten einspielen, (…) ändert sich nichts. (…) Jede Revolution, die auf gewaltsame Weise Gewaltverhältnisse geändert hat, führt zur Etablierung neuer Gewaltverhältnisse. Die Legitimation mag neu sein, die Rechtsverhältnisse mögen andere, vielleicht sogar bessere geworden sein, an der Wiederkehr von neu organisierten und rechtlich geregelten Abhängigkeitsformen, an der Oben-Unten-Relation selber ist deshalb noch nie etwas geändert worden. Selbst eine Vereinbarung unter Gleichen setzt politische Gewalt ein, um die Relationen zu stabilisieren.« 6 Macht und Herrschaft werden nicht immer eindeutig unterschieden und häufig aufeinander und/ oder auf Gewalt bezogen gedacht. 7 Sofern eine definitorische Trennung für notwendig erachtet wird, beziehen sich viele Historiker und Historikerinnen auf Max Webers Operationalisierung von Macht und Herrschaft. In der Nachfolge von Weber wird Macht als die Chance betrachtet, die Einzelne, eine Gruppe, Klasse oder der Staat haben, um den eigenen Willen innerhalb einer sozialen und politischen Beziehung durchzusetzen. Worin diese Durchsetzungsfähigkeit besteht und welche Vorausset- 4 Vgl. Lothar Döhn: Macht und Herrschaft, in: Hanno Drechsler/ Wolfgang Hilligen/ Franz Neumann (Hg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, 8. neubearb. u. erw. Aufl., München 1992, 466 - 468. 5 Vgl. Horst Günther/ Dietrich Hilger/ Karl-Heinz Ilting/ Reinhart Koselleck/ Peter Moraw: Herrschaft, in: Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, 1 - 102; J. Winckelmann: Herrschaft, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel/ Stuttgart 1974, 1084 - 1088; K. Rothe: Herrschaft und Knechtschaft, in: Ebd., 1088 - 1096. Zum Figurenpaar Herr und Knecht vgl. auch Hartmut Zwahr: Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte, Leipzig/ Jena/ Berlin 1990. 6 Reinhart Koselleck: Historik und Hermeneutik, in: Ders./ Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik und Historik, Heidelberg 1987, 9 - 28, hier: 20. 7 Ein Beispiel: Für Gadi Algazi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt a. Main/ New York 1996 beruht die spätmittelalterliche Herrschaft über Bauern auf dem Gewaltpotential und -monopol der Herren (Vgl. ebd., 224.). Eine definitorisch eindeutige Trennung zwischen Macht, Herrschaft und Gewalt wird nicht durchgeführt. Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse 235 zung sie hat, spielt dabei keine Rolle. Macht ist in dieser Konzeption ein Instrument, ein Potential, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Herrschaft unterscheidet sich von Macht hauptsächlich dadurch, daß sie durch Recht, Gesetz, Ideen und Werte legitimierte Macht ist. Herrschaft ist dementsprechend die Chance oder Möglichkeit, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei bestimmten Personen Gehorsam zu finden. Sie korrespondiert in Webers Konzeption mit Anerkennung, auch wenn diese sich nur in Form bloßer Unterwerfung zeigt. Herrschaft bedarf einer Legitimität, wenn sie sich von Gewalt unterscheiden will, was jedoch nicht bedeutet, daß sich Herrschaft jeglicher Macht- oder Gewaltmittel enthalten müßte. 8 Während in der historischen Forschung vor allem die Analyse von Herrschaft thematisiert wird, möchte ich im folgenden bewußt die historische Analyse von Macht in den Mittelpunkt stellen. Sofern in Anlehnung an Weber Macht häufig als Instrument von Herrschaft bzw. Herrschaft als legitimierte Macht mit Sanktionsgewalt interpretiert wird, ist ein Zusammenhang von beiden gegeben, aber die Frage nach ›Macht‹ impliziert meines Erachtens eine stärkere Ausrichtung auf die menschlichen Beziehungen. Die Untersuchung von Herrschaftsverhältnissen begnügt sich oftmals mit der Darstellung von »Oben-Unten-Relationen« und der Frage ihrer Legitimierung bzw. Legitimität, wohingegen die Analyse von Machtverhältnissen das konkrete Funktionieren dieser Relationen untersuchen kann. 9 Dabei ist auch zu fragen, ob zweipolige »Oben-Unten-Relationen« überhaupt adäquate heuristische Hilfsmittel zur historischen Analyse von Macht darstellen. Distributive Schichtungsanalysen, die häufig mit »Oben-Unten-Relationen« arbeiten, sagen über das Funktionieren von Machtverhältnissen zumeist wenig aus, da sie Macht nur in Form von Potentialen darstellen und die historischen Subjekte häufig vor jeglicher gesellschaftlichen Interaktion positionieren (so z.B. in Wehlers Gesellschaftsgeschichte 10 ). Da Machtrelationen Verhältnisse zwischen Menschen bezeichnen, die zum Teil strukturellen Charakter haben oder strukturell bedingt sein können, bedarf eine historische Analyse von Macht sowohl einer strukturals auch einer handlungstheoretischen Perspektive, um die Doppelkonstitution historischer Wirklichkeit (Medick), die Gleichzeitigkeit von gegebenen und produzierten Verhältnissen, die Wechselwirkung zwischen prägenden bzw. determinierenden Strukturen und dem Handeln der Subjekte, die diese Strukturen hervorbringen, erfassen und darstellen zu können. 11 Meine zweite These lautet dementsprechend: Eine historische Kriminalitätsforschung bedarf einer Analyse von 8 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. revid. Aufl., Tübingen 1976, 28; Achatz von Müller: Herrschaft, in: Manfred Asendorf u.a.: Geschichte. Lexikon der wissenschaftlichen Grundbegriffe, Reinbek 1994, 292 - 295; Döhn: Macht (wie Anm. 4). Zum Vergleich der Ansätze von Max Weber und Michel Foucault siehe Colin Gordon: The Soul of the Citizen: Max Weber and Michel Foucault on Rationality and Government, in: Scott Lash/ Sam Whimster (Hg.): Max Weber, Rationality and Modernity, London 1987, 293 - 316 und Petra Neuenhaus: Max Weber und Michel Foucault. Über Macht und Herrschaft in der Moderne, Pfaffenweiler 1993. 9 Ein Beispiel für eine auf das ›Funktionieren‹ ausgerichtete Analyse bietet James Given: The Inquisitors of Languedoc and the Medieval Technology of Power, in: AHR 94 (1989), 336 - 359. 10 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band: Vom Feudalismus des alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700 - 1815, München 1987, 1 - 30. 11 Vgl. Hans Medick: ›Missionare im Ruderboot‹? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), 295 - 319. Zur ›Doppelkonstitution historischer Wirklichkeit‹ vgl. auch Gerd Dressel: Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien/ Köln/ Weimar 1996, 162f. Michael Maset 236 Macht, die struktur- und handlungstheoretische Zugänge methodisch verknüpfen kann. 12 Diese Verknüpfung, die keine Addition, sondern eine Synthese von methodischen Ansätzen meint, scheint mir wichtig, da sie eine Bestimmung des prekären Verhältnisses zwischen Absicht und Durchsetzung, Anspruch und Wirklichkeit ermöglicht und gegenüber der Kurzschlüssigkeit, von einer Norm auf die Realität eines Verhaltens zu schließen, immunisieren kann. Michel Foucaults Machtanalyse kann - so meine dritte These - diese Verknüpfung leisten, wie ich im folgenden ansatzweise skizzieren möchte. 2. Michel Foucaults Analyse von Macht Michel Foucault hat den Versuch unternommen, eine Analyse der Macht zu entwikkeln, die das konkrete ›Funktionieren‹ von Macht untersucht. Dabei entwirft er dezidiert keine Theorie der Macht, denn er ist weder am Wesen ›der‹ Macht noch an einer Analyse von Macht schlechthin interessiert. Vielmehr setzt er sich von der Voraussetzung einer grundlegenden Macht und ihrer Verdinglichung in mehreren Punkten kritisch ab, indem er nicht nach dem ›Was ist Macht? ‹, ›Woher kommt sie? ‹ 13 , ›Wer hat sie inne? ‹ und ›Was ist die legitime Basis dieser Macht? ‹, sondern nach dem ›Wie funktioniert Macht an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext? ‹ fragt. Gegenstand seiner Analysen ist dementsprechend nicht ›eine‹ Macht, sondern die Untersuchung von Machtverhältnissen. Foucault beschreibt Macht, indem er sie als eine Relation bzw. eine Funktion auffaßt. Macht ist für Foucault keine Form, sondern ein Kräfteverhältnis. Sie hat kein Wesen und ist kein Attribut. Sie ist operativ, es gibt sie nur als von einen bzw. einer auf die anderen ausgeübte: »Macht existiert nur in actu, auch wenn sie sich (…) auf permanente Strukturen stützt. (…) Tatsächlich ist das, was ein Machtverhältnis definiert, eine Handlungsweise, die nicht direkt und unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln. Handeln auf ein Handeln, auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen.« 14 Foucault analysiert Machtverhältnisse als Beziehungen zwischen Subjekten. Macht ist kein Besitz, über den ein Individuum oder eine Gruppe verfügt und der anderen Individuen oder Gruppen abgeht. Jede Machtposition ist selbst in ein Feld von Beziehungen eingelassen, in dem es keine absolut privilegierte und unanfechtbare Stellung gibt. Macht hat bei Foucault kein Zentrum mehr. Sie muß ›dezentral‹ verstanden werden, 12 Zur Verknüpfungsmöglichkeit von Struktur und Handlung vgl. auch Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 1), 405. 13 Vgl. dazu Michael Mann: The Sources of Social Power. Vol. I: A History of Power from the Beginning to A.D. 1760, Cambridge/ New York 1986 (dt. Ausg.: Geschichte der Macht, 2. Bde., Frankfurt a. Main/ New York 1990 u. 1991). Manns soziologische Studie über die ›Quellen‹ der Macht ist meines Wissens bisher nicht von der deutschen Geschichtswissenschaft rezipiert worden. 14 Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. Main 1987 (Chicago 1982), 241 - 261, hier: 254. Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse 237 das heißt sie wird nicht erworben, weggenommen, geteilt, bewahrt oder verloren, sondern sie ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht. Machtwirkungen werden überall erzeugt, nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben und auf oberer und unterer Ebene gegenseitig. Somit gibt es nicht nur vertikale, sondern auch horizontale soziale Kontrolle. Machtbeziehungen verhalten sich zu anderen Typen von Verhältnissen (z.B. ökonomischen oder sexuellen Beziehungen) nicht als etwas Äußeres. Sie sind ihnen insofern immanent, als sie einerseits unmittelbare Auswirkungen von Ungleichheiten, Ungleichgewichten und Teilungen sind, die in diesen Verhältnissen entstehen, andererseits aber auch die inneren Bedingungen jener Differenzierungen darstellen. 15 ›Macht‹ ist nicht eine Institution, eine Struktur oder die Mächtigkeit einiger Mächtiger, sondern vielmehr die Bezeichnung für eine komplexe strategische Situation. 16 Sofern Foucault eine punktuelle Lokalisierung von Macht ablehnt, sieht er auch in Institutionen keine Wesenheiten oder Ursprünge von Macht. Obwohl ihnen Machtverhältnisse innewohnen, sind Macht und Institutionen nicht dasselbe. Foucault will die Bedeutung von Institutionen bei der Einrichtung von Machtverhältnissen nicht verneinen, ihm erscheint es aber sinnvoller, die Institution von den Machtverhältnissen her zu analysieren und nicht umgekehrt, denn »(…) selbst wenn sie [die Machtverhältnisse, M.M.] in einer Institution Gestalt annehmen und sich herauskristallisieren, haben sie doch ihren Haltepunkt außerhalb dieser.« 17 Für Foucault gibt es nicht ›den‹ Staat, sondern lediglich eine Art ›Staats-Effekt‹. 18 Entsprechendes gilt für andere Institutionen (z.B. Familie, Religion). Sie sind keine ›Dinge‹, sondern operative Mechanismen, die differentielle Kräfteverhältnisse im Horizont eines sozialen Feldes integrieren. Für eine Analyse von Macht ist es deshalb u.a. wichtig zu fragen, welche Kräfteverhältnisse Institutionen integrieren und welche Beziehungen sie zu anderen Institutionen unterhalten. 19 Foucault hält es für gefährlich, Macht auf Repression, Ausschließung und Ausgrenzung zu reduzieren 20 und verweist auf den produktiven, ›ermöglichenden‹ Aspekt von Machtmechanismen, die z.B. Wissen hervorbringen: »(…) man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht.« 21 Zugleich betont er die flexible, umkehrbare und auf Widerstand bezogene Struktur von Machtverhältnis- 15 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. Main 1977 (Paris 1976), 115. 16 Vgl. Foucault: Wille (wie Anm. 15), 114. 17 Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 257. 18 Mitchell Dean: Critical and Effective Histories. Foucault’s Methods and Historical Sociology, London/ New York 1994, 156. Dieser schlägt vor, von einem »state-effect« zu sprechen. Zu diesem Thema vgl. auch Graham Burchell/ Colin Gordon/ Peter Miller (Hg.): The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Hemel Hempstead 1991. 19 Vgl. dazu auch Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt a. Main 1987, 106f. 20 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. Main 1976 (Paris 1975), 250. 21 Michel Foucault: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, 35. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Martin Dinges: Michel Foucault. Justizphantasien und die Macht, in: Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. Main 1993, 189-212, 240-244. Michael Maset 238 sen. Möglicher Widerstand ist die Perspektive, aus der seine Analyse Machtverhältnisse betrachtet. Ausgangspunkt sind die Formen des Widerstands gegenüber den verschiedenen Machttypen: »Metaphorisch gesprochen heißt das, den Widerstand als chemischen Katalysator zu gebrauchen, mit dessen Hilfe man die Machtverhältnisse ans Licht bringt, ihre Positionen ausmacht und ihre Ansatzpunkte und Verfahrensweisen herausbekommt. Statt die Macht von ihrer inneren Rationalität her zu analysieren, heißt es, die Machtverhältnisse durch den Gegensatz der Strategien zu analysieren. Um zum Beispiel herauszufinden, was unsere Gesellschaft unter vernünftig versteht, sollten wir vielleicht analysieren, was im Feld der Unvernunft vor sich geht. Wir sollten untersuchen, was im Feld der Illegalität vor sich geht, um zu verstehen, was wir mit Legalität meinen, und um zu verstehen, worum es bei Machtverhältnissen geht, sollten wir vielleicht die Widerstandsformen und die Versuche zur Auflösung dieser Verhältnisse untersuchen.« 22 Foucault geht davon aus, daß eine gegebene soziale Situation zwar bestimmte Verhaltensweisen für bestimmte Individuen und Gruppen ausschließen kann, daß ihnen aber dennoch neben dem Versuch der Änderung der gegebenen Verhältnisse immer eine Reihe von Verhaltensmöglichkeiten offen stehen. 23 Sind diese Änderungsmöglichkeiten durch das Erstarren der beweglichen und umkehrbaren Machtverhältnisse eingeschränkt, spricht Foucault in den 80er Jahren auch von Herrschaft 24 : »Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und - mit Mitteln, die sowohl ökonomisch als auch politisch oder militärisch sein können - jede Umkehrbarkeit der Bewegung zu verhindern, dann steht man vor dem, was man einen Herrschaftszustand nennen kann.« 25 2.1. Machtausübung Machtausübung bezeichnet nicht einfach eine Beziehung zwischen Subjekten, sondern - wie schon gezeigt - die Wirkungsweise von Handlungen, die andere verändern: »Sie ist ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat: sie stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder erschwert, erweitert oder begrenzt, macht mehr oder weniger wahrscheinlich; im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets handelt es sich um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind. Ein Handeln auf Handlungen.« 26 22 Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 245. 23 Vgl. Michel Foucault: Sex, Power and the Politics of Identity (1982), in: Sylvère Lotringer (Hg.): Foucault Live (Interviews, 1961 - 1984), New York 1996, 382 - 390. 24 Vgl. Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 241 - 261. 25 Helmut Becker (Hg.): Freiheit und Selbstsorge. Aufsätze von Michel Foucault, Frankfurt a. Main 1985, 11. 26 Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 255. Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse 239 Machtausübung erscheint wie eine ›Affektion‹, da Kräfte sich durch das Vermögen definieren, andere Kräfte mit denen sie in Beziehung stehen, zu affizieren. Das heißt, daß jede Kraft sowohl affizieren als auch affiziert werden kann. Folglich impliziert jede Kraft Machtbeziehungen, und jedes Kräfteverhältnis verteilt die Kräfte gemäß dieser Beziehungen und ihrer Variablen. 27 ›Regieren‹ - im Sinne von ›andere führen‹ - heißt dann, das Feld eventuellen Handelns anderer Subjekte zu strukturieren. 28 Damit wäre die Verhaltensweise von Macht weder auf Seiten von Gewalt und Kampf, noch auf Seiten des Vertrags zu suchen, sondern in dieser Art des Handelns: »Wenn man Machtausübung als eine Weise der Einwirkung auf die Handlungen anderer definiert, wenn man sie durch das ›Regiment‹ [franz. gouvernement, M.M.] - im weitesten Sinne dieses Wortes - der Menschen untereinander kennzeichnet, nimmt man ein wichtiges Element mit hinein: das der Freiheit. Macht wird nur auf ›freie Subjekte‹ ausgeübt und nur sofern diese ›frei‹ sind. Hierunter wollen wir individuelle oder kollektive Subjekte verstehen, vor denen ein Feld von Möglichkeiten liegt, in dem mehrere ›Führungen‹, mehrere Reaktionen und verschiedene Verhaltensweisen statthaben können.« 29 Machtverhältnisse sind also soziale Beziehungen, die zugleich durch politische, soziale, ökonomische Strukturen und das Handeln der Subjekte geformt werden. Macht nur in Form von Strukturen oder Institutionen zu betrachten, würde den flexiblen, Widerstand ermöglichenden Charakter der Machtverhältnisse begrifflich zum Verschwinden bringen. Andererseits ist es auch nicht möglich, Macht nur auf die Intentionen, den Willen oder den Besitz der Subjekte zu reduzieren, da die Gesamtausrichtung von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft gerade kein Subjekt impliziert. Der Gesamteffekt entzieht sich den Intentionen der Handelnden: »›Die Leute wissen, was sie tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut.‹« 30 Um beiden Einseitigkeiten zu entgehen, muß Macht ›relational‹, als Beziehung bzw. Funktion aufgefaßt und thematisiert werden. Auf diese Weise sieht Foucault die Möglichkeit gegeben, das Funktionieren von Macht in bezug auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse und im Hinblick auf das Handeln konkreter Subjekte zu beschreiben bzw. gerade die Interdependenz, das Zusammenwirken und die Verschränkung beider Aspekte zu analysieren. 31 Dabei kommt der Analyse gesellschaftlicher Praktiken ein wichtiger Stellenwert zu. 27 Vgl. Deleuze: Foucault (wie Anm. 19), 100f. 28 Vgl. dazu auch Barry Hindess: Discourses of Power: from Hobbes to Foucault, Oxford/ Cambridge, Mass. 1996, 105 - 113. Hindess’ Arbeit gibt - in historischer Perspektive - Einblicke in diverse Sichtweisen und Vorstellungen von Macht. 29 Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 255. 30 Michel Foucault in einer persönlichen Mitteilung, zitiert nach: Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow: Michel Foucault (wie Anm. 14), 219. 31 Vgl. Foucault: Dispositive (wie Anm. 21), 83 - 88. Michael Maset 240 2.2. Praktiken Paul Veyne hat Foucaults Analyse der Praktiken ein kleines Buch gewidmet, das er Foucault révolutionne l’histoire genannt hat. 32 Dort lautet seine zentrale, die Wichtigkeit (bzw. das für Veyne ›Revolutionierende‹) der Methode Foucaults hervorhebende These, daß es zur Erklärung dessen, was gemacht wurde - des Objekts -, des Blicks darauf bedarf, worin in jedem gegebeben historischen Moment das Machen - die Praktik - bestand. Zur Verdeutlichung dieser These sei hier das Beispiel der Lettres de cachet in Familienangelegenheiten angeführt: Eine vom Objekt, vom Gegenstand ausgehende Herangehensweise würde in den Siegelbriefen ein Potential, ein wichtiges Machtmittel des Königs, ein drastisches Mittel absolutistischer Willkür sehen. Die Vorgehensweise von Farge und Foucault war von der mit den Briefen verbundenen gesellschaftlichen Praxis, dem konkreten Machen bestimmt und kam zu ganz anderen Einsichten. 33 Unabhängig davon, ob die Ergebnisse von Farge und Foucault zutreffen mögen, zeigen sie meines Erachtens, daß eine angemessene Einschätzung der Lettres de cachet nur in Wechselbeziehung mit gesellschaftlichen Praktiken vollzogen werden kann. Das Objekt Lettres de cachet ist das Korrelat der mit diesem Gegenstand verbundenen Praktiken: verändern sich diese, so verändert sich auch der Inhalt bzw. die Funktion der Siegelbriefe. Der Begriff der Praktiken bringt den relationalen Charakter der Analyse von Macht bei Foucault noch einmal auf den Punkt. Er wendet sich in analytischer Hinsicht gegen jegliche - der sozialen Interaktion vorausgehenden - Reifikation von Analyseobjekten. Die Gegenstände der Analyse existieren nur in der Relation und zu ihrer Erklärung bedarf es der Bestimmung dieser Relationen. Durch die Untersuchung von gesellschaftlichen Praktiken, wie sie Michel Foucault vorschlägt, kann der kardinale Fehler vermieden werden, aus der handlungsanleitenden Absicht auf die Durchführung bzw. Umsetzung zu schließen. Foucaults relationale Analyse von Macht kann somit auch für Untersuchungen zur Disziplinierung hilfreich sein. Disziplinierung ist das Korrelat der mit ihr an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Kontext verbundenen Praktiken. Disziplin ist somit kein Ding, sie wird nur im Rahmen gesellschaftlicher Praxis deutlich, in der sie funktionieren, wirken und insofern existent sein kann. Eine Erprobung dieser Konzeption scheint mir sinnvoller als eine Weiterführung der Diskussionen um Oestreichs rudimentäre Gedankenansätze zu einem Konzept der Sozialdisziplinierung, aus denen zuweilen ein ›Paradigma‹ konstruiert wird. 34 32 Paul Veyne: Foucault révolutionne l’histoire, Paris 1978. (dt. Ausgaben: Paul Veyne: Der Eisberg der Geschichte. Foucault revolutioniert die Historie, Berlin 1981; Paul Veyne: Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt a. Main 1992.) 33 Vgl. Arlette Farge/ Michel Foucault: Familiäre Konflikte: Die ›Lettres de cachet‹. Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1989 (Paris 1982). 34 So bei Heinz Schilling: Disziplinierung oder ›Selbstregulierung der Untertanen‹? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht, in: HZ 264 (1997), 675 - 691. Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse 241 3. Fazit Meiner bisherigen Argumentation könnte entgegen gehalten werden, daß die darin aufgestellten Forderungen von der historischen Kriminalitätsforschung - zumindest in Ansätzen - eingelöst werden, da viele ihrer Vertreter und Vertreterinnen gegen die Unzulänglichkeiten der älteren Herrschaftssoziologie und die mögliche Diskrepanz zwischen Norm und alltäglicher Praxis sensibilisiert sind. Das mag sein -, aber ich denke, daß der häufig in Studien anzutreffende Hinweis auf das historisch-anthropologische Programm Herrschaft als soziale Praxis 35 (Lüdtke) nicht ausreicht, um dem von Schwerhoff geforderten »Prozeß kontinuierlicher Selbstreflexion« 36 zu genügen. Wenn die historische Kriminalitätsforschung beansprucht, eine »hohe Anschlußfähigkeit an Theorien gesellschaftlicher und historischer Entwicklung« 37 zu haben, dann werden ihre Vertreter und Vertreterinnen dies nicht durch noch so spannende kriminalitäts- und alltagsgeschichtliche Fallstudien, die - in engen raum-zeitlichen Grenzen - ein plastisches und farbiges Bild von der Lebenswirklichkeit frühneuzeitlicher Delinquenz malen, beweisen. 38 Eine solche Anschlußfähigkeit und eine - erkenntnistheoretisch wünschenswerte - Korrektivfunktion gegenüber solchen Theorien kann meines Erachtens nur durch die vermehrte Erprobung von historischen Langzeitanalysen bzw. Gedanken zu einer Vernetzung bisheriger Ergebnisse erlangt werden, wobei eine einfache Addition von Ergebnissen kaum möglich sein wird. Dabei werden Analysetechniken benötigt, die struktur- und handlungstheoretische Perspektiven verbinden. Eine systematischere Rezeption von Foucaults Machtanalyse könnte zu einer produktiven Auseinandersetzung führen, die weiterführende Perspektiven für die historische Kriminalitätsforschung eröffnen kann. 35 Vgl. Alf Lüdtke: Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Ders. (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, 9 - 63. 36 Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 1), 387. 37 Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 1), 410. 38 Vgl. auch Dirk Blasius: Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 136 - 149. III. Kriminalquellen - Sprache und Wissen 245 Klaus Graf Das leckt die Kuh nicht ab »Zufällige Gedanken« zu Schriftlichkeit und Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit Im Januar 1773 erschien in den »Westfälischen Beiträgen«, der Beilage zum »Osnabrükker Intelligenzblatt«, ein kurzer Aufsatz unter dem Titel Zufällige Gedanken bei Durchlesung alter Bruchregister. Er beginnt mit folgenden Sätzen: Die Strafgesetze und Strafregister dienen ungemein, den Charakter einer Nation in gewissen Zeitpunkten zu bestimmen. Man gehe ein Strafoder, wie wir sprechen, Bruchregister von hundert Jahren durch: so wird man mit Vergnügen bemerken, wie gewisse Verbrechen zu einer Zeit sehr häufig vorkommen, die sich zu einer andern ganz verloren haben; nicht sowohl, weil der Mensch tugendhafter geworden, denn sonst würde ein solches Register gegen Rousseau beweisen, daß die Wissenschaften die Menschen frömmer gemacht hätten, sondern weil die Leidenschaften einen feinern Weg zum Ausbruche genommen haben. Es folgt eine Auswertung der Strafregister des osnabrückischen Amts Fürstenau aus den Jahren 1550 bis 1600. Der Verfasser dieser Miszelle war einer der bedeutendsten deutschen Publizisten der Aufklärungszeit, der osnabrückische Staatsmann und Historiker Justus Möser 1 . Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf eine seriell auswertbare Quelle aus der Frühen Neuzeit, und dies erklärt auch, weshalb der Ansatz Mösers und der anderen vergessenen Rechtsantiquare, Historiker und Publizisten seiner Zeit, die sich in ähnlicher Weise für die Geschichte und Altertümer der Strafjustiz interessierten 2 , ohne Resonanz blieb. Die germanistische Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts war überwiegend einem romantischen Paradigma verpflichtet, für das Jacob Grimms »Rechtsaltertümer« 3 stehen können: Statt Sozial- oder Gesellschaftsgeschichte zu betreiben, blickte man in eine mythenerfüllte Vorzeit zurück und spürte am liebsten Relikte germanisch-deutschen Volksrechts auf. 1 Justus Möser: Sämtliche Werke, Bd. 5, Oldenburg 1945, 264-267, Zitat 264. - Der vorliegende Beitrag geht zurück auf mein Referat auf der Tagung der Arbeitsgruppe »Historische Kriminalitätsforschung« im Rahmen der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart am 11. Juni 1993. Für Anregungen und Kritik danke ich Andrea Griesebner, Christof Jeggle, Barbara Krug-Richter, Peter Schuster, Gerd Schwerhoff, Gabriela Signori und Herwig Weigl. Besonders hervorheben möchte ich die Hilfe von Matthias Lentz, der mich kenntnisreich mit einer Reihe wichtiger Hinweise versorgt hat. 2 Beispielsweise publizierte Philipp Wilhelm Hausleutner in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift (Schwäbisches Archiv 1, Stuttgart 1790, 551f.) eine kurze summarische Hinrichtungsstatistik für die Reichstadt Augsburg 1350 - 1750 und kündigte weitere Nachrichten dazu an. Auf historische Beiträge im Rahmen der aufklärerischen Debatte über die Bestrafung von Kindsmörderinnen macht aufmerksam Otto Ulbricht: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990, 246f. Zahlreiche rechtshistorische Dissertationen des 17./ 18. Jahrhunderts weist nach: Christoph Daxelmüller: Bibliographie barocker Dissertationen zu Aberglaube und Brauch, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 3 (1980) - NF 7 (1984), hier: NF 5 (1982), 222 - 224; NF 6 (1983), 230 - 233; NF 7 (1984), 209 - 211. 3 Jacob Grimm: Deutsche Rechtsaltertümer, 2 Bde, 4. Aufl., Leipzig 1899, Nachdruck Darmstadt 1989 (Erstausgabe 1828). Vgl. auch Dieter Werkmüller: Rechtsaltertümer, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte [künftig: HRG] 4 (1990), 265 - 268 und Louis Carlen: Sinnfälliges Recht. Aufsätze zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, Hildesheim 1995, 34f. mit Hinweisen auf Vertreter der juristisch-antiquarischen Richtung im 18. Jahrhundert. Klaus Graf 246 »Die Überlieferung ist selbst Geschichte« Wenn sich die historische Kriminalitätsforschung als ein »relativ lockerer Zusammenhang von Fragen, die sich vor allem aus den gemeinsam benutzten Quellen über deviantes Verhalten und Sanktionen ergeben« verstehen läßt 4 , so kommt der Frage nach den Gerichts- und Kriminalquellen und ihrer Eigenart größte Bedeutung zu. Die juristische Dissertation herkömmlicher Prägung beschränkte sich in der Regel darauf, aus den Quellen zur historischen Strafpraxis passende Beispiele zur Anwendung der Rechtsnormen herauszupicken. Über die Form, den Entstehungskontext, die Funktion und die Aussagekraft der herangezogenen Akten oder Protokolle erfährt man in diesen Arbeiten in der Regel nichts 5 . Ein besonders krasses Beispiel scheint mir vorzuliegen in einem 1956 an prominenter Stelle publizierten Aufsatz von Friedrich Merzbacher. Über den Entstehungszusammenhang des von ihm ausgewerteten »Alten Halsgerichtsbuchs« des Hochstifts Eichstätt schreibt Merzbacher buchstäblich nichts. Der Band wurde aufgrund älterer, bis in den Anfang des 15. Jahrhunderts zurückreichender archivalischer Aufzeichnungen, die regestenartig wiedergegeben werden, erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts angelegt - vermutlich in den 1560er Jahren - und dürfte mit territorialen Konflikten um die Hochgerichtsbarkeit (beispielsweise mit dem Deutschen Orden) in Verbindung stehen 6 . Marc Bloch, einer der Väter der französischen Sozialgeschichtsschreibung, betont in seiner »Apologie der Geschichte«: »Die Probleme der Quellenüberlieferung sind keineswegs nur Übungsaufgaben methodischen Charakters; sie berühren den innersten Lebensbereich der Vergangenheit: es geht um nichts geringeres als um die Weitergabe der Erinnerung im Ablauf der Generationen. Bei ernstzunehmenden historischen Werken gibt der Autor normalerweise in einer Liste an, welche Archivakten er durchgesehen hat und welche Sammlungen er verwendet hat. Das ist sehr gut, aber nicht genug. Jedes historische Werk, das diesen Namen verdient, müßte außerdem ein Kapitel enthalten (...) etwa mit dem Titel »›Wie kann ich das wissen, was ich jetzt sagen werde? ‹« 7 . Für jede kriminalitätshistorische Studie mit ungedrucktem Material sollte daher selbstverständlich sein, daß sie die verwendeten Hauptquellen so ausführlich charakterisiert, daß sowohl ihre Genese und Form als auch ihr spezifischer Informationsgehalt transparent werden 8 . Zu begrüßen wäre die Beigabe von ausführlichen Textproben. Kurz: 4 Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 385 - 414, Zitat 414. 5 Keinen Abschnitt über die Quellenlage enthält z.B. die umfangreiche Monographie von Franz Gut: Die Übeltat und ihre Wahrheit. Straftäter und Strafverfolgung vom Spätmittelalter bis zur neuesten Zeit ein -Beitrag zur Winterthurer Rechtsgeschichte, Zürich 1995. 6 Friedrich Merzbacher: Das »Alte Halsgerichtsbuch« des Hochstifts Eichstätt. Eine archivalische Quelle zur Geschichte des Strafvollzugs im 15. und 16. Jahrhundert zur rechtlichen Volkskunde, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung [künftig: ZRG GA] 73 (1956), 375 - 396. Gerhard Rechter, Staatsarchiv Nürnberg, verdanke ich ergänzende Informationen zu dem Band (Eichstätter Literalien Nr. 13). Eine Parallele stellt das aus der gleichen Zeit stammende Archivale Staatsarchiv Nürnberg Deutscher Orden Kommende Virnsberg Nr. 150 II dar, in dem - vielleicht zur Vorbereitung eines Reichskammergerichtsprozesses - die Ausübung der Gerichtsrechte durch die Kommende anhand von Einzelfällen ebenfalls regestenartig dokumentiert wurde, vgl. Gerhard Rechter: »Lieber Getreuer« oder »Euer Fürstlich Gnaden? «. Zum Verhältnis zwischen dem Deutschen Orden und den Zollern in Franken (=Triesdorfer Hefte 7),Triesdorf 1996, 7f. mit Anm. 44. 7 Marc Bloch: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, hg. von Lucien Febvre, München 1985, 58f. Das leckt die Kuh nicht ab 247 Der Leser oder die Leserin sollte sich ein anschauliches Bild von den Quellen machen können und aufgrund der Beschreibung ungefähr wissen, was er oder sie in ihnen vorfinden wird und was nicht. Wichtig wären auch Editionen geeigneter Texte, doch bedarf es dazu eines selbstlosen Engagements, das nur die wenigsten ForscherInnen aufbringen wollen und können 9 . Nötig wären aber auch zusammenfassende Studien etwa zu einzelnen Quellentypen, die Quellenkunde und Quellenkritik verbinden müßten. Eine solche Quellenkunde jenseits der engen Grenzen der juristischen Rechtsquellenlehre 10 hätte einerseits der Heuristik zu dienen, indem sie den Weg zu erschlossenen und unerschlossenen Archivalien bahnt 11 und die quellenkundlichen Einsichten der Spezialliteratur kritisch sichtet, andererseits aber einer bereichsspezifischen Geschichte der Schriftlichkeit vorzuarbeiten, die gemäß Hermann Heimpels Devise »Die Überlieferung ist selbst Geschichte« 12 nicht bei rechtshistorischen Konstrukten, sondern bei der Überlieferung anzusetzen hätte. »Zufällige Gedanken« - der Titel von Mösers kleiner Abhandlung - läßt sich auch auf den Zufall der Überlieferung 13 beziehen, der die von ihm besprochenen Strafregister erhalten hatte. Anders als privatrechtliche Aufzeichnungen, die aufgrund fortwirkender Rechtsverhältnisse als überlieferungswürdig galten, war das Schriftgut der Strafgerichtsbarkeit besonders gefährdet. Die durch bewußte Vernichtung - vergleichbar der Tilgung einer Vorstrafe - oder das Unverständnis der Verwaltungsbediensteten und Archivare eingetretenen Verluste können kaum überschätzt werden. 8 Vgl. beispielsweise Gerd Schwerhoff: Ein Blick vom Turm. Kölner Quellen zur historischen Kriminalitätsforschung, in: Geschichte in Köln 27 (1990), 43 - 67; Susanna Burghartz: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990, 55 - 60; Katharina Simon-Muscheid: Gerichtsquellen und Alltagsgeschichte, in: Medium Aevum Quotidianum 30 (1994), 28 - 43; Katharina Simon- Muscheid/ Christian Simon: Zur Lektüre von Gerichtsquellen: Fiktionale Realität oder Alltag in Gerichtsquellen, in: Dorothee Rippmann/ Katharina Simon-Muscheid/ Christian Simon, Arbeit - Liebe - Streit. Texte zur Geschichte des Geschlechterverhältnisses und des Alltags. 15. bis 18. Jahrhundert, Liestal 1996, 17 - 39 und künftig die ausführliche Beschreibung des Quellenkorpus bei Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen. ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ in einem niederösterreichischen Landgericht im 18. Jahrhundert, unveröffentlichte Diss., Wien 1998. Aus sprachhistorischer Perspektive: Arend Mihm: Die Textsorte Gerichtsprotokoll im Spätmittelalter und ihr Zeugniswert für die Geschichte der gesprochenen Sprache, in: Gisela Brandt (Hg.): Historische Soziolinguistik des Deutschen II. Sprachgebrauch in soziofunktionalen Gruppen und in Textsorten, Stuttgart 1995, 21 - 57. 9 Umso nachdrücklicher sei auf die von Dieter Hangebruch herausgegebenen »Brüchtenprotokolle der Stadt und des Landes Uerdingen im 17. Jahrhundert« (Krefeld 1991) aufmerksam gemacht. Die Masse der 679 Einträge in den Brüchtenprotokollen von 1607 bis 1632 und im Rapiar des Schultheißen von 1650 bis 1657, einem privaten Notizbuch, betrifft Beleidigungen. Ein rascher Zugriff auf den Inhalt ist dank eines Sachregisters möglich, was man leider von den wenigsten einschlägigen deutschsprachigen Darstellungen sagen kann. 10 Vgl. beispielsweise Otto Stobbe: Geschichte der deutschen Rechtsquellen, 2 Bde, Leipzig 1860/ Braunschweig 1864, Nachdruck Aalen 1965; Theodor Bühler: Rechtsquellenlehre Bd. 2: Rechtsquellentypen, Zürich 1980. 11 Eine allzu lückenhafte Übersicht zu spätmittelalterlichen Kriminalquellen gibt Martin Schüßler: Verbrechen im spätmittelalterlichen Olmütz. Statistische Untersuchung der Kriminalität im Osten des Heiligen Römischen Reiches, in: ZRG GA 111 (1994), 148 - 271, hier: 245 - 248. 12 Hermann Heimpel: Der Mensch in seiner Gegenwart. Acht historische Essais, 2. Aufl., Göttingen 1957, 209. 13 Vgl. Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), 529 - 570; nur der Text und einige bibliographische Nachträge wieder in: Derselbe: Zeitalter und Menschenalter. Der Mensch und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, 39 - 69, 228f. Klaus Graf 248 So wurden 1814 die Lübecker Aufzeichnungen über Verfestungen als völlig werthlos verkauft 14 . Sind Kriminalquellen doch erhalten, kommt es darauf an, sie mit größter Vorsicht zu lesen. Quellenkunde und Quellenkritik sind für eine Beurteilung der Aussagekraft der aus ihnen erhobenen Daten unerläßlich, und dies betrifft nicht nur die besonderen Probleme eines quantifizierenden Zugriffs 15 . Es geht nicht an, etwa die spätmittelalterliche Stadtchronistik auf die strafrechtlich relevanten Einträge zu durchmustern, ohne sich Gedanken darüber zu machen, welche Art von »Straffällen« dort registriert wurde, aus welchen Gründen und in welchem Kontext dies erfolgte 16 . Nach der Schriftlichkeit der Strafjustiz zu fragen, sollte sich jedoch nicht auf das Aufstellen einer Reihe methodischer Warntafeln beschränken. Ebenso wie normative Quellen und gelehrte Reflexionen sind auch die in Form von Urkunden, Akten und Geschäftsbüchern erhaltenen Kriminalquellen als eigenständige Zeugnisse eines gesellschaftlichen Diskurses über das Strafen und die soziale Kontrolle 17 zu würdigen. Daß in diesen Texten nicht nur die Stimme der Obrigkeit, sondern auch die der Untertanen zu vernehmen ist, haben die Forschungen der letzten Jahre wohl zur Genüge dargetan 18 . Der obrigkeitlichen Perspektive verpflichtet bleiben allerdings Thomas Lentes und Thomas Scharff, die vor kurzem »Schriftlichkeit als Technik der Disziplinierung, Normierung und Interiorisierung« in einem Aufsatz in den Blick genommen haben. Ihr Beitrag ist aus dem hier thematisch einschlägigen Münsteraner Sonderforschungsbereich 231 »Pragmatische Schriftlichkeit« hervorgegangen 19 . Beobachtungsfelder von Lentes und Scharff sind das spätmittelalterliche Schriftgut der Inquisition und der Frömmigkeitspraxis. Es geht ihnen dabei um das »Erfassen und Speichern von Personennamen, das Sichern und Belegen von mit diesen Personen verbundenen Sachverhalten, das Veröffentlichen und Verlesen von Texten und das Ermahnen und Verändern des einzelnen anhand schriftlicher Aufzeichnungen« 20 . Für die Frühe Neuzeit lassen 14 Ferdinand Frensdorff: Einleitung. Die Verfestung nach den Quellen des lübischen Rechts, in: Otto Francke: Das Verfestungsbuch der Stadt Stralsund, Halle 1875, XIII-XCVI, hier: XIII; Ahasver von Brandt: Proscriptio. Zur Überlieferung und Praxis der Verfestung (Friedloslegung) im mittelalterlichen Lübeck, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 48 (1968), 7 - 16, hier: 8f. 15 Vgl. Gerd Schwerhoff: Falsches Spiel. Zur kriminalitätshistorischen Auswertung der spätmittelalterlichen Achtbücher, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 82 (1995), 23 - 35 in Auseinandersetzung mit Martin Schüßler: Statistische Untersuchung des Verbrechens in Nürnberg im Zeitraum von 1285 bis 1400, in: ZRG GA 108 (1991), 117 - 193. 16 Vgl. Helmut Martin: Verbrechen und Strafe in der spätmittelalterlichen Chronistik Nürnbergs, Köln/ Weimar/ Wien 1996; Christoph Heiduk: Die Diskussion über das Strafrecht in spätmittelalterlichen Chroniken Schlesiens und der Lausitz, in: Derselbe/ Almut Höfert/ Cord Ulrichs: Krieg und Verbrechen nach spätmittelalterlichen Chroniken, Köln/ Weimar/ Wien 1997, 9 - 109. 17 Zum diskursanalytischen Ansatz von Michel Foucault und seiner Rezeption vgl. Martin Dinges: Michel Foucault, Justizphantasien und die Macht, in: Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1993, 189 - 212, 240 - 244. 18 Vgl. die einschlägigen Aufsätze insbesondere zu Verhörprotokollen im Sammelband: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996 und die Hinweise des Herausgebers ebd., 21 - 24. Vgl. auch Monika Spicker-Beck: Mordbrennerakten. Möglichkeiten und Grenzen der Analyse von Folterprozessen des 16. Jahrhunderts, in: Mark Häberlein (Hg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne, Konstanz 1999, 55 - 66. 19 Thomas Lentes/ Thomas Scharff: Schriftlichkeit und Disziplinierung. Die Beispiele Inquisition und Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), 233 - 251, Zitat 251. 20 Ebd., 234. Das leckt die Kuh nicht ab 249 sich ausführlichere theoretische Reflexionen der Zeitgenossen heranziehen, die Schriftlichkeit weit systematischer als Instrument sozialer Kontrolle einsetzen wollten, als es die damalige Verwaltungspraxis zuließ. Besonders signifikant erscheint mir die zentrale Rolle schriftlicher Aufzeichnungen in der Polizeitheorie des Straßburger Ratsherrn Georg Obrecht aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts, die mit ihrem Ideal eines »gläsernen Menschen« entfernt an George Orwells »1984« erinnert. Die Deputaten, eine Art Präventivpolizei, führen verschiedene Matrikeln über die gesamte Einwohnerschaft, die sowohl Planungsdaten für die Obrigkeit liefern als auch der Überwachung des Einzelnen dienen sollen. Alle erwachsenen Männer sollen in dem halbutopischen Plan alle drei Jahre inskribiert werden, wobei erforscht werden soll, was eins jeden Leben und Wandel seye. Dazu Hans Maier: »Ähnlich ist es bei Hochzeiten, Ortswechseln, Anvogtungen, Heiratserlaubnissen: Überall steht hinter dem registrierenden Deputaten der Censor, der mit Rügerecht ausgestattete Tugendwächter und Sittenrichter« 21 . Nun ist das ins Auge gefaßte Thema wahrlich, mit Fontane zu sprechen, »ein weites Feld«. Um es nicht bei programmatischen Forderungen zu belassen, werde ich zwei Aspekte näher beleuchten: Die Bedeutung der Eintragung in vornehmlich spätmittelalterliche Strafbücher (»schwarze Bücher«) und die Verewigung denkwürdiger Straffälle in Form dauerhaft konzipierter Erinnerungszeichen. Eingerahmt wird die Behandlung der im Zentrum des Beitrags stehenden Schanddenkmäler, die in Deutschland hauptsächlich in der Frühen Neuzeit errichtet wurden, von kritischen Ausführungen zu Justiz-Erinnerungen in Gestalt der sogenannten »Sagen« und von vorläufigen Bemerkungen zum »historischen« Diskurs über die Strafgerichtsbarkeit. Die Frage nach der Schriftlichkeit wird somit auszuweiten sein auf die Frage nach der Erinnerungskultur der Strafjustiz, nach ihrem Gedächtnis. Das Konzept »Erinnerungskultur« 22 verstehe ich als Ensemble von Medien, die Erinnerung stiften oder sichern sollen, sei es prospektiv durch Überlieferungsbildung, also Weitergabe historischer Erfahrung, sei es retrospektiv durch Bewahren und Aufgreifen von Traditionen. Da es an systematischen Vorarbeiten zu den im folgenden behandelten Aspekten fehlt, versteht es sich von selbst, daß ich hier nur erste Hinweise geben kann. Was die herangezogenen Belege betrifft, war ich weitgehend auf Zufallsfunde in der gedruckten Literatur angewiesen. Die archaisierende Möser-Reminiszenz im Untertitel meines Beitrags ist daher leider alles andere als Koketterie. Im schwarzen Buch stehen In der 1529 erstmals erschienenen Sprichwörtersammlung des Johannes Agricola wird das Sprichwort Grosse herren gedencken lang (Nr. 338) mit der Führung von Geschichtsbüchern für ehrliche und unehrliche Taten in wohlgeordneten Gemeinwesen in Verbindung gebracht. Während ehrliche Taten ihren Urheber erhöhen, dienen Auf- 21 Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl., München 1980, Zitate 126, 127. Die Quelle: G. Obrecht: Fünff Unterschiedliche Secreta Politica (...), Straßburg 1644 (ursprünglich 1617). 22 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl., München 1997. Zu eigenen Studien zum Thema Erinnerungskultur vgl. am aktuellsten die gleichnamige Rubrik meines Internet-Angebots: http: / / www.uni-koblenz.de/ ~graf. Klaus Graf 250 zeichnungen über Verfehlungen der Spezialprävention: Wer eyn ubelthat begehet, und entrinnet, der ist darumb noch nicht frey, kumpt er einmal widder, so wird er eben so wol gestrafft, als were er nie entrunnen. Agricola benennt als Beispiel einen Magdeburger Prediger, der in seiner Jugend mutwillig und frech gewesen sei und nach der Stürmung eines Hauses entfliehen konnte. Sein name aber was in dem schwartzbuch (so nennen sie das bu o ch der ubelthat) verzeychnet. Da er nun zu einem manne, und yhr Prediger ward, bat er den Radt, sie wölten seinen namen außleschen, aber er konde es nicht erlangen, unnd diß gedechtnuß bleibt noch, denn grosse herren gedencken lang 23 . Das nächste Sprichwort steht damit unmittelbar im Zusammenhang, denn es betrifft die Rechtskraft deutscher Stadtbücher, deren Einträge unanfechtbar und mit ewiger Geltung versehen sind: Es ist dahyn geschriben, daß es keyn ku o we ablecket, noch keyn Kro e außkratzet. Was im Stadtbuch steht, bleibt darin zu o ewigen zeitten, es kann die Kuh nicht ablecken und die Krähe nicht auskratzen 24 . Der obrigkeitlichen Buchführung über Straftaten korrespondierte also eine negative Wahrnehmung dieser Praxis durch die Betroffenen, die ungern »im Buch stehen« wollten und dies als Schande empfanden 25 . Dies wirft die Frage auf, ob der Eintrag in einem Strafbuch nicht als Bestandteil des Sanktionsinventars, als eine Art Ehrenstrafe 26 , verstanden werden kann. Über das Stadtbuch von Oschatz in Sachsen aus dem 15. Jahrhundert heißt es in einer älteren Arbeit: »Auch wenn keine Bestrafung erfolgte, werden strafbare Handlungen, z.B. Frevelreden wider den Rat, ›zu gedechtnisse‹ notiert« 27 . Es handelt sich wohl um so etwas wie eine Verwarnung mit Strafvorbehalt im Wiederholungsfalle 28 . Sebastian Francks 1541 gedruckte Sprichwörtersammlung vergleicht die Langmut Gottes mit dieser Praxis. Ausgehend von dem bereits von Agricola genannten Sprichwort Groß herrn dencken lang führt Franck aus: Es mag leicht einer ein punct im blu o t oder schwartzen bu o ch haben, kompt noch einer, so helff dir got. Ein punct mag dir wol verzihen sein, aber nit vergessen, kompstu noch ein mal ins blu o t bu o ch, so rechnet mann 23 Johannes Agricola: Die Sprichwörtersammlungen, hg. von Sander L. Gilman, Berlin/ New York 1971, Bd. 1, 289. 24 Ebd., 290. Zur Illustration sei eine Satzung des Basler Rats vom 19.3.1411 zitiert: Wer einen Meineid leistet, der soll in der stett bu o ch, das darumb in sunders gemaht ist, gesetzt werden und verschriben werden, daz er ewiclichen ein verworfener mensche sol sin aller eren und wirdickeiten, und daz er ze keinem gezúgen niemer genommen sol werden umb kein sach, Joh. Schnell (Hg.): Rechtsquellen von Basel Stadt und Land, Bd. 1, Basel 1856, 92, Nr. 93; vgl. zur Meineidstrafe auch ebd., 136, Nr. 143 (vom Jahr 1441, Eintrag ins Totbuch zu o ewiger gedechtnússe der selben dingen), 345, Nr. 264 (vom Jahr 1539). Hinweis auf die Quelle bei Peter Schuster: Ehre und Recht. Überlegungen zu einer Begriffs- und Sozialgeschichte zweier Grundbegriffe der mittelalterlichen Gesellschaft, in: Sibylle Backmann u.a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgenzungen, Berlin 1998, 40 - 66, hier: 59 Anm. 71. 25 Nicht im Buch stehen wollte ein Dortmunder Kaplan, der 1703/ 04 vor dem Reichskammergericht gegen seinen Pastor wegen eines von diesem vorgenommenen schmähenden Kirchenbucheintrags klagte, vgl. Gerichte des Alten Reiches. Teil 1: Reichskammergericht A-K, bearb. von Günter Aders, Münster 1966, 65f. zur Akte Staatsarchiv Münster B 885/ 3386. 26 Vgl. die Sammelbände: Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995; Ehrkonzepte (wie Anm. 24) sowie Gerd Schwerhoff: Verordnete Schande? Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Ehrenstrafen zwischen Rechtsakt und sozialer Sanktion, in: Mit den Waffen (wie Anm. 17), 158 - 188, 236 - 240. 27 Hubert Ermisch: Die sächsischen Stadtbücher des Mittelalters, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 10 (1889), 83 - 143, 177 - 215, hier: 198. 28 Ein frühes Beispiel aus Rostock: Si Stencop iuvenis plus excesserit, de omni causa reus erit, Hildegard Thierfelder (Hg.): Das älteste Rostocker Stadtbuch (Etwa 1254 - 1273), Göttingen 1967, 42 Nr. 50. Das leckt die Kuh nicht ab 251 den ersten verzihen, aber nit vergessen punct zu dem andern, also wil jm auch Got thu o n, Ezech. 18 29 . Friedrich Battenberg hat angesichts der feierlichen Devise auf dem Einbanddeckel des erhaltenen Achtbuchs König Sigmunds vermutet, »daß den Eintragungen eine gewisse sakrale, wenn nicht gar magische Wirkung zugeschrieben wurde. Es ist durchaus daran zu denken, daß der mittelalterliche Mensch zu ihm das Buch des Lebens der Apokalypse assoziierte, nur hier mit umgekehrtem Vorzeichen im Sinne eines Buches, das die Namen all derer enthielt, die aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft ausgestoßen waren« 30 . Populär war im Mittelalter die Vorstellung von einem Sündenregister, das der Teufel führte. In einem verbreiteten Predigtexempel wird dieses Register auf einer Kuhhaut geführt - Ursprung des Sprichworts »Das geht auf keine Kuhhaut« 31 . In den Hexenprozessen ist die Vorstellung, daß in einem schwarzen Buch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Teufelssabbat verzeichnet werden, bereits im 15. Jahrhundert gängiges Traditionsgut 32 . Die Farbsymbolik bei der Benennung der Strafbücher 33 liegt auf der Hand: Schwarz war die Farbe des Unheils und des Teufels 34 . Als schwarze Bücher wurden vor allem die Zauberbücher der Nigromanten (»Schwarzkünstler«) bezeichnet 35 . Ebenfalls unheilvolle Konnotationen vermochte der Name eines 1498 bis 1513 geführten Görlitzer 29 Sebastian Franck: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar Bd. 11: Sprichwörter, hg. von Peter Klaus Knauer, Bern u.a. 1993, 312 (II, Bl. 65); die Interpunktion habe ich modernisiert. Zur Herkunft der Passage aus der 1539 erschienenen Sammlung des Eberhard Tappe vgl. Ulrich Meisser: Die Sprichwörtersammlung Sebastian Francks von 1541, Amsterdam 1974, 300. 30 Friedrich Battenberg: Reichsacht und Anleite im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der königlichen Gerichtsbarkeit im Alten Reich, besonders im 14. und 15. Jahrhundert, Köln/ Wien 1986, 273. Skeptisch dazu mit Blick auf weitere Gerichtsbücher Martin Walter Wernli: Das kaiserliche Hofgericht in Zürich. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Gerichtsbarkeit, Diss., Zürich 1991, 84. 31 Vgl. Lutz Röhrich: Religiöse Stoffe des Mittelalters im volkstümlichen Erzähl- und Liedgut der Gegenwart, in: Peter Dinzelbacher/ Dieter R. Bauer (Hg.): Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, Paderborn u.a. 1990, 419 - 451, hier: 441 - 443; derselbe: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 2, Freiburg/ Basel/ Wien 1992, 906 - 908. Vgl. auch Rudolf Schenda: Buch, in: Enzyklopädie des Märchens 2 (1979), 965 - 970, hier: 966f. Zur himmlischen Buchführung über gute und böse Taten vgl. die Hinweise bei Hagen Keller: Vom ›heiligen Buch‹ zur ›Buchführung‹. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992), 1 - 31, hier: 25; Lentes/ Scharff: Schriftlichkeit (wie Anm. 19), 237, 244. In Köln wurden Anfang des 16. Jahrhunderts Strafbücher als »Kalbfell« bezeichnet; der Einband des »Liber Malefactorum« (1510 ff.) trägt den Reim: Wer yn diesem calffell nyet en wylt staen, der sall van boesen wercken laen; Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör, Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/ Berlin 1991, 472. 32 Andreas Blauert: Frühe Hexenverfolgungen. Ketzer-, Zauberei- und Hexenprozesse des 15. Jahrhunderts, Hamburg 1989, 64f. 33 Die Bezeichnung schwarzes Buch (dat swarte boc) ist bereits 1300 für Riga belegt, Deutsches Rechtswörterbuch 2 (1932 - 1935), 551 s.v. Buch. Heino Speer vom Deutschen Rechtswörterbuch (Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften) verdanke ich die folgenden Nachweise aus dem Zettelarchiv zum Lemma »schwarz«: 1614 MittNordbExk. 30 (1907) 140; 1663 ZürichZftG. II 622; 1666 Wissel, Hdw. I 290; 1669 NürnbDecr. 436; nach 1681 TrierWQ. 594 Anm. 1; 1715; K. Mayer: Hexen, Henker und Tyrannen (Ort? Jahr? ) 49 [Karl Meier: Hexen, Henker und Tyrannen, mehrere Auflagen, 7. Auflage, Lemgo 1980, Zusatz K. G.]; 1764 SGallenOffn. I 75; 1774 Wagner, Civilbeamte II 150 u. 165; um 1780 Nyrop, HdvDanm. 79; 1781 MGPaed. 30 368 (öfter); ohne Jahr Wissel, Hdw. II 270; ohne Jahr Bothe, BrauchFrankf. 138 (schwarze Liste)«. (Auflösung der Abkürzungen in den Quellenheften zum Rechtswörterbuch.) 34 Zur Farbsymbolik vgl. beispielsweise Josef Hanika: Der Wandel Schwarz-Weiß als Erzähl- und Brauchmotiv, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1961, 46 - 60; Leopold Kretzenbacher: Aus Schwarz wird Weiß. Zu einem Gnadensinnzeichen als Legendentopos, in: Volkskultur. Mensch und Sachwelt. Festschrift für Franz C. Lipp zum 65. Geburtstag, Wien 1978, 227 - 237. Klaus Graf 252 Stadtbuchs zu wecken: es heißt in der Aufschrift das swarcze buch, auf dem ersten Blatt aber Acheldemach - offenbar eine Anspielung auf den in der Apostelgeschichte 1, 19 erwähnten »Blutacker« (Hakeldamach) in Jerusalem, dem Grundstück, auf dem Judas seinen schrecklichen Tod gefunden hat 36 . Sprichwörtliche Redewendungen in der Art von im schwarzen Buch eingeschrieben sein 37 sind bereits im 16. Jahrhundert nachweisbar: Einen ins schwarze Buch schreiben 38 , Das schwarze Register, darin wir mit einem langen Item stehen, Einen ins schwarze Register bringen, ins schwartz Register kommen 39 . Belege liefert aber nicht nur die Sprichwörter-Literatur: In Halle an der Saale wird in amtlichen Unterlagen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts auf die verbreitete Sprechweise angespielt: wie man spricht du stehest auch im rotthen buche (das Rote Buch war das Register der Brandmarkungen) 40 . Und von der Straftäterin Anna Ulmer heißt es in Esslingen 1564: sie kumpt wider einmal ins buoch 41 . Neben schwarzen Büchern gab es schwarze Tafeln. Das Grimmsche Wörterbuch weiß von einem bei Handwerksgesellen üblichen Brauch, Übeltäter, die ohne Sühne fortgezogen waren, durch Anschreiben an die Schwarze Tafel zu strafen 42 . Sogar das Reichskammergericht mußte sich 1745 bis 1759 mit einem Streit zwischen den Lübekker Schonenfahrern und der dortigen Kaufleute-Compagnie befassen, bei der es um die Frage ging, inwieweit die Praxis schwarzer Hohn- und Spott-Tafeln rechtmäßig sei 43 . 1742 wurde ein Mitglied der Kaufleute-Compagnie, der die Wahl zum Bruder des Schonenfahrer-Collegiums ablehnte, auf das schwartze Brett gesetzt. Als der Name eines weiteren Kaufmanns gleichfalls dort angeschrieben wurde, setzte die Compagnie im Gegenzug die Alterleute der Schonenfahrer auf ihre schwartze Tafel. Da das Schwarze Brett als Hohn- und Spott-Tafel bezeichnet wurde und folglich gegen denjenigen, dessen Nahmen darauf gesetzet wird, als Beschimpfung anzusehen sei, kam das Reichskammergericht zum Schluß, dieses Medium coercendi injuriosum sei widerrechtlich und beide schwarze Bretter seien von Amts wegen zu beseitigen 44 . 35 Vgl. Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Strassburg, 2. Aufl., Bd. 1, Amsterdam 1996, 255 zu den bei Gottfried von Straßburg: Tristan, Vers 4690 erwähnten swarzen buochen. - Dem Quellenterminus Nigromantie liegt die irrige Ableitung der Nekromantie von »niger« (schwarz) zugrunde. 36 Paul Rehme: Stadtbuchstudien, in: ZRG GA 37 (1916), 1 - 93, hier: 23. 37 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch 9 (1899), 2318; vgl. auch Röhrich: Lexikon (wie Anm. 31) 1 (1991), 274; 2 (1992), 1238 (schwarzes Register); 3 (1992), 1436. 38 Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, Bd. 1, Leipzig 1867, 499. 39 Ebd. Bd. 3 (1873), 1592 mit Belegen aus Schriften des 16. Jahrhunderts. 40 Erich Neuss: Das Hallische Stadtarchiv. Seine Geschichte und seine Bestände, Halle 1930, 10. 41 Günter Jerouschek: Die Hexen und ihr Prozeß. Die Hexenverfolgung in der Reichsstadt Esslingen, Esslingen 1992, 72. 42 Grimm: Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 37) Bd. 9, 2318. Vgl. auch die Hinweise bei Wolfgang Brückner: Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, Berlin 1966, 269. Zu eher scherzhaft gemeinten Kellertafeln in Wirtshäusern vgl. Eberhard Freiherr von Künßberg: Rechtliche Volkskunde, Halle/ Saale 1936, 157f. 43 Johann Frh. von Cramer (Hg): Von Hohn- und Spott-Tafeln, und derselben Abschaffung durch eine Reichs-Cammergerichtl. Urtheil, in: Wetzlarische Nebenstunden, 15. Teil, Ulm 1759, 69 - 80 (nach freundlicher Mitteilung von Matthias Lentz). 44 Zitate ebd., 79f. - Die Aufhängung einer Straf- und Schimpf-Taffel (unbekannter Farbe! ) im Lübecker Annenkloster 1606 notiert W. Brehmer: Eine »Straftafel« zu St. Annen, in: Mittheilungen des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 2 (1885), 50. Das leckt die Kuh nicht ab 253 Ein Beispiel für ein schwarzes Schand-Schild aus der höfischen Kultur Frankreichs: 1468 ersetzte der Wappenkönig des Ordens vom Goldenen Vließ auf dem Ordenskapitel in Brügge das Wappenschild des der Zauberei und anderer Verbrechen beschuldigten Ordensritters Jean de Bourgogne durch ein schwarzes Schild, auf dem alle Anklagen schriftlich fixiert waren und das im Chorgestühl der Kirche belassen wurde, damit es tout le monde kopieren könne 45 . Alle diese Zeugnisse verweisen auf den engen Konnex zwischen schriftlicher Fixierung, Ehre und Öffentlichkeit. Besonders bezeichnend erscheint mir die im Jahr 1489 vor dem Bamberger Landgericht vorgebrachte Klage eines Mannes gegen die Verleumdung seiner Ehefrau. Er warf der Verleumderin vor, sie behaupte über seine Frau, in welchs haws sein hawßfrau gee, dorinn nemen die lewt abe an leybe und gut, das auch dieselbe sein haußfrau fur ein wissenliche hüren in das statbuch geschriben und sie solle der vier hüren eine in eelichem standt, die die ergsten genant sein sollen, eine sey[n] 46 . Die rechtliche Eigenschaft des Stadtbuchs als Buch öffentlichen Glaubens, das vollen Beweis über die darin niedergelegten Vorgänge zu führen vermag, wird hier zur Steigerung der Beleidigung benützt. Bei der Auswertung der zahlreich erhaltenen städtischen Acht- oder Verfestungsbücher 47 ist zu beachten, daß vielfach erst der Bucheintrag die Rechtswirkungen der Acht bzw. Verfestung entstehen ließ. Zwischen dem Urteil und dem Bucheintrag bestand somit ein Spielraum, den die Kontrahenten bei einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung zu einer gütlichen Beilegung des Konflikts nutzen konnten. Dank der Parallelüberlieferung von Ächterverzeichnissen und Achtbuch des Züricher Hofgerichts am Ende des 14. Jahrhunderts konnte festgestellt werden, daß sehr viele Ächtungen nicht in das Achtbuch eingetragen wurden 48 . Ein Schlaglicht auf das Nebeneinander mündlicher und schriftlicher Dokumentation gerichtlicher Vorgänge wirft das Verfahren des »Verzählens« in Freiberg in Sachsen 49 . Dabei handelt es sich um ein Strafverfahren gegen Abwesende, das der niederdeutschen Verfestung entsprach 50 . Nach dem Ausspruch des Urteils über den Verzählten hatte der 45 Gert Melville: Rituelle Ostentation und pragmatische Inquisition. Zur Institutionalität des Ordens vom Goldenen Vließ, in: Heinz Duchhardt/ Gert Melville (Hg.): Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1997, 215 - 271, hier: 269f. 46 Friedrich Merzbacher: Iudicium provinciale ducatus Franconiae. Das kaiserliche Landgericht des Herzogtums Franken-Würzburg im Spätmittelalter, München 1956, 153. 47 Vgl. immer noch Werner Schultheiß: Die Acht-, Verbots- und Fehdebücher Nürnbergs von 1265 - 1400. Mit einer Einführung in die Rechts- und Sozialgeschichte und das Kanzlei- und Urkundenwesen Nürnbergs im 13. und 14. Jahrhundert, Nürnberg 1960, 16*- 27*. 48 Wernli: Hofgericht (wie Anm. 30), 90; ebd., 80 - 90, eine ausführliche Quellenbeschreibung: »Das Achtbuch und die Gerichtsverzeichnisse«. 49 Vgl. Hubert Ermisch: Das Verzählen. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafverfahrens gegen Abwesende, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 13 (1892), 1 - 90. 50 Wurde ein Verfesteter gefangen vor das Gericht geführt, war nach lübischem Recht nur noch der Beweis der Verfestung zu führen, nicht der des Verbrechens (anders als bei der Verfestung des Sachsenspiegels), Frensdorff: Einleitung (wie Anm. 14), XXXII. Zur Verfestung (proscriptio) vgl. außer der älteren Arbeit von Frensdorff jüngst Ulrich Andermann: Ritterliche Gewalt und bürgerliche Selbstbehauptung. Untersuchungen zur Kriminalisierung und Bekämpfung des spätmittelalterlichen Raubrittertums am Beispiel norddeutscher Hansestädte, Frankfurt a. M. u.a. 1991, 226 - 251 (mit Quellenübersicht, 233 - 237); Rainer Demski: Adel und Lübeck, Studien zum Verhältnis zwischen adeliger und bürgerlicher Kultur im 13. und 14. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u.a. 1996, 285 - 304 (»Beobachtungen zum ältesten lübeckischen Verfestungsprotokoll« 1243ff.); Wolfgang Sellert/ Andreas Bauer: Verfestung, in: HRG 5 (1998), 718f. Klaus Graf 254 Kläger das Gericht, Richter und Dingwarte, zu »besetzen« 51 . Die Besetzung des sächsischen Rechts, die eine Analogie im sogenannten »Verboten« des Ingelheimer Rechts besitzt 52 , war ein ganz an der Mündlichkeit des Verfahrens orientierter Rechtsakt: Die Erinnerung an einen gerichtlichen Vorgang sollte durch Zahlung einer Beweisgebühr dem Gedächtnis der Gerichtspersonen eingeprägt werden. Volle Rechtskraft erhielt die »Verzählung« jedoch erst durch den vom Rat auf Antrag des Klägers vorzunehmenden Eintrag im Verzählbuch, das als der burger brief bezeichnet wurde 53 . Hatte man einen Verzählten ergriffen, so konnte er von Rechts wegen seine Unschuld nicht mehr beweisen und die Hinrichtung abwenden. Es genügte, wenn sein Name »an dem Briefe« stand 54 . Ebenso erbrachte der Eintrag in das Achtbuch den vollen Beweis dafür, daß der Eingetragene sich in der Acht befand 55 . (Faktisch war natürlich immer ein Handlungs- und Verhandlungsspielraum gegeben.) Daß die Städte mit dem Verfestungsverfahren im Spätmittelalter ein politisch zu nutzendes Instrument gegen die sogenannten »Raubritter«, die adeligen Fehdegegner und »Städtefeinde« 56 , besaßen, kann hier nur am Rande erwähnt werden 57 . Zwischen Achtbzw. Verfestungsbüchern, Schadensverzeichnissen und Aufzeichnungen über Fehdehandlungen 58 besteht jedenfalls ein enger Sachzusammenhang. Diese Geschäftsbücher sind als sachbezogene Dossiers über Konflikte zugleich auch Geschichtsbücher, indem sie geschichtliche Erfahrungen als Exempla und Präzedenzfälle im Medium der Schrift aufbewahrten. Zwischen der Unterrichtung der Mitwelt, die man auch als Herstellung von Öffentlichkeit bezeichnen könnte (auch wenn diese meist verwaltungsintern blieb), und der - gleichsam »historiographischen« - Auf- 51 Ermisch: Verzählen (wie Anm. 49), 12. Vgl. Julius Wilhelm Planck: Das Deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter. Nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen, Bd. 1, Braunschweig 1879, 331f. 52 Vgl. Peter Eigen: Die Verbotung in den Urteilen des Ingelheimer Oberhofs, Aalen 1966; Adalbert Erler: Verbotung, in: HRG 5 (1998), 667. Die Gedächtnisleistung der Schöffen wird in Analogie zum Transport einer Nachricht durch einen bezahlten Boten gesehen. 53 Ermisch: Verzählen (wie Anm. 49), 12 - 15. 54 Ebd., 20f. Wer von denjenigen Rittern, die bei dem Überfall auf die Stadt Lüneburg in der Ursulanacht 1371 gefangengenommenen worden waren, als Straßenräuber uppe der stad breve stand, wurde enthauptet, so eine allerdings nicht zeitgenössische Nachricht aus der niederdeutschen Fassung von Hermann Korners »Chronica«, Die Chroniken der deutschen Städte Bd. 36, Stuttgart 1931, 30; vgl. Andermann: Ritterliche Gewalt (wie Anm. 50), 243 (mit falscher Quellenangabe Floreke). Auch in der lateinischen Fassung D von 1435: postea decollati sunt plures de eis, qui in libro civitatis inventi sunt proscripti (nach Mitteilung von Matthias Lentz, der eine Monographie zur Lüneburger Ursulanacht vorbereitet). 55 Wernli: Hofgericht (wie Anm. 30), 81, Anm. 36 mit weiteren Nachweisen. 56 Vgl. Klaus Graf: Die Fehde Hans Diemars von Lindach gegen die Reichsstadt Schwäbisch Gmünd (1543 - 1554). Ein Beitrag zur Geschichte der Städtefeindschaft, in: Kurt Andermann (Hg.): »Raubritter« oder »Rechtschaffene vom Adel«? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter, Sigmaringen 1997, 167 - 189. Zur Kriminalisierung des sogenannten »Raubrittertums« vgl. insbesondere Ulrich Andermann: Kriminalisierung und Bekämpfung ritterlicher Gewalt am Beispiel norddeutscher Hansestädte, in: ebd., 151 - 166. 57 Gegen U. Andermann: Ritterliche Gewalt (wie Anm. 50) hat Gerd Schwerhoff in einem noch ungedruckten Aufsatz über Räuber, Diebe und Betrüger im ausgehenden Mittelalter Zweifel an einem durchweg rabiaten Vorgehen der Städte gegen die adeligen »Räuber« angemeldet. Aus wahrnehmungsgeschichtlicher Sicht bleibt jedoch festzuhalten, daß der »kurze Prozeß«, den die Städte mit den adeligen Straßenräubern machten, zur Eskalation des Stadt-Adel-Gegensatzes beigetragen hat, vgl. Klaus Graf: Feindbild und Vorbild. Bemerkungen zur städtischen Wahrnehmung des Adels, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 141 (1993), 121 - 154, hier: 136. 58 Vgl. dazu Andermann: Ritterliche Gewalt (wie Anm. 50), 105 - 113. Das leckt die Kuh nicht ab 255 zeichnung besonders denkwürdiger Straftaten für die Nachwelt 59 , läßt sich keine scharfe Grenze ziehen. Wiederholt trifft man strafrechtliche Entscheidungen im Kontext von spätmittelalterlichen städtischen Statutenbüchern an. Der Einzelfall wird als Präzedenzfall vermerkt, damit bei einer gleichgearteten Straftat die gefundene Lösung übernommen werden kann 60 . Neben der Spezialprävention, die sich mit der Fixierung des Namens des Missetäters verband, steht das Bemühen der Obrigkeit, das Gedächtnis an die Art der Verletzung der Rechtsordnung und die darauf gefundene Antwort, die Strafe, dauerhaft festzuhalten. Die angenommene Bedrohung der Gesellschaft durch Schwerverbrecher ließ einen besonderen Informationsbedarf über ihre heimlichen Praktiken entstehen. Eine - noch nicht geschriebene - Überlieferungsgeschichte von Prozeßschriftgut in »literarischen« Handschriften des Mittelalters würde, soweit ich sehe, nur wenige Bereiche des Strafrechts erfassen, wobei an erster Stelle natürlich das Schriftgut der Inquisition stünde. Exemplarisch sei die Chronik des Heidelberger Hofkaplans Matthias von Kemnat aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts genannt, in der eigenständige Texte über die Verfolgung von Ketzern und Hexen sowie über Gauner und Landstreicher, aber auch ein Bericht über den angeblichen jüdischen Ritualmord an Simon von Trient integriert sind 61 . Literarisch verbreitet, so jedenfalls mein Eindruck, wurden im Mittelalter hauptsächlich Exempla und Berichte über Straftaten, die man als Teil einer Verschwörung gegen die Gemeinschaft verstand. 59 Vom »Erzählertalent« des Augsburger Stadtschreibers Nikolaus Hagen, der einen aufsehenerregenden Kriminalfall von 1355 besonders ausführlich im Achtbuch schildert, damit dieser nicht »vergessen werde«, spricht Adolf Buff: Verbrechen und Verbrecher zu Augsburg in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 4 (1877), 160 - 231, hier: 193 - 196, Zitat 193. Hinsichtlich der narrativen Elemente in den Kriminalquellen muß ein Hinweis genügen auf die bekannte Monographie von Natalie Zemon Davis: Fiction in the Archives, deutsch: Der Kopf in der Schlinge, Berlin 1988 und die unter Anm. 87 gegebenen Hinweise. 60 In den Hagenauer Statuten betrifft Nr. 125 (164f.) Von dem notzogen einen detailliert beschriebenen Notzuchtfall von 1409. Die verhängte Strafe wurde aufgezeichnet, durch das obe harnoch me semliche clegede und geschicht geschehent, das die ouch also verbessert wurdent; Das alte Statutenbuch der Stadt Hagenau, bearb. von A. Hanauer/ J. Klélé, Hagenau 1900, 165. - Zur Rolle des Einzelfalls und zur Tradierung gefällter Urteile liefern die Artikel von Ekkehard Kaufmann: Richterrecht, in: HRG 4 (1990), 1.054 - 1.057; Hans-Jürgen Becker: Präjudiz, in: ebd. 3 (1984), 1866 - 1870 und Dieter Werkmüller: Urteilssammlungen, in: ebd. 5 (1998), 622 - 628 sehr allgemein gehaltene Hinweise vor allem zur neuzeitlichen Praxis. Vgl. auch Heinz Mohnhaupt: Sammlung und Veröffentlichung von Rechtssprechung im späten 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland. Zu Funktion und Zweck ihrer Publizität, in: Friedrich Battenberg/ Filippo Ranieri (Hg.): Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Köln/ Weimar/ Wien 1994, 403 - 420. Zum größeren Kontext ist zum Thema »Exemplum« zu konsultieren: Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im »Policraticus« Johanns von Salisbury, Hildesheim/ Zürich/ New York 1988. Abundante Bibliographie: Christoph Daxelmüller: Zum Beispiel: Eine exemplarische Bibliographie, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 13 (1990), 218 - 244; NF 14 (1991), 215 - 240; NF 16 (1993), 223 - 244. 61 Vgl. Birgit Studt: Fürstenhof und Geschichte. Legitimation durch Überlieferung, Köln/ Weimar/ Wien 1992, 337 - 351 (»Gelehrtes Schrifttum aus der Gerichts- und Inquisitionspraxis«) mit weiteren Hinweisen. Der neueste Versuch eines Überblicks zum Gaunerschrifttum von Christa Baufeld: Abenteuer sozialer Randgruppen. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Fachliteratur über das Gaunertum, in: Wernfried Hofmeister/ Bernd Steinbauer (Hg.): Durch abenteuer muess man wagen vil. Festschrift für Anton Schwob zum 60. Geburtstag, Innsbruck 1997, 11 - 18 fußt auf veralteter Literatur und kennt nicht einmal die wichtige Monographie von Robert Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit des Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum Liber vagatorum (1510), Köln/ Wien 1988. Klaus Graf 256 Dieser Publizitätsaspekt ist Anlaß, zum Abschluß dieses Abschnitts nochmals auf die Kategorie »Öffentlichkeit« zurückzukommen. Natürlich ist die Eintragung in einem verwaltungsinternen Strafbuch nicht mit dem Vollzug einer öffentlichen Schand- oder Ehrenstrafe gleichzusetzen. Sehr häufig blieben die in den Einträgen ausgesprochenen Drohungen folgenlos, wenn die Obrigkeit bei Wiederholungstätern die Aufzeichung vergaß oder sich nicht erinnern wollte. Hier sollte lediglich mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß die Anlage und Führung von Strafbüchern in der öffentlichen Verständigung über das Strafen eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielte. Das sprichwörtliche »Sündenregister« des schwarzen Buchs verweist auf die wachsende Bedeutung der Schriftlichkeit, läßt aber auch die Autorität obrigkeitlicher Aufzeichnungen im allgemeinen Diskurs erkennen. Es kann als allgemein bekanntes »Symbol« für die Erfassung und Ahndung von Normverstößen gelten, als ein Zeichen, das immer auch Sünde, Verdammung und Teufel assoziieren ließ. Im Mai 1317 rief die Bannglocke die Koblenzer Bürgerschaft zusammen, damit die Bürgerversammlung die Anlage eines Buches beschließen sollte, in das der Stadtschreiber die verurteilten Verbrecher eintragen sollte - um künftigen Untaten entgegenzutreten und damit sich die Bösen nicht des gleichen Rechts erfreuten wie die Guten, so die Vorrede 62 . Innerstädtischer Konsens sollte die Buchführung über Straftaten absichern. Mag es sich dabei auch um eine Ausnahme gehandelt haben, so warnt dieses Beispiel doch davor, die Führung von Strafbüchern zu sehr als »verwaltungsinterne« Angelegenheit zu betrachten. Die in der Koblenzer Aufzeichnung beurkundete individuelle Rechtsminderung der Übeltäter - zu denken ist an das Verbot von Zeugenschaften 63 - durfte und sollte zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangen. Weshalb aber hat man die Namen Hingerichteter registriert? Wollte man sich gegenüber möglichen Ansprüchen der Verwandten absichern, Rechenschaft über die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit ablegen oder war es womöglich ein symbolischer Akt der Ausstoßung aus der städtischen Rechtsgenossenschaft? Die Frage mag offenbleiben, doch setzt ein angemessenes Verständnis spätmittelalterlicher Strafbücher voraus, daß man bei ihrer Interpretation nicht nur die »modernen« Aspekte Rationalität und Effizienz im Auge hat. Meine fragmentarischen Bemerkungen wollten dazu anregen, der symbolischen Dimension und den religiösen Konnotationen der »schwarzen Bücher« mehr Beachtung zu schenken. Justiz-Erinnerungen Die bisher vorgeführten Beispiele schriftlicher Fixierung und Registrierung von Straftätern und Straftaten illustrieren zugleich die Rolle der Erinnerung auf dem Feld der Strafjustiz. Neben der obrigkeitlichen Tradierung verdienen die »Justiz-Erinnerungen« der einfachen Leute besondere Aufmerksamkeit. Der Sohn des am 23. Juli 1653 von der Luzerner Obrigkeit hingerichteten Entlebucher Bauernführers Hans Emmenegger notierte sich zur bleibenden Erinnerung an den schrecklichen Tod seines Vaters auf einem 62 Thea Buyken/ Hermann Conrad: Die ältesten Stadtbücher von Koblenz, in: ZRG GA 59 (1939), 165 - 193, hier: 168f.: attendentes, quod omnes ministri justitie et rectores populorum ad deprimendum nequitiam transgessorum tenentur maleficis maturis remediis obviare. Es sollen verzeichnet werden et qui ad aptus civiles per ipsorum facinora perpetrata minus sunt apti et dispositi, ne mali et boni pari jure gaudere videantur et suam pro meritis recipiant portionem. 63 Vgl. oben Anm. 24. Das leckt die Kuh nicht ab 257 Zettel Tag und Stunde der Hinrichtung, die er der Obrigkeit nie verzeihen wollte 64 . Gefangenen-Grafitti in Gefängnissen und Verliesen bezeugen den Wunsch nach persönlicher Verewigung in einer Extremsituation 65 ; Aufzeichnungen von Gefangenen und »Gefängnis-Literatur« machen deutlich, wie sehr sie der Aufenthalt innerlich bewegt hat 66 . Umgekehrt sind von einer Reihe von Scharfrichtern der Frühen Neuzeit persönliche Aufzeichnungen über ihre Amtsführung erhalten geblieben 67 . Auch »auf starke Bauernnerven erregend« hätten Räuber-, Diebs- und Mordgeschichten wirken müssen, meinte Bruno Markgraf 1907 bei der Besprechung von Erzählungen über Straffälle, die anscheinend »lange Zeit unvergessen blieben« und in frühneuzeitliche ländliche Weistümer des Moselraums Eingang gefunden haben 68 . Für das Spätmittelalter liegt nunmehr eine jüngst erschienene eindringliche Studie von Dorothee Rippmann vor, die aus Zeugenverhören ( »Kundschaften«) von 1458 und 1466 die Erinnerungen von Bauern an Gewalttaten und Delikte in ihrem Dorf bzw. in ihrer Herrschaft erheben konnte 69 . Solche Erinnerungen waren der Nährboden des sogenannten »boshaften Gedächtnisses« (Karl-Sigismund Kramer 70 ), das »über Jahrzehnte, ja Generationen hinweg der allgemeinen Mißbilligung anheimgefallene Handlungen einzelner dem Betroffenen immer wieder vorhielt« 71 . Peinliche Strafen konnten die Nachkommen stigmatisieren, die sich bei Ehrenhändeln nicht selten mit einer ArtVererbung der Unehrlichkeit konfrontiert sahen 72 . Ob es sich tatsächlich um Erinnerun- 64 Andreas Suter: Der schweizerische Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte - Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997, 438; zum Datum ebd., 286. 65 Vgl. Detlev Kraack: Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise. Inschriften und Graffiti des 14. - 16. Jahrhunderts, Göttingen 1997, 57. Eine Gefangeneninschrift von 1596 z.B. bei Richard Strobel: Die Kunstdenkmäler der Stadt Schwäbisch Gmünd Bd. 3, München/ Berlin 1995, 324. 66 Vgl. z.B. Gerold Hayer/ Ulrich Müller: Flebilis heu maestos cogor inire modos: »Gefängnis-Literatur« des Mittelalters und der Fall des württembergischen Grafen Heinrich (1448 - 1519), in: Licht der Natur. Festschrift für Gundolf Keil, Göppingen 1994, 171 - 193; Martin Scheutz/ Harald Tersch: Das Salzburger Gefängnistagebuch und der Letzte Wille des Zeller Pflegers Kaspar Vogl (hingerichtet am 8. November 1606), in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 135 (1995), 689 - 745; Walter Brunner: »Saufen oder Raufen! «. Aus dem Gefängnisalltag des zum Tode verurteilten Malefizverbrechers Andreas Schluderpacher, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 47 (1997), 139 -198 (Aufzeichnungen über die Verköstigung). Über die eigene Turmgefangenschaft 1478 berichten: Die Denkwürdigkeiten des Hallischen Rathsmeisters Spittendorff, hg. von Julius Opel, Halle 1880, 405- 408. 67 Vgl. Peter Putzer: Aus dem Salzburger Scharfrichter Tagebuch, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 8 (1986), 115 - 135, hier: 120 mit Literaturangaben. 68 Bruno Markgraf: Das Moselländische Volk in seinen Weistümern, Gotha 1907, 109f. 69 Dorothee Rippmann: Unbotmässige Dörfler im Spannungsverhältnis zwischen Land und Stadt: Pratteln im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Itinera 19 (1998), 110 - 156, hier: 115 - 131. 70 Vgl. z.B. Karl-S. Kramer: Zur Problematik der rechtlichen Volkskunde, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1962, 50 - 66, hier: 55. 71 Ruth-Elisabeth Mohrmann: Volksleben in Wilster im 16. und 17. Jahrhundert, Neumünster 1977, 227. 72 Einige Beispiele etwa bei Ulinka Rublack: Magd, Metz' oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt a. M. 1998, 125; Burghartz: Leib (wie Anm. 8), 129; Michaela Schmölz-Häberlein: Ehrverletzung als Strategie. Zum sozialen Kontext von Injurien in der badischen Kleinstadt Emmendingen 1650-1800, in: Devianz (wie Anm. 18), 137-163, hier: 138/ 9 Anm. 9, mit Literatur. Für die Hexenprozesse: Robin Briggs: Die Hexenmacher. Geschichte der Hexenverfolgung in Europa und der Neuen Welt, Berlin 1998, 310: »Die Gerichtsaussagen zeigen oft, wie gut das Gedächtnis der Bevölkerung die Erinnerung an sämtliche Fehltritte auch der ferneren Verwandtschaft eines Beschuldigten bewahrte und zitierte, als ob es sich um Beweise für dessen Verbrechen handelte«. - Ein schönes Beispiel für »Familien-Schande« aus der spätmittelalterlichen Literatur ist das Gedicht Wer ich geporen von schnoder art (Ende 15. Jahrhunderts), abgedruckt in: Epochen der deutschen Lyrik Bd. 2: Gedichte 1300-1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge, hg. von Eva und Hansjürgen Kiepe, 2. Aufl., München 1982, 372f. Klaus Graf 258 gen »über Generationen hinweg« gehandelt hat, muß allerdings in den meisten Fällen offen bleiben. Skepsis ist angebracht: Vielfach wird man in der Hitze des Wortgefechts einfach zu einer naheliegenden Beleidigung 73 gegriffen haben. Beachtung verdient Rippmanns unter Heranziehung der Resultate der historischvolkskundlichen Erzählforschung gewonnene Einsicht, daß die in den Kundschaften vermeintlich genau und detailgetreu geschilderten Szenen aus dem Rechtsleben nicht ohne weiteres als authentische Erinnerungen gelten können, daß also stets mit der Verformung durch die mündliche Überlieferung und ihrer Erzählschemata gerechnet werden muß 74 . Bekannt ist, daß Frevel und Verbrechen in den gemeinhin als »Sagen« bezeichneten Erzählungen eine große Rolle spielen 75 , doch eine von romantischen Klischees über »Volkssagen« 76 unbelastete Untersuchung dieses Problemkomplexes steht noch aus. Die in den Sagensammlungen des 19. Jahrhunderts enthaltenen literarischen Texte sind zuallererst als Zeugnisse für den Justiz-Diskurs des 19. Jahrhunderts wahrzunehmen, wobei es durchaus fraglich ist, ob sie naiv als »Zugang zum Rechtsdenken des Volkes« 77 oder als dessen »geschichtliche[s] Gewissen« 78 beansprucht werden dürfen. Wenn ein Stuttgarter Gymnasiast 1847 für seinen Lehrer zu Papier brachte, im Katharinenstift, dem ehemaligen Palast des berüchtigten Juden Süß, gehe noch die Sage, daß sein Geist und der eines unschuldig Gemordeten spuke 79 , so ist die deutlich antisemitisch eingefärbte Geister-Story alles andere als ein Beweis für das »Volksgedächtnis«, das noch weit über hundert Jahre nach der aufsehenerregenden Hinrichtung des Joseph Süß Oppenheimer 1738 die Erinnerung an den verhaßten Hofjuden festgehalten hätte. In Anbetracht der enormen publizistischen Resonanz der Affäre ist es evident, daß jederzeit das historische Wissen um Oppenheimer mit einer gängigen Spukgeschichte verbunden werden konnte. Am wahrscheinlichsten aber ist die Entstehung der anscheinend nur dieses einzige Mal faßbaren Stuttgarter »Geistersage« nicht lange vor ihrer Aufzeichnung im Jahr 1847. Es dürfte sich um ein indirektes Rezeptionszeugnis der 1827 im Cottaschen »Morgenblatt« erschienenen antisemitischen Novelle »Jud Süß« von Wilhelm Hauff handeln 80 . 73 Vgl. allgemein zu Beleidigungen jüngst Ralf-Peter Fuchs: Ehrkämpfe. Injurienprozesse in der Frühen Neuzeit und ihre Interpretationsmöglichkeiten, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 42 (1997), 29 - 50. 74 Rippmann: Dörfler (wie Anm. 69), 130. 75 Den Ertrag der Erzählforschung erschließt die »Enzyklopädie des Märchens«. Als Ausgangspunkt für Recherchen zum Thema Strafen können die materialreichen Artikel von Rainer Wehse: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, in: ebd. 5 (1987), 1050 - 1064; Rolf-Wilhelm Brednich: Hinrichtung, in: ebd. 6 (1990), 1053 - 1060 und Christine Shojaei Kawan: Mord, in: ebd. 9, Lief. 2 (1998), 856 - 876 mit ihren Querverweisen dienen. 76 Vgl. z. B. Klaus Graf: Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der ›historischen Sage‹, in: Fabula 29 (1988), 21 - 47 und die von demselben: Sage, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), 1254 - 1257 zusammengestellte Literatur. 77 So Jörn Eckert: Sage, in: HRG 4 (1990), 1253 - 1256, Zitat 1255. 78 Eberhard Freiherr von Künßberg: Rechtserinnerung und vergessenes Recht, in: Wirtschaft und Kultur. Festschrift zum 70. Geburtstag von Alfons Dopsch, Wien 1938, 581 - 590, hier: 586; zu »Rechtssagen« vgl. auch derselbe: Rechtliche Volkskunde (wie Anm. 42), 12 - 22. Ganz traditionell auch Louis Carlen: Rechtliches in französischen Sagen, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 6 (1984), 143 - 165 und die in der gleichen Zeitschrift erschienenen Aufsätze: Francisca Schmid-Naef: Recht und Gerechtigkeit in den Sagen der Alpenkantone der Schweiz, in: ebd. 10 (1988), 131 - 162; Felici Maissen: Schuld und Sühne in der urnerischen Volkssage, in: ebd. 12 (1990), 153 - 183; Linus Hüsser: Das Recht in den Volkssagen des Fricktales, in: ebd. 13 (1991), 281 - 304. 79 Klaus Graf: Sagen rund um Stuttgart, Karlsruhe 1995, 28 Nr. 11. Das leckt die Kuh nicht ab 259 So wie die Femegericht-Sagen des 19. Jahrhunderts deutlich den Einfluß der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Mode gekommenen Ritterromane und Ritterdramen erkennen lassen 81 , ist auch bei aus Akten erhobenen frühneuzeitlichen Nachweisen zu gängigen Erzählmotiven zum Thema Strafe und unschuldig Hingerichtete 82 auf die ständige Wechselwirkung etwa zwischen der gedruckten Exempel- und Kompilationsliteratur und der mündlichen Tradition 83 zu achten. Rudolf Schenda, der einem auch als Exemplum im juristischen Diskurs zur Folter verbreiteten Erzählstoff über einen zu Unrecht Verurteilten eine instruktive kleine Studie gewidmet hat, stellt fest: »Horror- Erzählungen von unschuldig Hingerichteten machten im 16. Jahrhundert weit und breit, bei denen da oben und bei denen da unten, die Runde« 84 . Erinnerungs- und Wahrzeichen, seien es als solche gestiftete, seien es im nachhinein so gedeutete, verweisen gleichfalls auf die Faszination des Themas. Das wunderbare Anlanden einer in Breslau zum Ertränken in der Oder verurteilten Frau wurde 1503 als Beweis ihrer Unschuld gewertet: Zum Gedächtniß ist ihr rother Rock vonTuch in die Kirche zu St. Niclas aufgehangen worden, gleich als wenn ihr St. Niclas herausgeholfen und sie am Leben erhalten hätte 85 . Die 80 Vgl. Barbara Gerber: Jud Süß. Ein Beitrag zur historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung, Hamburg 1990, 282. 81 Ein bezeichnendes Ludwigsburger Beispiel bei Graf: Sagen (wie Anm. 79), 195f. Nr. 246 (»Das Vehmgericht«, Aufzeichnung von 1847). 82 Wilhelm Heinrich Ruoff: Eine späte Rechtssagenbildung, in: ZRG GA 92 (1975), 201 - 209 erörtert obrigkeitskritische Erzählmotive einer 1659 geführten Unterhaltung von vier Schmiedemeistern über den als »Wädenswilerkrieg« bekannten Bauernaufstand von 1646. Die angeführten Wunderzeichen sollten die Unschuld der seinerzeit Hingerichteten unterstreichen. Zu einem vergleichbaren Fall von 1699 und seiner publizistischen Resonanz instruktiv: Karl-S. Kramer: Grundriß einer rechtlichen Volkskunde, Göttingen 1974, 118f.; derselbe: Problematik (wie Anm. 70), 52f. 83 Leander Petzoldt: Zur Interdependenz von Literatur und Volksdichtung, in: Österreichische Zeitschrift für Volkunde 85 (1982), 266 - 276 behandelt die Erzählung von den Mordeltern bzw. der Mordherberge, die wiederholt als »Zeitungsnachricht aktualisiert« wurde (268); vgl. dazu zuletzt Rolf Wilhelm Brednich: Mordeltern, in: Enzyklopädie des Märchens 9, Lief. 2 (1998), 876 - 879, der sie eine historische »Mediensage« nennt (877). - Ingrid Tomkowiak: ›Hat er sie geschändet, so soll er sie auch behalten‹. Stationen einer Fallgeschichte, in: Fabula 32 (1991), 240 - 257 zeigt, wie ein Justiz- und Herrscherexempel über die Bestrafung sexueller Erpressung tradiert wurde. 84 Rudolf Schenda: Der Basler Mörder, der keiner war und den es auch nicht gab. Ein Studie zum Verhältnis von Sage und Geschichte. in: Leander Petzoldt/ Stefaan Toop (Hg.): Dona Folcloristica. Festgabe für Lutz Röhrich zu seiner Emeritierung, Frankfurt a. M. u.a. 1990, 213-224, hier: 219; vgl. auch Brednich: Hinrichtung (wie Anm. 75), 1056 und Susanne Ude-Koeller: ›Straff der weiber so jre kinder tödten‹. Zur sagenhaften Geschichte des Kindsmordes, in: Fabula 32 (1991), 258-274, hier: 269-271. Zurecht fordert Rudolf Schenda: Jämmerliche Mordsgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Dieter Harmening/ Erich Wimmer (Hg.): Volkskultur - Geschichte - Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag, Würzburg 1990, 530-551 eine stärkere Beachtung früher europäischer Kriminalliteratur durch die sozialhistorische Forschung. Vgl. zuletzt auch den materialreichen Artikel Schendas: Mordgeschichten, in: Enzyklopädie des Märchens 9, Lief. 2 (1998), 879-893. - Hingewiesen sei auch auf die zahlreichen Nachweise zu Straffällen im Sachregister von: Rudolf Schenda (Hg.): Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Studien zur Produktion volkstümlicher Geschichte und Geschichten vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Bern/ Stuttgart 1988, 640 (s.v. Strafen) und im umfangreichen Motivregister von: Wolfgang Brückner (Hg.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Berlin 1974, 863 (s.v. Frevler). 85 Abegg: Beiträge zur Strafrechtspflege in Schlesien, insbesondere im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft 18 (1858), 389 - 451, hier: 447 mit Anm. 154, der sich auf die bis 1599 reichenden Jahrbücher der Stadt Breslau von Nicolaus Pol (gedruckt von J. G. Büsching 1813 - 1823, Bd. 2, 180) stützt. Der Chronist merkt an, die Delinquentin sei aber schließlich doch ertränkt worden. Ungenauer Hinweis bei Rublack: Magd (wie Anm. 72), 121, Anm. 196. Vgl. auch Heiduk: Diskussion (wie Anm. 16), 72f. Klaus Graf 260 Darstellung eines Geräderten an der Tübinger Stiftskirche, vermutlich der heilige Georg, hat man im 16. Jahrhundert als Mahnmal eines tragischen Justizirrtums verstanden 86 . Es geht also nicht an, die »Sagen« von den anderen Justiz-Erzählungen 87 zu isolieren, wie sie etwa in »Newen Zeyttungen« und Flugschriften 88 faßbar sind. Diese Produkte frühneuzeitlicher Publizistik verstanden sich auch als Erinnerungsmedien: Wie der gehängte Täter, formuliert ein Flugblatt, soll es zu eim Exempel sta e t dienen 89 . Die Publizistik betonte die »Zerbrechlichkeit der sozialen Ordnung« 90 und machte sich vorwiegend die Perspektive des Justizapparats zu eigen. Ohne die Unterstützung der Obrigkeit wäre das im 18. und 19. Jahrhundert blühende Genre der sogenannten Armesünderblätter, Urgichten oder Urteln mit Wiedergabe von Geständnis und Gerichtsurteil nicht möglich gewesen. Spezielle Kolporteure - in Wien die sogenannten »Urteilsweiber« - vertrieben sie oft schon vor der Urteilsverkündung 91 . Bezeichnenderweise versprach sich 1789 im Zuge der Diskussion über die Strafrechtsbelehrung des Volkes ein aufgeklärter Jurist einiges von der »Begünstigung der Bänkelsänger« 92 . 86 Schenda: Mörder (wie Anm. 84), 217 nach Johann Georg Gödelmann 1591 (in huius rei perpetuam memoriam et iniquissimae condemnationis signum); vgl. auch den bei Schenda zu ergänzenden Artikel von Manfred Eimer: »Der geräderte Mann« an der Tübinger Stiftskirche, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 6 (1942), 112 - 118. - Die wunderbare Errettung eines Geigers vom Galgen soll, so erzählte man sich im 19. Jahrhundert in Vianden, sogar zur Stiftung der berühmten Echternacher Springprozession geführt haben; Gudrun Staudt/ Will-Erich Peuckert (Hg.): Nordfranzösische Sagen, Berlin 1968, 67f. Nr. 106. 87 Vgl. Davis: Kopf (wie Anm. 59) und aus literaturwissenschaftlicher Sicht den Sammelband: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991. Vgl. auch Hans-Jürgen Lüsebrink: Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Literarische Formen, soziale Funktionen und Wissenskonstituenten von Kriminalitätsdarstellung im Zeitalter der Aufklärung, München/ Wien 1983. Noch nicht gesehen habe ich das Buch von Inge Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie, Tübingen 1998, die laut Verlagsankündigung zeigen will, »daß das tradierte Giftmordwissen in einem beständigen Austausch- und Verweiszusammenhang zwischen Fachwissenschaft, schöner Literatur, Publizistik und Alltagswissen formiert, legitimiert und fortgeschrieben wurde«. 88 Vgl. z.B. Monika Spicker-Beck: Räuber, Mordbrenner, umschweifendes Gesind. Zur Kriminalität im 16. Jahrhundert, Freiburg 1995, 218 - 224, die 220 Anm. 30 auf eine - nicht sonderlich ergiebige - Wiener Dissertation aufmerksam macht: Wolf-Rainer Will: Publizistische Auswertung krimineller Delikte im 16., 17. und 18. Jahrhundert. (Das Verbrecherunwesen in den Flugschriften und Relationen des 16. - 18. Jahrhunderts), Diss. masch., Wien 1971. Vgl. auch Joy Wiltenburg: Weibliche Kriminalität in popularen Flugschriften 1550 - 1650, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995, 215 - 229. Zum illustrierten Flugblatt vgl. grundlegend Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700, Tübingen 1990. Zum Sonderfall der Hexenflugschriften sei nur verwiesen auf: Harald Sipek: »Newe Zeitung. (...)« oder: Marginalien zur Flugblatt- und Flugschriftenpublizistik sowie zur Druckgraphik im Kontext der Hexenverfolgung, in: Sönke Lorenz (Hg.): Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten. Aufsatzband, Ostfildern 1994, 85 - 92 mit weiterer Literatur. 89 Schilling: Bildpublizistik (wie Anm. 88), 229. 90 Wiltenburg: Kriminalität (wie Anm. 88), 226. 91 Brednich: Hinrichtung (wie Anm. 75), 1054f.; Leander Petzoldt: Bänkelsang, in: Rolf-Wilhelm Brednich/ Lutz Röhrich/ Wolfgang Suppan (Hg.): Handbuch des Volksliedes, Bd. 1, München 1973, 235-291, hier: 271f. 92 Juergen Koch: Die Strafrechtsbelehrung des Volkes von der Rezeption bis zur Aufklärung, Diss., Bonn 1939, 22 nach J. L. Klüber. Zum Bänkelsang vgl. zusammenfassend zuletzt Tom Cheesman: Moritat, in: Enzyklopädie des Märchens 9, Lief. 2 (1998), 905-918 mit reichen Literaturangaben. Das leckt die Kuh nicht ab 261 Schand-Denkmäler: Prospektive Verewigung als pathetisches Ausrufezeichen Die schriftliche Fixierung besonders bemerkenswerter Straftaten erfaßt, wie bereits deutlich wurde, nur einen Teilbereich der Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit. Mitunter sollten Bilder, Zeichen und Denkmale das Andenken an besonders schwere Verbrechen dauernd bewahren. Sie müssen als Bestandteil der öffentlichen Inszenierung und des Bestrafungsrituals verstanden werden, das auf möglichst einprägsame, exemplarische Wirkung angelegt war. Nach der Hinrichtung von 63 Frauen in der Herrschaft Schongau als vermeintliche Hexen plante man 1594 ein Denkmal, ein ewige Merckhsäul, Zaichen und Gedechtnuß, das der erfolgreichen Obrigkeit zum Ruhm, den Vorbeireisenden aber zur Abschrekkung dienen sollte 93 . Gewiß handelt es sich wohl um ein singuläres Vorhaben, doch die Absicht, die erfolgreiche Ahndung besonders schwerer Verbrechen zu verewigen, läßt sich noch mit einer Reihe anderer Beispiele belegen. Am bekanntesten sind die noch heute am Turm der Lambertikirche zu Münster aufgehängten drei Käfige für die 1536 hingerichteten Haupträdelsführer der Wiedertäufer 94 . An den Pfeilern des Rathauses in Münster stellte man die vier Zangen, mit denen sie zu Tode gequält wurden, zur Schau - »Aufrührern zum Beispiel und Schrecken«, wie der Chronist Hermann Kerssenbroch schreibt 95 . Im Rathaus, das wie andere Rathäuser als eine Art stadtgeschichtliches »Museum« fungierte, wurden in der Frühen Neuzeit als echte oder angebliche »Andenken« an die Wiedertäufer und ihre Herrschaft der Harnisch des Täuferkönigs Jan van Leiden und ein angeblicher Pantoffel von dessen Nebenfrau gezeigt 96 . Eine Parallele zu den Wiedertäuferkäfigen von Münster stellt der am sogenannten Diek-Turm zu Einbeck aufgehängte Käfig des angeblichen »Mordbrenners« Heinrich Diek dar. Dieser Patrizier soll die Einbecker Brandkatastrophe vom Juli 1540 verursacht haben 97 . Nach seiner Hinrichtung wurde er in dem Käfig zur Schau gestellt. Spätere Traditionsbildung schmückte den Tod phantasievoll aus: Diek soll mit Honig bestrichen worden und erst nach drei Tagen an den Insektenstichen gestorben sein 98 . Die »Mordbrenner-Hysterie« des 16. Jahrhunderts 99 bildet auch den Hintergrund für die 93 Wolfgang Behringer (Hg.): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, 2. Aufl., München 1993, 227f. 94 Vgl. die Studie von Karl-Heinz Kirchhoff: Die »Wiedertäufer-Käfige« in Münster. Zur Geschichte der drei Eisenkörbe am Turm von St. Lamberti, Münster 1996. 95 H. Detmer (Hg): Hermannis a Kerssenbroch Anabaptisti furoris Monasterium inclitam Westphaliae metropolim evertentis historica narratio, Bd. 2, Münster 1899, 875f.: Die Käfige wurden am Lambertusturm aufgehängt, ubi etiam nunc in perpetuam rei memoriam carne et ossibus absumptis corbes affixae conspiciuntur. Forcipes vero, quibus excruciati sunt, in columnis domus senatoriae suspensae in medio foro visuntur, ut seditiosis et magistratui legitimo non parentibus sint exemplo et terrori. Vgl. auch Gerd Dethlefs: Der Friedenssaal im Rathaus zu Münster, in: Heinz Duchhardt/ Gerd Dethlefs/ Hermann Quekkenstedt: »(...) zu einem stets währenden Gedächtnis«. Die Friedenssäle in Münster und Osnabrück und ihre Gesandtenporträts, hg. von Karl Georg Kastner/ Gerd Steinwascher, Bramsche 1996, 39 - 64, hier: 41 (Ansicht des Rathauses um 1800 mit angebrachten Zangen), 44, 54, 58. 96 Dethlefs: Friedenssal (wie Anm. 95), 56 - 58; zu Täufer-Andenken vgl. auch Münster 800 - 1800. 1000 Jahre Geschichte der Stadt, Münster 1984, 133, 145f., 154, 156. 97 Helge Steenweg: Einbeck im Zeitalter der reformatorischen Bewegung, in: Geschichte der Stadt Einbeck, Bd. 1: Von der Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bearb. von Horst Hülse/ Claus Spörer, 2. Aufl., Einbeck 1991, 125 - 154, hier: 134 - 147; Elke Heege: Die sächsischen Städte zwischen Elbe und Weser um 1500, in: Matthias Puhle (Hg.): Hanse, Städte, Bünde, Bd. 2, Katalog, Magdeburg 1996, 87 mit Abbildung des Käfigs. Klaus Graf 262 Überlieferungen im Zusammenhang mit einem Stadtbrand in Wunstorf 1570. Um 1710 weiß ein - freilich nicht besonders zuverlässiger - Gewährsmann, man habe den Leichnam des Brandstifters Ortgieß Doven nach seinem Selbstmord in Stücke geteilt und den Kopf zu stets währendem Gedächtnis an einer eisernen Stange im eisernen Korbe an dem Stadtkirchturm aufgehängt. Um 1800 ergänzte ein anderer Autor, dies Schreckbild sei am Kirchtum noch vorhanden und man begehe alljährlich zur Erinnerung an den Brand am Jahrestag, Montag nach Lätare, ein Brandfest 100 . Das Aufstecken der Köpfe Hingerichteter an Türmen wurde nicht selten praktiziert 101 . Im Rathaus von Brügge wird noch der Rest eines Bronzekopfes aufbewahrt, der einst an der Smeedenport angebracht war. Nach der Hinrichtung eines Verräters, der die Stadt 1688 den französischen Truppen übergeben wollte, hatte man seinen Kopf an einem Nagel zur Schau gestellt. Später (nach 1691) ersetzte man ihn durch ein Exemplar aus Bronze. Gleichsam als Rehabilitation ihres einstigen Verbündeten haben es die Franzosen 1801 entfernt 102 . Ursprünglich sollte der große eiserne Galgen mit den sterblichen Überresten des Joseph Süß Oppenheimer, von der zeitgenössischen Publizistik als Denkmahl wiederhergestellter Ordnung bezeichnet, in Stuttgart dauernd an die Schuld des angeblichen Schwerverbrechers erinnern. 1744, sechs Jahre nach der Hinrichtung, wurde das grausige Erinnerungsmal beseitigt 103 . Bereits während der Haftzeit war der Ruf nach einer Schandsäul für Jud Süß lautgeworden 104 . Im 18. Jahrhundert wurde das Ausstellen von präparierten Leichen hingerichteter Verbrecher in Käfigen vor allem in England häufiger praktiziert 105 . Kaum weniger spektakulär als die Hinrichtung des Stuttgarter Hofjuden war im 16. Jahrhundert die Vierteilung des »Adelsrebellen« Wilhelm von Grumbach 106 am 98 Steenweg: Einbeck (wie Anm. 97), 146. Der Einbecker Rektor Schüsler will 1733 die durch Draht verbundenen Gebeine Dieks noch selbst gesehen haben (ebd.). - Zum Erzählmotiv des mit Honig bestrichenen und von Fliegen getöteten Täters vgl. auch die Sage »Mückenthurm zu Spangenberg«; Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Bd. 3, hg. von Barbara Kindermann-Bieri, München 1993, 64f. Nr. 54 und allgemein Grimm: Rechtsaltertümer (wie Anm. 3), Bd. 2, 286f. 99 Vgl. Spicker-Beck: Räuber (wie Anm. 88). 100 Heinrich Ohlendorf: Geschichte der Stadt Wunstorf, hg. von Wilhelm Hartmann, Wunstorf 1957, 74f. 101 So Karl von Amira: Die germanischen Todesstrafen. Untersuchungen zur Rechts- und Religionsgeschichte (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Phil. Kl. 31,3), München 1922, 129. Vgl. auch Hans von Hentig: Schriften zur Kriminalgeschichte, hg. von Christian Helfer, Bern 1962, 27f.; Wolfgang Schild: Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, 2. Aufl., München 1985, 70.; Barbara Gobrecht: Köpfe auf Pfählen, in: Enzyklopädie des Märchens 8 (1996), 260 - 264. - Zwei aufgespießte Seeräuberschädel stellt das Museum für Hamburgische Geschichte aus; vgl. Jörgen Bracker: Störtebeker, der Ruhm der Hanseaten, in: Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos, Bd. 1, Hamburg 1989, 661 - 666, hier: 664, Abbildung 656. 102 Paul de Win: Rechtsarchäologie und Rechtsikonographie in Belgien. Zur Illustration: Der rechtsarchäologische und rechtsikonographische Reichtum der Stadt Brügge, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 13 (1991), 11 - 52, hier: 25. 103 Gerber: Jud Süß (Anm. 80), 264 mit Anm. 79, 266. Zu den Erinnerungsmedien gehörte im Fall Oppenheimers übrigens auch eine Spott-und Warnungsmedaille, eine Gedächtnuß-Müntz, ebd. 266 mit Anm. 102. 104 Ebd., 264. 105 Witold Maisel: Rechtsarchäologie Europas. Aus dem Polnischen von Ruth Poninska-Maisel, Wien/ Köln/ Weimar 1992, 149. 106 Vgl. zur politischen Einordnung Volker Press: Wilhelm von Grumbach und die deutsche Adelskrise der 1560er Jahre, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 113 (1977), 396 - 431, jetzt wieder in: Derselbe: Adel im Alten Reich. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hg. von Franz Brendle/ Anton Schindling, Tübingen 1998, 383 - 421. Das leckt die Kuh nicht ab 263 18. April 1567 in Gotha gewesen. Die Vierteile Grumbachs und zweier seiner Verbündeten wurden auf zwölf Säulen aufgestellt, die längere Zeit standen 107 . Daneben wurde vom Kaiser die vollständige Schleifung der Festung Grimmenstein angeordnet. In einem Schreiben vom 18. April 1567 wurde ausgeführt, so das Aktenreferat Friedrich Ortloffs, daß die Nothdurft erfordere, dieses Trosthaus, Zuflucht, Herberge und Aufenthalt der Ächter, Landfriedensbrecher, Mörder und Straßenräuber nicht länger aufrecht zu wissen, vielmehr zu einem ewigen Gedächtniß und nothwendigem Ebenbild keinen Stein auf dem anderen zu lassen 108 . Der Kurfürst von Sachsen sah es am 23. April nicht anders: wenn das rebellische Mördernest nicht von Grund auf zerstört und also ein ewiges Gedächtniß gestiftet werden sollte, so würde die so sieghafte, herrliche Execution das vornehmste Lob verlieren, Gott nicht gefallen, dem aufrührerischen Haufen zu neuer Meutherei Ursache geben, und ihnen einen Muth machen 109 . Nicht zum Zuge kam ein Vorschlag, der in einem Schreiben des Würzburger Gesandten Eglof von Knöringen an den Bischof vom 12. April 1567 erwogen worden war. Man wollte Grumbach und einen Mittäter nach Würzburg führen und auf dem Markt gemeiner Bürgerschaft zu ewiger Ergötzlichkeit richten lassen. Die »cadavera« sollten in einem Eisenkorb oben am Grafenecker, dem Turm des Würzburger Rathauses, »zu ewiger Schmach und Abscheu« aufgehängt werden. Für den Fall, daß Würzburg den Leib Grumbachs nicht erhalten würde, wollte man wenigstens den Kopf begehren und diesen zu ewiger Gedächtniß auf die Mainbrücke stecken lassen 110 . Aufmersamkeit verdient in diesen Belegen die Semantik von »ewig«: unbegrenzte Dauer spricht man nicht nur den materiellen Erinnerungszeichen zu, auch die in Würzburg geplante Hinrichtung soll für immer in der Erinnerung der dortigen Bürgerschaft präsent bleiben. Der Gebrauch des Adjektivs »ewig« unterstreicht die Entehrung und fungiert gleichsam als eine Art »Pathosformel«: 1593 machte der Kölner Bürger Johann Kramer geltend, durch die Beschimpfung als meineidiger Dieb sei seine gesamte Nachkommenschaft zum ewigen Nachteil, Schmach und Schande entehrt worden 111 . 1716 wandte sich die Mutter des in der Herrschaft Canstein wegen Diebstahls gehängten Jakob Rehling an die Herrschaft und bat um die Schwertstrafe und ein ehrenhaftes Begräbnis, damit er Uns unschüldigen zur Ewigen Schande undt Schmach am Galgen nicht auffgehangen werden möege. Ihre Supplik war vergeblich, vier Monate hing ihr Sohn am Galgen, bevor die Leiche von Unbekannten widerrechtlich entfernt wurde 112 . In der Regel ließ man ja Leichen zur Abschreckung bis zur nächsten Exekution hängen, und daß Angehörige sie heimlich entwendeten, dürfte nicht selten vorgekommen sein 113 . 107 Friedrich Ortloff: Geschichte der Grumbachischen Händel, Bd. 4, Jena 1870, 158. 108 Ebd., 175. 109 Ebd., 176. Vgl. auch ebd., 260. 110 Ebd., 155. 111 Gerd Schwerhoff: Der Kornmesser und der Bürgermeister. Macht, Recht und Ehre in der Reichsstadt Köln (1592/ 93), in: Eva Labouvie (Hg.): Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, München 1997, 51 - 80, hier: 52. Vgl. auch die Verwendung von »ewig« oben Anm. 24. 112 Barbara Krug-Richter: »Man müßte keine leute zuhause hangen«. Adelige Gerichtsherrschaft, soziale Kontrolle und dörfliche Kommunikation in der westfälischen Herrschaft Canstein, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), 481 - 509, hier: 494. 113 Vgl. z.B. Richard van Dülmen: Das Schauspiel des Todes. Hinrichtungsrituale in der frühen Neuzeit, in: Derselbe/ Norbert Schindler (Hg.): Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16. - 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1984, 203 - 245, 417 - 423, hier: 229; Rublack: Magd (wie Anm. 72), 123f. Klaus Graf 264 Zwischen kurzfristiger und »ewiger« Erinnerung, zwischen Mitwelt und Nachwelt, »kommunikativem« und »kulturellem« Gedächtnis 114 wurde bei der Verwendung von »ewig« nicht unterschieden. Das Vergessen negierten beide Seiten, Obrigkeit wie Betroffene: Was im Diskurs der Gegenwart von exemplarischem Belang war, davon war man überzeugt, würde auch in der Zukunft seine Bedeutung behalten 115 . Neben der dauernden Ausstellung der sterblichen Überreste der exemplarisch bestraften Schwerverbrecher etablierte sich - in Deutschland wohl erst im 17. Jahrhundert - die Errichtung eigener Schanddenkmäler. Der Kunsthistoriker Dietrich Erben hat in einem aufschlußreichen Aufsatz 116 ausführlich die Hintergründe eines merkwürdigen Ereignisdenkmals untersucht: Die archivalisch gut dokumentierte Aufstellung einer Pyramide zur Erinnerung an einen diplomatischen Eklat zwischen dem französischen König Ludwig XIV. und dem Papst. Das im Sommer 1664 in Rom errichtete Schandmal, gedacht als monument à la posterité zum Zeugnis des völkerrechtswidrigen Verhaltens des Papstes 117 , wurde allerdings nach vier Jahren wieder beseitigt. Erben ordnet die Pyramide in eine Gruppe von Schandmonumenten ein, die anläßlich eines »crimen laesae maiestatis«, von Attentaten oder Rebellionen, errichtet wurden 118 . Das jeweilige Vergehen wurde als Majestätsverbrechen gewertet, das »in seiner Schwere über das aktuelle Ereignis hinauswies und darum der überdauernden Erinnerung bedurfte. Dies machte eine Inschrift erforderlich, die den Betrachter gleichermaßen an das Ereignis selbst erinnerte, den Täter anklagte und den Erbauer des Monuments ehrte« 119 . Daß die Pyramide in der frühneuzeitlichen Ikonographie als »Ruhmessymbol des Fürsten« galt 120 , verweist auf die Komplementärbeziehung zwischen bleibendem Ruhm, als der Verewigung von Ehre, und ewiger Infamie, als der Verewigung von Schande. Der »moderne Ruhm« aber entstand - nach Jacob Burckhardts klassischer Darstellung Die Kultur der Renaissance in Italien 121 - in Italien und hier finden sich in der Tat frühe Beispiele für Schanddenkmäler und Schandgemälde. »In Florenz, Venedig und anderen Städten«, so Peter Burke, »bestrafte die Kommune treulose oder hinterlistige condottieri, Rebellen, Bankrotteure und andere Kriminelle, indem sie ihr Bild an mehreren auffallenden Stellen und Plätzen anbringen ließ« 122 . Allerdings war diese spätmittelalterliche »pittura infamante«, die es so anscheinend fast ausschließlich in Italien gab 123 , in aller Regel nicht als dauerhafte Entehrung konzipiert; nach der Versöhnung wurden die Ma- 114 Zu dieser nicht unproblematischen Unterscheidung vgl. Assmann: Gedächtnis (wie Anm. 22), 48 - 56. 115 Vgl. auch Reinhart Koselleck: Historia Magistrae Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Derselbe: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, 38 - 66. 116 Dietrich Erben: Die Pyramide Ludwigs XIV. in Rom. Ein Schanddenkmal im Dienst diplomatischer Vorherrschaft, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31 (1996), 427 - 458. 117 So in einer Relation des Königs vom 11.9.1662, zitiert ebd., 432. 118 Ebd., 443 - 451. 119 Ebd., 450f. 120 Ebd., 449. 121 Erstausgabe 1860. Im zweiten Abschnitt: »Entwicklung des Individuums«. Zu fama und infamia in Italien vgl. Samuel Y. Edgerton: Pictures and Punishment. Art and Criminal Prosecution during the Florentine Renaissance, Ithaca/ London 1985, 60 - 65. Vgl. auch Achatz Freiherr von Müller: Gloria Bona Fama Bonorum. Studien zur sittlichen Bedeutung des Ruhmes in der frühchristlichen und mittellalterlichen Welt, Husum 1977. 122 Peter Burke: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock. Eine historische Anthropologie, Berlin 1986, 99. Das leckt die Kuh nicht ab 265 lereien vernichtet 124 . Anders verhält es sich mit den von Burke erwähnten neuzeitlichen italienischen Beispielen für Schanddenkmälern: ein »Anti-Denkmal« von 1585 in Neapel mit den Köpfen von 24 Rebellen und einer Inschrift, eine durch den Romancier Manzoni berühmt gewordene Mailänder Schandsäule (colonna infame) zur ewigen Schande eines für die Ausbreitung der Pest 1630 verantwortlich gemachten Barbiers sowie einige »Anti-Epitaphe« für Verräter des Gemeinwesens an der Fassade der Kathedrale von Genua 125 . In seiner Rechtsarchäologie Europas nennt Witold Maisel drei venezianische Schandtafeln von 1657, 1680 und 1727, die sich gegen Verbannte richteten, und eine Inschrift in Padua über die Aburteilung von zwölf namentlich nicht genannten Sbirren (Stadtbedienstete) 1722, die Studenten angegriffen hatten. Die Tat sollte im ewigen Gedächtnis der Bürger bleiben und die dauernde Obhut der Stadt über die Universität bezeugen 126 . Solche Fälle, betont Burke, seien zu berücksichtigen »als Teil des Zeichensystems, welches das Wertesystem des frühneuzeitlichen Italien ausdrückte, in dem Ehre und Schande überragende Bedeutung hatten« 127 . Als man im Venedig des Quattrocento dem Verräter Baiamonte Tiepolo eine (heute noch im Museo Correr erhaltene) Schandsäule errichtete, stellte man zugleich eine Siegessäule auf 128 . Dies ist als deutlicher Hinweis auf den - auch formengeschichtlichen - Zusammenhang zwischen der Entstehung von öffentlichen Ruhmes-Denkmälern für Helden in der italienischen Frührenaissance und ihrem »unehrlichen« Äquivalent für Verbrecher zu verstehen 129 . »Wo die Ehrenstatue wieder möglich wird, gibt es auch Raum für das Schandmal« 130 . 123 Günter Schmidt: Libelli famosi. Zur Bedeutung der Schmähschriften, Schandgemälde und Pasquille in der deutschen Rechtsgeschichte, Diss., Köln 1985, 120 - 130; Wolfgang Brückner: Schandbilder, in: HRG 4 (1990), 1349 - 1351 (mit weiterer Literatur) und jüngst Horst Bredekamp: Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem, München 1995, 33 - 37. An einer Dissertation über die deutschen Schandbriefe arbeitet Matthias Lentz, Bielefeld. - Nicht direkt vergleichbar sind die von Schmidt ebd., 125 - 128 besprochenen deutschen Schandgemälde auf Juden, die sich nicht auf bestimmte Ereignisse beziehen. Die angebliche Schändung eines Hennegauer Marienbildes durch Juden sollte auf Geheiß von Kaiser Maximilian nach der Austreibung der Colmarer Juden 1512 für ewige gedechtnüß im dortigen Dominikanerkloster gemalt werden; Winfried Frey: keyn volck vff erden nymer dreyt Also grossen haß im muot, alß der iud zuom christen duot. Zu einem antijüdischen Text aus dem frühen 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 7 (1992/ 93), 159 - 179, hier: 166, 168, 176. Zu den Erinnerungsmedien antijüdischer Propaganda materialreich: R. Po-Chia Hsia: The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany, New Haven/ London 1988. 124 Schmidt: Libelli (wie Anm. 123), 124. Edgerton: Pictures (wie Anm. 121), 74 erwähnt aber eine Malerei ad perpetuam vom Ende des 13. Jahrhunderts und Harald Keller: Die Entstehung des Bildnisses am Ende des Hochmittelalters, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 3 (1939), 227- 356, hier: 288, Anm. 236 meint unter Hinweis auf eine Villani-Stelle, von den Auftraggebern seien die Schandmalereien »wohl für längere Dauer berechnet« gewesen. Ein Statut Forlis von 1359 schreibt die Anfertigung eines Schandgemäldes für Verräter ad perpetuam ipsorum infamiam vor; Zahn: Wüstung (wie unten Anm. 154), 47. 125 Burke: Kultur (wie Anm. 122), 103f. Zu den Beispielen von Mailand und Neapel vgl. Erben: Pyramide (wie Anm. 116), 444 mit Anm. 82. 126 Maisel: Rechtsarchäologie (wie Anm. 105), 149f.; ausführlicher dazu derselbe: Rechtliche Inschriftstafeln Italiens, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 8 (1986), 5 - 18, hier: 11f. mit Abb. 3f. auf 16. 127 Burke: Kultur (wie Anm. 122), 104. 128 Erben: Pyramide (wie Anm. 116), 444; vgl. auch Werner Haftmann: Das italienische Säulenmonument. Versuch zur Geschichte einer antiken Form des Denkmals und Kultmonumentes und ihrer Wirksamkeit für die Antikenvorstellung des Mittelalters und für die Ausbildung des öffentlichen Denkmals in der Frührenaissance, Diss., Göttingen 1939, 134f. Ebd., 152, Anm. 141 wird ein weiteres venezianisches Beispiel von 1452 erwähnt. 129 Vgl. Haftmann: Säulenmonument (wie Anm. 128), 144. Klaus Graf 266 Die humanistische Ideologie ewigen Ruhmes gilt es mitzudenken, wenn in frühneuzeitlichen Zeugnissen von ewiger Schande oder Infamie die Rede ist. Für die pathetische Inanspruchnahme der Kategorie ewigen Gedenkens durch die Humanisten mögen hier die Ausführungen Johannes Reuchlins stehen, mit denen dieser 1513 im »Augenspiegel-Streit« die überaus polemische Verteidigungsschrift gegen seine Kölner Gegner (›Defensio (...) contra calumniatores suos Colonienses‹) beschloß. Er wolle Gleiches nicht mit Gleichem vergelten und wünsche seinen Widersachern keineswegs die Qualen der Hölle. Seine einzige Rache solle sein, den Namen seines Gegners, eingehauen in Marmor, der Nachwelt zu überliefern: Arnold von Tongern, Fälscher und Verleumder (Calumniator Falsarius per omnia secula seculorum) 131 . Im Jahr zuvor hatte Willibald Pirckheimer Reuchlin brieflich gebeten, seine Schriften nicht mehr durch Erwähnung des Halbjuden Pfefferkorn, dessen Andenken zu tilgen sei (cuius memoria de terra viventium delenda esset), zu beschmutzen. Der Nürnberger Patrizier argumentierte mit einem antiken Vorbild: In Ephesus habe man verboten, den Namen des Brandstifters des Dianatempels in Schriften zu verewigen 132 . Es war ihm also um »damnatio memoriae« zu tun, um das Auslöschen des geschriebenen Namens 133 , auch wenn in Pirckheimers Brief der Begriff selbst nicht fällt. Ad damnandum memoriam Ioannis Kalckberner, um die Erinnerung an den Anführer des Aachener Protestantenaufstands 1611 zu verdammen, sei sie auf Geheiß der kaiserlichen Gesandten errichtet worden, verkündete die Inschrift einer 1616 auf dem Aachener Markplatz errichteten Schandsäule 134 . So kämen diejenigen um, die das Gemeinwesen unter Mißachtung kaiserlicher Edikte umzustürzen trachteten. Der ehemalige Bürgermeister der Reichsstadt Kalckberner wurde damals von den kaiserlichen Kommissaren postum zum Tode verurteilt, zwei weitere Rädelsführer ließen sie enthaupten. Das Relief der Säule zeigte über der Inschrift eine Vierteilungsszene. Ein Bericht über die Exekution wurde im Druck verbreitet 135 . »Noch steht auf öffentlichem Markte die Schandsäule eines der besten Bürger der Stadt«, empörte sich ein aufgeklärt gesinnter Protestant in einem 1785 in Berlin anonym erschienenen Reisebericht, der sich dem Despotismus der Geistlichkeit zu wedersetzen [! ], und Gewissensfreiheit mit Gefahr seines 130 Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 204. 131 Ludwig Geiger: Johannes Reuchlin. Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1871, Nachdr. Nieuwkoop 1964, 278; Winfried Trusen: Johannes Reuchlin und die Fakultäten. Voraussetzungen und Hintergründe des Prozesses gegen den ›Augenspiegel‹, in: Gundolf Keil u.a. (Hg.): Der Humanismus und die oberen Fakultäten, Weinheim 1987, 115 - 157, hier: 149. Zum Kontext vgl. jetzt derselbe: Die Prozesse gegen Reuchlins »Augenspiegel«. Zum Streit um die Judenbücher, in: Stefan Rhein (Hg.): Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit, Sigmaringen 1998, 87 - 131. - Wenige Jahre zuvor sprach der sogenannte »Oberrheinische Revolutionär« (vgl. unten Anm. 262) Rittern, die Bauern berauben, ewigen flu o ch vnd schandt in der welt zu; Annelore Franke/ Gerhard Zschäbitz (Hg.): Das Buch der hundert Kapitel und der vierzig Statuten des sogenannten Oberrheinischen Revolutionärs, Berlin 1967, 490. 132 Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 2, bearb. von Emil Reicke, München 1956, 211, Nr. 234. 133 Zur antiken Praxis vgl. z.B. Helmut Häusle: Das Denkmal als Garant des Nachruhms. Beiträge zur Geschichte und Thematik eines Motivs in lateinischen Inschriften, München 1980, 109 unter Hinweis auf die maßgebliche Monographie von Friedrich Vittinghoff: Der Staatsfeind in der römischen Kaiserzeit. Untersuchungen zur »damnatio memoriae«, Berlin 1936. Vgl. jüngst auch Alexander Demandt: Vandalismus. Gewalt gegen Kultur, Berlin 1997, 106f. 134 Die Inschriften der Stadt Aachen, bearb. von Helga Giersiepen, Wiesbaden 1993, 65 - 106 mit Abb. 31 (der bei von Amira: Todesstrafen [wie Anm. 101], 293f., Nr. 416 verzeichnete Kupferstich). 135 Vgl. Walter Schmitz: Verfassung und Bekenntnis. Die Aachener Wirren im Spiegel der kaiserlichen Politik (1550 - 1616), Frankfurt a. M./ Bern/ New York 1983, 347. Das leckt die Kuh nicht ab 267 Lebens zu vertheidigen wagte; und noch hält man zum Andenken dieser abscheulichen Begebenheit, jährlich am 1. Sept. eine feyerliche Procession, von der ich selbst ein Augenzeuge war. Von keiner lächerlichen Seite kann sich die Charlatanerie des katholischen Gottesdienstes unmöglich zeigen 136 . So wundert es nicht, daß die Schandsäule 1792 bei Ankunft der Franzosen umgestürzt und zerschlagen wurde 137 . Im gleichen Jahr 1616 endete die Niederschlagung des Fettmilch-Aufstands in Frankfurt mit einem blutigen Richttag 138 . Vincenz Fettmilch, der Anführer der Rebellen, wurde mit weiteren Aufständischen hingerichtet, die Köpfe von vier »Ächtern« am Brückentorturm auf einem eisernen Träger mit vier Dornen angebracht. Als 1707 einer der Köpfe herunterfiel, mußte er auf Anordnung des Schöffengerichts wieder an die alte Stelle gesetzt werden 139 . Fettmilchs Haus wurde abgerissen, der Platz sollte wüst bleiben. An der Stelle des Wohnhauses ließ der Rat eine Schandsäule in Form einer Pyramide mit lateinischer und deutscher Inschrift aufrichten - zur ewigen Gedächtnuß der Rebellion, und jederman zur höchsten Warnung, so die Überschrift der von der Säule in Form eines Holzschnitts verbreiteten Abbildung 140 . Bis heute erhalten ist im Kölnischen Stadmuseums der Bronzekopf des am 23. Februar 1686 als Haupt-Rebell mit dem Schwert gerichteten Oppositionsführers Nikolaus Gülich 141 . Der Kopf, aus dem ein Richtschwert herausragt 142 , befand sich auf der Schandsäule Gülichs, die in der Mitte des leeren Platzes an der Stelle des geschleiften Wohnhauses des Aufrührers zu deß Aechtern ewiger Infamie 143 aufgerichtet wurde. Auf Schrifttafeln wurden gleichfalls zu deß Aechtern ewiger Infamie desselben Unthaten und Verbrechen beschrieben 144 . Die Köpfe Gülichs und seines Mistreiters Sax ließ der Rat an zwei Stadttürmen aufstecken. Bemerkenswert ist auch hier das quellenmäßig gut dokumentierte Nachspiel in französischer Zeit: Am 17. September 1797 wurde anläßlich der Pflanzung eines Freiheitsbaums die Schandsäule von revolutionär gesinnten Kölnern feierlich niedergelegt. Nunmehr war Gülich ein Verteidiger demokratischer Freiheiten, und ein tyrannischer Magistrat habe ihm, so die Aufzeichnungen des Kommissärs Rethel, die Säule setzen lassen, pour immortaliser sa vengeance cruelle et injuste 145 . 136 Cornelius Neutsch: Religiöses Leben im Spiegel von Reiseliteratur. Dokumente und Interpretationen über Rheinland und Westfalen um 1800, Köln/ Wien 1986, 117f. 137 Giersiepen: Inschriften (wie Anm. 134), 65. 138 Vgl. zusammenfassend Anton Schindling: Wachstum und Wandel. Vom Konfessionellen Zeitalter bis zum Zeitalter Ludwigs XIV. Frankfurt am Main 1555 - 1685, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, 2 0 5 -260, hier: 236f. 139 Georg Ludwig Kriegk: Geschichte von Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1871, 408. Abbildung der aufgesteckten Köpfe auf einem Kupferstich um 1616: Lothar Gall (Hg.): FFM 1200. Traditionen und Perspektiven einer Stadt, Sigmaringen 1994, 127. 140 Abbildung und Erläuterung bei Erben: Pyramide (wie Anm. 116), 445. Zum Schicksal der Schandsäule, deren Postament noch 1772 nicht entfernt werden durfte, vgl. Kriegk: Geschichte (wie Anm. 139), 409f. 141 Vgl. Bernd Dreher, in: Der Name der Freiheit 1288 - 1988. Aspekte Kölner Geschichte von Worringen bis heute, Köln 1988, 465 - 477, 480 - 484 und die Abbildung 577; Bernd Dreher: Vor 300 Jahren - Nikolaus Gülich, Köln 1986, 79, 83f. 142 Mit einem Schwert durchstochen ist auch der Bauer auf Albrecht Dürers berühmter »Bauernsäule«, dem Entwurf für ein Bauernkrieg-Denkmal; zu ihm vgl. jüngst Ernst Rebel: Albrecht Dürer. Maler und Humanist, München 1996, 405 - 410. 143 Dreher: Gülich (wie Anm. 141), 96. 144 Ebd., 83. 145 Der Name (wie Anm. 141), 483. Klaus Graf 268 Vermutlich hat es außer diesen drei Beispielen von 1616 bzw. 1685 nicht viele weitere Schandsäulen im deutschsprachigen Raum gegeben. Aus der gleichen Epoche nennt Erben in seinem Aufsatz über das römische Schanddenkmal noch ein französisches Attentatsdenkmal von 1595 und die Schandpyramide für den 1663 wegen Landesverrats in Kopenhagen hingerichteten Grafen Corfitz Ulfeldt 146 . Beachtung verdient, daß bei der Hinrichtung Grumbachs 1567 noch keine Schandsäule vorgesehen worden war. Die italienischen Schanddenkmäler dürften die Beispiele nördlich der Alpen inspiriert haben. Allerdings wird eine Schandsäule von einer Lindauer Chronik aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei der Behandlung des sogenannten Rienolt-Aufstands im Jahr 1395 erwähnt. Das Urteil für die Haupträdelsführer habe darin bestanden, daß ihre Häupter auf dem baumgarten alhie sollen abgeschlagen werden, hernacher man ire cörper in den galgbronnen daselbst werffen, und denselben mit einer steinern blatten bedeckhen, und zu ewiger gedächtnuß darbei ein saul aufrichten solle, welches Urteil so vollzogen worden sei 147 . Nachdem ein zeitgenössischer Nachweis fehlt, könnte es sich um eine spätere Ausschmückung handeln. Die Aachener Inschrift spricht die »damnatio memoriae« explizit an. Es geht um die Auslöschung des Gedächtnisses für alle Zeiten. Das Urteil gegen die Grafen Nádasti, Zrínyi und Frangipani bestimmte 1671, daß ihr Gedechtniß von der Welt vertilget werden soll 148 . Die ideengeschichtlichen Hintergründe solcher frühneuzeitlicher Formulierungen hat Wolfgang Brückner in seinen Studien zur Leichenbestrafung und den Bildnishinrichtungen (»Executio in effigie«) der Frühen Neuzeit aufgeklärt 149 . Der gelehrte juristische Diskurs sah seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bei Majestätsverbrechen unter Rückgriff auf die altrömische Praxis der »damnatio memoria« als zusätzliche Ehrenstrafe die Verdammung des Andenkens der Täter vor. Der Hochverräter durfte nicht betrauert werden, Waffen und Wappen wurden zerschlagen, sein Haus gewüstet und die ewige Infamie ging aus spezialpräventiven Gründen auf die Söhne über 150 . Die gelehrte Theorie zum »crimen laesae majestatis« beeinflußte Rechtsnormen wie Strafpraxis. Das verbesserte Landrecht des Königreichs Preußen von 1721 sah vor, das Gedächtnis des Verräters solle durch Vernichtung der Ehrenzeichen und Schleifen der Wohnung ausgerottet werden 151 . Noch § 301 des Bayrischen Strafgesetzbuches von 1813 bestimmte unter anderem als Strafe des Hochverräters: Auf seinem Grabe wird eine Schandsäule errichtet 152 . 146 Erben: Pyramide (wie Anm. 116), 446f. Ein Hinweis auf die dänische Schandpyramide auf dem Königsattentäter Struensee 1772 ebd., 446, Anm. 90. Zu der 1569 in Brüssel auf dem Platz des gewüsteten Palais Culemborg aufgerichteten »schandzuil van Culemborg« vgl. Paul De Win: De schandstraffen in het wereldlijk strafrecht in de zuidelijke Nederlanden van de middeleeuwen tot de franse tijd bestudeert in europees perspectief, Brüssel 1991, 220f. (mit weiteren Hinweisen in Anm. 81f.). 147 Stadtarchiv Lindau, Lit. 19, 229 (für Kopien danke ich dem Stadtarchiv Lindau); die Stelle ist abgedruckt bei Joseph Würdinger: Kämpfe des Patriciats und der Zünfte zu Lindau im 14. Jahrhundert, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensee's und seiner Umgebung 3 (1872), 95 - 117, hier: 110. 148 Vgl. Rudolf Quanter: Die Schand- und Ehrenstrafen in der deutschen Rechtspflege. Eine kriminalistische Studie, Dresden 1901, 75 - 77. 149 Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 232f., 237, 258, 265 und öfter. Zur Leichenbestrafung vgl. auch derselbe: Leichenbestrafung, in: HRG 2 (1978), 1802 - 1084. 150 Vgl. Johannes Martin Ritter: Verrat und Untreue an Volk, Reich und Staat. Ideengeschichtliche Entwicklung der Rechtsgestaltung des politischen Delikts in Deutschland bis zum Erlaß des Reichsstrafgesetzbuches, Berlin 1937, 265 mit Nachweisen aus der gelehrten juristischen Literatur seit dem Ende des 16. Jahrhunderts. 151 Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 265f. Das leckt die Kuh nicht ab 269 Die von den juristischen Autoren der Frühen Neuzeit, beispielsweise von Benedict Carpzow 153 , für den Majestätsverbrecher im Zusammenhang mit der »damnatio memoriae« geforderte Strafe der Hauszerstörung (»Hauswüstung«) 154 ist bereits in hochmittelalterlichen Rechtsnormen nachweisbar. Sie sollte Anwendung finden »bei bestimmten Schwerstvergehen wie Mord, Landfriedensbruch, Hochverrat und Rebellion« 155 . Der Niederlegung der Burgen von Landfriedensbrechern 156 entsprach in den Städten die »Hauszerstörung als Manifestation des Ausschlusses aus der Eidgenossenschaft« 157 . Vielfach hat man die Wüstlegung des Hauses durch ein ewiges Wiederaufbauverbot verstärkt 158 . Bereits in mittelalterlichen Zeugnissen wird gelegentlich der Abschrekkungsgedanke hervorgehoben 159 . In Haarlem wurde 1377 bei der Bestrafung von Aufständischen bestimmt, das Haus, in dem die Verschwörung ausgeheckt wurde, solle vernichtet werden und zwar so, daß die Hofstätte nie mehr bewohnt werden kann, damit jeder sich einen spieghel nemen sol, der sich mit dem Gedanken eines Aufstands trägt 160 . Seit dem 16. Jahrhundert gewann dieser Aspekt an Bedeutung. Damit die Friedhäßige und unruhige Leut (...) auf alle nachkommenden Zeiten, ein vorbildigen Spiegel hieran haben und behalten, begründete der Regensburger Reichsabschied von 1567 das oben bereits erwähnte Wiederaufbauverbot der Feste Grimmenstein, des Stützpunktes des Adelsrebellen Grumbach 161 . In der Frühen Neuzeit wurden nicht nur die Häuser von Hochverrätern zerstört und mit einem Wiederaufbauverbot belegt 162 . In seltenen Fällen setzte man auch bei anderen schweren Verbrechen dieses pathetische Ausrufezeichen. In der Mitte des 16. Jahrhunderts erregte die in der Reichsstadt Esslingen ansässige angebliche Hunger- 152 Christoph U. Schminck: Hochverrat, in: HRG 2 (1978), 179 - 186, hier: 185. 153 Vgl. z.B. Benedict Carpzov: Practicae novae Imperialis Saxonicae Rerum Criminalium Pars I, 7. Aufl., Wittenberg/ Frankfurt 1677, 246 (qu. 41 n. 13). 154 Vgl. zusammenfassend Lorenz Laubenberger: Wüstung (als Strafe), in: HRG 5 (1998), 1566 - 1591 und die dort verzeichnete rechtshistorische Literatur. Ich hebe hervor: Alexander Coulin: Die Wüstung. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafrechts unter besonderer Berücksichtigung des deutschen und französischen Hochmittelalters, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 32 (1915), 326 - 501; Ernst Fischer: Die Hauszerstörung als strafrechtliche Maßnahme im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1957; Theodor Bühler: Wüstung und Fehde, Schweizerisches Archiv für Volkskunde 66 (1970), 1 - 27. Ungedruckt blieb leider die Arbeit von Nicolaus Zahn: Die Wüstung im mittelalterlichen Recht unter besonderer Berücksichtigung von Italien und Flandern, Diss. masch., Basel 1956. 155 Werner Meyer: Die Eidgenossen als Burgenbrecher, in: Der Geschichtsfreund 145 (1992), 5 - 95, hier: 69. 156 Vgl. ebd., 68 - 71. 157 Heinz Holzhauer: Schädliches Haus, Schädlicher Mann, in: HRG 4 (1990), 1342 - 1345, hier: 1343. 158 Vgl. Bühler: Wüstung (wie Anm. 154), 15; Zahn: Wüstung (wie Anm. 154), 103 - 106. 159 Vgl. Coulin: Wüstung (wie Anm. 154), 373. 160 Fischer: Hauszerstörung (wie Anm. 154), 89. Zur Spiegel-Metapher vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, 42f. 161 Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede (...), Bd. 3, Frankfurt a. M. 1747, 259 § 60; vgl. Albrecht P. Luttenberger: Kurfürsten, Kaiser und Reich. Politische Führung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II., Mainz 1994, 363f.; Ortloff: Händel (wie Anm. 107), Bd. 4, 246 - 248. Vgl. oben Anm. 106. 162 1514 ließ die württembergische Obrigkeit das Versammlungshaus der Aufstandsbewegung des »Armen Konrad« in Schorndorf abbrechen; Andreas Schmauder: Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad 1514. Ein Beitrag zum bäuerlichen und städtischen Widerstand im Alten Reich und zum Territorialisierungsprozeß im Herzogtum Württemberg an der Wende zur frühen Neuzeit, Leinfelden-Echterdingen 1998, 252. - Ob ein Rothenburger Fall im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg 1525 zeitgenössisch belegt werden kann, bleibt noch zu überprüfen, vgl. vorerst Emmi Böck (Hg.): Sagen aus Mittelfranken, Nürnberg 1995, 45f. Nr. 69, 307 (»Die verfluchte Hofstätte«). Zeitgenössische Beispiele bei Zahn: Wüstung (wie Anm. 154), 147. Klaus Graf 270 künstlerin Anna Ulmer überregional größtes Aufsehen. Eine vom Rat im April 1550 in Auftrag gegebene bildliche Darstellung der »Jungfrau von Esslingen« konnte nach Aufdeckung des Schwindels zum Denkmal des Betrugs umfunktioniert werden 163 . 1551 wurde Margareta, die Mutter der Ulmerin, als Hexe zum Feuertod verurteilt. Sie sollte mit dem Holzwerk des Hauses, in dem sie den Betrug verübt habe, verbrannt werden. In ewigkeit zu gedechtnus durfte an der Stelle kein Haus mehr gebaut werden 164 . 1617 verhaftete man in der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd im Zuge der Hexenverfolgungen den Kaplan Melchisedech Haas. Er wurde später in Dillingen als Hexenmeister hingerichtet. Ein Chronist des späten 18. Jahrhunderts vermerkt zu einem Gartengrundstück am heutigen Münsterplatz: Man hatte dieses Hauß nachgehends mit allem Fleisse rasieret, und geschleiffet, damit um desto ehender das abscheuliche Angedenken dieses gottlosen Priesters erlöschen möge 165 . Als 1667 ein großer Brand die Stadt Billerbeck im Münsterland in Schutt und Asche legte, kam der fahrlässige Brandverursacher mit dem Leben davon, sollte aber den unglücklichen orth ad rei memoriam anderen bürgern zur warnung nicht wieder bezimmern dürfen. 1669 versuchte die Stadt bei Verhandlungen mit den Räten des Landesherrn, des Fürstbischofs von Münster, vergeblich zu erreichen, daß der Wiederaufbau gegen eine jährliche Bußzahlung, die man zur Dotierung einer Brandprozession verwenden wollte, zugelassen würde 166 . In Bautzen schleifte man 1670 das Haus, in dem ein Kindsmord begangen wurde, und setzte einen Stein »zum ewigen Gedächtnis« an die Stelle 167 . Um die dauernde Wüstlegung eines Grundstücks künftigen Generationen mitzuteilen, wurden schon im Mittelalter Gedenkinschriften angebracht, wenn ein elsässischer Beleg aus dem 14. Jahrhundert verallgemeinert werden darf. In Colmar ist eine »Wüstungstafel« aus rotem Sandstein erhalten, deren Inschrift die erfolgreiche Niederwerfung eines Aufstands durch Herzog Rudolf IV. von Österreich, damals Reichslandvogt im Elsaß, im Jahr 1358 rühmt: und rach den uberlof (...) und brach darumb dis hus und sol niemer me wider gebuwen werden zu einer ewigen gedechtnist 168 . Bei spätmittelalterlichen Burgenzerstörungen habe man, meint Werner Meyer, Mauerteile als »Wahrzeichen der vollzogenen Rache und der vollstreckten Strafe« 169 stehen lassen. In der Tat berich- 163 Jerouschek: Hexen (wie Anm. 41), 68 mit Anm. 68. Noch Jahrzehnte später war die »Jungfrau von Eßlingen« eine sprichwörtliche Redenswart für die Vorspiegelung falscher Tatsachen, vgl. Schilling: Bildpublizistik (wie Anm. 88), 129f. mit weiteren Hinweisen zur publizistischen Resonanz. 164 Jerouschek: Hexen (wie Anm. 41), 70. 165 Chronik des Franz Xaver Debler, Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd Ch 2, S. 246 (ein zeitgenössischer Beleg ist nicht bekannt); zur Lage des Grundstücks mit Skizze vgl. Albert Deibele, in: Gmünder Heimatblätter 22 (1961), 19f. Zum Fall Haas vgl. die Hinweise bei Klaus Graf: Hexenverfolgung in Schwäbisch Gmünd, in: Sönke Lorenz/ Dieter R. Bauer (Hg.): Hexenverfolgung. Beiträge zur Forschung - unter besonderer Berücksichtigung des südwestdeutschen Raumes, Würzburg 1995, 123 - 139, hier: 125 mit Anm. 13. 166 Manfred Becker-Huberti: Die tridentinische Reform im Bistum Münster unter Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen 1550 bis 1678. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Reform, Münster 1978, 302f. Eine Ergänzung hierzu verdanke ich Christof Jeggle, Berlin: Im Oktober 1592 wurde vom Magistrat zu Münster ein Bäcker, durch Fahrlässigkeit Urheber eines Brandes, zum Stadtverweis verurteilt. Sein Haus durfte auf Lebenszeit nicht wieder errichtet werden, Stadtarchiv Münster, Kriminalregister 1590 - 1607, fol. 10r (23.10.1597); vgl. ebd., Ratsprotokoll A II 20 Bd. 24 vom 7.10.1592, fol. 97r. 167 Fischer: Hauszerstörung (wie Anm. 154), 42. 168 Text bei Meyer: Eidgenossen (wie Anm. 155), 70; vgl. auch Wilhelm Baum: Rudolf IV. der Stifter. Seine Welt und seine Zeit, Graz/ Wien/ Köln 1996, 55 und Abbildung nach 320. 169 Meyer: Eidgenossen (wie Anm. 155), 69. Das leckt die Kuh nicht ab 271 tet Erhard Appenwilers Chronik, bei der Zerstörung von Blochmont durch die Stadt Basel sei ein Teil der Mauern nicht niedergelegt worden zem wortzeichen 170 . Bezeichnend für die Verbreitung der Vorstellung der Wüstlegung mit anschließender Errichtung eines Erinnerungsmals ist ein in Genf umgehendes Gerücht, das 1474 Bern in Angst und Schrecken versetzte. Eine große Koalition europäischer Herrscher, hieß es, wolle Freiburg und Bern einnehmen, Bern zerstören und in der Mitte ein Denkmal aufrichten mit der Inschrift: Hier war einist ein Statt, die hiess Bern 171 . Die an der Stelle gewüsteter Stätten gesetzten Denksteine gelten als schlagendes Gegenargument gegen die von einflußreichen Rechtshistorikern vertretene Ansicht, die Hauswüstung sei ursprünglich ein sakralrechtliches Ritual gewesen mit dem Zweck der »Versöhnung der Gottheit durch Vertilgung aller Erinnerung an den Missetäter« 172 . Man könne sich ja, so Alexander Coulin, »kaum ein Mittel denken, das geeigneter wäre, das Andenken an Täter und Tat in der Bevölkerung wach zu erhalten, als der durch die Wüstung geschaffene Trümmerhaufen oder die jedem auffallende leere Stelle, über deren Schicksal jedermann in der Gegend Aufschluß zu geben vermag« 173 . Die frühneuzeitliche Belegsituation zur Rede von der Auslöschung des Andenkens darf nicht in das Mittelalter zurückprojiziert werden 174 . Vermutlich hat erst die Wiederentdeckung der »damnatio memoriae« des römischen Rechts das Aufkommen der Vorstellung von der Austilgung der Erinnerung gefördert. Wenn in einem offenbar frühneuzeitlichen Beleg die Verbrennung eines bei der Sodomie verwendeten Tieres mit der Vertilgung des gedächtnüß der schändlichen Tat motiviert wird 175 , so taugt diese Stelle nicht dazu, die generelle Behauptung, die Strafe der Verbrennung habe jede Erinnerung an das Verbrechen vernichten sollen, hinreichend zu begründen. Wer mittelalterliche Strafpraxis mit der Auslöschung der Erinnerung erklären will, müßte schon ein einschlägiges mittelalterliches Konzept glaubhaft machen können. Wie kann Erinnerung überhaupt wirksam vernichtet werden? Es liegt hier ein Paradox vor, das ich das Paradox der »damnatio memoriae« oder des erinnernden Vergessens nennen möchte. Obwohl die leeren Plätze an der Stelle der geschleiften Wohnhäuser als frühneuzeitliche Variante der »damnatio memoriae« das Andenken des Missetä- 170 Basler Chroniken Bd. 4, bearb. von August Bernoulli, Leipzig 1890, 300. 171 Johann Caspar Zellweger: Versuch die wahren Gründe des burgundischen Krieges aus den Quellen darzustellen und die darüber verbreiteten irrigen Ansichten zu berichtigen, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 5 (1847), 3 - 149, hier: 33. Zum Vorbildcharakter der Hauszerstörung für die Stadtzerstörung vgl. Marc Boone: Destroying and Reconstructing the City. The Inculcation and Arrogation of Princely Power in the Burgundian-Habsburg Netherlands (14th - 16th Centuries), in: Martin Gosman/ Arjo Vanderjagt/ Jan Veenstra (Hg.): The Propagation of Power in the Medieval West, Groningen 1997, 1 - 33, hier: 18f. 172 Hinrich Siuts: Acht und Bann und ihre Grundlagen im Totenglauben, Berlin 1959, 135. Diskussion der Literatur bei Fischer: Hauszerstörung (wie Anm. 154), 149f. 173 Coulin: Wüstung (wie Anm. 154), 360. Gegen eine Funktion als »damnatio memoriae« wendet sich auch Karl Meuli: Über einige Rechtsbräuche, in: Derselbe: Gesammelte Schriften, hg. von Thomas Gelzer, Bd. 1, Basel/ Stuttgart 1975, 445 - 469, hier: 454: f. 174 Vor solchen Rückprojektionen bei der Motivierung rechtsgeschichtlicher Phänomene warnt Coulin: Wüstung (wie Anm. 154), 374, Anm. 221. - Es wäre darauf zu achten, wann Formulierungen wie die Luthers in seiner Schrift an den christlichen Adel von 1520, man solle die geistlichen Strafen zehn Ellen tief begraben in die erden, das auch yhr nam und gedechtnis nit mehr auff erden were (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe Bd. 6, Weimar 1888, 445), aufkommen und häufiger werden. 175 van Dülmen: Schauspiel (wie Anm. 113), 227; vgl. auch derselbe: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafritual in der frühen Neuzeit, München 1985, 126, 118. Klaus Graf 272 ters auslöschen sollten, haben sie es im Gegenteil wachgehalten. Die oben zitierten Positionen von Reuchlin und Pirckheimer stehen für zwei Modi des Umgangs mit dem Andenken: Während es Reuchlin um die Verewigung von Schande geht, will Pirckheimer die Erinnerung des Täters durch Totschweigen auslöschen. Realistischer scheint die Haltung Reuchlins, denn eine hinreichende Kontrolle der medialen Präsenz des Täters im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis ist selbst in einem totalitären System nicht zu garantieren. Die in der Vormoderne mit der Hauszerstörung oder der Vernichtung von Porträts 176 inszenierte »Verdammung des Andenkens« vernichtet dieses in Wirklichkeit keineswegs, sie verewigt Schande bzw. »Infamie« des Täters. Die zitierte Colmarer Inschrift zur Wiederherstellung der Ordnung 1358 nennt keine Namen von Tätern, und dies gilt auch für eine etwas ältere zeitgenössische Inschrift aus Regensburg. Sie berichtet vom Verrat zweier namentlich nicht genannter Bürger, die 1337 mit einem unterirdischen Gang den belagernden Truppen Ludwig des Bayerns heimlich Zugang zur Stadt verschaffen wollten. Sie wurden einige Tage später an di zinn erhangen 177 . Zum Dank für die Rettung stiftete die Stadt eine ewige Messe in Niedermünster 178 . Jedes Jahr gemahnte in Köln eine Prozession an die Niederschlagung der Revolte von 1481/ 82 179 . Überhaupt sind die hier und im folgenden erwähnten Zeugnisse zum »Nachleben« von Revolten und Verratsfällen im Kontext der städtischen Erinnerungskultur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu sehen, die mit obrigkeitlich veranlaßten jährlichen Gedenkritualen 180 und Erinnerungszeichen das Andenken an Schlachten, Belagerungen, Überfälle und Aufstände wachhielt. Mit diesen Medien öffentlicher Erinnerung konnte wirksamer als in der Historiographie die erfolgreiche Überwindung der einstigen Bedrohung der städtischen Freiheiten verewigt werden 181 . Daneben wurde in Sühneverträgen anläßlich der Beilegung innerstädtischer Konflikte ein bleibendes Gedenken in Gestalt von Steinkreuzen, Kapellen oder Meßstiftungen vereinbart, das zwar ursprünglich der memoria der im Aufstand getöteten Opfer galt 182 , das aber ebenfalls das historische Wissen 176 Beides wurde z.B. praktiziert bei der Scheinhinrichtung des Hugenottenführers Coligny 1572, vgl. Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 298. 177 Hans Ulrich Schmid: Die mittelalterlichen deutschen Inschriften in Regensburg. Edition, Untersuchungen zur Sprache, Abbildungen, Frankfurt a. M. u.a. 1989, 11f., Nr. 5. 178 Johann Schmuck: Ludwig der Bayer und die Reichsstadt Regensburg. Der Kampf um die Stadtherrschaft im späten Mittelalter, Diss., Regensburg 1991, 235f., Anm. 1497. 179 Vgl. Wolfgang Schmid: Stefan Lochners ›Altar der Stadtpatrone‹. Zur Geschichte eines kommunalen Denkmals im Heiligen Köln, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 58 (1997), 257 - 284, hier: 263. - Zu einer französischen Gedenkprozession aus Anlaß eines Verrats 1426 vgl. Jean Tricard: Une ville et son traître: Limoges et l’affaire Gaultier Pradeau. (XVe -XXe siècle), in: Monique Bourin (Hg.): Villes, bonnes villes, cités et capitales. Études d’historie urbaine (XIIe -XVIIIe siècle) offerts à Bernard Chevalier, Tours 1989, 211 - 221, hier: 217 (freundlicher Hinweis von Gisela Naegle, Gelnhausen). 180 Gedenkrituale aus Anlaß von Straftaten und Bestrafungen waren nicht üblich. Ich kenne nur die von Anton Mailly: Deutsche Rechtsaltertümer in Sage und Brauchtum, Wien 1929, 100 erwähnte Demütigung der Bauern von St. Peter in der Au bei Steyr, die wegen eines Aufstands von 1597 bis 1844 jeden Lichtmeßtag zur straff undt ewiger gedechtnus einen Gang zum Schloß machen mußten. Das Zitat nach Gadi Algazi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt/ New York 1996, 176, Anm. 100. 181 Vgl. Klaus Graf: Schlachtengedenken in der Stadt, in: Bernhard Kirchgässner/ Günter Scholz (Hg.): Stadt und Krieg. 25. Arbeitstagung in Böblingen, Sigmaringen 1989, 83 - 104; derselbe: Schlachtengedenken im Spätmittelalter. Riten und Medien der Präsentation kollektiver Identität, in: Detlef Altenburg/ Jörg Jarnut/ Hans-Hugo Steinhoff (Hg.): Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposium des Mediävistenverbands, Sigmaringen 1991, 63 - 69. Das leckt die Kuh nicht ab 273 um solche Ereignisse, die Erinnerung an »Verfehlung und Sühne« 183 , im städtischen Gedächtnis verankern konnte. An den Aufstand der Tuchmacher 1527 erinnert die »Verrätergasse« in Görlitz. Zum ewigen gedechtnus ließ der Rat an der zugemauerten Tür eines Hauses in diesem Gäßlein, wo die Verschwörer am meisten aus- und eingingen, die Inschrift DVRT (Der Verräterischen Rotte Tür) anbringen 184 . Wie bei der Basler »Mordnacht«-Überlieferung bringt die in einer »Sage« des 19. Jahrhunderts faßbare späte Traditionsbildung das Vorgehen der Uhr am Görlitzer Mönchsturm mit der Aufdeckung der Verschwörung in Verbindung 185 . Auch in Schlettstadt wurde im 16. Jahrhundert das Andenken an eine Verschwörung mit lateinischen und deutschen Inschriften vom Rat dauerhaft gesichert 186 . Während Inschriften den betreffenden Fall genau bezeichnen können, ist die Bezugnahme der Kennzeichnung innerstädtischer Hinrichtungsstätten auf ein bestimmtes Ereignis nicht ohne weiteres garantiert. Ganz sicher ist die Deutung nur bei dem jüngsten mir bekannten Fall: Als Bremer Kuriosität wird der sogenannte »Spuckstein« auf dem Domshof gezeigt. Es handelt sich um die durch ein Kreuz im Pflaster markierte Stelle, an der die Giftmörderin Gesche Gottfried 1831 bei der letzten öffentlichen Hinrichtung in der Hansestadt enthauptet wurde. Touristische Informationen wollen wissen, daß noch heute Einheimische »ihre Abscheu« durch Ausspucken äußern. In seiner Monographie zur rechtlichen Volkskunde aus dem Jahr 1936 berichtet Eberhard Freiherr von Künßberg von dieser und einer ähnlichen »Spucksitte«, die allerdings »nur mehr von Schulkindern« festgehalten werde, an der durch einen dunklen Stein bezeichneten Stelle der Hinrichtung des »Prinzenräubers« Kunz von Kauffungen im sächsischen Freiberg 1455 187 . Allerdings gehört die älteste Überlieferung zu diesem »Wahrzeichen« Freibergs auf dem Obermarkt zu den Zeugnissen für die üppige frühneuzeitliche Traditionsbildung rund um den »Prinzenraub«, die Entführung der Söhne des sächsischen Kurfürsten durch Kunz von Kauffungen. 1702 soll der Stein, als er zersprungen war, durch einen neuen ersetzt worden sein. Außerdem wurde ein Kopf am Rathaus als Bildnis des Täters und eine der Gefängniszellen als die seine ausgegeben 188 . 182 Vgl. Dietrich Poeck: Sühne durch Gedenken - Das Recht der Opfer, in: Clemens Wischermann (Hg.): Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, 113-136. 183 Dietrich Poeck: Totengedenken in Hansestädten, in: Franz Neiske/ Dietrich Poeck/ Mechthild Sandmann (Hg.): Vinculum Societatis. Joachim Wollasch zum 60. Geburtstag, Sigmaringendorf 1991, 175 - 232, hier: 189. 184 Magister Johannes Hass Bürgermeister zu Görlitz Görlitzer Rathsannalen, hg. von E. E. Struve, Bd. 3 (1521 - 1542), Scriptores rerum Lusaticarum NF 4, Görlitz 1870, 74 (Zitat), 46; vgl. Richard Jecht: Geschichte der Stadt Görlitz Bd. I,1, Görlitz 1926, 298; Bd. I, 2, ebd. 1927 - 1934, 449. 185 Vgl. die mit dem Vermerk »Mündlich« versehene Sage bei Karl Haupt: Sagenbuch der Lausitz, in: Neues Lausitzisches Magazin 40 (1863), 336, Nr. 121. Zu Basel vgl. Hans Rindlisbacher: Mordnächte in der Eidgenossenschaft. (Begriff, Überlieferung, Typologie), masch. Lizentiatsarbeit, Basel 1979, 50, 77. Vgl. allgemein immer noch Ludwig Tobler: Die Mordnächte und ihre Gedenktage, in: Derselbe: Kleine Schriften zur Volks- und Sprachkunde, hg. von J. Baechtold/ A. Bachmann, Frauenfeld 1897, 79 - 105. 186 Joseph Gény: Die Reichsstadt Schlettstadt und ihr Antheil an den socialpolitischen und religiösen Bewegungen der Jahre 1490 - 1536, Freiburg 1900, 141 Anm. 2. 187 Künßberg: Rechtliche Volkskunde (wie Anm. 42), 105. Vgl. auch derselbe: Rechtserinnerung (wie Anm. 78), 584: Die Bremer »symbolisieren (...) ihr Vollwort zum Urteilspruch und ihre Gemeinschaftshandlung am Strafvollzug«. 188 Otto Coith: Kunz von Kauffungen. Eine historische Skizze, in: Mittheilungen des Freiburger Alterthumsvereins 13 (1876), 1135 - 1270, hier: 1192 mit Anm. 115. Zum Prinzenraub vgl. zuletzt Regina Röhner: Der sächsische Prinzenraub. Die Geschichte des Kunz von Kauffungen, 2. Aufl., Chemnitz 1994. Für die angebliche »Spucksitte« findet sich bei Coith kein Beleg! Klaus Graf 274 Wilhelm Funk erwähnt neben dem Bremer und Freiberger Beispiel eine Lüneburger Markierung an der Stelle, wo 1457 (richtig: 1458) die Rädelsführer der Bürgerschaft hingerichtet worden seien 189 . Vergeblich fahndet man aber in zeitgenössischen Quellen und Bernd-Ulrich Hergemöllers maßgeblicher Darstellung 190 nach einem Beleg für dieses Erinnerungsmal. Zwar sagen die Chroniken, die Enthauptung Anfang Juni 1458 habe auf dem Markt stattgefunden 191 , doch muß das Alter der Markierung 192 vorerst offen bleiben. Gleiches gilt für die Kennzeichnung wirklicher oder angeblicher innerstädtischer Hinrichtungsstätten in Lindau (Rienolt-Aufstand 1395 193 ), Bautzen (Enthauptung aufständischer Handwerker 1408 194 ), Amberg (Hinrichtung von Bürgern durch Pfalzgraf Friedrich den Siegreichen 1454 195 ) und Wiener Neustadt (»Wiener Neustädter Blutgericht« im August 1522 196 ). In Lübeck erinnerte im 18. Jahrhundert eine Fliese auf dem Markt an die Enthauptung des Schiffshauptmanns Johannes Wittenborg als Verräter im Jahr 1363, doch war dies nicht das einzige »Andenken« an Wittenborgs Verrat: Mit der Hinrichtung brachte man auch ein im Zeughaus aufbewahrtes Richtschwert und einen Stuhl in Verbindung. Eine bildliche Darstellung, die das Urteil in Kopie enthalten haben soll, hing im Zeughaus 197 , und ein (in Wirklichkeit 1538 verfertigter) Pokal sollte, so die Überlieferung, an Wittenborgs schreckliches Ende gemahnen, wenn ihn die Ratsherren zweimal im Jahr leerten 198 . Bei dieser städtischen Traditionsbildung handelt es sich nicht etwa um eine »Volkssage«, sondern offenbar um eine »offiziöse«, im Um- 189 Wilhelm Funk: Alte deutsche Rechtsmale. Sinnbilder und Zeugen deutscher Geschichte, Bremen/ Berlin 1940, 105. Auf Funks Angaben fußt wohl Wolfgang Schild: Kriminalität und ihre Verfolgung, in: Cord Meckseper (Hg.): Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150 - 1650, Bd. 4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, 131 - 174, hier: 144, der die Denkmale mit einer »Steigerung des Sensationellen« (bei gleichzeitigem Rückgang der Hinrichtungszahlen) in Verbindung bringt. 190 Bernd-Ulrich Hergemöller: »Pfaffenkriege« im spätmittelalterlichen Hanseraum. Quellen und Studien zu Braunschweig, Osnabrück, Lüneburg und Rostock, Bd. 1, Köln/ Wien 1988, 179. 191 Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 36 (wie Anm. 54), 142, 363, 385. 192 Die Steinplatten im Pflaster sind abgebildet bei Hartmut Boockmann: Die Stadt im späten Mittelalter, München 1986, 168, Nr. 262. 193 Karl Wolfart (Hg.): Geschichte der Stadt Lindau am Bodensee, Bd. 1/ 1, Lindau 1909, 131: »Noch heute soll ein Steinkreis, der bei jeder Pflasterung erneuert wird, die Stelle anzeigen«. Dazu die Auskunft des Stadtarchivs Lindau (Werner Dobras) vom 30.6.1995: »Der von Wolfart genannte Steinkreis ist erst in neuerer Zeit (...) angelegt worden. Wann dies der Fall war, ist mir nicht bekannt. Heute nimmt in Lindau kaum mehr jemand davon Notiz, zumal er im Rahmen einer Neubepflasterung auch schlecht genug erkennbar und ohne jeden Hinweis ist«. 194 Vgl. den Abschnitt »Ein Pflasterkreuz offenbart Geschichte« im touristisch orientierten Bändchen von Roger Rössing: Bautzen, Leipzig 1989, 7f. 195 Unter Hinweis auf Richard Hipper: Die Entwicklung Ambergs vom Dorf zur Stadt und Hauptstadt der Oberpfalz, in: Anton Eberl (Hg.): 900 Jahre Amberg. Eine Festschrift, Kallmünz 1934, 4 - 10, hier: 9, Anm. 7 vermutet das Stadtarchiv Amberg (Johannes Laschinger) in seiner Auskunft vom 4.7.1995 eine Entstehung des Gedenksteins auf dem Marktplatz mit den drei Kreuzen im Zuge der Neupflasterung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Erinnerungsmal ist jedoch älter, wie aus Felix Reichsfreiherr von Löwenthal: Geschichte von dem Ursprung der Stadt Amberg(...), München 1801, 245f., Anm. b hervorgeht: »Wo die Execution auf dem Markte geschehen ist, wurde ein viereckigtes Pflaster von weißen Steinen gesezt«. 196 Gertrud Gerhartl: Wiener Neustadt. Geschichte, Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wien 1978, 205: »Wann dieser Richtplatz besonders gekennzeichnet wurde, ist nicht mehr festzustellen: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der ca. 1,80 m im Durchmesser große Kreis aus Pflastersteinen offensichtlich schon ein längst vorhandenes Denkmal in der Stadt gewesen«. Nach Mitteilung des Stadtarchivs Wiener Neustadt ist die Markierung vor 1839 entstanden. Zum Blutgericht vgl. zusammenfassend Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien, Bd. 5, Wien 1997, 638 (für Hilfe danke ich herzlich Susanne C. Pils). Das leckt die Kuh nicht ab 275 kreis des Stadtregiments erzählte, von schriftlichen Geschichtsdarstellungen geprägte Überlieferung 199 . Gerhard Buchda behauptet eine Praxis, innerstädtische Hinrichtungsplätze durch einen oder mehrere in den Boden eingelassene Steine kenntlich zu machen 200 . Analog dazu will der Artikel »Schafott« im Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte wissen, diese Steine hätten die Stelle bezeichnen sollen, auf der das Schafott oder Blutgerüst aufzuschlagen war 201 . Obwohl diese Thesen noch weiterer Erhärtung bedürfen 202 , könnten sie die Existenz der referierten Traditionen plausibel erklären: Ex post hätte man die markierten Stellen mit den als besonders spektakulär in der städtischen Erinnerung festgehaltenen Hinrichtungen verbunden und gleichsam »historisiert« 203 . Nachdem die Markierungen selbst sich einer Datierung entziehen und auch archivalische Belege über den genauen Zeitpunkt ihrer Anbringung noch nicht erhoben werden konnten, wird man aber auch mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß sie im Kontext der neuzeitlichen Traditionsbildung entstanden sind. Vorerst gibt es keinen Nachweis dafür, daß bereits im Mittelalter der Ort von Hinrichtungen innerhalb der Stadt hervorgehoben wurde, sei es in der Art einer allgemeinen Kennzeichnung, sei es als Erinnerungsmal an eine bestimmte Hinrichtung. 197 Ausgeklammert habe ich in diesem Beitrag die bildlichen Darstellungen von Bestrafungen, die sich nicht selten auch in amtlichen Gerichtsquellen finden. Literaturhinweise zur Rechtsikonographie jüngst bei Ulrich Andermann: Das Recht im Bild. Vom Nutzen und Erkenntniswert einer historischen Quellengattung. (Ein Forschungsüberblick), in: Andrea Löther u.a. (Hg.): Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, 421 - 451. Hingewiesen sei auch auf das reiche Material bei von Amira: Todesstrafen (wie Anm. 101), 236 - 415. 198 Wilhelm Mantels: Beiträge zur lübisch-hansischen Geschichte. Ausgewählte historische Arbeiten, Jena 1881, 193f., 227 - 229. Mantels zitiert 227 eine Chronik von Schultze aus dem 18. Jahrhundert, derzufolge der Stein, auf welchem die Decollation geschehen, von vielen noch will gewiesen werden. Doch wird er nicht mehr attendiret [beachtet], weil dieses Andenken Untergang die Zeit gleich alles auflösen wird. Ebd., 194 sagt Mantels, dessen Aufsatz erstmals 1872 erschien, die Fliese auf dem Markt werde noch gewiesen. 199 Zum Zusammenhang von städtischer Traditionsbildung und Historiographie vgl. ausführlich Klaus Graf: Gmünder Chroniken im 16. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen zur Geschichtsschreibung der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 1984. 200 Gerhard Buchda: Rechtsarchäologisches und Volksrechtskundliches aus Thüringen, in: Kurt Ebert (Hg.): Festschrift Hermann Baltl, Innsbruck 1978, 63 - 78, hier: 67. Zahlreiche Belege zu Hinrichtungen innerhalb der Stadtmauern bei von Amira: Todesstrafen (wie Anm. 101), 121 Anm. 10. 201 Günter Haberer: Schafott, in: HRG 4 (1990), 1348f. Er nennt Beispiele in Bremen, Lüneburg, Prag und Hanau. Zu Hanau ist anzumerken: An der Stelle des ehemaligen Prangers auf dem Altstädter Marktplatz vor dem heutigen Goldschmiedehaus ist ein Sandsteinblock im Pflaster eingelassen, der fälschlicherweise als Platz des Schafotts ausgegeben wird (freundliche Mitteilung von Angelika Hentschel, Historisches Museum Hanau). 202 Buchda zitiert unter anderem die Studie von Karl Frölich: Stätten mittelalterlicher Rechtspflege auf südwestdeutschem Boden, besonders in Hessen und den Nachbargebieten, Tübingen 1938, 7, 20, 38, doch sind die dort belegten städtischen »Blutsteine« offenkundig etwas anderes. 203 Eine nachträgliche Deutung liegt jedenfalls eindeutig vor, wenn ein Stein mit einer ausgehauenen Hand auf dem Markplatz des mecklenburgischen Boitzenburg als Stelle gilt, wo eine Kindsmörderin enthauptet wurde, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 8 (1936/ 37), 394 (s.v. Stein II). Zum Galgen von Schattenberg existiert eine Tradition, er sei zur Hinrichtung der acht Mörder des Pfarrers Melchior Lang 1493 errichtet worden, Hermann Baltl: Rechtsarchäologie des Landes Steiermark, Graz/ Köln 1957, 79. Ein Analogon zu einer solchen »Historisierung« stellt die nachträgliche Interpretation von Bräuchen als Erinnerungsfeste dar, die Gregor Römer: Die Historisierung von Volksbräuchen, Diss. masch., Würzburg 1951 behandelt (ein Beispiel oben Anm. 86). Klaus Graf 276 Mit Sicherheit um neuzeitliche Fiktionen handelt es sich bei den Überlieferungen, steinerne Köpfe an Häusern oder Toren seien Darstellungen von Straftätern. Bereits erwähnt wurde der Kopf am Rathaus von Freiberg, bei dem es sich um den »Prinzenräuber« Kauffungen handeln soll. Bei einem Bürgeraufstand 1332 ließ der Abt von Fulda die Haupträdelsführer verbannen und ihre Häuser niederreißen. »Die spätere Behauptung«, stellt Konrad Lübeck fest, »der Abt habe auch Bürger hinrichten (...) und an den Häusern derselben steinerne Köpfe anbringen lassen, ist in keiner Weise zuverlässig bezeugt« 204 . 1430 wurde der Bautzener Stadtschreiber Peter Preischwitz wegen des Verrats der Stadt bei der Belagerung durch die Hussiten gevierteilt. Die eisernen Haken, mit denen die Viertel seines Körpers an den vier Toren aufgehängt worden sind, habe man noch lange gezeigt, wollen frühneuzeitliche Chroniken wissen. Diese bezeichneten auch das angebliche Wohnhaus des Stadtschreibers und deuteten einen steinernen Kopf an der Nikolaipforte als sein Bildnis 205 . Nach einer »sagenhaften Überlieferung« ist eine Statue am alten Markentor zu Elbing die Schandsäule eines Bürgermeisters, der die Stadt verraten habe 206 . Von zwei mit dem Tod im Eisenkorb bestraften Verrätern, dem Bürgermeister Prallas von Hildesheim und seinem Spießgesellen Kattenbrak, liest man in einer Sagensammlung des 19. Jahrhunderts: »Als sie nun gestorben waren, stellte man zum ewigen Gedenken der Verräterei ihre Steinbilder auf der Stadtmauer am Hagentore auf. Da standen sie Jahrhunderte lang und wurden von den Kindern mit Steinen beworfen« 207 . In die »Deutschen Sagen« der Brüder Grimm von 1816/ 18 gelangte die einer Quelle von 1689 entnommene Erzählung Der Schweidnitzer Ratsmann. Am Rathaus von Schweidnitz in Schlesien soll sich früher ein steinerner Kopf befunden haben, das Bild eines diebischen Ratsherrn, der auf dem Ratshausturm ausgesetzt wurde und sich selbst durch Abnagen seines eigenen Fleisches zu Tode gebracht habe 208 . Aus Martin Zeillers Reyßbuch von 1632 exzerpierten die Brüder Grimm für einen Nachtragsband die Erzählung, Erzbischof Anno von Köln habe falsche Richter durch Augenausstechen bestraft: Und damit die Gedächtnis der That desto langwieriger würde, ließ er auf die Häuser der Richter leimerne [tönerne] Köpfe mit ausgegrabenen Augen setzen, allen Vorübergehenden zu einem Schrecken 209 . In diesem Fall reicht die Tradition sogar ins Spätmittelalter zurück, denn die »Greinköpfe« der sogenannten Kölner Schöffensage erscheinen bereits in der 1469/ 72 verfaßten Kölner Chronik »Agrippina« des Heinrich van Beeck und danach in der gedruckten Koelhoffschen Chronik von 1499. In Wirklichkeit handelt es sich um steinerne Fratzenköpfe am Giebel eines Kaufmannshauses 210 . Potterköpfe (tönerne Köpfe), wie Menschenköpfe gebacken, seien zum ewigen An- 204 Konrad Lübeck: Die Fuldaer Bürgeraufstände 1331/ 32, in: ZRG GA 68 (1951), 410 - 433, hier: 431, Anm. 67, für die Hinrichtung unter Berufung auf die Darstellung bei Brower 1612. 205 Richard Needon: Der Verrat des Bautzener Stadtschreibers Peter Preischwitz im Jahre 1429/ 30, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 51 (1930), 11 - 19, hier: 18f. 206 Mailly: Rechtsaltertümer (wie Anm. 180), 157. Er gibt ebd., Anm. 14, Hinweise auf weitere Schandstrafen- und Schandsäulen-Sagen, denen nachzugehen wäre. 207 Karl Seifart: Sagen aus Stadt und Stift Hildesheim, hg. von Peter Guyot, Hildesheim/ Zürich/ New York 1995, 51. - Von dem Bremer verräterischen Bürgermeister Johann von der Tiever 1366 heißt es, man habe ihn gevierteilt und die Gewichtsangabe von einem der an der Stadtmauer aufgehangenen Viertel in einen Stein gehauen, Will-Erich Peuckert (Hg.): Bremer Sagen, 2. Aufl., Göttingen 1988, 64. 208 Brüder Grimm (Hg): Deutsche Sagen, ediert von Heinz Rölleke, Frankfurt am Main 1994, 380f., Nr. 358 (Nr. 359 der gängigen Zählung der dritten Ausgabe). 209 Brüder Grimm: Sagen Bd. 3 (wie Anm. 98), 103, Nr. 106. Das leckt die Kuh nicht ab 277 denken der Nachwelt auf die Häusern der Verräter im Lübecker Knochenhaueraufstand von 1384 gesetzt worden, berichtet auch die Lübecker Chronik des Leutnants Detlev Dreyer aus dem 18. Jahrhundert 211 . In allen Fällen handelt es sich um ätiologische Erzählungen (»Erklärungssagen«) 212 , die auffällige Steinköpfe (auch bekannt als »Neidköpfe«) an Gebäuden nachträglich als bildliche Erinnerungen an Schwerverbrecher und ihre Taten deuten. Die rätselhaften Bildwerke, deren Funktion bis heute umstritten ist 213 , dienten ebenso als »Erzähl-Male« 214 wie beispielsweise die Darstellung des Martyriums des heiligen Cyrillus - seine Peiniger wanden ihm mit einer Walze die Gedärme aus dem Leib - in der Lübecker Marienkirche. Das Schnitzwerk wurde in protestantischer Zeit als Erinnerung an die Bestrafung des adeligen Mörders Klaus Bruskow 1367 mißverstanden, dessen Schwert man als Tatwerkzeug lange Zeit auf dem Zeughaus aufbewahrt habe 215 . Während die Geschichten die Gegenstände erklärten, beglaubigten umgekehrt die Gegenstände als »Wahrzeichen« die Geschichten von abscheulichen Taten und ihrer exemplarischen Ahndung. Eine der bekanntesten historischen Traditionen der Schweiz im 16. Jahrhundert war das auch in Flugschriften verbreitete Exempel von den Willisauer Spielern, die 1553 beim Scheibenspiel Gott gelästert und daraufhin ein furchtbares Ende genommen hatten. Die Scheibe mit dem vom Himmel getropften Blut werde noch heute, weiß eine Schrift aus dem Jahr 1556, in Willisau als Warnung vor dem Fluchen gezeigt 216 . Ein Autor des 17. Jahrhunderts vermerkt, der Tisch, an dem sie spielten, solle dort noch zum Wahrzeichen zu sehen sein 217 . 210 Zur Geschichte dieser Erzählung vgl. ausführlich Helmut Fischer: Vom Heiligen Anno. Profanierung und Popularisierung in Sagen seit dem 19. Jahrhundert, in: Temporibus tempora. Festschrift für Abt Placidus Mittler, Siegburg 1995, 297 - 318, hier: 303 - 306. Nachzutragen ist der etwas ältere Beleg: Robert Meier: Heinrich van Beeck und seine »Agrippina«. Ein Beitrag zur Kölner Chronistik des 15. Jahrhunderts. Mit einer Textdokumentation, Köln/ Weimar/ Wien 1998, 207: Vnd in wat huyser die scheffen woynden, dair moysten sy doyn machen eyn steynen heufft sunder ougen an den geuel zu eynre ewigen gedechtenysse. 211 Ernst Deecke: Die Hochverräter zu Lübeck im Jahre 1384, Lübeck 1858, 20f.; vgl. auch derselbe: Lübische Geschichten und Sagen. 5. Aufl, hg. von Heinrich Wohlert, Lübeck 1911, 163, Nr. 82 mit Nachweisen 453. - In Husum deutete man Sandsteinmasken an zwei Häusern am Rathaus als »Rebellenköpfe« und bezog sie auf die Opfer eines Aufstandes von 1472; Wilhelm Johnsen: Kunstdenkmäler in der Sage, in: Kunst in Schleswig-Holstein. Jahrbuch 3 (1953), 68 - 81, hier: 69. 212 Vgl. Lutz Röhrich: Die sichtbaren Beweise. Wahrzeichen, Denkmäler und andere Realien in der Sagenüberlieferung, in: Justus Cobet/ Barbara Patzek (Hg.): Archäologie und historische Erinnerung. Nach 100 Jahren Heinrich Schliemann, Essen 1992, 137 - 156. In Anlehnung an Richard M. Meyer: Ikonische Mythen, Zeitschrift für deutsche Philologie 38 (1906), 166 - 177 möchte ich von ikonischen Erzählungen sprechen. 213 Die von der Forschung als »Neidköpfe« bezeichneten Steinköpfe an Kirchen, Häusern und Toren sind bis zur Gegenwart Gegenstand sich wissenschaftlich gebender wilder Spekulationen, vgl. z.B. noch Rainer Braun: Zur Deutung der Steinmasken an fränkischen Kirchen, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/ 35 (1975), 279 - 297. Vgl. auch Ernst Ludwig Rochholz: Die drei Hunnenköpfe, in: Argovia 1 (1860), 113 - 136; Müller-Bergström: Wahrzeichen, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 9 (1938/ 41), 49 - 53, hier: 50; Heiner Heimberger: Neidköpfe im Gebiet zwischen Neckar und Main, in: Mainfränkisches Jahrbuch 3 (1951), 252 - 271; Winfried Wackerfuß: Die Neidköpfe des Odenwaldes. Schreckfratzen und Spottfiguren zwischen Neckar, Rhein, Main und Mud, in: Winfried Wackerfuß/ Peter Assion/ Rolf Reutter (Hg.): Zur Kultur und Geschichte des Odenwaldes. Festgabe für Gotthilde Güterbock, Breuberg-Neustadt 1976, 199 - 218. 214 Graf: Thesen (wie Anm. 76), 47. 215 Deecke: Sagen (wie Anm. 211), 143f., Nr. 76, 452. 216 Rainer Alsheimer, in: Volkserzählung (wie Anm. 84), 477, Nr. 481. 217 Susanne Halblützel, in: Sagenerzähler (wie Anm. 84), 171f., 174f., Zitat 172. Klaus Graf 278 In Rathäusern erinnerten nicht nur die bekannten Weltgerichtsbilder und gemalten Exempla vom gerechten Richter 218 die Ratsherren und Besucher an die Notwendigkeit gerechten Richtens. Härte bei schweren Vergehen gegen die Gemeinschaft forderten auch solche Strafjustiz-Andenken wie die oben erwähnten Wiedertäufer- »Reliquien« in Münster. Über eine auf einem Kasten montierte skelettierte Hand, die ebenfalls zum Rathaus-Inventar von Münster zählt, liest man, sie sei ein »der Abschreckung von Meineiden dienendes Requisit frühneuzeitlicher Justiz« 219 . Eine konkretere Vermutung, es handle sich um die »abgehackte Hand eines eidbrüchigen Notars«, notiert ein populärer Führer zu makabren Sehenswürdigkeiten 220 . 1831 gehörte zum Inventar des Erfurter Rathauses eine Kiste mit »abgehauenen Händen« 221 . In beiden Fällen dürften mittelalterliche »Leibzeichen« oder »Totenhände« vorliegen, die abgetrennten Hände von Erschlagenen, die vor Gericht als Beweisstück den ganzen Körper zu vertreten hatten 222 . Ätiologische Erzählungen, die Anton Mailly referiert, deuteten solche nicht mehr verstandenen Leibzeichen als Verbrecherhände. Von einer im Rathaus des rheinländischen Rees aufbewahrten vertrockneten Menschenhand heißt es, sie sei einem jungen Menschen abgeschlagen worden, »weil er sich an seinem Vater schwer vergriffen hätte«. Verdorrte Men- 218 Vgl. jetzt grundlegend Ulrich Meier: Vom Mythos der Republik. Formen und Funktionen spätmittelalterlicher Rathausikonographie in Deutschland und Italien, in: Mundus in imagine (wie Anm. 197), 345- 387, hier: 356 - 360. Für die Frühe Neuzeit und die Niederlande wäre zu ergänzen die Darstellung der angeblichen Bestrafung eines diebischen Amtmanns durch den Grafen von Holland 1336 in den Rathäusern von Leyden (1582), Alkmaar und Naarden, vgl. Lambert E. van Holk: Eine mittelalterliche Rechtslegende und ihre Darstellung in der Kunst des 17. Jahrhunderts, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 5 (1983), 135 - 157, hier: 138, 140, 141. 219 Dethlefs: Friedenssaal (wie Anm. 95), 58. - Als Abschreckung läßt sich in gewissem Sinn auch die frühneuzeitliche Praxis verstehen, die Skelette hingerichteter Straftäter als anatomisches Lehrmaterial zu verwenden. So bestimmte bereits 1604 Landgraf Moritz von Hessen, daß hingerichtete mißthätige zur Anatomi gefolget; Heiner Borggrefe/ Vera Lüpkes/ Hans Ottomeyer (Hg.): Moritz der Gelehrte. Ein Renaissance-Fürst in Europa, Eurasburg 1997, 365f., Nr. 401. 1612 und 1620 ist für die Stadtbibliothek Windsheim die Ausstellung der Skelette hingerichteter Straftäter belegt; Uwe Müller: Reichsstädtische Bibliotheken in Franken, in: Rainer A. Müller (Hg.): Reichsstädte in Franken. Aufsätze, Bd. 2, München 1987, 271 - 283, hier: 280. Vgl. auch Rublack: Magd (wie Anm. 72), 124f.; Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 238. - Zu makabren Sammlungsstücken in fürstlichen Kunst- und Wunderkammern vgl. den Hinweis im Katalog: Der Mensch um 1500. Werke aus Kirchen und Kunstkammern, 2. Aufl., Berlin 1977, 40: In der Kunstkammer des Bayernherzogs Albrecht V. (1528 - 1579) wurden auch Abbildungen von Verbrechern aufbewahrt, und im Inventar konnte man Aufzeichnungen zu ihren Taten lesen. Von einem heißt es, er habe 745 Morde begangen. 220 Jörg von Uthmann: Es steht ein Wirtshaus an der Lahn. Ein Deutschlandführer für Neugierige, 2. Aufl. Hamburg 1979, 254. Die Neuauflage Zürich 1998 lag mir noch nicht vor. - Bereits im 16. Jahrhundert wurden Hände auf Steinsäulen (vgl. Eugen Ehmann: Markt und Sondermarkt. Zum räumlichen Geltungsbereich des Marktes im Mittelalter, Nürnberg 1987, 116 - 149) als Zeichen zu ewiger gedechtnus und langwiriger schand der Stadt Freiburg interpretiert. Sie sollen an den Abfall von den Grafen von Fürstenberg und dabei geschworene Meineide erinnern, glaubt man der Zimmerischen Chronik: Zimmerische Chronik. Nach der von Karl Barack besorgten zweiten Ausgabe, hg. von Paul Herrmann, Bd. 1, Meersburg/ Leipzig 1932, 201. 221 Uwe Heckert: Die Ausstattung des Großen Saales im alten Erfurter Rathaus. Ein Beitrag zum politischen Selbstverständnis eines Stadtrats in späten Mittelalter, in: Mundus in imagine (wie Anm. 197), 303 - 318, hier: 305. 222 Vgl. Klaus-Dieter Hoppe, in: Hanse, Städte, Bünde (wie Anm. 97), 83 mit Abb. 84; derselbe: in: Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos, Bd. 2, Hamburg 1989, 435; Adalbert Erler: Leibzeichen, in: HRG 2 (1978), 1802 - 1804. An sich war eine Bestattung des Leibzeichens vorgesehen, vgl. die Ritualbeschreibung bei Heinrich Rüthing: Höxter um 1500. Analyse einer Stadtgesellschaft, Paderborn 1986, 415. Das leckt die Kuh nicht ab 279 schenhände in Kirchen im pommerschen Buchholz und in Prag galten als Hände von Kirchenräubern 223 . Keine deutschen Belege existieren anscheinend für die flandrische und niederländische Praxis im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit, als Nebenstrafe bei Gewalt- und Verbaldelikten gegen die Obrigkeit zum dauernden Andenken die Anfertigung von bronzenen oder silbernen Objekten, Köpfe oder Fäuste, mit erklärendem Text aufzuerlegen. Vorbild dieses Brauchs könnte die Stiftung frommer Votivgaben sein. Die Objekte wurden »im Schöffenhaus ausgestellt oder in der Kirche zur Erinnerung und zur Erbauung« 224 . Im Erfurter Rathaus zeigte man 1831 die Kutte eines Mönchs, der 1472 Erfurt ansteckte 225 . An der Stelle seiner Hinrichtung sei zum immerwährendem Gedächtnis ein Steinkreuz errichtet worden, liest man in einer Thüringer Sagensammlung 226 . Eine Parallele wäre der auf einer Karte von 1769 eingezeichnete Galli-Küng-Bildstock, der bis zum 19. Jahrhundert am Rhein bei Lustenau in Vorarlberg stand und an die Untaten des 1552 als »Mordbrenner« hingerichteten Landsknechts Galli Küng erinnerte 227 . 1788 schlug ein aufgeklärter Jurist, der sich Gedanken über die Ignoranz des Volkes gegenüber der Strafjustiz machte, vor, »Merkmale öffentlicher Strafen an den Landstraßen zu errichten, und zwar am Orte z.B. eines Mordes« 228 . Die zahlreich überlieferten mittelalterlichen Steinkreuze 229 , die diesen Vorschlag inspiriert haben mögen, sind jedoch nicht als Abschreckung zu verstehen, sie dienten - insbesondere als Sühneleistung bei Todschlägen - primär dem Gedenken, der Totenmemoria der Opfer 230 . Ob sich hieb- und stichfeste zeitgenössische Belege für 223 Mailly: Rechtsaltertümer (wie Anm. 180), 122f. Vgl. jetzt auch Helmut Heckmann: Eine »tote Hand« im Besitz des »Historischen Vereins für Geldern und Umgegend«, in: Geldrischer Heimatkalender 1996, 186 - 193; Rudolf Schenda: Gut bei Leibe. Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper, München 1998, 364 - 366 und die bei Leander Petzoldt: Sagen von Rittern, Räubern, Bauern und Heiligen. Historische Sagen, München 1994, 284 - 286 zu Nr. 214 (»Die Hand aus dem Grabe«) angegebene volkskundliche Literatur. Dort zu ergänzen: Lenz Kriss-Rettenbeck: Ex Voto. Zeichen, Bild und Abbild im christlichen Votivbrauchtum, Zürich 1972, 20 - 25. 224 de Win: Rechtsarchäologie (wie Anm. 102), 45. Vgl. dazu ausführlich derselbe: De schandstraffen (wie Anm. 146), 215-221 (»Schandstrafstukken«). Vgl. auch Egied Strubbe: Een opstandige schuldenaar te Westvleteren 1551, in: Derselbe: De luister van ons oude recht, Brüssel 1973, 567-571 (Faust und Inschriftentafel als Strafe). 225 Heckert: Ausstattung (wie Anm. 221), 305. 226 Paul Quensel (Hg.): Thüringer Sagen, Augsburg 1998, 151f. 227 Spicker-Beck: Räuber (Anm. 88), 118. Einzige Quelle ist anscheinend der Eintrag Galli Küngsbild auf der ebd., 119 abgebildeten Karte von 1769, aus dem Ludwig Welti, in: Lustenauer Heimatbuch Bd. 1, Lustenau 1965, 97, schließen wollte, der Bildstock habe die Moritat Küngs »in Wort und Bild« festgehalten und demVolk Anlaß für eine Sage geboten. Es dürfte sich in Wirklichkeit um einen Gedenkstein für den bei einem Raubüberfall Küngs im Rhein umgekommenen Welschen handeln. Für Hilfe danke ich Monika Spicker-Beck, Freiburg. 228 Koch: Strafrechtsbelehrung (wie Anm. 92), 21 nach dem lateinischen Text von J. F. Schott: De ignorantia populi circa poenas earum vim impediente specimen, Diss. jur., Leipzig 1788. 229 Vgl. zusammenfassend Wolfgang Leiser: Steinkreuz, in: HRG 4 (1990), 1948f. Auf die im 19. und 20. Jahrhundert aufgezeichneten Steinkreuzsagen, von denen die Kreuze oft als Erinnerungsmale an Verbrechen gewertet werden, kann ich hier nicht eingehen, vgl. etwa Bernhard Losch/ Marlies Jörling: Entfremdete Information. Sühne- und Gedenkkreuze in der volkstümlichen Überlieferung, in: Beiträge zur Volkskunde in Baden-Württemberg 4 (1991), 273 - 293; Werner Müller: Zur Verbreitung von Kreuzsteinsagen und -motiven in Niedersachsen. Ein Überblick, in: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart 52 (1984), 57 - 75. 230 Vgl. dazu jetzt ausführlich Poeck: Sühne (wie Anm. 82). Klaus Graf 280 die Aufstellung von Steinkreuzen zum Zweck der Verbrechensprävention finden lassen, bleibt abzuwarten. Quellenkritik tut not. Es ist im vorstehenden deutlich geworden, daß dies nicht nur für die Gerichtsquellen in den Archiven gilt, sondern auch für die erhaltenen oder schriftlich dokumentierten Zeugnisse der materiellen Kultur. Doch sollte man bei dem Nachweis stehenbleiben, daß die vermeintlichen Erinnerungsmale gar nicht so selten Fiktionen, nämlich Resultate neuzeitlicher Traditionsbildung sind 231 ? Indem die Traditionen retrospektiv bewußt gesetzte Gedenkzeichen denkwürdiger Straffälle entdekken wollen, setzen sie die Praxis prospektiver Verewigung für die Nachwelt voraus. Da die reale Ausführung von Schanddenkmalen extrem selten vorkam, bedienten die narrativen Fehldeutungen und Mißverständnisse den weitverbreiteten Wunsch nach »Symbolen«, nach anschaulicher Vergegenwärtigung exemplarischer Strafjustiz in Form von Erinnerungzeichen. Die Tradition neigte zur Strafverschärfung: 1425 wurden in Halberstadt vier Aufrührer enthauptet; die »erinnernde Sage« aber wollte von einer Vierteilung eines Anführers wissen 232 . Solche Überlieferungen demonstrieren nicht etwa das lange »Gedächtnis des Volkes«; sie setzen in der Regel gelehrtes historisches Wissen voraus und ihre Träger sind eher in der Oberschicht, im Umkreis des Magistrats, bei Lehrern, Pfarrern und Honoratioren zu suchen als unter einfachen Leuten 233 . Obrigkeitliche Verewigungspraxis und populare »Wahrzeichen«-Kunde sind aufeinander zu beziehen als Teile eines gemeinsamen gesellschaftlichen Diskurses über die Ahndung schwerster Verbrechen. Die Einbeziehung der Kategorie »ewiges Gedächtnis« in das Ritual des Strafens wurde ebensowenig konsequent gehandhabt wie das Strafen selbst. Mitunter akzentuierte die Erwähnung des ewigen Gedächtnisses eine besonders exemplarische Bestrafung, wenn es beispielsweise in der Präambel des Kölner Transfixbriefs von 1513 über die Aburteilung von Herren des alten Regiments heißt, sie sei »für alle ihre Nachkommen als warnendes Beispiel und zum ewigen Gedächtnis« erfolgt 234 . Meistens entschied man offenbar ad hoc, wie der Abschreckungseffekt von Strafen durch Wirkung auf das Gedächtnis der Zeitgenossen oder der Nachwelt zu verstärken war. Selten genug fixierte die Obrigkeit ihre Überlegungen schriftlich: 1582 wurde in Nürnberg der Kopf einer Kindsmörderin am Hochgericht angeheftet, damit der abscheuliche Anblick in längerer gedächtnus bliebe als beim Ertränken 235 . Auch wenn meine Beispielsammlung mit Sicherheit vermehrt werden kann, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß Obrigkeiten nur höchst sporadisch das ewige Gedächtnis bemühten. Als publikumswirksame Steigerungsform und Strafverschärfung im Sinne einer ewigen Entehrung demonstrierte die Bewahrung eines dauernden Gedächtnisses an bestimmte Straftaten vor allem in der Frühen Neuzeit exemplarische Härte. Mediale Präsenz in der Publizistik flankierte häufig die Anschaulichkeit der gegenständlichen Erinnerungszeichen: Es ging um »Justiz-Pädagogik« im Dienste der Generalprävention. 231 Methodisch anregend zur Geschichte einer juristisch-literarischen Fiktion: Alain Boureau: Das Recht der Ersten Nacht. Zur Geschichte einer Fiktion, Düsseldorf/ Zürich 1996. 232 Wilfried Ehbrecht: Die Halberstädter Schicht 1423 - 1425: Zwietracht in der Einwohnerschaft einer Bischofsstadt oder das Ringen zwischen Stadtherrschaft und Bürgergemeinde, in: Hanse, Städte, Bünde (wie Anm. 97) Bd. 1: Aufsätze, 322 - 337, hier: 332. 233 Vgl. oben Anm. 199. 234 Der Name der Freiheit (wie Anm. 141), 457. 235 van Dülmen: Theater (wie Anm. 175), 231 Anm. 46. Das leckt die Kuh nicht ab 281 Die pathetische Berufung auf die Ewigkeit läßt sich mit der von Gerd Schwerhoff konstatierten »Dialektik von Exempelstrafe und Sanktionsverzicht« 236 in Verbindung bringen. Wer gelegentlich spektakulär und aufsehenerregend strafte, konnte im Normalfall Milde an den Tag legen. Das ewige Gedächtnis erweist sich somit als Teil jenes Abschreckungsapparats, den die neuere Forschung immer mehr als Theaterkulisse erkennen will, hinter der viele Konflikte anderweitig geregelt werden konnten. Anekdotisch wird der Illusionsaspekt vormoderner Strafpraxis angesprochen in einer Beispielerzählung, die sich in Christoph Lehmanns 1630 erstmals erschienener Sprichwörtersammlung vorfindet. Von Herzog Alfons von Ferrara heißt es dort, er habe Hirschgeweihe bei Hingerichteten aufgehängt, obwohl er wegen Jagens niemand mit dem Tode bestraft habe 237 . Retrospektive: Der »historische« Diskurs über das Strafen 1824 wurde aufgrund eines Urteils des Malefizgerichts des Kantons Zürich ein Bauernhaus in Wildensbuch, in dem religiöser Rausch zur Tötung von zwei Menschen geführt hatte, niedergerissen. Das Urteil bestimmte, daß auf dieser Stelle niemals mehr ein Wohnhaus aufgeführt werden solle 238 . Lorenz Laubenberger kommentiert: »Die Besonderheit dieses Falles liegt darin, daß die eidgenössischen Richter in einer Situation, die aufgrund der Aufhebung des aufgeklärten code pénal die Möglichkeit ›freier‹ Rechtsgestaltung bot, zu einem auf archaisierenden Rechtsempfinden beruhenden Urteil kamen« 239 . Es waren unter anderem Wüstungsrituale, mit denen die Auffassung vom Wiederaufleben älterer Rechtsformen im Kontext der sogenannten »Volksjustiz« belegt wurde. Von der »Wiedergeburt alter Rechtsgedanken aus der Volksseele« sprach Eberhard Freiherr von Künßberg 240 , und auch der Volkskundler Karl-Sigismund Kramer glaubte feststellen zu können: »In Akten der Volksjustiz brechen häufig höchst altertümliche Züge hervor« 241 . Für Künßberg erfolgte der Rückgriff unbewußt und gleichsam instinktiv. Aber wie konnte das Volk um das alte Recht wissen 242 ? In der Antike habe man archaisierende Strafjustiz in der Tat praktiziert, entnimmt man einem Aufsatz Manfred Fuhrmanns zur Funktion antiquarischer Forschung im spätrepublikanischen Rom 243 . So sollte 63 v.Chr. C. Rabirius auf Betreiben Cäsars mit 236 Schwerhoff: Köln (wie Anm. 31), 172. Vgl. auch die in Anm. 189 angeführte Auffassung von Wolfgang Schild. - Seit wann und in welchen Kontexten eine explizite Berufung auf den Exempelcharakter der Strafe üblich war, ist, wenn ich recht sehe, noch nicht untersucht worden; zu französischen Belegen vom Anfang des 15. Jahrhunderts vgl. Claude Gauvard: Pendre et dépendre à la fin du Moyen Age: les exigences d'un rituel judiciaire, in: Jacques Chiffoleau/ Lauro Martines/ Agostino Paravicini Bagliani (Hg.): Riti e rituali nelle società medievali, Spoleto 1994, 91 - 211, hier: 198 - 200. 237 Christoph Lehmann: Florilegium politicum (...). Faksimileausgabe, hg., von Wolfgang Mieder, Bern/ Frankfurt/ New York 1986, 740. 238 Anton Largiadèr: Ein später Fall von strafrechtlicher Wüstung, in: ZRG GA 72 (1955), 244-253, hier: 244. 239 Laubenberger: Wüstung (wie Anm. 154), 1590. 240 Eberhard Freiherr von Künßberg: Rechtsgeschichte und Volkskunde, bearb. von Pavlos Tzermias, Köln/ Graz 1965, 59; vgl. auch derselbe: Rechtserinnerung (wie Anm. 78), 589: »Stürmisch begehrtes altes Recht ist bei seiner siegreichen Durchführung auch von längst vergangenen Rechtsmitteln begleitet: Selbsthilfe, Wüstung und Fronung, Blutrache leben wieder auf«. 241 Kramer: Problematik (wie Anm. 70), 63. 242 Eine mögliche Antwort legt das von Suter: Bauernkrieg (wie Anm. 64), 405-455 vorgestellte Material zur Bedeutung historischer Rückgriffe für die aufständischen Schweizer Bauern im 17. Jahrhundert nahe. Klaus Graf 282 einem höchst altertümlichen Exekutionsritual hingerichtet werden, dessen Schrecknisse, so der Verteidiger des Angeklagten Cicero, aus historiographischen Quellen zusammengesucht worden seien 244 . Der Rückgriff transponiert, so Fuhrmann, »hocharchaische Rituale von grausiger Feierlichkeit in eine Welt, in der nur noch Spezialisten wissen, daß es einmal dergleichen gegeben hat« 245 . Der Strafrechtshistoriker Hans von Hentig bemühte 1957 für die Erklärung des von ihm konstatierten Wiederauflebens der Strafe des Lebendigbegrabens in Mecheln 1537 bis 1556 eine Krisentheorie: »Dieser Rückgriff auf alte Strafarten ist das Symptom einer kollektiven Gleichgewichtsstörung« 246 . Man tut sich allerdings schwer, solche Rückgriffe (»revivals«) methodisch einwandfrei nachzuweisen 247 . Wurde eine Strafe sehr selten vollstreckt, so könnte der zeitliche Abstand zur vorhergehenden Anwendung der Strafe dazu verleiten, von einem Rückgriff zu sprechen. Nicht alles, was »altertümlich« oder anachronistisch anmutet, ist ein Rückgriff. Es kann sich auch um ein Relikt handeln, um das Überbleibsel (»survival«) einer früheren Praxis. Mitunter spricht man auch von »Traditionsgebundenheit« oder »Konservativismus«. Vielfach beläßt man es bei der Feststellung eines solchen Befundes der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«, ohne sich über die Gründe der Beibehaltung des Überlebten Gedanken zu machen. Die anachronistischen Roben der Richtertracht 248 sind Würdeformeln, die mit ihrem retrospektiven Distanzsignal Feierlichkeit erzeugen sollen und damit in ähnlicher Weise wie die prospektive Verewigung ein pathetisches Ausrufezeichen setzen. Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Norm und Strafpraxis hat man wohl nicht selten bewußt in Kauf genommen: »Alte grausame Strafen werden zwar nicht mehr ausgeführt, aber doch genannt. Statt die alten als zu streng empfundenen Strafmasse durch neue zu ersetzen, läßt man sie formell, als Rechtsformeln, noch weiter gelten und verweist auf den Weg der Strafmilderung durch den Gerichtsherrn, des privaten Verhandelns und Vergleichens mit diesem« 249 . Ein eindeutiges deutsches Beispiel für den Vollzug einer antiquierten und längst obsoleten Strafe ist mir zwar noch nicht bekannt, doch hat man für die Frühe Neuzeit generell mit der Existenz archaisierender oder historisierender Phänomene zu rechnen. So erhielt im 17. Jahrhundert die Effigies-Strafe, die stellvertretende Bestrafung des Bildnisses, nach Auffassung von Wolfgang Brückner »nachträglich ein historisierendes Fundament in der für römisch angesehenen damnatio memoriae« 250 . Ein ähnlicher Fall liegt vor bei Wiederaufnahme der altrömischen Strafe des Säckens (»poena culnei«) im Zuge der mittelalterlichen Rezeption des römischen Rechts 251 . 243 Manfred Fuhrmann: Erneuerung als Wiederherstellung des Alten. Zur Funktion antiquarischer Forschung im spätrepublikanischen Rom, in: Reinhart Herzog/ Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, 131 - 151, besonders 131 - 133, 147f. 244 Ebd., 131f. 245 Ebd., 133. 246 von Hentig: Schriften (wie Anm. 101), 181. 247 Zur methodischen Problematik vgl. Klaus Graf: Retrospektive Tendenzen in der bildenden Kunst vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Kritische Überlegungen aus der Perspektive des Historikers, in: Mundus in imagine (wie Anm. 197), 389 - 420. 248 Vgl. ebd., 408 mit Anm. 104. 249 Markgraf: Volk (wie Anm. 68), 521. 250 Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 258. 251 Vgl. Christina Bukowska Gorgoni: Die Strafe des Säckens - Wahrheit und Legende, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 2 (1979), 145 - 162. Das leckt die Kuh nicht ab 283 Wenn 1702 der Nürnberger Rat auf die längst nicht mehr übliche Pfählung bei lebendigem Leibe zurückkam, sie in einem Dekret den Kindsmörderinnen androhte und sich 1745 das Kieler Kollegium bei der Behandlung eines konkreten Falls in rechtshistorischen Ausführungen zur gleichen Strafart erging 252 , so werfen diese Belege die Frage nach der Rolle des »historischen« Diskurses über das Strafen in der Strafpraxis auf. Es geht also um die retrospektive Dimension der Erinnerungskultur, den zeitgenössischen Blick zurück auf die eigene Geschichte. Im Grunde genommen kann hier nur eine große Forschungslücke markiert werden, denn allzu unzulänglich ist der gegenwärtige Kenntnisstand über die Anfänge und die Entwicklung des rechtshistorischen Diskurses in Mittelalter und Früher Neuzeit 253 . Beginnt die Geschichte der deutsche Rechtsgeschichte erst mit der humanistischen Jurisprudenz oder vielleicht schon im 15. Jahrhundert mit Nikolaus von Kues 254 ? Die verbreitete Ansicht, die mittelalterlichen Juristen hätten keinen Sinn für die historische Dimension des Rechts, seine Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit, besessen 255 , trifft jedenfalls nicht zu 256 . Das Problem der historischen Distanz hat nicht erst jene frühneuzeitlichen Autoren beschäftigt, die sich über die fortdauernde Gültigkeit des mosaischen Strafrechts den Kopf zerbrachen 257 . Otto Herding wollte das »Bewußtsein von der zeitlichen Distanz und der Andersartigkeit der zeitlich entfernten Welt, die man nicht durch Glossen zeitgemäß machen, sondern nur in voller Erkenntnis ihrer entfernten Hoheit verehren kann« zum Humanismus-Kriterium erheben 258 . Humanisten wären dann aber auch die Kanonisten des 12. Jahrhunderts, die mit der Maxime Non imitanda set veneranda die rechtliche Präzedenzfallfunktion bestimmter heikler biblischer Exempla zurückwiesen 259 . Zufallsfunde sollen verdeutlichen, worauf die künftige Forschung zu achten hätte. Schon im 15. Jahrhundert hat man sich mitunter mit älterem Recht intensiv auseinandergesetzt. Rechtsnormen der westfälischen Femegerichtsbarkeit von 1431 und 1433 252 Dieter Feucht: Grube und Pfahl. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Hinrichtungsbräuche, Tübingen 1967, 69, 71f. 253 Dies betont auch Joachim Knape: Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants 1457 - 1521, Baden-Baden 1992, 367f. Anm. 82 (mit wichtigen Literaturhinweisen). 254 Zu Cusanus als »Rechtshistoriker« vgl. die zuletzt bei Gadi Algazi: Ein gelehrter Blick ins lebendige Archiv. Umgangsweisen mit der Vergangenheit im fünfzehnten Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), 317 - 357 zusammengestellte Literatur. 255 Vgl. z.B. Bernard Guenée: Histoire et Culture historique dans l'Occident médiéval, Paris 1980, 33 - 35 und vorsichtiger Chris Wickham: Lawyers Time: History and Memory in Tenthand Eleventh-Century England, in: Henry Mayr-Harting/ Robert Ian Moore (Hg.): Studies in medieval history presented to R. H. C. Davis, London/ Ronceverte 1985, 53 - 71, hier: 64. 256 Vgl. Donald R. Kelley: Clio and the Lawyers. Forms of historical consciousness in medieval jurisprudence, in: Derselbe: History, Law and the Human Sciences, London 1984, 25 - 49. Vgl. auch Graf: Retrospektive Tendenzen (wie Anm. 247), 410. Zur Diskussion über die Veränderbarkeit des Rechts und das »gute alte Recht« im Mittelalter vgl. die Literaturhinweise bei Andermann: Recht (wie Anm. 197), 434f., Anm. 53. 257 Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln/ Weimar/ Wien 1997, 201 - 215. Zentraler Punkt der Kritik Luthers und Melanchthons am mosaischen Recht war der »historische Abstand« (202). 258 Otto Herding: De Jure Feudali, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 28 (1954), 287 - 323, hier: 298. 259 Vgl. Bruce C. Brasington: Non imitanda set veneranda: The Dilemma of Sacred Precedent in Twelfth- Century Canon Law, in: Viator 23 (1992), 135 - 152. Klaus Graf 284 sind nach Theodor Lindner »das Ergebnis einer Art von gelehrter Forschung« 260 . Ein gelehrter Jurist ist wohl auch für die explizite Berufung auf eine stauferzeitliche Norm des Fehderechts, nämlich Kaiser Friderichs Barbarossä zue Nieremberg im Jahr 1187 gemachte (...) Satzung, verantwortlich, die in der Auseinandersetzung um einen Überfall auf die Stadt Mühlhausen 1465 begegnet 261 . Eine eigene Analyse verdiente die nur in einer einzigen Handschrift überlieferte Reformschrift des sogenannten »Oberrheinischen Revolutionärs«, verfaßt von einem studierten Juristen, der bis etwa 1509 an ihr gearbeitet hat 262 . Der Text kann über weite Strecken als rechtshistorischer Diskurs über das Strafen gelesen werden. Gegen das römische Recht insistiert der Autor auf dem strengen alten deutschen Recht, wie es von Kaiser Karl gestiftet worden sei und noch von den westfälischen Gerichten (den Femegerichten) angewendet werde 263 . Mit der Forderung, das alte bischöfliche Sendgericht als zentrale Disziplinierungsinstanz mit neuem Leben zu erfüllen, den heilgen sent wider zu o handthaben 264 , nimmt der oberrheinische Anonymus einen Vorschlag des württembergischen Reformators Johannes Brenz aus dem Jahr 1531 vorweg, der die Bestrafung von Unzucht, Ehebruch und vergleichbarer Delikte dem Sendgericht zuweisen wollte 265 . Daß im 16. Jahrhundert Konflikte um die Landeshoheit der Anlaß gewesen sind, sich näher mit der Geschichte der Strafjustiz des eigenen Territoriums und ihren Quellen auseinanderzusetzen, bezeugt das oben genannte Eichstätter »Alte Halsgerichtbuch« und seine Parallelen 266 . In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden auch Urfehdesammlungen angelegt, von denen man sich wohl Aufschlüsse über Trends der Kriminalitätsentwicklung, also Material für die Verbrechensvorbeugung, erhoffte. Gelegentlich habe man, stellt Andreas Blauert fest, »regelrechte historisch-kriminologische Auswertungen« vorgenommen. In einem Salemer Urfehdenextrakt heißt es: Vonn Anno 1498 Biß auf auch 1587 haben sich 18 fähl deß Trowens halber (...) zugetragen 267 . 260 Theodor Lindner: Die Feme. Geschichte der »heimlichen Gerichte« Westfalens, 2. Aufl., Paderborn 1896, Nachdruck Paderborn u.a. 1989, 471. 261 Eduard Osenbrüggen: Das Alamannische Strafrecht, Schaffhausen 1860, 34f. - Erwähnt sei noch der Rückverweis auf die Bestrafung von Fluchern bey kunigs Ludwigs zeittenn in einem Meisterlied Hermann Francks von 1509/ 13; Frieder Schanze (Hg.): Jörg Dürnhofers Liederbuch (um 1515). Faksimile des Liederdruck-Sammelbandes Inc. 1446a der Universitätsbibliothek Erlangen, Tübingen 1993, Nr. 20, Bl. 3a. 262 Vgl. zusammenfassend Tilman Struve: Oberrheinischer Revolutionär, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 7 (1989), 8 - 11. Die von Klaus H. Lauterbach: Der »Oberrheinische Revolutionär« und Mathias Wurm von Geudertheim. Neue Untersuchungen zur Verfasserfrage, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 45 (1989), 109 - 172 vorgeschlagene Verfasseridentifizierung überzeugt nicht. 263 Vgl. z.B. Das Buch (wie Anm. 131), 266f., 356, 389, 449 und öfter. Vgl. auch Andermann: Recht (wie Anm. 197), 445, Anm. 95. 264 Das Buch (wie Anm. 131), 388; vgl. Klaus H. Lauterbach: Geschichtsverständnis, Zeitdidaxe und Reformgedanke an der Wende zum sechzehnten Jahrhundert. Das oberrheinische »Buchli der hundert Capiteln« im Kontext des spätmittelalterlichen Reformbiblizismus, Freiburg-München 1985, 195f., 243f. mit den weiteren einschlägigen Textstellen. 265 Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Calvinistische Kirchenzucht in Württemberg? Zur Theorie und Praxis der württembergischen Kirchenkonvente, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 49 (1990), 169 - 223, hier: 177f. 266 Vgl. oben bei Anm. 6. 267 Generallandesarchiv Karlsruhe 98/ 3071, wie das vorige Zitat der ungedruckten Habilitationsschrift von Andreas Blauert über das Urfehdewesen entnommen, deren einschlägige Passage er mir dankenswerterweise zugänglich gemacht hat. Das leckt die Kuh nicht ab 285 Das historisch-antiquarische Interesse an alter Strafjustiz emanzipiert sich nur allmählich und ohne daß klare Grenzen zu ziehen wären von einem pragmatischen Gebrauch zu aktuellen juristischen Zwecken. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts setzen in Nürnberg die sogenannten »Malefizbücher« ein 268 , erstaunlich breit überlieferte handschriftliche Zusammenstellungen von Kriminalfällen seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, die das »Interesse der Patrizier und Bürger (...) geschaffen hat« 269 . Sie wurden aus den amtlichen Unterlagen kompiliert. Die in der erwähnten Publizistik und ihren Justiz-Erzählungen greifbare Faszination, die sensationellen Kriminalgeschichten entgegengebracht wurde, konnte somit auch historisch akzentuiert sein. Auf die Bemühungen der Rechtsantiquare des 18. Jahrhunderts wurde zu Beginn dieses Beitrags bereits aufmerksam gemacht 270 . Ein letzter Hinweis gilt den Zeugnissen der materiellen Kultur, den gegenständlichen »Altertümern« der Strafgerichtsbarkeit. In Erinnerung zu rufen sind die angeführten Beispiele der Fehlinterpretation etwa der Steinköpfe als »Wahrzeichen« einstiger Bestrafungen. Durch diese retrospektive Deutung wurden prospektive Denkmäler fingiert. Nachdem die einstigen Bestrafungen von den frühneuzeitlichen Traditionen in der Regel zeitlich genau fixiert werden, handelt es sich nicht nur um »zeitlose« Exempla, sondern um datierbare »Altertümer« der eigenen Geschichte, deren verstärkte Beachtung mit der im 16. Jahrhundert aufblühenden antiquarischen Forschung und ihrer Betonung nichtliterarischer Quellen 271 zusammenhängt. Die Schauer-Romantik des späten 18. und 19. Jahrhunderts hat sich nicht damit begnügt, Vorhandenes zu interpretieren: »Dem Gruselbedürfnis und der Sage mag manches Foltergerät seine Entstehung verdanken« 272 . Vielleicht sind gar nicht wenige Foltergeräte in den Museen Fälschungen oder Nachschöpfungen des 19. und 20. Jahrhunderts 273 so wie die berühmte »Eiserne Jungfrau«, deren Nürnberger Exemplar, ein ehemaliger Schandmantel, 1867 innen mit Messern versehen wurde 274 . Einmal mehr erweist sich die Geschichte der Strafjustiz mit Fiktionen durchsetzt, und so soll denn ein Zitat zur romantischen Rezeption mittelalterlicher Strafjustiz aus einer 1842 erschienenen Sagensammlung Ludwig Bechsteins das hier ausgebreitete Material beschließen. Von einem »Jungfernkuß« genannten Rundturm in Schweinfurt steht dort zu lesen: In den grausamen und barbarischen Zeiten des Mittelalters stand, so geht die Sage, in diesem Thurme eine eiserne Jungfrau, die in jeder ihrer Hände ein scharfes Schwert hielt. Dort wurde von den Carmelitern ein schauderhaft geheimnißvolles Strafrecht ausgeübt. Wenn ein Mönch sich vergangen oder sonst ein Verbrecher freiwillig oder durch die Marter zum Geständniß seiner Unthat gebracht war und diese todeswürdig befunden wurde, so führte man ihn auf unterirdischem Weg in den Thurm, und gebot ihm, das eiserne Jungfrauenbild zu küßen. So wie er aber auf die Stufe trat, dem Bild zu nahen, so schlugen die zwei 268 Vgl. Schultheiß: Acht-, Verbots- und Fehdebücher (wie Anm. 47), 231*- 235*. 269 Ebd., 231*. 270 Vgl. oben Anm. 2f. 271 Vgl. nur Arnaldo Momigliani: Wege in die alte Welt, Frankfurt am Main 1995, 111 - 160; Alain Schnapp: The Discovery of the Past. The Origins of Archaeology, London 1996. 272 Künßberg: Rechtsgeschichte (wie Anm. 240), 57. Zur Rezeption der Femegerichte im 18. Jahrhundert vgl. oben Anm. 81. 273 Vgl. Baltl: Rechtsarchäologie (wie Anm. 203), 43. 274 Maisel: Rechtsarchäologie (wie Anm. 105), 144 - 146. Vgl. auch die Abbildungen bei Schild: Gerichtsbarkeit (wie Anm. 101), 50f., Nr. 85f. Klaus Graf 286 Schwerter zusammen und schlugen den Kopf des Verbrechers ab, welcher sammt dem Körper in einen Wasserbehälter fiel, der unter dem Thurme war. Sah man nun manchmal das Wasser dieses Teiches geröthet, so sprach man schaudernd: die Jungfrau hat gearbeitet, und bethete für die Seele des Gerichteten 275 . Für eine interdisziplinäre Geschichte der Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit Sehr unterschiedliche Materien sind in diesem Beitrag zur Sprache gekommen. Nach einem Plädoyer für eine überlieferungsnahe Quellenkunde und Quellentypologie der Kriminalquellen ging es um die »schwarzen Bücher«, die spätmittelalterlichen Strafbücher, die als weltliche »Sündenregister« auch in den öffentlichen Diskurs des Sprichworts Eingang gefunden haben. Sie waren allgemein bekannte Symbole für die Erfassung und Ahndung von Normverstößen, Zeichen im Kontext religiöser Kommunikation über Sünde, Verdammung und Teufel. Narrativen Texten galt der Abschnitt über die Justiz-Erinnerungen mit dem Schwerpunkt auf den sogenannten »Sagen«, Erzählungen beispielsweise über unschuldig Hingerichtete. Sie dürfen nicht getrennt von den anderen Justiz-Erzählungen in der zeitgenössischen Publizistik und Kompilationsliteratur betrachtet werden. Der Hauptteil befaßte sich mit Quellen aus dem Bereich der materiellen Kultur, nämlich mit Schanddenkmälern, also mit der prospektiven Verewigung von Schande, wie sie in Deutschland vor allem in der Frühen Neuzeit in seltenen Fällen gleichsam als pathetisches Ausrufezeichen praktiziert wurde. Die Erinnerung an »exemplarische« Bestrafungen wurde gesichert mit der dauerhaften Ausstellung der sterblichen Überreste von Schwerverbrechern, der Errichtung eigener Schandsäulen für Hochverräter, in der Regel verbunden mit der »damnatio memoriae« in Form einer Hauswüstung, und mit Inschriften zum Gedenken an Verschwörungen. Es handelte sich um »Justiz-Pädagogik« im Dienste der Generalprävention. Während offen gelassen werden mußte, wann die Markierungen der Stellen auf öffentlichen Stadtplätzen, auf denen von der Tradition herausgehobene Hinrichtungen stattgefunden haben sollen, entstanden sind, konnten Deutungen von Steinköpfen (»Neidköpfen«) als Erinnerungszeichen (»Wahrzeichen«) an bestrafte Missetäter als frühneuzeitliche Fiktionen erwiesen werden. Um solche handelt es sich auch bei den meisten Interpretationen, die sich an das einschlägige Inventar deutscher Rathäuser, insbesondere die »Leibzeichen«, knüpften. Wichtig sind solche »Mißverständnisse« gleichwohl und zwar als Resultate einer Traditionsbildung, die retrospektiv und im narrativen Diskurs die Bedeutung der prospektiven Verewigungspraxis unterstreicht. Die Materialpräsentation beschloß ein Abschnitt über die retrospektive Dimension der Erinnerungskultur, über den »historischen« Diskurs über das Strafen. Ausgehend von der Frage archaisierender Strafjustiz gab er einige vorläufige Hinweise für eine noch zu schreibende Geschichte (oder Vorgeschichte) der Strafrechtsgeschichte. Mit den Variationen zum Thema erinnerter Kriminalität wurde zugleich ein diskursgeschichtlicher Beitrag 276 geleistet, der auf Prozesse der Kommunikation und Verstän- 275 Ludwig Bechstein: Der Sagenschatz des Frankenlandes 1. Teil: Die Sagen des Rhöngebietes und des Grabfeldes, Würzburg 1842, 170f., Nr. 39, Zitat 171. Das leckt die Kuh nicht ab 287 digung abhob und Kultur- und Sozialgeschichte zu verbinden suchte. Im gesellschaftlichen Diskurs über das Strafen (»Justiz-Diskurs«) sind obrigkeitliche und »populare« Wahrnehmungsweisen 277 ineinander verschränkt. Es galt das schwierige Verhältnis beider zu beschreiben, ohne zu sehr der obrigkeitlichen Steuerung und Instrumentalisierung des Diskurses einerseits und der Autonomie der »Volkskultur« im Sinne einer Widerstandsthese andererseits das Wort zu reden. Es spricht vieles dafür, die hier thematisierten Justiz-Erinnerungen vor allem als Justiz-Erzählungen, also als narrative Texte, zu sehen 278 . Auch die angeblichen oder wirklichen gegenständlichen Erinnerungszeichen bedurften der Erläuterung durch Erzählungen, wie sie umgekehrt die Geschichten beglaubigten. Die geschichtswissenschaftliche Kriminalitätsforschung könnte von einer verstärkten Kenntnisnahme der Resultate der interdisziplinär betriebenen Erzählforschung, sei sie volkskundlicher oder literaturwissenschaftlicher Provenienz 279 , nur profitieren. In der Erzählforschung ist auch die Behandlung der üblicherweise als »Rechtssagen« bezeichneten Geschichten besser aufgehoben als in der von juristischer Seite betriebenen »Rechtlichen Volkskunde«, nicht selten ein »Sammelsurium mehr oder weniger merkwürdiger Rechtsüberlieferungen« 280 . Vor allem drei Gründe rechtfertigen, wie ich meine, den Gebrauch des Begriffs Erinnerungskultur für den Gegenstand dieses Aufsatzes. Erstens weitet er (ebenso wie der konkurrierende Begriff »Geschichtskultur«) den Gegenstandsbereich aus: Es werden nicht nur die im Rahmen einer Geschichte der Schriftlichkeit zu erörternden Schriftquellen, die archivalischen Gerichtsquellen und die literarischen Justiz-Erzählungen, in den Blick genommen, sondern auch die Dokumente der materiellen Kultur, also die Gegenstände der Rechtsarchäologie und der Rechtsikonographie. Zweitens leistet das Assmannsche Konzept der Erinnerungskultur die Verknüpfung der retrospektiven und der prospektiven Dimension des Erinnerns, die sich auch hier als sinnvoll erwiesen hat. Sie ist bereits in den Quellenbegriffen gedechtnus und »Denkmal« angelegt, die beide sowohl Stiftung als auch Bewahrung von Erinnerung umfassen 281 . Nochmals sei der Zusammenhang der retrospektiven Wahrzeichen-Traditionen mit der prospektiven Verewigungpraxis betont. Drittens bettet das Konzept Erinnerungskultur die hier besprochenen schriftlichen und rechtsarchäologischen Quellen zur Strafgerichtsbarkeit in die allgemeine Geschichte der Erinnerungskultur ein, die nach den Konjunkturen des Erinnerns und der Ausbildung zeitspezifischer Erinnerungsmedien fragt. Zugleich können die Resultate der Erforschung der Historiographie, des sogenannten Geschichtsbewußtseins und der Traditionsbildung eingebracht werden. Gerade die Beachtung der städtischen Traditi- 276 Vgl. oben Anm. 17. Zur theoretischen Grundlegung einer Diskursgeschichte vgl. auch Klaus Graf: Exemplarische Geschichten. Thomas Lirers »Schwäbische Chronik« und die »Gmünder Kaiserchronik«, München 1987. 277 Ich bin mir darüber im klaren, daß die Verwendung von »popular« anstelle von »volkstümlich« die heiklen methodischen Probleme des Volksbegriffs nicht lösen kann. 278 Ausgeklammert wurden ja die »Erzählungen« der bildlichen Darstellungen, für die Kunstgeschichte und Rechtsikonographie zuständig sind, vgl. oben Anm. 197. 279 Vgl. vor allem die oben in den Anmerkungen 75, 84 und 87 genannte Literatur. 280 Kramer: Grundriß (wie Anm. 82), 3. 281 Vgl. dazu Klaus Graf: Fürstliche Erinnerungskultur. Eine Skizze zum neuen Modell des Gedenkens in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert, in: Les princes et l’histoire du XIV e au XVIII e siècle, Bonn 1998, 1 - 11. Klaus Graf 288 onsbildung hat sich bei der Besprechung der ikonischen Erzählungen über angebliche Denkmäler einstiger Bestrafungen als wichtig erwiesen. Erwähnung verdient aber auch der Beitrag der von der neueren kriminalitätshistorischen Forschung etwas vernachlässigten Begriffs- und Ideengeschichte (Semantik des »ewigen Gedächtnisses«, Auslöschung der Erinnerung und »damnatio memoriae« 282 ). Die Frage nach der Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit siedelt im Überschneidungsbereich verschiedener Disziplinen und sollte von diesen kooperativ weiterverfolgt werden. Neben der von HistorikerInnen betriebenen Kriminalitätsforschung sind vor allem die Rechtsgeschichte und die Rechtsarchäologie, die Erzählforschung und die Volkskunde 283 beteiligt. Mein Versuch möge als Anregung genommen werden, in eine interdisziplinäre Verständigung über das Thema einzutreten, möglichst ohne sich über Gebühr hinter Fachbarrieren und disziplinären Grabensystemen zu verschanzen. 282 Vgl. oben bei Anm. 111, 133, 149, 175. 283 Die besondere Bedeutung der Monographie »Bildnis und Brauch« von Wolfgang Brückner (wie Anm. 42) für das Thema wird in meinen Anmerkungen hinreichend deutlich. Neben der vor allem von Karl-S. Kramer (vgl. oben Anm. 70, 82 und derselbe: Warum dürfen Volkskundler nicht vom Recht reden? Zur Problematik der Rezeption meines Buches »Grundriß einer rechtlichen Volkskunde« (1974), in: Ruth- E. Mohrmann/ Volker Rodekamp/ Dietmar Sauermann (Hg.): Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Universität und Museum, Münster 1997, 229 - 237) geförderten Rechtsvolkskunde sieht Rudolf Schenda - zuletzt im Artikel Mordgeschichten (wie Anm. 84), 888 - die Notwendigkeit einer »Unrechtsvolkskunde«. 289 Gabriela Signori Ein »ungleiches Paar«: Reflexionen zu den schwankhaften Zügen der spätmittelalterlichen »Gerichtsrealität« Im März 1492 begann vor dem Basler »Zehner« - bzw. »Schöffengericht« ein Prozeß, der die städtische Öffentlichkeit mehrere Monate lang beschäftigen und schließlich bis vor das Reichskammergericht getragen werden sollte. 1 Im Zentrum der langwierigen Auseinandersetzungen stand die umstrittene Erbeinsetzung der im Alter von siebzig Jahren verstorbenen Barbara Schaler von Albeck (†1491), genannt Hafengießerin, der Gattin des Basler Bürgers und kurzzeitigen Ratsherren Junker Mathis Eberler (†1502), genannt Grünenzweig - im Urteil der späteren Lokalhistorie eine prominente Gestalt in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der Stadt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. 2 So exzeptionell der Prozeß allein durch seinen Aktenumfang auch sein mag - beschrieben wurden ganze 165 Folios -, was posthum vor Gericht ausgetragen wurde, war nur die Spitze eines Eisbergs. Der umstrittenen Erbeinsetzung voraus ging eine Serie »rechtswidriger« Verträge und Normverstöße, die ihren Ausgangspunkt in einer merkwürdig einseitigen und eigentlich unrechtmäßigen »Eheabsprache« nahmen. In den Prozeßakten bilden die verschiedenen zivil- und strafrechtlichen »Regelwidrigkeiten« (die beiden Bereiche lassen sich nicht voneinander isoliert betrachten) nur einen »Nebenkriegsschauplatz« neben vielen anderen, mit dem sich vor allem die verantwortlichen Gerichtsherren auseinandersetzen mußten. Die Augen- und Ohrenzeugen hingegen, Freunde, Nachbarn und »Bekannte«, breiteten, vor Gericht geladen, in aller Ausführlichkeit die Risiken einer Ehegemeinschaft aus, die - in zeitgenössischer Metaphorik - von zwei ungleichen Ochsen gezogen wurde. 3 Gemeint ist das in Wort und Bild verbreitete, ursprünglich antike Motiv des »ungleichen Paares« in seiner spätmittelalterlichen Umgestaltung als Exemplum stadtbürgerlicher, vom »Gleichmaß« aller Dinge geleiteten Sexual- und Besitz(stands)moral. 4 In seinem 1494 beim Drucker Johannes Bergmann von Olpe in Basel erschienen »Narrenschiff« zieht Sebastian Brant (†1521) gegen all diejenigen ins Felde, die nur des 1 Staatsarchiv Basel-Stadt, Gerichtsarchiv O, Diversa, Bd. 5: Proceß Ulmer contra Brand: 25. Oktober 1482, 165f. (im folgenden nur: Ulmer contra Brand). - Auf die Prozeßakten aufmerksam gemacht haben mich die genealogischen Notizen von August Burckhardt: Die Eberler genannt Grünenzweig, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 4 (1904/ 05), 246 - 276, vgl. auch ders.: Junker Mathis Eberler der Typus des reichen und kunstliebenden Baslers aus dem Ende des XV. Jahrhunderts, in: Freiwillige Basler Denkmalpflege 1933, 13 - 30. - Die juristischen Seiten bzw. Neuerungen des Verfahrens vertieft Hans-Rudolf Hagemann: Aus dem Basler Rechtsleben in der Frühzeit der Universität, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht. NF 79/ 1 (1960), 123 - 153; ders.: Basler Rechtsleben im Mittelalter, Bd. 2: Zivilrechtspflege, Basel/ Frankfurt/ M. 1987, 110 - 117. 2 Zu den Schalers vgl. August Burckhardt: Herkunft und Stellung von Adel und Patriziat zu Basel vom XIII. -XV. Jahrhundert, in: Basler Jahrbuch 1909, 92 - 118 (hier: 106), sowie für diese und folgende genealogischen Informationen, trotz zahlreicher Fehler: Wappenbuch der Stadt Basel, hg. von Wilhelm Richard Staehelin, 3 Bde., Basel 1917 - 1928, sowie Walter Merz: Die Burgen des Sisgaus, 4 Bde., Aarau 1909 - 1914. Gabriela Signori 290 Geldsacks wegen zur Ehe schreiten. 5 Brant, der bis 1501 in Basel als Rechtsgelehrter und zeitweiliger Dekan der Juristenfakultät wirkte, kannte die »Geschichte« des Ehepaars Eberler, wenn nicht aus eigener Anschauung, dann zumindest vom Hörensagen, was seiner Version des Exempels besondere Aktualität verleiht. Einer aus Profitsucht geschlossenen Ehe zwischen einem jungen Mann und einer alten Frau, nimmt Brant einleitend vorweg, sei wenig Glück beschieden. Sie verstoße gegen die christlichen Gebote, weil sie Unfruchtbarkeit impliziere und aus der »Natur« der Sache zu Ehebruch führe, 6 was Dürers Holzschnitt - die in Bild gefaßte Essenz der Geschichte - im Esel versinnbildlicht (Abbildung). 7 Der Gebrauch negativer Altersstereotypen, sogenannte »Ageismen«, 3 Etwa Euangelia mit ußlegung des hoch gelerten Doctor Keiserspergs, Straßburg: Grüninger 1517, f. 200 r , vgl. Gabriela Signori: Die verlorene Ehre des heiligen Joseph oder Männlichkeit im Spannungsfeld spätmittelalterlicher Altersstereotypen. Zur Genese von Urs Grafs »Heiliger Familie« (1521), in: Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995, 183 - 213, und Jutta Eming/ Ulrike Gaebel: Wie man zwei Rinder in ein Joch spannt. Zu Heinrich Bullingers ›Der Christliche Ehestand‹, in: Maria E. Müller (Hg.): Eheglück und Liebesjoch. Bilder von Liebe, Ehe und Familie in der Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts (Frauenforschung 14), Weinheim/ Basel 1988, 125 - 154. 4 Ursula Rautenberg: Altersungleiche Paare in Bild und Text, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 33 (1997), 185 - 188 und 60 (1997), 367 - 372; Yona Pinson: La dame et le fou, in: Gazette des Beaux- Arts 122 (1993), 1 - 16; Alison G. Stewart: Unequal Lovers. A Study of Unequal Couples in Northern Art, New York 1979; Lawrence A. Silver: The Ill-Matched Pair by Quinten Massys, in: Studies in the History of Art 6 (1974), 104 - 123; W. A. Coupe: Ungleiche Liebe - a Sixteenth-Century Topos, in: Modern Language Review 62 (1967), 661 - 671; Paul Wescher: Ein »ungleiches Paar« von Hans von Kulmbach, in: Pantheon 22 (1938), 376 - 379. 5 Thomas Willhelmi: Sebastian Brant-Bibliographie (Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur und Sprache 18/ 3), Bern 1990, Nr. 171 - 248, 70 - 88. 6 Sebastian Brant: Das Narrenschiff, Basel: Johann Bergmann von Olpe 1494, Kapitel 52: ›Freien des Geldes wegen‹, vgl. auch die etwas älteren Translationen von Niclas von Wyle (VIII), hg. von Adelbert von Keller (Bibliothek des literarischen Vereins 57), Stuttgart 1861, 156 (›Wie ein husvater hus haben sölle etc.). 7 Friedrich Winkler: Dürer und die Illustration zum Narrenschiff. Die Baseler und Straßburger Arbeiten des Künstlers und der altdeutsche Holzschnitt (Forschungen zur deutschen Kunstgeschichte 36), Berlin 1951, 28f., Abb. 21 im Anhang. - Zum Esel als Symbol der Unkeuschheit vgl. Das Tierbuch des Konrad von Megenberg, hg. von Gerhard E. Sollbach (Die bibliophilen Taschenbücher 560), Dortmund 1989, 38ff. Illustration Albrecht Dürers zu Sebastian Brants Narrenschiff, Basel 1494 (Johann Bergmann von Olpe) Ein »ungleiches Paar« 291 setzt die rhetorischen Kontraste. 8 Beide Parteien, sowohl der geldgierige Jüngling als auch die närrische Alte, bekommen - am »rechten« Maß gemessen - ihren Speck weg. Nur wäre es, wie angedeutet, weidlich verfehlt, Motiv und Beiwerk des Brantschen Exempels auf einen mit literarischen Referenzen gewürzten Humanistendiskurs zu reduzieren. Dafür stehen sich Exempel und Gerichtsfall zu nahe; dafür kannte Brant die Basler »High Society«, das Milieu, in dem die Geschichte spielt, auch viel zu gut. 9 Die stereotypen Bilder, die er rhetorisch zum Einsatz bringt, gehörten vielmehr zum »Alltagswissen«. Walter Lippmann, der »Vater« der modernen Stereotypenforschung, definierte vor mittlerweile 75 Jahren seinen Untersuchungsgegenstand, die Stereotypen (in Anlehnung an die Sprache des Buchdrucks), als kulturell vorgegebene Kategorien, Verallgemeinerungen, Bilder und Denkschemata, welche die Wahrnehmung des Individuums zu strukturieren und zu steuern vermögen. Sie stünden im Dienste der Wahrnehmungsökonomie, erleichterten es dem Menschen, sich im »summenden Durcheinander der äußeren Welt« zurechtzufinden. 10 Das traditionelle Übungsfeld der Stereotypenforschung sind ethnische Vorurteile, dichotome Wertvorstellungen, die die Welt in überschaubare Antipoden gliedern: auf der einen Seite »wir«, auf der anderen Seite die »Anderen«. Doch nicht bei allen Stereotypen sind die Zuweisungsmechanismen bzw. die ihnen zugrunde liegenden Ordnungsmodelle so einfach aufzuschlüsseln und der Übergang vom Stereotyp zum Vorurteil so fließend wie im ethnischen Bereich. Ob dieses 8 Zu den negativen Altersstereotypen (Geiz, Trunksucht, ungezügelte Sexualität bei Frauen, trotz »altersbedingter Impotenz« auch bei Männern, kindisches Verhalten etc.) liegen zahlreiche Studien vor: Shulamith Shahar: Growing Old in the Middle Ages. ›Winter clothes us in shadow and pain‹, London/ New York 1997, 45 - 59 und 70 - 87; Peter Borscheid: Geschichte des Alters. Vom Spätmittelalter zum 18. Jahrhundert, München 1989, 17 - 51; Michael Goodich: From Birth to Old Age. The Human Life Cycle in Medieval Thought, 1250 - 1350, New York 1989; Georges Minois: Histoire de la vieillesse de l’antiquité à la Renaissance, Paris 1987, 287 - 337; Manfred Welti: Das Altern im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 37 (1987), 1 - 32; Elizabeth Sears: The Ages of Man. Medieval Interpretations of the Life Cycle, Princeton 1986; Rudolf Sprandel: Modelle des Alterns in der europäischen Tradition, in: Hans Süssmuth (Hg.): Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984, 110 - 123; ders.: Altersschicksal und Altenmoral. Die Geschichte der Einstellung zum Altern nach der Pariser Bibelexegese des 11. bis 16. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 22), Stuttgart 1981; Rudlof Schenda: Die Alterstreppe. Geschichte einer Popularisierung, in: Peter Joerissen und Cornelia Will (Hg.): Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter. Ausstellungskatalog, Köln/ Bonn 1983, 11 - 24, ders.: Das Elend der alten Leute. Informationen zur Sozialgerontologie für die Jungen, Düsseldorf 1972, 141 - 149; Willhelm Wackernagel: Die Lebensalter. Ein Beitrag zur vergleichenden Sitten- und Rechtsgeschichte, Basel 1862. 9 Ihm war das seltene Glück beschieden, 1498 den beachtlichen »dritten Teil« der Fahrnis der Krämerwitwe Adelheid Wagner zu erben (Gerichtsarchiv B=Fertigungen, Bd. 14, f. 146 r - 148 r ). Gewöhnlich bedachten die reichen Basler Witwen, wenn sie wie Adelheid weder Nachkommen noch nahe Verwandte hatten, eher Geistliche als Juristen. 10 Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung, München 1964 [Erstauflage 1922], 72. - Einen Einblick in jüngere Forschungsansätze bieten: Jacques-Philippe Leyens/ Vincent Yzerby/ Georges Schadron: Stereotypes and Social Cognition, London 1994, 9 - 51 und 128 - 150; Penelope J. Oakes/ S. Alexander Haslam/ John C. Turner: Stereotyping and Social Reality, Oxford/ Cambridge 1994 (mit weiterführender Literatur); Diane M. Mackie und David L. Hamilton: Affect, Cognition, and Stereotyping: Concluding Comments, in: dies. (Hg.): Affect, Cognition, and Stereotyping. Interactive Processes in Group Perception, San Diego u.a. 1993, 371 - 383; Wolfgang Stroebe und Chester A. Insko: Stereotype, Prejudice, and Discrimination: Changing Conceptions in Theory and Research in: Daniel Bar-Tal u.a (Hg.): Stereotyping and Prejudice. Changing Conceptions, London/ Paris/ Tokyo 1989, 3 - 34; Daniel Gredig: Dekadent und gefährlich. Eine Untersuchung zur Struktur von Stereotypen gegenüber sozialen Randgruppen, Weinheim 1994, 9 - 35. Gabriela Signori 292 oder jenes Stereotyp zum Einsatz gelangt, ist häufig kontextabhängig und schließt, wiederum kontextbedingt, auch Widersprüche nicht aus. 11 Anders als in der künstlichen Gesprächssituation eines Fragebogens, der Arbeitsgrundlage der meisten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, ist das Stereotyp gewöhnlich Bestandteil von Kommunikation, setzt auf Wiedererkennung und Zustimmung der geäußerten Werturteile, nicht nur, wie bei Sebastian Brant, zwischen Autor und Leser, sondern auch zwischen Gericht, Kläger, Angeklagtem und bald mehr, bald weniger mitteilungsfreudigen Zeugen. 12 Im Zentrum meines Interesses stehen dementsprechend die Parellelen zwischen bildhaftem Erzählen in der Literatur und vor Gericht, ein Problemfeld, das Jurisprudenz und Literaturwissenschaften seit Beginn der 80er Jahre beschäftigt, 13 und das Autoren wie Nathalie Zemon Davies und Guido Ruggiero der Geschichtswissenschaft schon in den frühen 90er Jahren vertraut gemacht haben. 14 Doch bevor ich mich dem 1492 vor Gericht ausgebreiteten »Hausfrieden« der Eberlers widme, um über die stereotypen Züge der Zeugenaussagen zu reflektieren, muß ich einleitend etwas ausführlicher auf die Genese des Konfliktes eingehen, das heißt, zuerst in mühseliger Kleinarbeit das nötige »Hintergrundwissen« zusammentragen, das den Aussagen von Zeugen und Urteilssprechern zugrunde lag. Meine Informationen beziehe ich, neben den besagten Prozeßakten, vorwiegend aus den Gerichtsbüchern der Basler Straf- und Zivilgerichtsbarkeit, aus »Fertigungen«, »Kundschaften«, »Öffnungen«, »Urfehden« und ähnlichem mehr. 15 Ohne Kenntnis der zivilrechtlichen Verstöße, lehrt der Fall Eberler, ist es schlicht unmöglich, das strafrechtliche Nachspiel zu verstehen. Straf- und Zivilgerichtsbarkeit ergänzen sich, fließen nahtlos ineinander, was letztlich ein kritisches Licht auf die gängige Forschungspraxis wirft, die beiden Bereiche strikt von einander zu trennen. 11 František Graus: »Mentalität« - Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung, in: ders. (Hg.): Mentalität im Mittelalter: methodische und inhaltliche Probleme (Vorträge und Forschungen 36), Sigmaringen 1987, 9 - 45. 12 In Anlehnung an Ludger Hoffmann: Kommunikation vor Gericht (Kommunikation und Institution 9), Tübingen 1983, 238ff. (Zeugenperspektive). 13 Jörg Schönert: Zur Einführung in den Gegenstandsbereich und zum interdisziplinären Vorgehen, in: ders., in Zusammenarbeit mit Konstantin Imm und Joachim Linder (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg, 10. - 12. April 1985, Tübingen 1991, 11 - 55, hier: 20 - 25; Ludger Hoffmann: Vom Ereignis zum Fall. Sprachliche Muster zur Darstellung und Überprüfung von Sachverhalten vor Gericht, in: ebd., 87 - 113, hier: 97 - 102; ders.: Zur Pragmatik der Erzählformen vor Gericht, in: Konrad Ehlich (Hg.): Erzählen im Alltag, Frankfurt/ M. 1980, 26 - 63; Gerlinda Smaus: Das Strafrecht und die Kriminalität in der Alltagssprache der deutschen Bevölkerung, Opladen 1984; Jörg Schönert: Literatur und Kriminalität. Probleme, Forschungsstand und die Konzeption des Kolloquiums samt annotierter Auswahlbibliographie, in: ders. (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 8), Tübingen 1983, 1 - 32; W. Lance Bennett/ Martha S. Feldman: Reconstructing Reality in the Courtroom, London 1981. 14 Natalie Zemon Davis: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Frankfurt/ M. 1991; Guido Ruggiero: Binding Passions. Tales of Magic, Marriage, and Power at the End of the Renaissance, Oxford 1993. 15 Zu den verschiedenen Gerichtsbüchern vgl. Hagemann: Basler Rechtsleben (wie Anm. 1), 18 - 117 (Kap. 1: Schultheißengericht); ders.: Bd. 1: Strafrecht, Basel/ Frankfurt/ M. 1981, 156 - 226 (Kap. 3/ 1: Grundlagen und Strukturen der Strafrechtspflege). Ein »ungleiches Paar« 293 Die zweifache Witwe und der finanzschwache Jüngling Als Barbara Schaler von Albeck um das Jahr 1461 Mathis Eberler heiratete, war sie rund vierzig Jahre alt und schon zweifache Witwe. 16 Ihren ersten Mann, den Oberzunftmeister Andreas Ospernell, hatte sie schon 1454 verloren. 17 Aus ihrer ersten Ehe war ein Sohn namens Jakob hervorgegangen, der allerdings in jungen Jahren verstarb. 18 Barbaras spätere Ehen blieben kinderlos, was für uns insofern von Bedeutung ist, als Kinder- und Elternlosigkeit nach Basler Stadtrecht die conditio sine qua non war, um letztwillig überhaupt frei über seinen Besitz zu verfügen. 19 Kurz nach Ospernells Hinscheiden vermählte sich die gut betuchte Witwe mit dem Junker Georg zur Sonne, genannt Fürnow, einem adligen Söldner, 20 den der Basler Rat wenige Jahre später (1461) wegen Raubmords hinrichten ließ. 21 Noch in demselben Jahr schloß Barbara dann ihre dritte und letzte Ehe mit Mathis Eberler. Ob oder in welchem Umfang sie bei ihren späteren »Eheabsprachen« ein Wörtchen mitzureden hatte, läßt sich aufgrund der Quellenlage nicht klar erkennen. 22 Wenn dem so wäre - und dafür spricht einiges -, dann hatte sie einen reichlich merkwürdigen Geschmack. Ihr Vater war schon 1453 gestorben, also ein Jahr vor ihrem ersten Gatten. Ob Peterhans Schaler (†1477) wirklich ihr Bruder war, scheint mir - anders als den Basler Genealogen - eher unwahrscheinlich. Denn über die Jahre hinweg fungierte Peterhans nie als Barbaras »Rechtsbeistand«, was in seinem, als ihr nächster Erbe, aber auch in ihrem Interesse eigentlich nahegelegen hätte. 23 16 Im Prozeß wird sie auf siebzig Jahre geschätzt: die ein person irs alters by den lxx jaren vnnd darob gewesen (Ulmer contra Brand, f. 50 v ). Zum Problem der »runden« Zahlen vgl. u. a. Arnold Esch: Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: Historische Zeitschrift 239 (1984), 309 - 351. 17 Konrad Schnitts Auszüge aus verlorenen Quellen (Basler Chroniken 7), Leipzig 1915, 350; Paul Koelner: Die Zunft zum Schlu e ssel in Basel, Basel 1953, 191f. - Kurz vor seinem Tod versteuerte Ospernell 10.700 Gulden (Gustav Schönberg: Finanzverhältnisse der Stadt Basel im XIV. und XV. Jahrhundert, Tübingen 1879, Nr. 841, 635). 18 Die Prozeßakten Ulmer contra Brand (f. 63 r ) halten fest, Barbara habe das meiste Geld von ihrem Sohn Jakob Ospernell geerbt (er war der einzige Erbe von Andreas Ospernell). 19 Hagemann: Basler Rechtsleben (wie Anm. 1), 211 - 214. - Gemäß Zeugenaussage der Gerichtsherren: daz der statt Basel recht, gebruch vnnd gewonheit sye, daz eelich lútt, die weder vatter, mutter noch eelicher kinder <nit> haben <daz die>, ir gu o tt, nemlich die varend hab, einander machen <vnnd das ligend widmen mo>, also das sy solich mechnuß jerlich ernuwern vnnd ir ligend gu o tt einander nach der stattrecht widmen mogen (Ulmer contra Brand, f. 4 r ). [<>] steht jeweils für durchgestrichene und [/ / ] für darübergeschriebene Passagen und Wörter. 20 Merz: Burgen (wie Anm. 2), Bd. 2, 162f.; Schönberg: Finanzverhältnisse (wie Anm. 17), Nr. 1008, 642. Zur Sonne versteuerte 1453/ 54 am Petersberg 3.900 Gulden. Ob Barbara auch ihn beerbte, ließ sich nicht Erfahrung bringen. 21 Auf »internationalen« Druck, vgl. Staatsarchiv Basel-Stadt, Politisches F 11 (1457 - 1470): Ermordung des Müllers von Tambach durch Georg zur Sonnen, vgl. dazu knapp Rudolf Wackernagel: Geschichte der Stadt Basel, Bd. 2/ 2, Basel 1916, 937. 22 Zu den Bedrängnissen allzu reicher Ehekandidatinnen: Albert Burckhardt: Eine Geschichte aus dem Steinenkloster, in: Beiträge zur vaterländischen Geschichte 13. NF 3 (1893), 141 - 165, vgl. auch H. T.: Ehe und Recht. Ein Prozeß um ein nicht eingehaltenes Eheversprechen am Ausgang des Mittelalter, in: Ursula Rautenberg (Hg.): Über die Ehe. Von der Sachehe zur Liebesheirat. Eine Literaturausstellung in der Bibliothek Otto Schäfer, Schweinfurt 18.April- 31.Oktober 1993, 31 - 43, sowie Mathias Beer: »Wenn ych eynen naren hett zu eynem man, da fragen dye freund nyt vyl danach«. Private Briefe als Quelle für die Eheschließung bei den stadtbürgerlichen Familien des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Bachorski (Hg.): Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Literatur - Imagination - Realität 1), Trier 1991, 71 - 94. Gabriela Signori 294 Als Mathis Eberler um Barbaras Hand anhielt, war er gerade mal zwanzig Jahre alt und äußerst knapp bei Kasse. Die Erbteilung des väterlichen Vermögens zögerte sich bei ihm ungewöhnlich lange hinaus (bis weit nach dem Eheschluß), denn sein Vater Heinrich (†1448) hatte sich in zweiter Ehe, folgen wir dem Urteil seiner Schwester, der alten Anna von Tunsel, mit einer viel zu jungen, viel zu rüstigen »Weibsperson« vermählt, die ihren Gatten um zwei Jahrzehnte überlebte. 24 Die Brautwerbung des jungen Eberler, der damals noch im Haushalt seiner Schwester Agnes lebte, nahm seltsame Wege. Einem isolierten Eintrag in den Basel Kundschaftsbüchern entnehmen wir zufällig, daß er, um sein Ziel eher zu erreichen, Barbaras Magd bestach. 25 Die Belohnung, ein Rock im beachtlichen Wert von zwanzig Gulden, blieb er der Magd zwar schuldig - sonst wäre das brisante Detail nicht an die Gerichtsöffentlichkeit gelangt -, aber ihr interessiertes Zureden zeitigte unbestreitbaren Erfolg. Binnen kurzem verbesserte sich Mathis’ desolate Finanzlage: Schon 1462 finden wir ihn neben seinem »Stiefvater« Friedrich Dichtler mit 1.400 Gulden auf der Gläubigerliste des Basler Bischofs Johann von Venningen. 26 Wenig später legte er sich mit einem Kapital von 1.200 Gulden eine Stadtrente an; ein weiterer Rentenkauf folgte 1466/ 67. Dieses Mal kamen aber nur vierhundert Gulden zum Einsatz. 27 Ein Jahr später, also 1468, starb dann seine Stiefmutter Anna zum Thor. Eine »Abschichtung« hatte vor ihrem Tod nicht stattfinden können, denn allzu eigenwillig war die Übereinkunft, die Vater Heinrich Eberler mit seiner zweiten Frau getroffen hatte. Darin war festgehalten worden, daß das väterliche Vermögen erst nach dem Tod seiner Stiefmutter an Mathis übergehen sollte. 28 Die beachtlichen Geldbeträge, mit denen der junge Eberler nach seiner Hochzeit um sich warf, konnten folglich nicht aus seinem Besitz stammen. 23 Zur Geschlechtsvormundschaft als soziale Praxis vgl. Gabriela Signori: Vorsorgen, Vererben, Erinnern. Letztwillige Verfügungen kinder- und familienloser Erblasser in einer spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft, Masch. Habilitationsschrift, Bielefeld 1997, S. 67 - 90. - Zur Basler Intestaterbfolge vgl. Hagemann: Basler Rechtsleben (wie Anm. 1), 179 - 193, und allgemein Heinrich Siegel: Das deutsche Erbrecht nach den Rechtsquellen des Mittelalters in seinem inneren Zusammenhang dargestellt, Heidelberg 1853, 16 - 26 und 55 - 59. 24 Gemäß ihrer Zeugenaussage beim Erbschaftsstreit Mathis Eberler contra Friedrich Dichtler aus dem Jahr 1468. Als Heinrich Eberler seiner Schwester eröffnete, er wolle seiner zweiten Frau sein Haus zum Nießbrauch vermachen, habe sie ihm entgegnet: Bru e der, waß meinst du damit? Din husfrow ist noch ein rüwig wolmögende frow und möcht lange zyt leben. So ist dir das huß dik wolkomen vnd hast ein sun der uffwachst, kem der zu sinen tagen, so erschúsß im daß huß och vnd bedor/ r/ fft deß wol (Gerichtsarchiv D=Kundschaften, Bd. 10, f. 185). Zu Heinrichs Schwester, ihrem verstorbenen Mann und ihrem Sohn Hans vgl. Koelner, Schlu e ssel (wie Anm. 17), 210. 25 Gerichtsarchiv D, Bd. 7, f. 92 r : Testes producti ad instantiam Enneli zer Herren, lune ante Galli: Jtem hat geseit frow Elsin von Leymen, jeczunt Hannsen Sliebachs ewirtin, dz Mathis Eberler zu den zyten, als frow Barbel <als> zer Sunnen ein wittbe <were> vnd die obgenant Enneli jr jungfrow were, zü derselben Ennelin geredt vnd sy vor disem zugin gebetten habe, mit den frow Barbelin von sinen wegen ze reden vnd das beste vnd wegste zü den sachen ze tünde, besche es denn, dz sy jme werde, so wolte er ire ein gewant kouffen, dz xx gulden wert were, vgl. Katharina Simon-Muscheid: Die Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze. Reden und Objekte im Alltag der städtischen Gesellschaft am Oberrhein 14. - 16. Jahrhundert, Habil. Bern 1998 , S. 133f. 26 Josef Stöcklin: Johann VI. von Venningen, Bischof von Basel, 17. Mai 1458 bis 20. Dezember 1478, Diss., Basel, Solothurn 1902, 283 und 298. 27 Bernhard Harms: Der Stadthaushalt Basels im ausgehenden Mittelalter (Quellen und Studien zur Basler Finanzgeschichte), Bd. 1, Tübingen 1909, 218 und 225. Ein »ungleiches Paar« 295 Merkwürdig einseitige »Mächtnisse« Als »eigenständige« Rechtsperson erschien Barbara Eberler zusammen mit ihrem »Frauenvogt«, dem Gewandmann Hans von Arx, 29 und ihrem Gatten erstmals am 16. Mai 1462 vor dem Basler Schultheißengericht. 30 Wohl wissend, daß aus ihrer Ehe keine Nachkommen hervorgingen, entschloß sich das Paar schon ein Jahr nach dem Eheschluß, einen »Mächtnisbrief« aufzusetzen. »Mächtnisse«, die in Basel nur kinderlosen Ehepaaren gestattet waren, dienten dazu, dem superstes nach dem Tod des Ehepartners die gewohnheitsrechtliche Dreiteilung der gemeinsam erwirtschafteten Güter (»Fahrhabe«) zu ersparen. Die Abschichtung erfolgte auf diese Art erst nach dem Tod beider Ehepartner. Wie bei Zweitehen häufig der Fall, entsprach das »Mächtnis« der Eberlers in seinen Grundzügen vermutlich ihrem nicht erhaltenen »Ehesteuerbrief«. 31 Was Barbara an diesem 16. Mai 1462 zu Protokoll gab, war für Basler Ohren allerdings ziemlich unerhört. Sie vermachte ihrem Mann alle ir farende güt, nemlich alles ir silbergeschirre, ir widerkouffigen gulte, zinse vnd houptgut, alle ir barschaft vnd allen iren hußrät ouch alles ander ir farende gut, so sy hat in dem römischen kunigrich. 32 Davon sparte sie sich »nur« zweitausend Gulden aus, die sie später für »fromme Zwecke« investieren wollte. Nun wäre in der Logik eines formgerechten »Mächtnisses« zu erwarten, daß Mathis wie hunderte Basler vor und hunderte nach ihm Gleiches mit Gleichem vergelte, und auch er seine gesamte Fahrhabe in die Waagschale werfe. Aber dem ist nicht so. Sein Eintrag beginnt zwar mit der üblichen Formel, er wiederum würde ihr seinen Teil vermachen. 28 Mathis war das jüngste Kind aus Heinrich Eberlers erster Ehe mit der Patrizierin Elsa Schlierbach (†1441) - ein Nachzügler, und ein verhätschelter noch dazu. Er hatte keinen Bruder, nur drei ältere Schwestern. Nach Elsas Tod vermählte sich Heinrich mit Anna zum Thor, wiederum eine »Achtburgerin«, das heißt Patrizierin. Vorsorglich hatte er seinen einzigen männlichen Stammhalter zusammen mit einer alten Magd seiner neuen Frau »zur Morgengabe« mit in die Ehe gegeben, was eine erbrechtliche Gleichstellung der Kinder aus erster mit denen aus zweiter Ehe bezwecken sollte. Da die Ehe kinderlos blieb, hätte Mathis später seine Stiefmutter beerbt. Der zweite Mann Annas zum Thor, der Hausgenosse Friedrich Dichtler, war jedoch nicht gewillt, auf Mathis’ Erbansprüche einzugehen (Gerichtsarchiv D, Bd. 10, f. 10 v - 11 r ). Er bezweifelte die Rechtmäßigkeit, Kinder als Morgengabe einzusetzen, vgl. Signori: Vorsorgen, Vererben, Erinnern (wie Anm. 23), S. 209 - 215. 29 Barbara hatte sich 1460, nachdem ihr erster Vogt, Bürgermeister Peter Rot, gestorben war, auf ihr Begehr den Gewandmann Hans von Arx als Vogt gewählt (Gerichtsarchiv A=Urteilsbücher, Bd. 27, f. 199 r ). 30 Zuvor hatte Barbara ihre Männer nur bei Liegenschaftskäufen vor Gericht begleitet (Ospernell am 22. Januar 1454, zer Sonne am 12. Juli 1457 und am 18. August 1460). 31 Nach Basler Gewohnheitsrecht erhielt die Frau nach dem Tod ihres Mannes ein Drittel der gemeinsam errungenen Fahrhabe, dem Mann standen nach dem Tod seiner Frau hingegen zwei Drittel zu. Zu den sozialen Dimensionen der »Mächtnisse« vgl. Signori: Vorsorgen, Vererben, Erinnern (wie Anm. 23), S. 91 - 151, zu den rechtlichen Hagemann: Basler Rechtsleben (wie Anm. 1), 169ff. und 176ff., ders.: Basler Stadtrecht im Spätmittelalter. Studien zur Rezeptionsgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 78 (1961), 140 - 297, hier: 268ff. - Die Praxis ist auch aus anderen Städten bekannt, vgl. unter anderem Thomas Weibel: Erbrecht und Familie. Fortbildung und Aufzeichnung des Erbrechts in der Stadt Zürich - vom Richtbrief zum Stadterbrecht von 1716, Zürich 1988, 97 - 103; Hartmut Eisenmann: Konstanzer Institutionen des Familien- und Erbrechts von 1370 bis 1521 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 14), Konstanz 1964, 126ff.; Günter Aders: Das Testamentsrecht der Stadt Köln im Mittelalter (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 8), Köln 1932, 72f.; Hermann Arnold: Das eheliche Güterrecht von Straßburg im Elsaß bis zur Einführung des »code civil«, Diss., Breslau 1904, 45- 47; ders.: Das eheliche Güterrecht von Mülhausen im Elsaß am Ausgange des Mittelalters. Mit einem Urkundenanhang (Deutschrechtliche Beiträge I/ 1), Heidelberg 1896, 12 - 19. 32 Gerichtsarchiv B, Bd. 8, 227. Gabriela Signori 296 Bloß spricht er nur von seinem Zugebrachten und dreihundert Gulden, seine Morgengabe, 33 die er ihr im Nebensatz auch gleich wieder entzieht: dz dann [nach seinem Tod] die genant frow Barbel sinen erben geben solle alles sin zubracht güt vnd darzü uß irem güte 300 rinischer gulden vnd damit sollent sy ganczlich vsgericht sin vnd fürer kein ansprache noch vorderung me haben an sy noch ir güt vnbekumbert vnd vnersücht lassen sollen. 34 Außer seinem Zugebrachten und der Morgengabe besaß Eberler nichts. Was wir uns unter dem Zugebrachten genau vorzustellen haben, wird nicht präzisiert - ein reichlich merkwürdiger Zug für eine Gesellschaft, die in Erbrechtsfragen gewöhnlich nicht einmal den Verbleib von Kleidungsstücken dem Zufall überließ. Auch Morgengaben in Männerhänden mögen den Leser befremden. Aber nach Basler Brauch, wiederum gemäß »Kundschaften«, standen sie jedem »Junggesellen« zu, der eine Witwe ehelichte. Mit dreihundert Gulden war Mathis’ Morgengabe bemerkenswert hoch. Nicht einmal seine Schwestern hatten am Morgen nach ihrem ersten ehelichen Beischlaf von ihren Männern so hohe Beträge versprochen bekommen wie er, obwohl Vater Heinrich für sie im Vergleich mit anderen Oberschichtstöchtern Höchstbeträge eingehandelt hatte. Nach dem Hinscheiden ihres Mannes wäre Barbara, um wieder auf das merkwürdig einseitige »Mächtnis« zurückzukommen, also leer ausgegangen. 35 Sehr unregelmäßig nur erfolgte in den nächsten Jahren die Erneuerung des merkwürdig einseitigen »Mächtnisses«, was wiederum den Bestimmungen des Stadtrechts widersprach. »Mächtnisse« mußten jährlich erneuert werden. Aber Eberler war längst nicht der einzige, der sich nicht an die Auflage des Stadtrechts hielt. Die erste Bestätigung datiert vom 4. Mai 1465. Barbaras Interessen vertrat als ihr »Frauenvogt« nunmehr Ratsherr Ulrich zum Luft, der Schwager ihres Mannes. Mathis »widmete« ihr bei diesem Anlaß seine zwei Drittelsrechte auf dem Eckhaus zum Schlitten am Nadelberg. Die beiden hatten die Liegenschaft unlängst von Junker Andres von Waltpach erworben. 36 Barbara und ihr Vogt legten dem Gericht gleichzeitig einen »Testamentsbrief« zur Bestätigung vor, den der bischöfliche Notar Johann Friedrich von Munderstatt Anfang Oktober vergangenen Jahres für sie ausgestellt hatte. 37 Die Fortsetzung der »Fertigung« ist ungewöhnlich wirr. Es sei nicht Brauch, erklärt Mathis Eberler, sich liegende 33 Als solche bezeichnet er die dreihundert Gulden aber nur in seiner Schenkung an seinen illegitimen Sohn Mathis den Jüngeren (ebd., Bd. 11, 420); zur Morgengabe für Männer vgl. Rudolf Hübner: Grundzüge des deutschen Privatrechts, Leipzig 5 1930, 665f. 34 Gerichtsarchiv B, Bd. 8, 227. 35 Nur Erbansprüche seiner Schwestern, sollte er vor seiner Frau sterben, schloß Mathis aus. Diese wären, handelte es sich um ein gewöhnliches »Mächtnis«, auch gar nicht rechtens gewesen. Denn, wie erwähnt, vermied man mittels »Mächtnissen« ja gerade eine frühzeitige Abschichtung des superstes mit den nächsten Verwandten des Verstorbenen. Gerichtsschreiber Diebold Lupfrid notierte aber brav, was ihm das Ehepaar diktierte. Ein Hinweis darauf, daß das Gericht die Gültigkeit des Vertrags in Frage stellte, fehlt. 36 Gerichtsarchiv B, Bd. 8a, 41. 37 Es handelt sich um eine Stiftungsurkunde und nicht um ein Testament, abgedruckt in: Guy Marchal: Die Statuten des weltlichen Kollegiatstifts St. Peter in Basel. Beiträge zur Geschichte der Kollegiatstifte im Spätmittelalter mit kritischer Edition des Statutenbuchs und der verfassungsgeschichtlichen Quellen, 1219 - 1529 (Quellen und Forschungen zur Basler Geschichte 4), Basel 1972, Nr. 176, 486ff. Barbara errichtete ihrem zweiten Gatten, Georg zur Sonne, mit astronomischen zweitausend Gulden eine Kaplaneipfründe am Georgsaltar der Elisabethenkapelle, zur Sonnes Grablege. Ihre Beweggründe - ob es romantische Liebesgefühle für einen derben Draufgänger waren oder ein posthumer Sühneakt für seinen Mord - lassen sich der Stiftungsurkunde nicht entnehmen. 1487 übertrug Mathis mit päpstlicher Erlaubnis die Stiftung von der Elisabethenkirche auf den Sebastiansaltar in der Peterskirche (ebd., Nr. 180, 490ff.). Ein »ungleiches Paar« 297 Güter zu »widmen« - was so formuliert nicht stimmt. 38 In den vergangenen Jahren habe sie ihm aber erlaubt, einige ihrer Liegenschaften, Silbergeschirr, Zinsen, Hausrat und anderes zu verkaufen (jetzt kennen wir die Quelle seiner Rentenanlagen und Schuldbriefe). Damit der »Ehesteuerbrief« keinen Schaden nehme, fährt er fort, könne er seinen Erben aber nur sein zugebrachtes Gut und die besagten dreihundert Gulden Morgengabe vermachen. 39 Die Liegenschaften, die er ihr so großzügig zum Nießbrauch »verwidmete«, hatte sie bezahlt, und grundsätzlich änderte sich nichts an der früher getroffenen Übereinkunft, die da lautet: ihm alles, ihr nichts. Der »Mächtnisbrief« läßt erkennen, daß es um Eberlers Finanzen immer noch desolat stand. Zeitlich befinden wir uns drei Jahre vor dem Prozeß mit seinem »Stiefvater« Dichtler. Ein Jahr nach dem Prozeß (also 1469), über dessen Ausgang die Quellen schweigen, erfolgte dann die dritte Bestätigung ihres »Mächtnisses«. Selbst auf Scheingegenleistungen verzichtete Mathis nunmehr ganz. 40 Das Ende eines »Eheglücks« Bis dato hatte sich Barbara ihrem Mann gegenüber stets »treu«, »behilflich« und »folgsam« gezeigt und den eigenwilligen Regelungen ohne Murren zugestimmt, mit denen er sich Schritt um Schritt auf ihre Kosten bereicherte. Im Dezember des Jahres 1475 entschloß sich Barbara dann aber, Peterhans Stüdlin, ihr Pflegekind, den Sohn von Mathis’ Schwester Agnes, zu ihrem Universalerben einzusetzen. Mit diesem Schritt hatte das friedvolle Mit- oder Nebeneinander ein abruptes Ende. Sie habe, begründet sie ihren Entschluß vor Gericht, Peterhans biß har erzogen vnd by ir gehept, deßhalb er iren glich so lieb, als ob er ir<e> elicher sun were. 41 Auch seine Eltern seien immer sehr nett mit ihr gewesen, ergänzt sie dankbar. Auf Barbaras Begehren mußte Mathis seine eheherrliche Vogteigewalt ablegen. An seiner Statt wählte sie sich Junker Rudolf Schlierbach zum Frauenvogt. Schlierbach hatte zeitweilig auch Mathis’ Schwester Margreth vertreten, nachdem sie sich mit ihrem Bruder überworfen hatte. 42 Das saß! Formell gab Mathis zwar seine Einwilligung. Aber er bestand stur darauf, daß die Erbeinsetzung zugunsten seines Neffen nichts an ihrem »Mächtnis« ändere. Es lag nun aber wirklich nicht an ihm, ihr die Bedingungen einer Erbeinsetzung zu diktieren. In diesem Punkt ist die Haltung des Basler Schöffengerichts eindeutig: Niemand durfte kinderlose Erblasser bei der Formulierung ihres letzten Willens beeinträchtigen. Das Gericht sah sich das erste Mal gezwungen einzuschreiten. Die Gegenpartei wußte sechzehn Jahre später darum, daß die »Zehner« Mathis’ Einspruch (die Erbeinsetzung dürfe nichts an ihrem »Mächtnis« ändern) nicht stattgaben. 43 Aus dem Fertigungstext geht dies nicht hervor: 38 Unter kinderlosen Paaren war das »Widem« eine genauso verbreitete Praxis, wie »Mächtnisbriefe« aufzusetzen. Meist ergänzten sich »Mächtnis« und »Widem«. Das »Widem« räumte den Frauen nach dem Tod ihres Gatten et vice versa das Recht ein, in seinem Haus wohnen zu bleiben; zu den gesellschaftlichen Seiten vgl. Signori: Vorsorgen, Erben, Erinnern (wie Anm. 23), S. 115 - 122; zu den rechtlichen Seiten wiederum Hagemann: Basler Rechtsleben (wie Anm. 1), 176f. und 196f., sowie ders.: Basler Stadtrecht (wie Anm. 31), 247f. 39 Gerichtsarchiv B, Bd. 8a, 135ff. 40 Ebd., Bd. 9, 21a. 41 Ebd., Bd. 10, 29f. 42 Mathis, der gleich nach Barbaras Tod sein eigenes Testament aufsetzte, enterbte Margreth, ja er schloß sie sogar explizit aus seinem Familiengedenken aus (Bd. 13, f. 19 v - 20 r ). Gabriela Signori 298 Er ist weder durchgestrichen noch findet sich im Fertigungskopf irgendein Kommentar. Der Gerichtsentscheid lief Mathis mächtig gegen den Strich. Lauthals beschwerte er sich im Anschluß an die Bestätigung der Erbeinsetzung über den Basler Rat, der habe miner (...) hussfrouwen davorgenant das ir irs eigenen gewaltz und on recht genommen und des entsetzt. Dem Schlichtungsversuch durch Ritter Hermann von Eptingen und Junker Hans Bernhard von Laufen widersetzte er sich. Genauso strikt weigerte er sich, sein Siegel unter den »Richtungsbrief« zu setzen. Er wollte an Siegels Statt auch nicht schwören, sondern konterte trotzig, gezwungen eid sient gott leyd. 44 Der Rat nahm ihn in Gewahrsam, und Eberler mußte am 19. Oktober 1476 zum dritten Mal in seinem Leben Urfehde schwören. 45 Es sollte nicht das letzte Mal sein. Nachdem Peterhans Stüdlin 1490 gestorben war, schritt Mathis dann zu jener Tat, die das Schöffengericht so lange beschäftigten sollte. Kurz nach dem Tod seines Neffen bemühte er sich, allerdings vergeblich, an seine Stelle zu treten. Die Schöffen erklärten Barbaras Erbeinsetzung zu Mathis’ Gunsten für ungültig. Nach Basler Stadtrecht war es nicht erlaubt, seinen Ehepartner zum Universalerben zu wählen. Ferner hatte sich Barbara seit dem Streit um die Erbeinsetzung ihres Pflegekinds in der ganzen Stadt und bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit darüber beklagt, wie schlecht ihr Gatte sie behandle. Verschiedene Ratsherren bemühten sich wiederholt, aber stets erfolglos, den »Hausfrieden« der Eberlers wiederherzustellen. Im Wissen darum, daß das Schöffengericht bei Erbeinsetzungen eines »unbeteiligten« Dritten keinen Einspruch erhöbe, brachte Mathis die alte Frau schließlich dazu, an seiner Stelle den ihr völlig unbekannten Wechsler Kaspar Brand, Mathis’ Mitgesellschafter, zu ihrem Universalerben zu wählen. 46 Barbara war geschwächt: Kurz zuvor hatte sie vermutlich (die Zeugenaussagen sind widersprüchlich) einen Schlaganfall erlitten. Wenige Monate später sollte sie sterben. Mit einer später zugefügten Klausel, zeit seines Lebens die alleinige Verfügungsgewalt über ihren Besitz zu haben, vermied Mathis eine vorzeitige Teilung. 47 Eberler war auch klug genug, mit Kaspar Brand im Vorfeld der Ereignisse schriftlich übereinzukommen, daß er das Erbe nie antrete. 48 Doch von einer solchen Übereinkunft wollte der verantwortliche Notar später natürlich nichts mehr wissen. 49 43 Ulmer contra Brand, f. 2 r : die selben mechnussen, als die do vnder der statt Basel ordnung, satzung vnd gewonheit gemacht warend vff Mathissen Grünenzwygs beger, nit haben wellen zülassen noch bestätigen oder krefftig erkennen, sunder mit Mathissen souil domals mit lutern worten geredt, das er von den dingen ston sölte, denn sollich vermeint mechtnuß vnd furnemen vnzimblich vnd wider der stat ordnung vnd satzung werend vnd derglich was jnen dauon wissend. 44 Eduard Graf und Mathias Dietherr: Deutsche Rechtssprichwörter, Nördlingen 1864, Nr. 106, 549. 45 Urkundenbuch der Stadt Basel, Bd. 8, bearb. durch Rudolf Thommen, Basel 1901, Nr. 524, 410: 19. Oktober 1476. Seine Bürgen waren Junker Hans Bernhard von Laufen, Junker Peter Schönkind, Ulrich zum Luft und sein Vetter Hans Eberler. 46 Zu Brand und seinen wirtschaftlichen Aktivitäten vgl. Johannes Apelbaum: Basler Handelsgesellschaften im 15. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung ihrer Formen (Beiträge zur schweizerischen Wirtschaftskunde. Heft 5), Diss., Basel, Bern 1915, 38; Wackernagel: Geschichte der Stadt Basel (wie Anm. 21), Bd. 2/ 1, Basel 1911, 153. Beide Autoren vermelden, Brand und seine Gesellschaft hätten gegen Ende des 15. Jahrhunderts Konkurs gemacht, wann dies geschehen sein soll, präzisieren sie nicht. Merz: Burgen (wie Anm. 2), Bd. 4, notiert in Stammtafel 6: »1492 wegen Schulden flüchtig.« 47 Gerichtsarchiv B, Bd. 12, f. 221ff. Die Erbmachung dürfe nichts an dem mechnußen mit Mathis ändern und, ob sy in willen komme vnnd dem obgenanten Mathis Grenenzwig, irem gemahel, hinfúr in kufftig zytt ennich witter mechnúß, geschefft, vergabung oder vergönnung irs zyttlichen gu o tts halb furnemmen vffrichten oder thun wurde, wie sich dann das machte, daz sy solich erbmachung ouch Caspar Brannd, ir obgemelter gesetzter erb, (...) daran gantz nutzit irren, verhinderen noch abstellig machen sollen können noch mogen in keinem weg. Ein »ungleiches Paar« 299 Damit der »Übertrag« möglichst reibungslos über die Bühne gehen konnte, stellte Mathis seiner Frau als Vogt kurzerhand seinen Zunftkollegen Ulrich Meltinger zur Seite. 50 Das Ehemänner ihren Frauen die »Vormünder« auswählten, war nicht im Sinne des »Erfinders«: Die Geschlechtsvormundschaft war als Rechtsschutz gedacht, unter anderem auch gegen allzu geldgierige Ehemänner. 51 Dementsprechend sah sich Meltinger vor Gericht genötigt zu erklären, zwar habe ihn Barbara vor dem Gerichtstermin nicht persönlich angesprochen, aber an dem gericht hett si sin zu o einem vogt begert. Die Schöffen ahnten indessen, daß es bei der merkwürdigen Erbeinsetzung nicht mit rechten Dingen zuging. Sie erkundigten sich nachdrücklich, ob es wirklich Barbaras freier Wille sei, den Wechsler Kaspar Brand zu ihrem Erben einzusetzen. Gewöhnlich stellten sie keine Rückfragen. Barbara habe, erklärt Meltinger weiter, darauf geantwortet, es mu o st wol ir will sin. Seinen Pflichten als Frauenvogt entsprechend habe er sich zu ihr umgedreht und ihr vß senfftmu o tigem gemu o t zugesprochen: ›Frow, mu e s des vwer will sin, so welt ich nit vwer vogt sin, es mu o st nit vwer will sin.‹ 52 Barbara habe darauf »gütlich« gelacht und den Gerichtsherren beteuert, daß alles aus freien Stücken geschehe. In ihrer Begründung gibt sie sich emphatisch, was die in den Erbeinsetzungen so häufig verwendete Freundschaftsrhetorik in ein zwiespältiges Licht rückt. In den stehenden Formeln der Basler Fertigungsbücher beschwört sie: wie ir der vermelt Caspar Brannd in solicher lieb vnnd fruntschafft beuollen, ir ouch so manigualtig liebtätt bißher bewisen, hinfur wol tu o n konnde vnnd mochte. 53 Damit stand Mathis’ Plan nichts mehr im Wege, mit Hilfe seines Kollegen Kaspar Brand doch noch an Barbaras Vermögen zu gelangen. 54 Nur daß sich kurz nach ihrem Tod entfernte Verwandte aus Konstanz melden und die Rechtmäßigkeit der Erbeinsetzung bestreiten würden, damit hatte er nicht gerechnet. Den Einspruch erhob Konrad Ulmer, ein Konstanzer Patrizier. 55 Prokuratorisch vertrat er die Interessen seiner Stiefschwester Adelheid Ulmerin, der Frau eines gewissen Hans Sel- 48 Conratt Vlmer zucht an Bechtold Encker, daz er nach der erbmachung einen brieff vffgericht hab, dar inn sich C. Brand gegen Mathißen Gronenzwig verschriben vnnd sich des erbs verzugen hab vnnd was in dauon zewissen sye (Ulmer contra Brand, f. 10 v ). 49 Ebd., f. 11 r . - Auffällig ist jedoch, daß Bechtold Enker in demselben Jahr 1491 den Hof zu Reinach am Nadelberg erwerben konnte und zugleich der Safranzunft beitrat (die Hälfte der Eintrittssumme schenkte man ihm), vgl. Paul Koelner: Die Safranzunft zu Basel, ihre Handwerke und Gewerbe, Basel 1935, 406. 50 Zu Ulrich Meltinger vgl. Apelbaum: Basler Handelsgesellschaften (wie Anm. 46), 43 - 47; Koelner: Schlu e ssel (wie Anm. 17), 166; Dorothee Rippmann: Bauern und Städter: Stadt-Land-Beziehungen im 15. Jahrhundert. Das Beispiel Basel, unter besonderer Berücksichtigung der Nahmarktbeziehungen und der sozialen Verhältnisse im Umland, Basel/ Frankfurt/ M. 1990, 180 - 239. 51 Signori: Vorsorgen, Vererben, Erinnern (wie Anm. 23), S. 67 - 90; Hans-Rudolf Hagemann/ Heide Wunder: Heiraten und Erben: Das Basler Ehegüterrecht und Ehegattenrecht, in: dies. (Hg.): Eine Stadt der Frauen. Studien und Quellen zur Geschichte der Baslerinnen im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit (13. - 17. Jahrhundert), Basel 1995, 150 - 166, hier: 151; Thomas Kuehn: »Cum consensu mundualdi«: Legal Guardianship of Women in Quattrocento Florence, in: Viator 13 (1982), 309 - 333. 52 Ulmer contra Brand, f. 10 r . Die vor Gericht benutzten Formeln bedürften einer eigenen Untersuchung, zur Formel nulla me violencia pati bei Handänderungen von Frauen vgl. Ross Balzaretti: ›These are things that men do, not women‹: the Social Regulation of Female Violence in Langobard Italy, in: Guy Halsall (Hg.): Violence and Society in the Early Medieval West, London 1998, 175 - 192, hier: 180f. 53 Gerichtsarchiv B, Bd. 12, 221. 54 Ulmer und sein Anwalt sprechen von Brand häufig als von einem »Scheinerben«, einmal benutzten sie auch den Begriff »Deckmantel« (Ulmer contra Brand, f. 119 v ). 55 Zum Geschlecht der Ulmer vgl. Peter F. Kramml: Kaiser Friedrich III. und die Reichsstadt Konstanz (1440 - 1493). Die Bodenseemetropole am Ausgang des Mittelalters (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 29), Sigmaringen 1985, 346f., mit Dank an Peter Schuster für den freundlichen Hinweis. Gabriela Signori 300 matters aus dem schweizerischen Turbental. Adelheid war das Kind einer Schwestertochter von Barbaras Mutter, so etwas wie eine »Großcousine«. 56 In Basel selbst hatte Barbara keine leiblichen Verwandten mehr. So also sah sich Kaspar Brand im März 1492 gezwungen, Erbansprüche, aus denen er keinen Profit schlagen konnte, noch vor Gericht verteidigen zu müssen. Der Prozeß »Ulmer contra Brand« Zunächst ging es beiden Seiten, sowohl Ulmer als auch Brand, darum, Voraussetzungen und Begleitumstände der fraglichen Erbeinsetzung zu klären. Beide legten dem Gericht umfangreiche Fragenkataloge vor. Brands Artikel orientieren sich formell am Stadtrecht, Ulmer zielt hingegen auf die außergewöhnlichen Begleiterscheinungen der Erbeinsetzung. Punkt für Punkt gingen die verantwortlichen Gerichtsherren die Kataloge der beiden Parteien durch. Zunächst resümierten sie das geltende Stadtrecht. Sei es der Wunsch einer Person, die weder vatter, mu o tter noch eelicher kinder nit hab, ihre Güter zu »verordnen«, bedürfe dies keiner Zustimmung, weder vom Ehepartner, noch von Verwandten. Niemand habe das Recht, dagegen Einspruch zu erheben. 57 Ferner sei es gebruch vnnd gewonheit, daß über die Rechtsgültigkeit letztwilliger Verfügungen lediglich die geistige Zurechnungsfähigkeit entscheide, nicht körperliche Gebrechlichkeit. Beide Argumente waren gegen Ulmer gemünzt. 58 Aus der Stellungnahme der Gerichtsherren erfahren wir außerdem, daß das Ehepaar Eberler sein »Mächtnis« vierzehn Tage vor der entscheidenden Erbeinsetzung bestätigen ließ. 59 Kurz darauf seien die beiden abermals vor Gericht erschienen, nun aber mit dem Begehren, daz ir <vermachen>, so sy nu vermacht gehept, sinen gutten frunden furer vermachen mocht. Wenn schon nicht er, dann sollten wenigstens seine »guten Freunde«, das heißt seine Verwandten, erhalten, was ihm das Gericht vorenthielt. Mathis Eberler hatte wirklich nichts unversucht gelassen, um an das Geld seiner Frau zu kommen. Junker Leonhard Grieb, der Gerichtsvertreter der Hohen Stube, der über eine fast zwanzigjährige Gerichtserfahrung verfügte, sah sich in diesem Fall außerstande ein Urteil zu fällen, zu ungewöhnlich schien ihm das Anliegen der Eberlers. Er habe es an den Magistrat weitergeleitet. Die beiden seien aber nie vor dem Rat erschienen. 60 56 Ulmer contra Brand, f. 34 r . 57 Ebd., f. 4 r : ob dieselben frund zu o gegen weren vnnd darin reden wolten, das mag der schaffenden person iren willen nit hinderstellig machen. 58 Es ging um Barbaras Schlaganfall, von dem Ulmer auf ihre geistige Unzurechnungsfähigkeit schloß. Der Punkt wurde später noch eingehender diskutiert. Brand meinte (ebd., f. 51 r ), es gäbe in Basel viele, die mit solicher bestimpter kranckheitt beladen sind, die doch den gebruch ir vernunnfft wol haben. Es sye ouch kuntlich, daz iuncker Conratt von Louffen selig die vermelt krankheitt <in> oben dick berurrt, nutzit dester minder <wann> er <wa> einen ratt <die jn> in solichem langzytt hab helffen besitzen/ by/ gutter vernunnfft nutzit dester minder gewesen sye. - Ulmer konterte (f. 58 r ), das mit Konrad von Laufen möge wohl wahr sein, aber das <man> sye hie kein glichnúß, denn junckherr Conratt von Louffen ein man gewesen, da <men> kuntlich vnd wissentlich sye, was eins mans person dulden, wie swach / ouch/ frowenbild <sye> vnnd solich / nit/ eiannder zeueglichen sye. 59 Ebd., f. 5 r . 60 Ebd., f. 6 r : Da sye aber in solichem bedank Mathiß vnnd frow Barbara darumb nit me erschinen noch vmb die vrttel angerufft, sonder die selben/ sachen also ersessen, daz die nit mit vrttel abkennt <syent> noch zu o kent worden syent. Ein »ungleiches Paar« 301 Etwas konkreter gestaltete sich Ulmers Fragenkatalog. Dementsprechend detailfreudig fallen auch die Antworten der Schöffen aus. Acht der zehn bestätigten dem Kläger - was ja selbst Meltinger eingestehen sollte -, nämlich daß Barbara in der Tat geäußert habe, es mu e ß wol min will sin. 61 Dieselben acht stimmten Ulmer auch zu, daß der vbertrag [das heißt die Erbeinsetzung] nit gelesen noch in recht verhortt syent. Alle zehn waren sich einig, daz herr Vlrich Meltinger / die frowen/ nit groblich angefaren, sunder die obgeschriben wortt slechtlich mit ir geredt hab. 62 Bloß einer konnte sich nicht daran erinnern, Mathis’ Begehren, Barbaras Universalerbe zu werden, abgeschlagen zu haben. Zu gerne wüßten wir wer von ihnen, aber Namen werden keine genannt. 63 Die übrigen Gerichtsherren bestätigten dem Kläger, daß sie Eberler damals vor das Gerichtsgebäude gebeten und ihm dort erklärt hätten, daß sein Begehren rechtswidrig sei. Sie hätten ihm auch nahegelegt, daz er guttlich dauon stan wolt, auf das Vermögen seiner Frau zu spekulieren. Mathis aber habe trotzig damit gedroht, die Sache einfach vor ein anderes Gericht zu tragen, da werde man ihm schon recht geben. 64 Etwas kleinlaut räumten die Schöffen ein, die Erbeinsetzung nicht wirklich verhindert zu haben. 65 Ein Urteil zu fällen sei jetzt Aufgabe des künftigen Richters, nicht mehr die ihre. 66 Nach heutigem Ermessen sprechen eigentlich alle »Tatbestände« gegen Brand bzw. gegen Eberler. Das Gericht aber hatte andere Maßstäbe. Wie Kaspar Brands Anwälte orientierten sich die Urteilssprecher einzig an den Formalien der Erbeinsetzung. Ulmer mußte für seine »Sache« schwer kämpfen, und wäre da in letzter Sekunde nicht ein verschollen geglaubtes Testament aufgetaucht, hätte er den Prozeß verloren. Ulmers unermüdlichen Bemühungen, den rechtswidrigen Charakter der Erbeinsetzung zu beweisen, verdanken wir indessen unsere Kenntnisse dessen, was man in der Stadt so alles über den Hausfrieden des prominenten Ehepaars und die spektakuläre Erbeinsetzung der alten Frau erzählte. Eifrig sammelte er die »stadtläufigen« Gerüchte, selbstverständlich nur diejenigen, die seiner Sache dienten. 67 Zu seinem Leidwesen waren die Befragten informell aber ungleich geschwätziger als vor Gericht. So war ihm unter anderem zu Ohren gekommen, Jakob von Brunn und Ulrich Zschupp hätten Brand dereinst klagen gehört, er sei zwar ein Erbe, ziehe aber keinen Profit aus der Sache. Er wolle, er wäre der sach mu e ssig (...) ganngen, er hätte sich nie darauf eingelassen. 68 Vor Gericht konnten sich dann aber weder Brunn noch Zschupp daran erinnern, je solche Worte 61 Ebd., f. 4 v . 62 Ebd., f. 7 v . 63 Die Gerichtsbesetzung von 1492 ist mit derjenigen von 1490 fast identisch: An Stelle von Junker Heinrich Iselin saß nun Junker Ludwig Kilchmann im Gericht und an Stelle von Hans Schorndorf und Hans von Feldkirch Friedrich Hirsinger und Bernhard Zscheckabürlin (die Bestallungslisten befinden sich mehr oder weniger vollständig in den Fertigungsbüchern, Gerichtsarchiv B). 64 Ulmer contra Brand, f. 8 r : so verr sy das nit bestettigen wollten, so welt er das an ein ennd tragen, da solich meynung vssgericht werden solt. 65 Ebd., f. 8 v . 66 Ebd., f. 9 r : ob aber Mathißen vbertrag <v> oder mechnußen krefftig oder vnkrefftig syent, das beuolheln sy dem kunfftigem richter. 67 Claude Gauvard: Rumeur et stéréotypes à la fin du moyen âge, in: La circulation des nouvelles au moyen âge. XXIV e congrès de la S.H.M.E.S. (Avignon, juin 1993) (Collection de l’École Française de Rome 190), Paris 1994, 157 - 177. Gauvards Untersuchungsfeld beschränkt sich indessen auf spektakuläre Fälle von Mord, Kinderschändung, Brunnenvergiftung und ähnliches mehr in Chroniken und Gerichtsakten, vgl. dazu auch Colette Beaune: La rumeur dans le Journal du Bourgeois de Paris, in: ebd., 191 - 204. 68 Ulmer contra Brand, f. 10 v . Gabriela Signori 302 vernommen zu haben. 69 Auch das Gerücht, der Tuchscherer Hans Sutter 70 habe Barbara, kurz nach ihrem Schlaganfall (in der Kirche) nach Hause begleitet, wollte Sutter vor Gericht nicht bestätigen: dauon wisse er ganntz nútzit zu o sagen. 71 Gespielt wird von allen Beteiligten das bekannte Spiel mit Namen »Nichtwissen und Vergessen«. 72 Nachbarinnen, Mägde und andere Satelliten Stadtläufiges Gerede lag dann auch dem Fragenkatalog zugrunde, den Ulmer seinen Hauptzeugen vorlegte. 73 Sie waren sorgsam darauf bedacht, so wenig wie nur möglich von Ulmers Vorlage abzuweichen, nicht mehr preiszugeben, als ohnehin schon bekannt war. 74 Die Zeugenaussagen sind in vier Blöcke geteilt. Zuerst wandte sich Ulmer an Barbaras Nachbarinnen und Freundinnen (hierarchisch gestaffelt). Dann kam das Hausgesinde an die Reihe und später unter anderem die Handwerker, die in Mathis’ Diensten standen oder dereinst gestanden hatten. Die beiden ausführlichen Stellungnahmen des Oberzunftmeisters Thomas Sürlin und des Stadtschreibers und späteren Ratsherren Nikolaus Rüsch runden, ihrer prominenten Stellung entsprechend, das Zeugenprotokoll dann ab. Die vier Blöcke entsprechen den nach Geschlechtszugehörigkeit unterschiedlich gestalteten Lebensräumen und mithin den unterschiedlichen Beziehungsgeflechten, in denen sich das Ehepaar bewegte. Nur Mathis’ »Berufskollegen«, die Basler Wechsler, blieben außen vor. Frauenwelt und Männerwelt erscheinen als zwei weitgehend getrennte Sphären. Je »tiefer« die soziale Position der Zeugen, desto größer erweist sich der Druck, seinem »Brötchengeber« nach dem Munde zu reden. Um so mehr überrascht der Eigensinn, den einzelne Freundinnen und Nachbarinnen an den Tag legten: Zwar konnte oder wollte sich keine von ihnen offen gegen Mathis äußern. Daß in Grünenzweigs 69 Das sollte auch Ludwig Zscheckabürlin gehört haben, der sich aber genauso wenig daran erinnern konnte (ebd., f. 31 r ). 70 Koelner: Schlu e ssel (wie Anm. 17), 123. 71 Ulmer contra Brand, f. 11 v . 72 Silke Göttsch: Zur Konstruktion schichtenspezifischer Wirklichkeit. Strategien und Taktiken ländlicher Unterschichten vor Gericht, in: Brigitta Bönisch-Brednich/ Ralf W. Brednich/ Helge Gerndt (Hg.): Erinnern und Vergessen, Göttingen 1991, 443 - 452, und Katharina Simon-Muscheid: Reden und Schweigen vor Gericht. Klientelverhältnisse und Beziehungsgeflechte im Prozeßverlauf, in: Mark Häberlein (Hg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne, Konstanz 1999, 35 - 52. 73 Die Zeugenliste ist nur teilweise mit den tatsächlich vernommenen Personen identisch (Ulmer contra Brand, f. 1 v ): Diß sind die zúgen so vff die gemelten stuck sagen sind: Junkher Jerg Schönkinds frow/ Ru o dolf Hu o tmachers [alias Notkleger] frow/ die statschriberin in der kleinen stat [die Seilerin]/ der sigrist zü sandt Peter vnd sin frow [Jakob Sonntag]/ die alt Hechingerin vnd jr junckfrow/ die von Sennheim/ die statschriberin [Rüsch]/ die Schachin vnd jr junckfrow/ Margret Seckingerin zü der Kannen/ die Rieherin in dem Imbergeslin/ priester iunkfrow zü sant Peter. 74 Ulmer contra Brand, f. 12 r : Conratt Vlmer zúcht an diß nach geschriben personen, daz inen zewissen sye, daz frow Barbara inen clagt hab, wie der Gronenzwig frow Barbaren, sin hussfrouwen, vnbescheidenlich vnnd vnfrunntlich ze bett vnnd zetisch gehalten hab, vil zytt der jaren nye by ir gelegen, noch in/ ir/ schlaffkammer vil zytt als ein fruntlicher eeman gewont, ouch by anndern frouwen mer denn ein kind vsserthalb der ee gemacht. Jtem daz sy ouch zum dickern mole von frow Barbaren gehörrt habend, daz sy irs gutts zu o billicher notturfft nit gewaltig gewesen sye, vnnd kein gu o tts an im nye gehept, sy verwillige im dann alles das, so er mit ir fúrnemm vnnd vermach im ir gu o tt. Jtem ob frow Barbel mit der kranckheitt des schlags berúrrt, vor vnnd ee die vermeint erbmachung beschee sye, ouch wie krannck vnnd blöd vor vnnd nach, ouch vff die zytt vnnd tag der vermeinten erbmachung gescheen sye. Jtem daz inen zewissen sye, als frow Barbara selig zum dickern mol geredt, was sy getan, das hab sy müßen tün, es sye an dem gericht bescheen oder sunst. Ein »ungleiches Paar« 303 Kreisen jeder mit jedem irgendwie verwandt oder verpflichtet war, hatte seinen Preis. Doch mit kleinen, wohl aussortierten Detailinformationen gelang ihnen, was mit klaren Worten ohnehin weniger wirkungsvoll gewesen wäre: Sie entwerfen das Bild eines kleinlichen, geizigen Ehemannes, der es seiner Frau nicht einmal vergönnte, was im zeitgenössischen Verständnis besonders schwer lastet, gebührend für ihr Seelenheil zu sorgen. Unablässig mit Barbaras Klagen konfrontiert, sahen sie sich allesamt veranlaßt, vor Gericht die Ratschläge auszubreiten, die sie der leidgeprüften Freundin erteilt hatten, Ratschläge, die nebenbei seltenen Einblick in das Rollenverständnis von Oberschichtsfrauen gewähren. En passant erfahren wir auch einiges über die informellen, schriftlosen Kanäle, über die vorbehaltenes »Frauengut« von einer Generation zu nächsten wanderte, über die Unfähigkeit des Gerichts, im »Privatbereich« geschriebenes Recht durchzusetzen und über die strukturellen Schwachstellen obrigkeitlicher Schlichtungspolitik, wenn es um Standesgenossen ging etc. 75 Dorothea, die Witwe des Apothekers und Ratsherren Jakob von Sennheim, berichtete als erste, ihr Mann habe Barbara verschiedentlich bei ihren Erbschaftsproblemen beraten. 76 Mathis habe sich darüber sehr geärgert und einen aberwillen zu o irem eemann empfanngen, ja ihm sogar damit gedroht, ihn zu erstechen, wenn er sich weiterhin in seine Angelegenheiten mische. Die Drohung zeitigte Erfolg: darumb sy dann sytther demselben sich frouw Barbaren noch ir geschefften nit vil angenommen hett. Dorothea erinnerte sich an eine Begebenheit, die etwa zwei Jahre zurücklag, die also um das Jahr 1490 stattgefunden haben muß. Damals sei Barbara zu ihrem, Dorotheas’ Stuhl in der Peterskirche gekommen und habe sich heftig darüber beklagt, wie unfreundlich ihr Mann mit ihr umgehe. 77 Er verbringe die meiste Zeit mit einer anderen Frau in seinem Schlößchen zu Hiltalingen und habe von der auch mehrere Kinder. Barbara habe sich außerdem beklagt, nicht frei über ihre Güter verfügen zu dürfen. Vom Fragenkatalog wich Dorothea nur insofern ab, als sie, an das Mitgefühl der Gerichtsherren appellierend, einschob, Barbara habe wiederholt geäußert, sie wäre froh, endlich sterben zu können, wann sy nu o ir testament vnnd der selen heil zuuor vßrichten mocht. Aber daran hindere sie Mathis. Um ihre finanzielle Lage zu verbessern, habe sie ihr - Listen der Ohnmacht - geraten, doch einfach Gürtel und Schmuck zu veräußern. 78 Von den ande- 75 Vgl. dazu auch Steven Ozment: Die Tochter des Bürgermeisters. Die Rebellion einer jungen Frau im deutschen Mittelalter, Hamburg 1997, passim. 76 Bei der Erhebung der Türkensteuer von 1497 lebte sie noch: Staatsarchiv Basel-Stadt, Fremde Staaten, Deutschland B 6: Türkensteuer, St. Peter, f. 15 v : Die alt von Sennheim 1 gesind, dedit 1 fl. me 1 ß. - Zu den Sennheims vgl. Josef Anton Häfliger: Die Apotheker und Apotheken Basels, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 31 (1932), 281 - 468, hier: 341. Laut Häfliger führte Eberler die Tat 1477 angeblich aus: »Jakob starb eines gewaltsamen Todes. Er wurde aus unbekannten Gründen von Ratsherr Mathis Eberler auf dem oberen Absatz des Totengäßleins erstochen.« Aber das kann nicht stimmen. 1477 war Mathis noch kein Ratsherr, und wenn er Sennheim wirklich ermordet hätte, hätte Dorothea das brisante »Detail« sicher nicht verschwiegen. Auch berichtet Wackernagel nichts über den Vorfall, obwohl er derartige Anekdoten gewöhnlich nicht verschmäht. 77 Staatsarchiv Basel-Stadt, Klosterarchiv, St. Peter, FFF 1, Stuhlbuch 1518, f. 121 r . Ihr Stuhl befand sich in der Liebfrauenkapelle an der Mauer gegenüber der Kanzel. 78 Johannes von Paltz geht in seiner Predigt ›De matrimonio‹, in: Werke, Bd. 2: Supplementum coelifodinae, hg. und bearbeitet von Berndt Harms (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 3), Berlin/ New York 1983, 49f., beträchtlich weiter. Er bescheinigt den mit geizigen Männern bestraften Ehefrauen das Recht, sie zu bestehlen (furari), vorausgesetzt, das Geld sei für gute und vernünftige Zwecke bestimmt. Zu den guten Zwecken zählt er kleine Vergabungen zugunsten des Seelenheils. Gabriela Signori 304 ren Dinge wisse sie nichts, auch nichts davon, daß Mathis seine Frau, um die Erbeinsetzung zu erzwingen, geschlagen oder gestoßen hätte. 79 Unter »Druck« verstanden die Zeugen primär körperliche Gewalt. Daß Mathis ein notorischer »Fremdgänger« war, galt eigentlich als stadtbekannt. Aber außer Elisabeth von Laufen taten Barbaras gutbetuchte Freundinnen meist so, als wüßten sie von nichts. Laut Nikolaus Rüsch, Barbaras Jugendfreund, stellte Mathis seine Eskapaden auch nie in Abrede. 80 Dem Gericht lagen die entsprechenden Beweisstücke schriftlich vor. Eberler hatte seinem »natürlichen« Sohn Mathis, später sollten noch vier weitere »Bastardenkinder« folgen, 1485 beachtliche fünfhundert Gulden vermacht. 81 Aber niemand kam auf die Idee, in den Fertigungsbüchern zu blättern. Der Beweis blieb dem Kläger zu erbringen. Jede der befragten Frauen scheint auf Barbaras Klagen etwas anders reagiert zu haben. Elisabeth von Laufen, genannt Zschachin, wollte ihr geraten haben, sie solle doch in ihrem Interesse endlich davon ablassen, ihren Mann wegen seiner Seitensprünge öffentlich als Meineider zu beschimpfen. 82 Das Ganze bringe ihr nur Kummer, ir sechen ouch, daz vil man hie sind, die iung frouwen haben vnnd danno bu o len. 83 Barbara habe sich bei ihr, Elisabeth, auch darüber beklagt, daß sie nicht frei über das Ihre verfügen dürfe. Sie habe sie aber unverzüglich zurechtgewiesen. Dem sei nicht so. Sie leide keinen Mangel, vnnd solt ein mondtuol einen gulden costen, Mathiß ko e uffte ir den. 84 Was das Testament anbelange, ergänzte Elisabeth, so sei ihr bekannt, daß sich Junker Thomas Sürlin und Stadtschreiber Rüsch der Sache angenommen hätten. Ihr auf jeden Fall habe Barbara nie gesagt, Mathis würde sie daran hindern, ihren letzten Willen zu ordnen. Im Gegenteil: Nach Brands Erbeinsetzung sei Barbara gleich zu ihr geeilt und habe ihr »fröhlich« verkündet: Ich hab Caspar Brannden zu o erben gesetzt. Elisabeth habe scherzend entgegnet, das were gu o tt, sy wollte aber, daz sy sy zu o erben gemacht hett, vnd weren gutter ding gewesen. 85 Sie habe nicht verstanden, wie Barbara auf diese merkwürdige Idee gekommen sei. An diesem Punkt angelangt, wechselte Elisabeth ihre Strategie und begann plötzlich von Dingen zu erzählen, die nicht in Ulmers Fragenkatalog enthalten sind. Die Rede ist von diversen Kleidungsstücken, einem Mantel aus Arraser Wolltuch, einem Unterrock und einem kleinen Gürtel aus Baumwolle, die Barbara ihr für Fürbitten geschenkt haben wollte. 86 Als die alte Frau wenig später erkrankte, zitierte sie ihre Freundin (Elisabeth bestand darauf, daß sie eigentlich Barbaras beste Freundin gewesen sei) ans Krankenbett. Damals wollte sie ihr einen vmbslag sturtz vnd ein vmbwinderlin (Kopfputz und Tüchlein) schenken. 87 Elisabeth verstand sich nicht besonders gut darauf, »Geschichten« zu erzählen. Sie scheint sich in allerlei Belanglosigkeiten zu verlieren. Doch der Eindruck täuscht. Sie habe gezögert, verteidigte sie sich, die Dinge anzunehmen, 79 Ulmer contra Brand, f. 12 v . 80 Ebd., f. 30 r . 81 Gerichtsarchiv B, Bd. 11, 420. 82 Türkensteuer, St. Peter, f. 23 v : Zschach sin swester j gesind dedit 2 ß. Ob damit wohl Heinrich Zschach der Goldschmied im Martinskirchspiel gemeint ist (Schönberg: Finanzverhältnisse [wie Anm. 17], 768)? 83 Ulmer contra Brand f. 13 r . 84 Ebd., f. 13 v . 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd., f. 14 r . Ein »ungleiches Paar« 305 weshalb ihr Barbara - man siezte sich unter Freundinnen offenbar - vorgeworfen habe: Wie sind ir so vngehertz, es ist alles min, ich habs vorbehalten. 88 Darauf habe sie ein ledlin [»Minnekästchen«] 89 in die Stube bringen lassen und ihrer Magd Gredli sodann befohlen, die darin befindlichen fünfzehn Schillinge in kleinen Münzen zu zählen. Elisabeth müsse später damit ihren Dreißigsten frommen vnnd [zu] opffer gan. 90 Fünf Schillinge durfte die Magd behalten. Weitere zwei Gulden habe sie ihr anvertraut, damit gott fúr sy bitten vnnd ir ye zu o zytten ein meß frommen. Danach seien noch zwölf oder vierzehn Pfund im Kästchen gewesen. Was Zahlen bzw. Geld anbelangt, war Elisabeths Gedächtnis exzellent. Sie sei sich unschlüssig gewesen, ob sie das Geld nehmen dürfe, habe erst zugegriffen, als ihre Magd sie dazu ermunterte. Bevor es wieder nach Hause ging, habe Barbara Gredlin noch befohlen, die beiden oben erwähnten Kleidungsstücke mitzunehmen. Elisabeth wußte genau, wieso sie die Handlungsabläufe derart minutiös in ihre Einzelbestandteile zerlegte - im übrigen auch alle anderen Zeuginnen, denen Barbara irgendwelche Gegenstände anvertraut hatte. Sie wollte zeigen, daß alles, was sich am Krankenbett zugetragen hatte, ganz gegen ihren Willen geschah, sie keine Verantwortung trug, nur »Befehle« ausgeführt hatte. Es galt, sich vom Vorwurf der Erbschleicherei, ja gar des Diebstahls frei zu sprechen. Denn, lautet das Ende ihrer umständlich wiedergegebenen Geschichte, als Mathis von dem kleinen »Seelgerät« Wind bekam - wohl über sein eigenes Hauspersonal -, hett er gezúrnet vnnd gesprochenn, diser zúgin iunckfrow hett im das sin vß dem huß getragen. Selbst nach Klärung der Sachlage habe er auf seinem Recht beharrt, Elisabeth holen lassen und sie aufgefordert, ihm die Gegenstände unverzüglich zurückzugeben. Er wolle sie dafür vnbegabt nit laßen. Sie aber habe sich nicht verpflichtet gefühlt, seinem Wunsch nachzukommen, sondern sich sogleich bei ihren Ratsfreunden erkundigt, wie es um ihre Rechte bestellt sei. Die meinten, sy solt im dasselb ding nit wider geben. 91 Anderes wisse sie nicht, ergänzte aber noch schnell, vielleicht als Geste der Versöhnung, Barbara habe wiederholt geäußert, sy go e nnte ir gu o tt nyemand baß dann im [Mathis] vnd sinen frunden. 92 Wie Elisabeth riet auch Nachbarin Enneli, die Witwe des Gewandmannes Alexius Hechinger, 93 der unglücklichen Barbara, sy solt da vmb gottes willen liden, denn solichs besser zedulden were denn noch ein bösers. 94 Es gäbe im Leben Schlimmeres als untreue Ehemänner. Von allem anderen wisse sie nichts. Nur einen Punkt wollte Enneli in ihrem eigenen Interesse genauer erörtert haben: Barbara hatte nämlich auch ihr einen 88 Werner Besch: Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern, Göttingen 1996. 89 Emil Major: Der Basler Hausrat im Zeitalter der Spaetgotik (anhand der schriftlichen Ueberlieferung), in: Basler Jahrbuch 1911, 241 - 315. 90 Zu den Gedenktagen (Leibfall, Siebter und Dreißigster) vgl. Hans Lentze: Begräbnis und Jahrtag im mittelalterlichen Wien, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 67 (1950), 328 - 364. 91 Ulmer contra Brand, f. 14 v . 92 Randglosse: Es hab <denn daz> ir / ouch/ frow Barbara ein ledlin <in vorgenant> mit gold vnnd gelt in gutter zal ein gantz jar behalten vnnd iro das dar nach wider geben hett. 93 Nach dem historischen Grundbuch hatte die Witwe Hechinger 1486 das Haus Mägdeburg am Nadelberg gekauft, das sie 1494 aber wieder verkaufte. Ihr Haus lag zwischen dem Engel und der späteren »Schulmeisterwohnung« des Zeugen Jakob Sonntag, Sigrist von St. Peter (Türkensteuer, f. 15 v - 16 r ). Darauf folgt das Haus der Klara Schönkind, der zweiten Zeugin nach Dorothea von Sennheim: Jorig Schonkind sin husfrow 3 gesind dedit 1 fl. me 3ß (ebd., f. 17 r ). 94 Ulmer contra Brand, f. 14 v . - Johannes von Paltz: ›De matrimonio‹ (wie Anm. 78), 357, flechtet in seine Predigt die Worte einer vetula ein: Frau, wiltu ein guten man han, saltu schnell heim gan. Schweig, leide unde meide, so vertreibestu dem man den kip [sein zänkisches Wesen]. Gabriela Signori 306 Rock und einen Mantel geschickt, den sie Ennelis Tochter, Nonne im elsässischen Frauenkonvent Engelpforte, vermacht haben wollte. 95 Ein beschlagenes gurttelin vnnd ettlich secklin und ein kleines Messer habe sie ihr mit der Auflage zukommen lassen, die Dinge nach ihrem Tod der Tochter des Unterschreibers Klaus Meiger (†1500) zu schenken, Mathis’ Großnichte. Mit dem Diminutiv unterstreicht die Erzählerin nicht nur, wie bescheiden die Gaben eigentlich waren, sondern konstrastiv gleichsam wie kleinlich sich Mathis in diesen Dingen gebar. Wie versprochen, habe sie alles bis zu Barbaras Tod aufbewahrt. Mathis aber habe sich überall beklagt, das sin were im vßgetragen, alle Beteiligten aufgefordert, ihm die Dinge unverzüglich zurückzuerstatten, und gedroht, falls nicht, so wißte er wol, was er tu e n solt. Enneli, die offenbar nicht über derart einflußreiche Fürsprecher verfügte wie Elisabeth von Laufen, kam der Aufforderung unverzüglich nach. Den Rock und ein oserlin 96 habe er ihr wieder zurückgeschickt, nur den Mantel behalten. Schenken konnte sie den aber niemandem mehr, denn derselb rock were voller wurm locher. Danach wandte sich das Gericht an die Mägde, die laut Zeugenaussagen ihrer Dienstherrinnen ja stets bestens über alles auf dem Laufenden waren, Botengänge für sie erledigten und ihnen zuweilen, wenn es den eigenen Interessen entgegenkam, auch praktische Ratschläge erteilen durften. Das Dienstpersonal gab sich sehr vorsichtig und verwies meist auf die Aussagen der Arbeitgeberinnen. Es konnte es sich offenbar noch weniger erlauben, Partei zu ergreifen. Zuerst wurde die Magd der Zschachin, besagte Gredlin, vernommen, und später Enneli, die Magd der Hechingerin. 97 Die Mägde der Grünenzweigs versteiften sich hingegen darauf, von all dem überhaupt nichts zu wissen. Man wollte ja schließlich nicht seine Stelle riskieren. Urseli, die Unterjungfrau, die erst seit einem halben Jahr in Grünenzweigs Haus diente, beteuerte, wie freundlich Mathis seine kranke Frau stets behandelt habe. 98 Auch Adelheid, die Frau des Messerschmieds Kraft Penteler, die vor 23 Jahren, wohl als Mädchen, bei den Eberlers gedient hatte, wußte nichts Nachteiliges zu berichten. Nur Margreth, die älteste Magd des Hauses, die seit zwanzig Jahren bei den Eberlers arbeitete, stellte sich unverhohlen auf die Seite ihres Brötchengebers. 99 Vorsichtig begann sie mit dem Eingeständnis, das Ehepaar habe wie annder eelútt yetz in lieb, dann in vneinikeitt mitteinannder gelept. Dann ging sie zum Angriff über. Barbara sei eine »zornmütige« Frau gewesen, also daz sy irs gelichen nye erkannt hab. In ihrer Unbeherrschtheit habe sie ihren Mann häufig bis aufs 95 Ulmer contra Brand, f. 15 r . - Zu Engelpforte vgl. Hieronymus Wilms: Das älteste Verzeichnis der deutschen Dominikanerinnenklöster (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 24), Leipzig 1929, 47. - Mit ihrem eigenen Testament, in dem sie die Reformkonvente Gnadental, Engelpforte, Iglingen und Luppach bedacht haben wollte, bekam später auch die Hechingerin Probleme. Ihr Sohn Mathis, ein Barfüßerbruder und in dem Sinne gar nicht erbfähig, erhob Einspruch (Klosterarchive, Gnadental, Urkunde Nr. 408: 1501). 96 Laut Schweizerischem Idiotikon, Bd. 1, Frauenfeld 1884, Sp. 549, handelt es sich um ein Schöpfgefäß. 97 Ulmer contra Brand, f. 16 r . 98 Ebd. 99 Ihre Loyalität hatte sich über dhe Jahre bezahlt gemacht. Sie kaufte sich 1475/ 76 für hundert Gulden eine Stadtrente: Harms: Stadthaushalt Basels (wie Anm. 27), 253/ 49ff. - Aus diesen Gründen war es übrigens auch verboten, daß Dienstboten für ihre Dienstherren aussagten (hier war aber nicht Eberler der Angeklagte), vgl. Otto Könnecke: Rechtsgeschichte des Gesindes in West- und Süddeutschland (Arbeiten zum Handels-, Gewerbe- und Landwirtschaftsrecht 12), Marburg 1912, 298f., sowie jüngst Renate Dürr: »Der Dienstbote ist kein Tagelöhner ... « Zum Gesinderecht (16. bis 19. Jahrhundert), in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 115 - 139. Ein »ungleiches Paar« 307 Äußerste gereizt. 100 Selbst den Werkleuten im Haus seien Barbaras anreitzige wortt übel aufgestoßen. Daß Mathis mit seiner Frau nicht Tisch und Bett teilte, stimme so nicht. Die Initiative sei eindeutig von Barbara ausgegangen. Sie habe ihr befohlen, Mathis das Essen in einer anderen Stube aufzutischen. Margreth räumte zwar ein, daß er sich in der Tat seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr im Schlafgemach seiner Frau habe blicken lassen. Das hinge aber damit zusammen - nun schöpfte sie mit vollen Händen aus dem Topf der »Ageismen« -, daz frouw Barbara diß zytt dahar ser getruncken. Das sei ihr aber derart schlecht bekommen, daß sie sich zu o vil molen erbrochen habe. Solichen gestanck Mathiß, als er ir fúrgehalten, nit hett mogen dulden, erklärt sie entschuldigend. Dann kommt es noch dicker: darzu o hett sich frow Barbara nach solichem trincken offt <d> vnnd dick <benetzet> in dem slaff benetzet, also daz Mathiß yezu o zytten hett mússen in dem wasser ligen. 101 Die alte Frau verwandelte sich unversehens in einen inkontinenten Säugling. Zu Mathis unehelichen Kindern meinte Margreth lakonisch, das wüßten ja viele. Was die Erbeinsetzung anbelangt, beteuerte sie inständig, kurz bevor Barbara gestorben sei, noch mit eigenen Ohren gehört zu haben, wie sie zu ihrem Mann gesagt habe: Lieber Mathiß, versorg din sachen nach dem aller besten. Ich gönne das min nyemand baß denn dir vnnd den dinen. Ich hab kein nachen frund. 102 Barbara habe im übrigen nie einen Schlaganfall gehabt. Margreths Zeugenaussage läßt uns erahnen, was Barbara damit meinte, als sie sich bei der Metzgerwitwe Margreth Seckingerin darüber beklagte, nicht nur ihr Mann, sondern auch ihre Mägde behandelten sie schlecht. 103 Doch die Seckingerin war die falsche Adresse. Sie gehörte zu Eberlers Gefolgschaft. 104 Dementsprechend fiel dann auch ihre Zeugenaussage aus. Nur in Klammern: die Metzgerwitwe war 1487 sogar so dreist gewesen, in ihrem Testament Mathis’ Konkubine zu beschenken. Auf Barbaras Klagen, Mathis schliefe nicht mehr bei ihr, wollte Margreth ihr empfohlen haben, sich doch einfach in sein Bett zu legen. Die alte Frau habe ihr darauf entgegnet, Mathiß leg oben, sy mocht die stegen nit vffgan. 105 Mit wenigen, aber gut ausgewählten Zusatzinformationen skizzierte die Seckingerin das zwiespältige Bild einer alten, »lüsternen« Frau, die weiterhin den ehelichen Beischlaf begehrte, obwohl sie nicht einmal mehr fähig war, die Treppen hoch ins Schlafgemach ihres Mannes zu steigen. Margreth Nügger, sie kannte Barbara aus der Zeit als sie noch an den Spalen wohnte, meinte dazu lakonisch, für solche »Dinge« (sprich Sexualität) sei sie zu alt, so solt sich solicher sachen nit mer bekumbern laßen. 106 Gezielt gegen Ulmers Erbansprüche richtete sich dann die Aussage von Elsi, der Magd des Wechslers Hans Bär, der Mann von Anna Eberler zum Agstein, Mathis’ Cou- 100 Ulmer contra Brand, f. 16 v , vgl. dazu weiterhin Fritz Brietzmann: Die böse Frau in der deutschen Literatur des Mittelalters (Palaestra 42), Berlin 1912. 101 Ulmer contra Brand, f. 16 v . 102 Ebd., f. 17 r . 103 Ebd., f. 17 v : daz ir frow Barbara selig zü vil zytten clagt hab, ab Mathißen, deßglichen ab iren iungfrowen. 104 Als Margreth 1487 ihr Testament abfaßte (Gerichtsarchiv B, Bd. 12, f. 25 r - 25 v ), wählte sie sich neben dem Leutpriester ihrer früheren Gemeindekirche St. Alban, Macharius Leoparich, Mathis Eberler zum Testamentsvollstrecker, vgl. weiter unten S. 314. 105 Ulmer contra Brand, f. 17 v . 106 Ebd., f. 19 v . - Zur Vorstellung, daß alte Frauen sexuell nicht mehr aktiv sein sollten vgl. Heather Arden: La vieille femme dans la littérature médiévale: sexualité et narrativité, in: Danielle Buschinger (Hg.): Europäische Literaturen im Mittelalter. Mélanges en l’honneur de Wolfgang Spiewok à l’occasion de son 65ème anniversaire (Wodan 30. 3. Serie: Tagungsbände und Sammelschriften 15), Greifswald 1994, 1 - 8. Gabriela Signori 308 sine. Bevor sie zu den Bärs überwechselte, hatte sie bei den Eberlers gedient. Sie erinnert sich, daß damals, vor etwa dreizehn Jahren, zwei Ulmer aus Konstanz zu Besuch gekommen seien, die sich als Barbaras Verwandte ausgaben. Ihre Herrin sei aber nicht in der Stadt gewesen. Als Mathis Barbara später darüber in Kenntnis gesetzt habe, sei sie aufgebraust, wer sy ingelaßen hett, vnnd wurd zornig vnnd sprech, sy weren bu o ben vnd nit ir frund. 107 Schließlich verhörte das Gericht Mathis’ Satelliten, zuerst den Stadtarzt Werner Wölflin, dann Handwerker, die bei den Eberlers ein und aus gegangen waren. Wölflin versicherte, Mathis habe sich nie ye annders denn einem frommen eeman gebúrtt gegen frow Barbaren bewisen. Sie habe sich zwar über allerlei beklagt, als die frouwen gewon syent, aber er wisse nutzit grundtlich. Im übrigen habe Mathis für die Behandlung seiner Frau keine Kosten gescheut. 108 Ähnlich fielen die Aussagen der Handwerker aus, nur Elsa, die Brotbäckerin zum Schläfer, die früher (vor ungefähr neun Jahren) ein Jahr lang bei den Grünenzweigs gedient hatte, schlug einen etwas anderen Ton an: Auch sie war mit Barbara befreundet gewesen, auch ihr hatte sie dereinst als Vertrauenspfand ihr ledlin in Verwahr geben. 109 Eberlers Zeugenaufgebot ist imposant und gewährt seltenen Einblick in Art und Zusammensetzung spätmittelalterlicher Klientelverhältnisse. Fast alle Befragten arbeiteten schon seit langem für Mathis: Beim Schuhmachermeister Peter Krieg waren es zwanzig Jahre, 110 bei Meister Veit, dem Tischmacher, zwölf; 111 sechzehn Jahre verbuchten der Kürschner Hans Steingruber 112 und der Zimmermannsknecht Hans von Musbach, 113 ebenso viele ein gewisser Konrad Schlosser, der leider nicht präzisiert, welchem Gewerbe er nachging. 114 Dasselbe gilt für Meister Othmar Ziegler, der Mathis seit siebzehn Jahren diente. 115 Während zwölf Jahren hatte auch der berühmte Meister Ruman Fäsch für ihn gearbeitet, gemeint waren die Umbauarbeiten am Engelhof und am Weiherschlößchen zu Hiltalingen. 116 Fäsch ergänzte stolz, er habe während der besagten Zeit insgesamt fünfhundert Gulden verdient. Wie Wölflin bezeugten sie in geschlossener Front Eberlers tadellosen Lebenswandel. Er sei ein gar »frommer«, biderber Ehemann gewesen und habe seiner Frau nie auch nur einen Wunsch abschlagen. Othmar Ziegel etwa untermauerte seine Aussage damit, daß Mathis ihr sechs Badenfahrten, ein von den Basler Oberschichten hoch geschätzter Kurort im Aargau, offeriert und ihr jedes Mal zwanzig Pfund mit auf die Reise gegeben habe. 117 Steingruber insistierte, Bar- 107 Ulmer contra Brand, f. 19 r . 108 Ebd., f. 20 v . - Wölflins Witwe wohnte 1497 im Kirchspiel St. Alban (Türkensteuer, St. Alban, f. 3 r ). Er stammte ursprünglich aus Rotenburg am Neckar (Gerichtsarchiv B, 8a, 82), vgl. Karl Leuthardt: Das Stadtarztamt zu Basel. Seine Entwicklungsgeschichte bis zum Jahr 1529, Diss., Basel, Zürich 1940, 31 - 35. 109 Ulmer contra Brand, f. 25 v . 110 Türkensteuer, St. Martin, f. 11 v : Peter Krieg, Emerich sin tochterman, desselben husfrowen, ein knecht, ein junckfrowen dederunt 17 ß. 111 Ebd., St. Alban, f. 3 r : Veyt der tischmacher selb sechst dedit 5 ß. spricht der knecht er halb [sic] geben. 112 Ebd., St. Peter, f. 10 r : Hans Steingriebler sin husfrowen j gesind dedit 3 ß. 113 Ebd., St. Alban, f. 3 v : Meister Hans von Mu o ßbach selb funfte dedit 5 ß. 114 Auch nicht beim »Verbot« der Güter des Buchdruckers Michel Wenßlers (1491). Hier wird nur präzisiert, daß er den Übernamen Einhorn trug. 115 Nur zwei Dienstjahre wies demgegenüber der Rebknecht Bernhard Lamprecht auf. 116 Hans Eppens: Der Engelhof und seine Bewohner, in: Basler Jahrbuch 1938, 156 - 163; Karl Tschamber: Friedlingen und Hiltelingen. Ein Beitrag zur Geschichte der Oedungen im badischen Lande auf Grund ungedruckter Quellen zusammengestellt, Hüningen 1909, 114. Ein »ungleiches Paar« 309 bara habe in siner gegenwurtikeitt ihren Mann sogar einmal dafür gelobt, daß er ihr immer sehr guten Wein kaufe. 118 Der Schneidermeister Hans von Kandel räumte zwar ein, Barbara habe sich auch bei ihm häufig darüber beklagt, daß Mathis bu e lte und viel Geld verbuwte. Doch vertiefte er den Aspekt nicht weiter, sondern fuhr mit einer Episode fort, die beweisen sollte, daß Mathis keineswegs knauserig war. 119 Peter Krieg behauptete sogar, Mathis hätte sich um die Wünsche seiner Frau mehr gekümmert als um die seinen. 120 Seine Aussage bestätigte der Zimmermannsknecht mit der Bemerkung, was frow Barbaren yezu o gehortt, da hett Mathiß me vliß zu o , denn zu o sinen eignen dingen. 121 Etwas kräftigere Töne schlug nur Hans Murer an. Er erinnerte sich an einen heftigen Ehestreit, bei dem Barbara ihren Gatten mit Schimpfworten bombardierte: vnnder denselben tedingen hett frow Barbara geredt, Mathiß were zu o Hiltalingen by der snu o ren [Hure] 122 , vnnd sy hett im vil gutts [? Kinder] gemacht, vnnd er hielt sy vnfrunntlich, sy wolt gern einem lonen, der im den balg erswung [erschlug]. 123 Murer korrigierte eilends, Barbara hett ouch die selben wortt mit lachendem mund geredt. Zeugen und Gerichtsherren machten jeweils viel Aufhebens um die Frage, ob das Gesagte auch der Mimik entsprach. Gescheiterte Schlichtungsversuche Als letzte Zeugen, die Konrad Ulmer vor Gericht geladen hatte, erschienen Altoberzunftmeister Thomas Sürlin und Stadtschreiber Nikolaus Rüsch. 124 Ulmer stellte für sie einen eigenen Fragenkatalog mit zwölf Artikeln zusammen. Beide reichten dem Gericht ihre Antworten schriftlich ein. Auf die Frage, was es mit dem »Vertrag« und ta e ding zwischen Mathis und Barbara auf sich habe, antworte Sürlin knapp, er wisse von keinen betragen durch mich bescheen. 125 Die Frau habe sich über vieles bei ihm beklagt und ihn gebeten, sich ihrer Sache anzunehmen. Dies habe er gemeinsam mit dem Stadtschreiber auch getan. Auch von der »Erbmachung« und der Verschreibung zwischen Brand und Eberler wisse er nichts. Nach Brands Erbeinsetzung habe ihn Barbara nicht mehr zu Rate gezogen. Rüsch und er seien früher einmal bei den Eberlers zu Hause gewesen, in der Hoffnung, den Streit 117 Ulmer contra Brand, f. 21 v , vgl. Otto Neeracher: Bader und Badewesen in der Stadt Basel und die von Baslern besuchten Badeorte, Diss., Basel 1933, 58f. 118 Ulmer contra Brand, f. 22 r . 119 Ebd., f. 20 r : Er solt ir ein schuben kouffen, daz er Mathißen gesagt, daruff er geredt, er solt ir kouffen, was sy begerte, schuben oder annders; zu Kandel vgl. Koelner: Schlu e ssel (wie Anm. 17), 269, und ders.: Die Kürschner-Zunft zu Basel, Basel 1926, 73 und 75f. 120 Ulmer contra Brand, f. 20 v : aber was er iro ye machen solt, daz das Mathiß allweg geflißner were zeuerschaffen denn im selbs. 121 Ebd., f. 21 r . 122 Vgl. auch Gerichtsarchiv D, Bd. 20, f. 104 v , sowie Renward Brandstetter: Blasphemiae accusatae, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 30 (1886), 399 - 414, hier: 401. 123 Ulmer contra Brand, f. 20 v . 124 Rüsch wohnte 1497 mit seinem sechsköpfigen Haushalt im Kirchspiel St. Peter, in der Nähe der Eberlers (Türkensteuer, St. Peter, f. 17 r ), so auch Sürlin mit einem fünfköpfigen Haushalt (ebd., f. 14 v ). 125 Ulmer contra Brand, f. 28 r . Gabriela Signori 310 zwischen den beiden zu schlichten. Sie hätten Mathis die Klagen seiner Frau vorgetragen und ihn gebeten, er möge sie doch bitte ihr Testament ausrichten lassen, appellierten an sein Ehrgefühl und ermahnten ihn, sie aus Altersgründen doch bitte besser zu behandeln als bisher. 126 Sie hätten ihm auch den Testamentsbrief gezeigt, den der verstorbene Münsterkaplan Nikolaus Blauenstein († vor 1478) 127 für Barbara verfaßt hatte, darzu o sy mit jr eigen handtgeschrifft allerley zu o vnd abgetan vnd vnderschriben hatt. Mathis habe sich entschuldigt und hoch und heilig versprochen, seine Frau an nichts zu hindern. Sie solle aber ein neues Testament verfassen, danach würde er sich mit ihnen in Verbindung setzen. Er, Sürlin sei aber nie benachrichtigt worden, wisse deshalb nicht, welches Ende die Sache genommen habe. 128 Rüsch begann damit, wie eng seine verstorbene Gemahlin Ottilia und Barbara Grünenzweig befreundet gewesen seien. Die beiden hätten sich häufig besucht, hatt vil heimwesens vnd zu o ker zu o wilent miner husfrowen seligen by irem leben gehept. Weinend habe sie ihn wiederholt um Hilfe gebeten, jr hilfflich vnd retlich zesind, jr testament vnd selgeret mo e gen vssrichten, ouch ettlich jr eesturbrieff, vertrag vnd ander brieff mitsampt einer verzeichniße jrs testaments hinder mich geleit. Wie Sürlin wußte auch Rüsch nichts von einer schriftlichen, von ihm aufgesetzten Schlichtung. In clag wise habe er aber öfters gehört, daz eesturbrieff vnd vertrag durch ettlich miner herren der reten botten zwuschen jnen vffgericht, die jedoch weder gehalten noch vollzogen worden seien. Es sei leider wahr, fährt er fort, daß sie nicht einen Pfennig gehabt habe, um eine Messe zu stiften oder Almosen zu verteilen, es sei denn sie hätte Kleider, Kleinodien, Ringe und Schleier verkauft. Von der Sache mit Brand wußte auch Rüsch nichts. Barbara habe ihm früher ihr Testament Artikel um Artikel diktiert. Er habe es lange Zeit bei sich aufbewahrt. Eines Tages sei Mathis aber bei ihm aufgetaucht und habe es mit der Begründung, er wolle es besichtigen vnd daruff witter antwurt geben, von ihm eingefordert. Er habe ihm das Schriftstück ausgehändigt mitsamt der ersten Testamentsfassung von Blauensteins Hand. Was Eberler damit gemacht habe, das wisse er nicht. Aber Mathis müsse die beiden Dokumente noch bei sich haben. 129 So senil, schwach und fremdbestimmt, wie sie die Klagepartei zeichnet, war Barbara wohl nie gewesen. Gegen Ende des Prozesses tauchte nämlich plötzlich ein Testament auf, das die alte Frau gleich nach Brands Erbeinsetzung vor dem bischöflichen Offizial abgelegt hatte. 130 Die Information stammte von Meister Macharius Leoparich, Leutpriester der Gemeindekirche St. Alban, und von Kaplan Heinrich Roßnagel vom Petersstift. 131 Die beiden hatten Barbara damals vor den Offizial begleitetet. Spät, aber noch rechtzeitig, breiteten sie aus, was ihren »Schützling« dazu bewogen hatte, seinen letzten Willen zu ändern. Ihre Aussagen bestätigen abschließend, daß die Erbeinsetzung in der Tat gegen Barbaras Willen erfolgt war. Das unverhofft entdeckte Testament 126 Ebd., f. 28 v : sy ouch mit worten vnnd wercken in bedenck siner eren vnd irs alters fruntlicher denn biß har. 127 Zu seiner Person vgl. die Einleitung in: Des Kaplans Niklaus Gerung genannt Blauenstein Fortsetzung der Flores Temporum, 1417 - 1475 (Basler Chroniken 7), Leipzig 1915, 21 - 37. 128 Ulmer contra Brand, f. 28 r - 29 r . 129 Ebd., f. 29 v - 30 v . 130 Ebd., f. 126 v . 131 Marchal: Statuten (wie Anm. 37), 380. Roßnagel ist einer der wenigen Basler Geistlichen, die testamentarisch wiederholt bedacht werden, etwa vom »Junggesellen« Junker Jakob Waltenheim (Gerichtsarchiv B, Bd. 9, 113: 1469) - damals war er noch Kaplan der Martinskirche - oder von Elsa Schmid von Üttingen (Bd. 12, f. 66 v - 67 r : 1488), inzwischen am Petersstift, und von der alten Krämerwitwe Anna Magstattin (Bd. 13, f. 76 v : 1492). Ein »ungleiches Paar« 311 sollte das Gericht schließlich dazu bewegen, Brands Erbeinsetzung für ungültig zu erklären. 132 Trotzdem zog Eberler die Sache weiter vor das Reichskammergericht, aber erfolglos. 133 Nachspiel und Fazit Nicht als Fazit, sondern als Ausblick auf einen anderen Forschungsgegenstand möchte ich abschließend nochmals näher auf Mathis Eberler zurückkommen. Gerichtshändel und Handgreiflichkeiten schmälerten das gesellschaftliche Ansehen des Wechslers zwar nicht, aber seine Ämterlaufbahn zögerte sich doch merklich hinaus. Seine langjährige »Ämterlosigkeit« kompensierte er mit einer für Basler Verhältnisse ungewöhnlich herrschaftlichen Lebensführung. 1475 ließ er sich vom Maler Martin Koch die Liebfrauenkapelle in der Peterskirche ausmalen. 134 1477 kaufte er sich für siebenhundert Gulden eines der teuersten Steinhäuser der Stadt, den aus drei Liegenschaften zusammengefaßten Engelhof am Nadelberg, 135 den er, wie erwähnt, von Werkmeister Ruman Fäsch modisch umbauen ließ. 136 Wenig später ergatterte er noch das Weiherschlößchen zu Hiltalingen. Auch als Besitzer einer zweibändigen Prachtbibel und als Auftraggeber eines kostbaren Bildteppichs ist Mathis in die Lokalgeschichte eingegangen. 137 Als Motiv wählte er die tugendhaften ›Neun Helden‹. 138 Zu ergänzen wäre die Liste mit seinen großzügigen Kirchenstiftungen, die bei genauer Betrachtung ursprünglich allerdings ausnahmslos von Barbara stammen. Mathis’ Kunstbeflissenheit und religiöser Eifer verhalfen ihm zu posthumen Ruhm, während Barbara, aus deren Vermögen er seine Schätze finanziert hatte, 139 in der Basler Geschichtsschreibung selten erwähnt oder wie bei Hans Eppens einseitig als »ziemlich wunderlich, wenn nicht gar trunksüchtig« disqualifiziert wird. 140 Stereotypen sind offenkundig langlebig. Eppens demonstriert uns zugleich, was die Stereotypenforschung eigentlich mit selektiver Wahrnehmung meint. Doch zurück zu Eberler: Erst 1480, im gesetzteren Alter von rund vierzig Jahren, erlangte er die volle Zunftzugehörigkeit, wie sein Vater bei der Schlüsselzunft. 141 In den 132 Ulmer contra Brand, f. 131 v / 132 r (Urteil). 133 Hagemann: Basler Rechtsleben (wie Anm. 1), 116. 134 Gerichtsarchiv C=Vergichtbücher Bd. 12, f. 141. Im gleichen Jahr versteuerte er 7.100 Gulden. Damals wohnte er noch in der kleinen Stadt: Schönberg: Finanzverhältnisse (wie Anm. 17), 771. 135 Gerichtsarchiv B, Bd. 10, 165. 136 Rudolf Riggenbach: Die Eberlerkapelle und ihre Wandbilder, in: Festschrift zur Einweihung der Kapelle, Basel 1940, 49 - 70. 137 Wien, Österreichische Nationalbibliothek Ms. 2769 und 2770, vgl. Konrad Escher: Die »Deutsche Prachtbibel« der Wiener Nationalbibliothek und ihre Stellung in der Basler Miniaturmalerei des 15. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlung in Wien 26/ 2 (1923), 47 - 96. 138 Historisches Museum Basel, Inventar 1870.740 (1480/ 90). - Anna Rapp Buri: Zahm und wild. Basler und Straßburger Bildteppiche des 15. Jahrhunderts, Mainz 1990, 226, kommentiert enthusiastisch: »Eberler identifizierte sich mit dem fürstlichen Thema der Neun Helden, indem er sich deren hohe Ideale als Träger zeitloser Tugenden zum Vorbild nahm«, vgl. auch Monica Stucky-Schürer: Die Basler »Neun Helden«, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 44 (1987), 23 - 32, und Robert L. Wyss: Die neun Helden. Eine ikonographische Studie, in: ebd., 17 (1957), 73 - 106. 139 Ulmer contra Brand, f. 120 v : Nu o syent als vor ouch gemeldet <nu> Mathißen in krafft des vbertrags nit alles frow Barbaren gu o tt verschafft, sonnder noch vor der erbmachung xij c gulden vorhanden gewesen, denn sy Mathiß von den zweytusent gulden obgemelt viij c gulden an den buw des hofes zum Engel vergabt. 140 Eppens: Engelhof (wie Anm. 116), 159. 141 Koelner: Schlu e ssel (wie Anm. 17), 248f. Gabriela Signori 312 folgenden zwei Jahren bewährte er sich im Vormundschaftsgeschäft, weitere zwei Jahre später bekleidete er das Amt des Zunftmeisters (von 1484 bis 1492). Seit 1487 schmückten Eberlers schilt und helm das Fenster der Zunftstube, direkt neben dem Wappen des bekannten Kaufmanns Ulrich Meltinger. 142 Er hatte es geschafft: 1488 erkor man ihn im Alter von fünfzig Jahren zum Statthalter des Oberzunftmeisters Thomas Sürlin und 1492 schließlich zum Ratsherren der Schlüsselzunft. Damit erreichte Mathis’ Karriere nicht nur ihren Zenit, sondern zugleich auch ihren Endpunkt. Kurz darauf entzog ihm das Gericht seine Ratsherrenwürde. Er war zu weit gegangen, als er laut Urfehdebrief im laufenden Gerichtsverfahren einem Zeugen nach dem Leben trachtete. 143 Ein Jahr vor seinem Tod vermählte sich der inzwischen über Sechzigjährige ein zweites Mal, seinem Streben nach Höherem entsprechend mit Margreth, der Tochter des elsässischen Freiherren Diebold von Gerolseck. Soviel zur bewegten Geschichte eines »ungleichen Paares«, wie sie Moralisten und Literaten der Zeit nicht viel anders schrieben, nur kürzer, kondensierter, lehrhafter, wie wir bei Sebastian Brant gesehen haben. Die inhaltlichen Übereinstimmungen sind frappant. Sie beschränken sich auch nicht auf Motive oder verbreitete Denkschemata, Stereotypen, wenn nicht gar Vorurteile. Vor Gericht agieren die Protagonisten wie auf der Bühne. Sie thematisieren weder Handlungen noch Beweggründe, sondern geben Rollenerwartungen wieder; sie skizzieren keine Individuen, sondern aus der zeitgenössischen Erbauungs- und Unterhaltungsliteratur bekannte Typen: die »friedfertige Frau« oder den frommen, »biederen« Ehegatten, die alte, trunk- und streitsüchtige Vettel oder den knauserigen, tyrannischen Ehegatten, der das »Seelenheil« seiner Gattin mit Füßen tritt. 144 Das Erzählen vor Gericht besteht folglich zu weiten Teilen aus klischeehaften Selbst- und Fremdinszenierungen. Dafür bedarf es nicht unbedingt eines äußeren Zwangs. Nicht alles, was vor dem Richter zur Sprache kommt, ist gleich »Strategie«. Einige erzählen kunstfertig und mit Genuß. Es muß nicht immer die Wahrheit sein. »Neues« indes haben die Zeugen wenig zu berichten, meist handeln sie bereits Bekanntes ab. Wichtiger sind für sie die sekundären Handlungsebenen, (für uns) die »Subtexte« in ihren Darstellungen. Barbaras Freundinnen reden sich den Vorwurf vom Hals, Mathis bestohlen zu haben. Meltinger windet sich aus seinem offenkundigen 142 Historisches Museum Basel, Inventar 1887.195 und 1870.1306; Staatsarchiv Basel-Stadt, Zunftarchive, Schlüsselzunft 12, 147v. 143 Urkundenbuch der Stadt Basel, bearb. durch Rudolf Thommen, Bd. 9, Basel 1905, Nr. 148, 125f. (7. März 1493): Der inhaftierte Eberler bekennt: dz ich nach ostren nechst verschinen durch mittell des erbern meister Heinrichen Sutters, der webern ratzherren, berüfft und nach siner erschinung, als ich inn eynem wasserbad gesessen bin, disz meynung mit im geredt habe: Sichst du Andres, ich hab etwas an dich ze bringen und mit dir ze reden (...) Er appelliert an seine Verschwiegenheit und fährt fort: wie mir eyner inn eynem gerichtshanndell, so ich mit ettlichen geübet, etwas widerdriesz oder miszfallen erzöigt hette, dem wurde er eynen arm oder schenckell abhowen oder abslachen (...) Nach einem Tag Bedenkzeit - es war gegen zwölf Uhr Mittags und Eberler saß schon wieder im Bad - schlug Andres die Bitte aus. Er habe ihn beruhigt, wollan so wöllen wir die ding under den stein, so unferr von mir lag, decken (...), ihn aber aufgefordert, falls er ihn brauche, ihm beizustehen. Andres wiederum erwiderte, er würde ihm schon gehorchen, hätte er nicht Frau und Kind. Eberler mußte Urfehde schwören und fünfhundert Gulden Strafgeld bezahlen. Seine Bürgen waren der Ratsschreiber Klaus Meiger, die Ratsherren Mathis Iselin, Hans Bär und Thomas Zscheckabürlin, der Kaufhausschreiber Peter Hans Wecker, Bernhard Spurin und Hans Oberried (vgl. ebd. Nr. 171, 142). 144 Horst Wenzel (Hg.): Typus und Individualität im Mittelalter (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 4), München 1983. Ein »ungleiches Paar« 313 Pflichtverstoß. Als Frauenvogt wäre es seine Aufgabe gewesen, Barbaras Interessen, auch gegen die Begehrlichkeit ihres Mannes, zu schützen. Die Aussagen der Gerichtsherren, Ratsvertreter und des Stadtschreibers schließlich decken (allerdings mehr unfreiwillig) allerlei Schwachstellen im geltenden »Privatrecht« auf. Sie machen den zum Narren, der für bare Münze hält, was in den Fertigungsbüchern so alles festgehalten ist. Sie gestehen ein, daß Eberler vor ihrem Gericht schadlos eine Reihe von Verträgen aufsetzen konnte, die, obwohl rechtswidrig, in den Gerichtsbüchern nicht einmal durchgestrichen sind. Ihre Schlichtungsversuche scheitern durch die Bank weg. Auch melden sich berechtigte Zweifel an deren Effizienz an, wenn sich der eine Ratsherr mit der Begründung aus der Affäre zieht, Mathis habe ihm nach dem Leben getrachtet, der andere, in diesem Fall der Bürgermeister in Person, seine Pflichten erst gar nicht wahrnimmt, weil er sich nicht mit Mathis anlegen will, und selbst der Stadtschreiber Rüsch, Barbaras Jugendfreund, ihm ohne zu zögern einfach ihr Testament aushändigt. Scharf interveniert der Rat nur, wenn sein eigenes Ansehen Schaden zu nehmen droht. »Versippung«, Patronage und Kreditwesen verhinderten, daß für Barbara Eberler das Recht seinen gewohnten Lauf nahm, das Recht kinderloser Erblasser, frei über ihren Besitz zu verfügen. Zu alledem kommen auf der Ebene der Stereotypen zum Teil ausgesprochene, zum Teil unausgesprochene Konnivenzen, daß Fremdgehen die logische Konsequenz einer »ungleichen Ehe« sei, daß alte Frauen keine sexuellen Wünsche mehr haben sollten, daß es in der Natur der Frau läge, dauernd zu jammern, daß Körper und Geist bei Frauen in einem anderen Abhängigkeitsverhältnis stünden als bei Männern und ähnliches mehr. Der ›Fall Eberler‹ ist in seiner als ungleiches Paar vorbelasteten Konstellation zweifellos eine Ausnahme, aber sicher nicht die handlungsleitende Geldgier des Protagonisten. Grotesk-komische Szenerien füllen die Seiten der Basler Kundschaftsbände, wann immer es zu Erbschaftsstreitigkeiten kommt. Bald steigt eine Magd mit einer Leiter durchs Fenster in die Kammer, wo ihr verschiedener Dienstherr aufgebahrt liegt, reißt ihm Schlafmünze und Hemd vom Leib und verteidigt sich vor Gericht dann lapidar, er hätte ihr die Dinge »verordnet«, das heißt vererbt. 145 Geistliche und Verwandte, wie aus dem »Eulenspiegel« oder Erasmus’ »Colloquia familiaria« geschnitten, belagern Todgeweihte kurz vor der letzten Ölung, um ihnen noch schnell, wahrlich in letzter Sekunde, ihren Willen aufzudrücken bzw. ihre Habe abzutrotzen. 146 Bei all den ergötzlich-sarkastischen Einzelheiten muß man sich mit Nathalie Zemon Davies wirklich fragen, wer hier eigentlich wen beflügelt auf der vermeintlich so »lebensnahen« Bühne der Gerichte. Spätmittelalterliche Schwänke auf ihren »Sitz im Leben« hin zu überprüfen, gehört zu den angestammten Forschungsfeldern der Literaturgeschichte. Nur, aus welchen Gründen auch immer, das Thema Erbschaft hat darin bislang bedauerlicherweise keinen Platz gefunden. Bei Erbschaftsfragen wiederum über die schwankhaften Züge der »Realität« zu sinnieren, dafür bräuchten wir den Platzhalter Mittelalter eigentlich nicht. Unsere Gegenwart liefert genügend Stoff für ihre eigenen Gerichtsdramen. Doch darum ging es mir selbstverständlich nicht. Wichtiger schien es mir, den realitätskonstituierenden Mitteln des Erzählens vor Gericht nachzugehen und auf den zentralen Stel- 145 Gerichtsarchiv D, Bd. 11, f. 1 r - 2 r . 146 Signori: Vorsorgen, Vererben, Erinnern (wie Anm. 23), S. 18 - 22; Simon-Muscheid: Die Dinge (wie Anm. 25), S. 113ff. und 273ff. Gabriela Signori 314 lenwert hinzuweisen, den darin weit verbreitete Denkschemata einnahmen. Über deren »Realitätsgehalt« zu sinnieren, ist widersinnig. Zur Diskussion stehen lediglich ihre kognitiven und kommunikativen Potenzen. Dafür bräuchte es allerdings dringend weiterer Vergleichsmöglichkeiten. So bleibt mir - auf die Gefahr hin, etwas pathetisch zu wirken - nicht viel mehr, als mich dem Diktum Erasmus’ von Rotterdam anzuschließen: »Was ist denn das menschliche Leben schon anderes als ein Schauspiel, in dem die einen vor den anderen in Masken auftreten und ihre Rolle spielen, bis der Regisseur sie von den Brettern abruft? « 147 Sein Blick auf und für Mensch und Gesellschaft seiner Zeit, kompromißlos bissig, aber nie gehässig, scheint mir in vielen Belangen schärfer als manch modernes »kriminologisches« Geschichtswerk, das übersieht, daß Schein und Sein zwei unterschiedliche Sachverhalte darstellen. 147 Erasmus von Rotterdam: Das Lob derTorheit, übers. von Anton J. Gail, Stuttgart 1949, 34. 315 Ralf-Peter Fuchs Gott läßt sich nicht verspotten Zeugen im Parteienkampf vor frühneuzeitlichen Gerichten 1. Es sind nicht zuletzt die anthropologischen Fragen nach den mentalen Eigenheiten des vormodernen Menschen, in denen das Interesse für eine Historische Kriminalforschung begründet liegt. Das Bedürfnis, so nah wie möglich an den Menschen der Vergangenheit heranzukommen, ihn sich möglichst konkret zu vergegenwärtigen, ihn gleichsam zu befragen, hat konsequenterweise zu einer intensiven Beschäftigung mit jenen Quellen geführt, die im kriminalrechtlichen Frage-Antwort-Kontext entstanden sind. Seit dem breiteren Erfolg historischer Arbeiten, die im Windschatten des Inquisitors entstanden sind - man denke nur an das spätmittelalterliche Pyrenäendorf Montaillou oder an den friaulischen Müller Menocchio 1 - ist zunehmend Nutzen aus der Tatsache gezogen worden, daß Protokolle von Kriminaluntersuchungen wichtige Hinweise auf kollektive und individuelle Weltsichten enthalten. 2 Daß neben Inquisitionsakten auch ausgedehntere Zeugenbefragungen aus anderen rechtlichen Kontexten als Nahrung für den »menschenfressenden« Historiker in Betracht zu ziehen sein könnten, liegt nahe, und ist durchaus schon direkt gewittert worden. Bis ins 12. Jahrhundert hinein, teilweise noch weiter zurück, reichen die Fühler französischer Mentalitätshistoriker wie Jean Delumeau, der insbesondere eine groß angelegte Befragung von etwa 100 Personen zwischen 1177 und 1180 analysiert hat, um die Erinnerungsfähigkeit und das Zeitempfinden mittelalterlicher Zeitgenossen zu untersuchen. 3 Anlaß war der Streit der beiden Diözesen Arrezzo und Siena um einige Pfarrgemeinden. 4 Vergleichbar mit solchen Quellen sind Befragungen, die innerhalb von mittelalterlichen Heiligsprechungsverfahren durchgeführt wurden. Arnold Esch gewann mit den protokollierten Aussagen über die Wundertaten der Francesca Romana sozialgeschichtliche Einblicke in die römische Kommune des frühen 14. Jahrhunderts. 5 1 Emmanuel Leroy Ladurie: Montaillou. Village occitain de 1294 à 1324, Paris 1975; Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt/ M. 1983. 2 Zu den bekannteren neueren Beispielen zählen etwa die Arbeiten von Lyndal Roper: »Wille« und »Ehre«. Sexualität, Sprache und Macht in Augsburger Kriminalprozessen, in: Heide Wunder/ Christina Vanja (Hg.): Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt/ M. 1991, 180 - 197. 3 Jean-P. Delumeau: La mémoire des gens d´Arezzo et de Sienne á travers des dépositions de témoins (VIIIe -XIIe s.), in: Temps, memoire, tradition au moyen age. Actes du XIIIe congrès de la Societé des Historiens Medievistes de l´Enseignement Superieur Public, Aix-en-Provence, 4 - 5 Juin 1982, Aix-en- Provence 1983, 43 - 67. 4 Siehe auch die Auswertung des gleichen Zeugenverhörs durch Guy P. Marchal: Memoria, Fama, Mos Maiorum. Vergangenheit in mündlicher Überlieferung im Mittelalter, unter besonderer Berücksichtigung der Zeugenaussagen in Arezzo von 1170/ 80, in: Jürgen Ungern-Sternberg/ Hansjörg Reinau (Hg.): Vergangenheit in mündlicher Überlieferung. Stuttgart 1988, 289 - 320. 5 Arnold Esch: Die Zeugenaussagen im Heiligsprechungsverfahren für S. Francesca Romana als Quelle zur Sozialgeschichte Roms im frühen Quattrocento, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 53 (1973), 93 - 151. Ralf-Peter Fuchs 316 Jacques Paul hat eine im Jahre 1308 in Marseille ihren Anfang nehmende Untersuchung, in der 175 Personen Auskünfte zu 69 Wundern des Louis d´Anjou gaben, untersucht. 6 Wie diese Studien zeigen, eignen sich solche Überlieferungen durchaus für quantitative Ermittlungen, etwa zur unterschiedlichen Zeitwahrnehmung von Männern und Frauen wie von Klerikern und Bauern, 7 zur Einschätzung bestimmter Ereignisse als historisch einschneidend oder auch im Hinblick auf die Selbstcharakterisierung von Generationen. 8 Im Kontext einer solchen historischen Erinnerungsforschung scheint sich, bedingt durch die ausgedehnten, zuweilen farbigen Erzählungen, ein näherer Blick auf einzelne Personen zu eröffnen. So führt uns eine von Guy Marchal näher betrachtete Quelle fünf Zeugen in einem schweizerischen Rechtsstreit aus den 1430er Jahren vor Augen. 9 Die zum Verhör versammelten Männer äußerten sich zu einer ehemaligen Brücke, von deren Bestehen sie selbst nur über Berichte ihrer Vorfahren wußten. Im offensichtlich guten Glauben an die Wahrheit gaben sie Erzählungen über einen Brückenzöllner, das Meisterli genannt, weiter. Während über dessen bloße Existenz wohl kaum Zweifel bestehen können, offenbart die Präsentation der Figur in den Geschichten als eine weise Gestalt, die etwa einem um Rat bittenden Schatzsucher die Erkenntnis vermittelt, daß die wahren Reichtümer im eigenen Hause zu finden sind, einen unverkennbaren Drang zur Stilisierung. 10 Die Überformung der Erinnerung der Zeugen durch verbreitete Erzähltypen, ihre Angleichung an kursierende Erzählstoffe, veranschaulicht, welche Verzerrungen das Gedächtnis produzieren kann. Die Art und Weise der Erinnerung an die Figur des Zolleinnehmers wirft ein Licht auf die Entstehung einer lokalen Legende 11 im Zeitraum von etwa 100 Jahren - und stellt damit einen insbesondere für die mit dem Wilhelm-Tell-Mythos konfrontierte schweizerische Geschichtswissenschaft wichtigen Forschungsgegenstand dar. Über Guy Marchals Untersuchung läßt sich sehr gut nachvollziehen, wie sich das für Zeugenverhöre markante Problem einer Rekonstruierbarkeit von faktischen Sachverhalten mit der Ebene von Wahrnehmungen und Mentalitäten verschränkt. Im Vergleich zu diesen mediävistischen Zugängen, die sich in ein insgesamt gestiegenes Interesse an Formen und Funktionen der mittelalterlichen memoria einfügen, 12 sind Auswertungsversuche von Historikern der Frühen Neuzeit bislang rarer. Aber 6 Jacques Paul: Expression et Perception du Temps d´après l´enquête sur les miracules de Louis d´Anjou, in: Temps, memoire, tradition au moyen age (wie Anm. 3), 19 - 41. 7 Kathrin Tremp-Utz: Gedächtnis und Stand. Die Zeugenaussagen im Prozeß um die Kirche von Hilterfingen (um 1312), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 36 (1986), 157 - 203. 8 Arnold Esch: Ist Oral History im Mittelalter faßbar? Elemente persönlicher und absoluter Zeitrechnung in Zeugenaussagen, in: Ungern-Sternberg/ Reinau (wie Anm. 4), 321 - 324, 322; siehe auch ders.: Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: Historische Zeitschrift 239 (1984), 309 - 351. 9 Guy P. Marchal: Das Meisterli von Emmenbrücke oder: Vom Aussagewert mündlicher Überlieferung. Eine Fallstudie zum Problem Wilhelm Tell, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 34 (1984), 521 - 539. 10 Der Erzählung eines Zeugen nach war das Meisterli auf der Brücke von einem Mann angesprochen worden, der geträumt hatte, er würde auf der Emmenbrücke einen Schatz finden. Das Meisterli habe ihn jedoch einen Narren gescholten und berichtet, er selbst habe von einem Schatz geträumt, der sich zuhaus bei einem Mann aus Schwyz befände. Den Namen des Mannes nennend, habe sich herausgestellt, daß dies der Schatzsucher selbst gewesen sei. In seinem Hause, hinder desselben mannes wielstein, habe sich in der Tat ein Haufen mit Pfennigen befunden. Ebd., 524f. 11 Zur Bedeutung des Zeugenverhörs für die Sagenforschung siehe Klaus Graf: »Sage«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1995, Sp. 1.254 - 1257, Sp. 1255. Gott läßt sich nicht verspotten 317 auch in diesem Bereich sind in der letzten Zeit regionalgeschichtliche Impulse 13 aufgenommen und erste Konzepte entwickelt worden, um die Quellengattung der Zeugenverhöre für die Forschung ertragreich zu machen. Winfried Schulze hat dabei an den aus den Niederlanden stammenden Begriff der »Ego-Dokumente« 14 angeknüpft: In Befragungen zahlreicher Untertanen 15 etwa um Herrschaftsstreitigkeiten lassen sich formelle Bestandteile zur Erfassung von Namen, Alter, Beruf und Herkunft der Zeugen mit Auskünften zur Erinnerungsfähigkeit oder auch mit Meinungen zur Legitimität von Obrigkeit in Verbindung bringen. 16 Diese Quellen bieten die Möglichkeit, nicht nur die persönlichen Daten einer Vielzahl von Menschen zu erfassen, sondern auch, aufgrund recht guter Vergleichsmöglichkeiten, Meinungen einzelner Personen den verbreiteteren gesellschaftlichen Auffassungen gegenüberzustellen. Als wichtiger Ansatzpunkt, sich den Einstellungen der Verhörten zu nähern, erscheint in diesem Kontext der Begriff des »sozialen Wissens«. Dieser ist im Zusammenhang mit dem Versuch, die französische Aufklärungsbewegung in ihrer Breitenwirksamkeit zu konturieren und sich insbesondere den Weltsichten der Unterschichten stärker zuzuwenden, in die historische Diskussion eingeführt worden. 17 Er ist ange- 12 Siehe die Beiträge in: Dieter Geuenich/ Otto G. Oexle (Hg.): Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, Göttingen 1994. Zur Übertragung von Mündlichkeit in Schriftlichkeit zum Zwecke der Absicherung grundherrlicher Rechte im Mittelalter siehe Ludolf Kuchenbuch: Verrechtlichung von Erinnerung im Medium der Schrift (9. Jahrhundert), in: Aleida Assmann/ Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/ M. 1991, 36 - 47. Siehe auch, wenngleich den mittelalterlichen Zeitraum überschreitend: Jacques Le Goff: Histoire et mémoire,Paris 1986; dt. unter dem Titel: Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt/ New York 1992. 13 Siehe etwa Ludwig Schnurrer: Zeugenverhörprotokolle als Quelle zur Kultur-, Landes-, Orts- und Familiengeschichte, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 30 (1989), 57 - 74. 14 Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte, in: Bea Lundt/ H. Reimöller (Hg.): Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages, Köln/ Weimar/ Wien 1992, 427 - 451. Ebenso ders.: Zur Ergiebigkeit von Zeugenbefragungen und Verhören, in Ders. (Hg.): Ego- Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 319 - 325; dort auch weitere Literaturangaben im Hinblick auf Zeugenverhörauswertung im historisch-landeskundlichen Rahmen. Anläßlich der Tagung über Ego-Dokumente vom 4. - 6. Juni 1992 in Bad Homburg wurde der Begriff näher erläutert. Er stammt von dem niederländischen Historiker Jakob Presser, der ihn bereits in den 1950er Jahren verwendete; siehe Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«, ebd., 11 - 30, 14. Vor allem Rudolf Dekker hat sich in den letzten Jahren dem Aufsuchen und Erforschen einschlägiger Quellen für die Niederlande gewidmet, wobei hier autobiographische Texte im Vordergrund stehen. Siehe Rudolf Dekker: Ego-Dokumente in den Niederlanden vom 16. bis zum 17. Jahrhundert, ebd., 33 - 57. Die Interpretationsmöglichkeiten im Hinblick auf speziellere mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen zeigen sich etwa in Rudolf Dekker: Uit de schaduw in´t grote licht. Kinderen in egodocumenten von de Gouden Eeuw tot de Romantiek, Amsterdam 1995. 15 Die Zahl der Zeugen im von Schulze untersuchten Verfahren um die Gerichtshoheit im Amt Trauchau der Herrschaft Hohenschwangau betrug 116. Siehe Schulze: Zur Ergiebigkeit, (wie Anm. 13), 322. Von Schnurrer wurden die Aussagen von 158 Zeugen ausgewertet, Schnurrer: Zeugenverhörprotokolle, (wie Anm. 12). 16 Ähnlich, wenngleich auf einer spätmittelalterlichen Quelle basierend: Helmut Maurer: Bäuerliches Gedächtnis und Landesherrschaft im 15. Jahrhundert. Zu einer oberschwäbischen Kundschaft von 1484, in: Christine Roll (Hg.): Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Fs. f. Horst Rabe, Frankfurt/ M./ Berlin/ Bern/ New York/ Paris/ Wien 1996, 179 - 198. Im untersuchten Protokoll befinden sich die Aussagen von 349 Personen. 17 Hans U. Gumbrecht/ Rolf Reichardt/ Thomas Schleich: Für eine Sozialgeschichte der französischen Aufklärung, in Dies. (Hg.): Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich. 12 Originalbeiträge. Teil 1: Synthese und Theorie. Trägerschichten, München/ Wien 1981, 3 - 51, 38ff. Ralf-Peter Fuchs 318 lehnt an die Wissenssoziologie von Alfred Schütz und Thomas Luckmann, die allerdings eher Bezeichnungen wie »Allgemeinwissen«, »Allerweltswissen« oder »Alltagswissen« 18 verwendet haben. Der individuelle Wissenserwerb wird hier als pragmatischer Vorgang der Aneignung der Welt interpretiert: Es wird davon ausgegangen, daß das Individuum dazu neigt, sich über subjektive Sinnbildungsprozesse einen Vorstellungsrahmen zu schaffen, der ihm nach Möglichkeit ein stetiges Gefühl vermittelt, mit der Außenwelt vertraut zu sein und sich in ihr sicher bewegen zu können. Dieser Vorgang ist geprägt durch ein dialektisches Verhältnis von Individuum und sozialer Umwelt. Nach Schütz/ Luckmann eignet sich der einzelne zum großen Teil neue Wissensinhalte an, die aus dem Erfahrungsschatz anderer resultieren und strukturiert sie in der Regel auf der Basis gesellschaftlicher Kategorien und Wertvorstellungen. Auf der anderen Seite trägt die individuelle Interpretation der Welt auf der Basis von »Alltagswissen« aber auch dazu bei, gesellschaftliche Leitmuster und Strukturen stets aufs neue zu konstruieren. 19 Ein großer Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, daß sich mit ihm die Blickrichtung historischer Fragestellungen verschieben läßt. Bezieht man ihn auf die Quellengattung der Zeugenverhöre, so steht im Mittelpunkt nicht etwa die »objektive Wahrheit« der einen oder anderen Aussage, sondern das sprachliche Agieren der Befragten mit gesellschaftlichen Wissensbeständen, insbesondere Wertmustern. Dabei offenbaren die in Zeugenverhören protokollierten Weltsichten und »natürlichen Einstellungen« jedes Befragten sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Vorstellungen, wenngleich der Grad der gesellschaftlichen Verankerung der wiedergegebenen Wissensinhalte von Fall zu Fall variieren kann. Die Informationsdichte wird im Hinblick auf den Einzelfall nie so intensiv sein wie etwa bei manchen Inquisitionsprotokollen. Aus der Vielzahl der mitgeteilten Informationen ergeben sich jedoch bessere Möglichkeiten, den Wirkungsgrad von mitgeteilten Typisierungen schärfer zu umreißen. Die Suche nach diesen »Typen« sozialen Wissens, nach verbreiteten Glaubensinhalten und ihrer Symbolik, ließe sich an Forschungen zur politischen Kultur innerhalb der frühneuzeitlichen Untertanenschaft, 20 aber auch an andere Forschungsareale wie etwa die Historische Kriminologie anbinden. Die folgende Untersuchung ist eine quellenkritische Vorstudie zur Erfassung sozialen Wissens auf der Basis von Zeugenverhören, durchgeführt im Rahmen eines DFG- Forschungsprojektes. 21 Dabei wird, mit Blick auf Guy Marchals Studie und auf die Wissenssoziologie von Schütz und Luckmann, davon ausgegangen, daß sich Wertvorstellungen, Alltagswissen und konkretes Wissen im Erinnerungsvorgang vermischen. Die- 18 Alfred Schütz/ Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt/ M. 1994, 370. Peter L. Berger/ Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/ M. 1997, 26f. 19 »Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.« Siehe Berger/ Luckmann (1997), 65. 20 Siehe etwa die Kontexterörterungen zum Begriff der politischen Kultur in Helmut Gabel: Kooperation und Widerstand. Studien zur politischen Kultur rheinischer und maasländischer Kleinterritorien (1648 - 1794), Tübingen 1995. 21 Es handelt sich um das Teilprojekt »Soziales Wissen nach RKG-Zeugenverhören« im Rahmen der DFG-Forschergruppe »Zum politisch-sozialen Diskurs und Formen des Wissens im Zeitalter des Humanismus« an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Es soll der Frage nachgegangen werden, welche verbreiteteren Formen des Wissens seit dem späten 15. Jahrhundert vor allem im ländlichen Raum auszumachen sind. Grundlage sollen von »kaiserlichen Kommissaren« durchgeführte Verhöre sein, die über das Reichskammergericht organisiert wurden. Gott läßt sich nicht verspotten 319 se Fähigkeit zur Veränderung, die Dehnbarkeit des Wissens durch die Zeugen soll hier zunächst im Kontext der Befragungssituation beobachtet werden: Zu klären, in welchem Umfang Zeugen überhaupt dazu bereit waren, ihr »Wissen« mitzuteilen, gehört zu den wichtigsten und grundlegenden interpretatorischen Voraussetzungen, die mit solchen Verhören verbunden sind. Die kommunikativen Bedingungen, die zur Abfassung der Aussagen führten, sollen ausgeleuchtet und mögliche Einflüsse, die im Zuge solcher gerichtlicher Maßnahmen wirksam wurden, weitgehend offengelegt werden. Damit sollten zugleich die Schwierigkeiten, aber auch die Möglichkeiten, zum Wissen der Zeugen vorzudringen, deutlich werden. In Anbetracht der Tatsache, daß das Zeugenverhör zum Rechtsalltag gehörte, sollen hier zunächst kleinere, von der Zahl der Zeugen überschaubarere Befragungen im Mittelpunkt stehen. Ausgewählt wurden drei Injurienprozesse aus dem westfälischen Raum, 22 wobei ein besonders hoher, für die Prozeßart typischer emotionaler Gehalt der Streitsache zu bedenken ist, da mit der Verletzung der Ehre eine zentrale Kategorie frühneuzeitlicher Wertvorstellungen und Empfindlichkeiten ins Blickfeld geriet. 23 Anhand der drei Injurienprozesse aus dem Reichskammergerichtsbestand des Staatsarchivs Münster soll exemplarisch aufgezeigt werden, unter welchen rechtlich-organisatorischen Prämissen die Befragungen vonstatten gingen. Verwendet wurden allerdings nicht die am Reichsgericht produzierten Schriften und Urteile, 24 sondern die Akten der jeweiligen Vorinstanzen, die das Procedere vor den lokalen Gerichten überliefern. Das Agieren der Zeugen in einem Geflecht unterschiedlicher Interessenlagen soll nachvollzogen werden; bestimmte Antworten können nur aus diesem Geflecht heraus verständlich werden. Nicht zuletzt das Schweigen bzw. »Nichtwissen« im Hinblick auf bestimmte Vorgänge und Ereignisse sollte sich vor diesem Hintergrund gelegentlich zur Beredtsamkeit entwickeln können. Die Anzahl der Zeugen liegt in allen Fällen unter 20. Die Jahre des jeweiligen Prozeßbeginns sind 1559, 1569 und 1610. Sämtliche Verhöre wurden nach einem im kanonischen Prozeßrecht entwickelten 25 Schema durchgeführt, das bis ins späte 18. Jahrhundert hinein Gültigkeit beanspruchen sollte. Im Vest Recklinghausen dürfte dieses 22 Staatsarchiv Münster, RKG R 190; RKG N 34; RKG K 81. 23 Die Fälle entstammen dem von mir in meiner Dissertation bearbeiteten Quellenfundus. Siehe Ralf-Peter Fuchs: Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525 - 1805). Paderborn 1999. Mehr Informationen zu zwei der hier vorgestellten Verfahren sind auch im Rahmen eines weiteren Aufsatzes von mir zu finden: Ralf-Peter Fuchs: Ehrkämpfe. Injurienprozesse in der Frühen Neuzeit und ihre Interpretationsmöglichkeiten, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 42 (1997), 29 - 50. 24 Die Erörterung der am Reichsgericht produzierten Akten würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß offensichtlich in keinem der Prozesse ein endgültiges Urteil seitens des Reichskammergerichts gefällt wurde. 25 Auf die Entwicklung der im folgenden dargestellten Form des Zeugenverhörs im Rahmen des kirchenrechtlichen Verfahrensgangs weisen nicht nur die eingangs angeführten Beispiele mittelalterlicher Befragungen hin. Siehe weitere ergänzende Hinweise zur kirchlichen inquisitio communis in: Alexander Szentirmai: Die ungarische Diözesankurie im Spätmittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, 48 (1962), 164 - 221, insbes. 209ff. Allgemein zum allmählichen Eindringen des Zeugenbeweises in den Rechtsalltag des 15. Jahrhunderts: Alfons Vogt: Die Anfänge des Inquisitionsprozesses in Frankfurt am Main, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 68 (1951), 234 - 307, insbes. 290ff. sowie bereits für das 14. Jahrhundert: Gertrud Schubart-Fikentscher: Römisches Recht im Brünner Schöffenbuch. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 65 (1947), 86 - 176, insbes. 160ff. Ralf-Peter Fuchs 320 Verfahren zum Prozeßzeitpunkt (1559) noch nicht sehr lange in Übung gewesen sein. Auf eine 1544 ergangene Beschwerdeschrift der Recklinghäuser Stände gegen Gerichtsmißbräuche hin war eine modernisierte Prozeßordung erlassen worden, 26 in dem für dieses Territorium zum ersten Mal das Vorgehen bei Zeugenbefragungen nach den Kriterien des »ius commune« schriftlich genauer dargelegt wurde. Diese neue Prozeßordnung scheint insgesamt einen einschneidenden Wendepunkt für das Vest im Übergang vom deutschrechtlichen zum gemeinrechtlichen Verfahren markiert zu haben. Die Prozeßanlässe der drei Injurienfälle sind schnell skizziert: Vor Bürgermeister und Rat zu Recklinghausen prozessierten die beiden Ackerleute Heinrich Suerlender und Gerhard Rasche genannt Westrum. 27 Suerlender hatte mit Hilfe eines Advokaten einen Brief aufgesetzt, in dem Rasche wegen eines Stück Pachtlandes zu einer jährlichen Getreideabgabe aufgefordert wurde. Rasche, der diese Pachtabgabe als ungerechtfertigt empfand, soll daraufhin Suerlender des Betruges bezichtigt und ihn als Dieb und Schelm beschimpft haben. 28 Ähnlich ging es auch im Prozeß der beiden Ackerleute Peter zum Wellande und Gercken Nagel aus dem ravensbergischen Kirchspiel Werther hauptsächlich um verbale Schmähungen. 29 Bei einem Festmahl waren die beiden wegen einer bereits sechs Jahre zurückliegenden Affäre in heftigen Streit geraten. Nagel hatte seinerzeit unter Verdacht gestanden, zusammen mit seinem Sohn die Bienenzucht seines Gegners ausgeräuchert zu haben. Die damaligen Auseinandersetzungen waren am Abend des Trinkgelages erneut aufgebrochen und hatten offenbar zu wechselseitigen scharfen Worten geführt. Zum Wellande hatte daraufhin am 20. Januar 1569 Klage vor dem Bielefelder Gogericht gegen Nagel eingereicht, da dieser ihn angeblich als einen Schelm und Verreder gescholten hatte. 30 Schließlich beinhaltete auch die vielschichtige Injurienangelegenheit zwischen den beiden Bürgern Gottschalk Knedteisen und Arndt Kannengießer aus dem ostwestfälischen Lügde 31 Vorhaltungen von Eigentumsverletzungen. Kannengießer soll Knedteisen des Zehntdiebstahls 32 und der Entwendung von Brettern eines Nachbarn bezichtigt haben. 33 Noch gravierender war allerdings in diesem Fall, daß Knedteisen zugetragen worden war, Kannengießer habe ihn als Blutschänder bezeichnet und hinzugesetzt, er solle deswegen bekleidet mit einem Schandlaken eine Bußprozession ableisten. 34 2. Im Versuch, nun den Gerichten bei der Beweisaufnahme zu folgen, gilt es zuerst, sich deutlich zu machen, daß die eigentlichen lenkenden Kräfte in solcherlei Verfahren 35 - trotz obrigkeitlicher Mitwirkung in Zeugenverhören - nicht die Richter, Kommissare 26 Wilhelm Mummenhoff: Gerichtsverhältnisse in der Stadt Recklinghausen während des 16. Jahrhunderts, in: Vestische Zeitschrift 25 (1915/ 16), 1 - 58. 27 Staatsarchiv Münster, RKG R 190 (2 Bde.). 28 Die Klage Suerlenders wurde am 2. Juni 1559 eingereicht, siehe ebd., Bd. 2, fol. 35. 29 RKG N 34 (2 Bde.). 30 Ebd., Bd. 2, fol. 3ff. 31 RKG K 81 (2 Bde.). 32 Knedteisen habe Veitt Jutken den zehenden raublich entfuhret. Ebd., Bd. 2, fol. 99. 33 Kannengießer sollte angedeutet haben, es sei dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen,(...) daß Hanß Prosumens kampffschieden in seinen [Knedteisens] kampff kommen. Ebd., fol. 33. 34 Ebd., Bd. 2, fol. 99. Gott läßt sich nicht verspotten 321 oder andere obrigkeitliche Vertreter waren, sondern die Parteien selbst. So boten in der Regel zunächst die Kläger zur Bekräftigung ihrer Beschwerden eine solche Beweisführung an. Sie initiierten als »Produzenten« (Zeugenführer) die Befragungen, indem sie sie formell beantragten und eine Liste von Zeugen vorlegten. Bei ihren Eingaben zur Organisation und Durchführung hatten sie sich, wie man Formelbüchern entnehmen kann, nach einer festgesetzten Terminabfolge 36 zu richten, die der Gegenseite, der Seite des »Produkten«, Gelegenheit verschaffte, sich mit den Namen der Zeugen auseinanderzusetzen und eventuelle Einreden vorzubringen. Von der Beklagtenseite bzw. Produktenseite konnten Beanstandungen im Hinblick auf die Eignung der Zeugen zum Ausdruck gebracht werden. Derartige Einwände konnten sich auf eine Verwandtschaft, enge Freundschaft oder anderweitige Verpflichtungen gegenüber dem Kläger beziehen, sie konnten aber auch auf eine allgemeine Infragestellung der Integrität hinauslaufen. Ein Delikt wie Ehebruch konnte sich hier auswirken, insbesondere ein begangener Meineid sollte Zeugnisunfähigkeit nach sich ziehen. Allgemein sollten - sehr weit gefaßt - »ehrlose« Personen nicht zugelassen werden. 37 Im Zeugenverhör, das Peter zum Welland gegen Gerken Nagel führte, brachte Nagels Anwalt noch am Verhörtag seine vielfältige Skepsis gegen die Personen vor und äußerte gegen das weitere Verfahren in der Beweisaufnahme den Vorbehalt der Ungültigkeit (Nichtigkeit). 38 Genauso verfuhr der Anwalt von Arndt Kannengießer im Verhör zu Lügde. 39 Über diese Einreden hinaus besaß die Partei, gegen die der Zeugenbeweis geführt wurde, Möglichkeiten, das Verhör mitzugestalten: Sie konnte parallel zu den Beweisartikeln des Klägers, zu denen die Zeugen vernommen wurden, eigene Fragstücke einreichen. Die Fragstücke, im lateinischen terminus technicus Interrogatoria 40 genannt, bildeten gemeinsam mit den Artikeln des Produzenten das Verhör. Dabei war vorgesehen, daß der Richter bis zur Durchführung der Untersuchung den Fragebogen des Beklagten in heimliche Verwahrung nahm, um dem Kläger keine Gelegenheit zur Instruktion der Zeugen zu geben. 41 Dem Beklagten, dem die Artikel des Klägers zur Gestaltung und Abfassung seiner Interrogatoria dagegen mitgeteilt worden waren, kam damit ein 35 Nicht eingeschlossen in die Untersuchung sind Zeugenaussagen in amtlichen Inquisitionsverfahren, für die besondere Kriterien der Dechiffrierung angelegt werden müßten. Ansätze dafür bieten die Untersuchungen von Claudia Ulbrich: Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego- Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Schulze (1996): »Ego-Dokumente«, (wie Anm. 13), 207 - 226, insbes. 218ff. und, auf den Templerprozeß zu Beginn des 14. Jahrhunderts Bezug nehmend: Anne Gilmour-Bryson: Sodomy and the Knights Templar, in: Journal of the History of Sexuality 7 (1996), 151 - 183, insbes. 166ff. 36 Im Prozeßformularbuch des Abraham Sawr wurden für die Organisation und Durchführung eines Zeugenverhörs der 11., 12. und 13. Termin festgelegt. Siehe Abraham Sawr: Teutscher Prozeß, auch Gründtliche und rechte Underweysung Weltliches Bürgerliches Rechtens, mit allen nottürftigen Formen der Klagen, Antworten und aller anderer fürträge, von der Citation an biß auf die Execution (...), Frankfurt/ M 1595. 37 Ebd., 42. 38 Staatsarchiv Münster, RKG R 190, Bd. 2, fol. 7. 39 Staatsarchiv Münster, RKG K 81, Bd. 2, fol. 579. 40 Diese immer einer Partei zuzuordnenden Interrogatoria scheinen sich von anderen offensichtlich zu unterscheiden, die im Strafprozeß ex officio eingebracht wurden. Zu solchen Quellen siehe die Ausführungen von Wolfgang Behringer: Gegenreformation als Generationenkonflikt oder: Verhörsprotokolle und andere admisistrative Quellen zur Mentalitätsgeschichte, in: Schulze 1996: »Ego-Dokumente«, (wie Anm. 13), 275 - 293, insbes. 278ff. Jedoch konnte auch im fiskalischen Strafverfahren die Befragung in zwei Teile, Beweisartikel und Interrogatoria, zerfallen, wobei sich hier Fiskal und Beklagte als Parteien gegenüberstanden. Ralf-Peter Fuchs 322 gewisser Vorteil zu. Er besaß de facto mehr Informationen als sein Gegner und hatte gewissermaßen das letzte Wort als Fragesteller. Immerhin hatte aber der Zeugenführer die Auswahl der Zeugen getroffen und befand sich in der angreifenden Position. Mit den Fragstücken des Beklagten wurden die Aussagen des Klägers damit noch einmal einer Nagelprobe unterzogen. Darüber hinaus stand diesem schließlich frei, noch ein eigenes Verhör mit der Benennung von Zeugen zu produzieren, gegen das sein Gegenpart wiederum Interrogatoria einreichen konnte. Von dieser Möglichkeit machte etwa Gerken Nagel am 13. Februar 1570 Gebrauch. Die Zeugen wurden gerichtlich zitiert, d.h. ihnen wurde ein Ladungsbrief (Zitation) zugestellt. Ihre Pflicht, zum angegebenen Termin zu erscheinen, resultierte also aus einem obrigkeitlichen Befehl. Zeit und Ort des Verhörs wurden in der Zitation bekannt gegeben, wobei in der Regel zu früher Stunde zitiert wurde und der Ort gemeinhin die übliche Tagungsstätte des Gerichtes war. 42 Aus der Erscheinungspflicht als Untertan folgte, daß materielle Entschädigungsansprüche nur in Ausnahmefällen gestellt werden konnten. Für Zeugen, die weite Anreisen auf sich zu nehmen hatten, war zuweilen vorgesehen, den Zeugenführer in die Pflicht für Unterhalts- und Reisekosten zu nehmen. In den hier untersuchten Fällen gibt es dafür jedoch keine Hinweise. In den Prozeßakten werden die Vorbereitungen des Verhöres nach der Ankunft der Zeugen nicht sehr genau beschrieben. Immerhin wurden aber die Namen der anwesenden Vertreter der Obrigkeit festgehalten, so daß man sich eine Vorstellung davon machen kann, wie solche Befragungsgremien aussahen: Im Recklinghäuser Verhör von 1559 waren es neben dem für die Durchführung kommissarisch beauftragten Vorsteher Johann von Defft die beiden Bürgermeister und zwei weitere Ratsmitglieder der Stadt. 43 In der Verhandlung vor dem Bielefelder Gogericht saßen 1569 der Befragung neben dem Leiter Johann von Hatzfeld sechs Schöffen vor. 44 Zu Lügde waren es im März 1615 anläßlich eines separaten Verhörs mit der Interrogatoria des Beklagten Arndt Kannengießer, neben dem kommissarischen Richter Barthold Bole der Bürgermeister der Stadt, Heinrich Stapperfenne, und zwei weitere Ratsmitglieder. 45 Zu all diesen Personen ist noch ein Schreiber, der das Protokoll zu führen und abschließend zu unterzeichnen hatte, hinzuzuzählen. Ob die Parteien oder ihre Anwälte ebenfalls direkt beim Verhör anwesend waren, bleibt offen. Allgemein war dies nach den Beweisführungsregeln des »ius commune« durchaus prinzipiell erwünscht; hier bestanden aber zahlreiche Ausnahmekriterien. 46 Nachdem die Zeugen in der Gerichtsstätte versammelt waren und ihre Anwesenheit festgestellt worden war, trat zunächst die Partei des »Produzenten« in Aktion, indem die Beweisartikel verkündet wurden, was über einen damit betrauten Redner ge s chah. 47 41 Von denselbigen Fragstücken sol man keine Copey geben/ dem/ der die Zeugen führet/ auff daß er dadurch die Zeugen nit verwenden/ unterrichten oder unterweisen möcht/ was ihm dienlich zu sagen/ oder zu verschweigen were. Sie sollen auch dem Richter (oder im fall dem Commissarien) heimlich gegeben werden. Sawr (1595): Teutscher Prozeß (wie Anm. 36), 40. 42 Im Prozeß Zum Wellande ./ . Nagel wurde für den 13. Februar 1570 eines der Verhöre zu froher tagzeit auf dem gerichthauß binnen Bilveldt anberaumt. Staatsarchiv Münster, RKG N 34, Bd. 2, fol. 39. 43 Staatsarchiv Münster, RKG R 190, Bd. 2, fol. 130. 44 Staatsarchiv Münster, RKG N 34, Bd. 2, fol. 7. 45 Staatsarchiv Münster, RKG K 81, Bd. 2, fol. 46 Siehe J. Ph. Lévy: La hiérarchie des preuves dans le droit savant du moyen-age depuis la Renaissance du Droit Romain jusqu´ à la fin du XIVe siècle, Paris 1939, 71. 47 Staatsarchiv Münster, RKG N 34, Bd. 2, fol. 7. Gott läßt sich nicht verspotten 323 Der Gegenanwalt hatte daraufhin die Kopien der Interrogatoria einzureichen und seine Einreden vorzubringen. 48 Vor dem Bielefelder Gogericht tauschten die Parteien gegenseitig ihre Schriftstücke aus. Anschließend rief der Anwalt des Gerken Nagel, gegen den produziert wurde, zur Beeidigung der Zeugen und unter Bezugnahme auf die Fürstliche Ordnung zur Befragung auf die Gemeinen Fragstücke auf. 49 Die Beeidigung vollzog sich, indem den Zeugen zunächst eine Eidesformel vorgelesen wurde. In Gegenwart der Parteien hatten diese im Anschluß den Schwur, die Wahrheit zu berichten, zu leisten. Männer hatten mit erhobenen Schwurfingern zu schwören, Frauen die Finger auf die linke Brust zu legen. 50 Der Wortlaut der Formeln ist aus den Akten nicht zu entnehmen. Zieht man wiederum ersatzweise Formelbücher hinzu, so läßt sich rekonstruieren, daß die Wahrheitsbekundung mit dem gebräuchlichen Zusatz das schwere ich/ als mir Gott helffe 51 abgeleistet wurde. Weiterhin dürften die Zeugen darauf hingewiesen worden sein, daß sie sich vor dem Jüngsten Gericht wegen ihrer Aussagen zu verantworten hatten. Eine Ermahnung im Hinblick auf die Schwere des Meineidvergehens konnte sich daran anschließen. Eine im Recklinghäuser Prozeß angewandte Formel beinhaltete die Kennzeichnung des Meineids als Verbrechen gegen zum ersten, Gott dem Allmechtigenn, wilchem alle dinge, wie hemmlich die auch sein, gleich fur augen stehen (...), zum andern dem richter, dem er mit seiner unwairheit falscher gezeugnissen bewegt und das er ein unrecht urthell spricht verursaicht, zum dritten der parthei, dawidder er zeugt und khundtschafft gibt, dwilche er in hoichschwerlichenn verderblichenn schadenn und irer sachenn verlusth ubelthaittiglich fueret und zu unrecht verthammenn thut. 52 Dieser Hinweis auf den Meineid als dreifaches Verbrechen wie auch etwa die weitere Ermahnung, daß man unter Gottes Zorn nimmer selig werden könne und die falscheit darnach gespurdt und ann denn tagh kommen wurde, konnte aber auch direkt den Gemeinen Fragstücken in der Vernehmung vorangestellt werden. 53 Diese Gemeinen Fragstücke , die den sich auf die Sache beziehenden Spezial-Fragstükken vorausgeschickt wurden, waren, wie bereits die Bezeichnung zum Ausdruck bringt, normalerweise Bestandteil der Interrogatoria. Daß man einer Prozeßpartei die Fragen zu Namen, Alter, Herkunft etc. der Zeugen in die Hand gab, mag befremdlich erscheinen. Auf der anderen Seite kann man sich diese Tatsache daraus erklären, daß sie zusammengenommen grundsätzlich auf die genauere Erkundung der Beschaffenheit und damit Tauglichkeit der Zeugen abzielten, was vorrangig im Interesse der Partei lag, gegen die der Zeugenbeweis geführt werden sollte. Eingeschlossen waren nämlich gemeinhin Fragen zu Status und Lebenswandel, zur Absprache der Zeugen untereinander sowie zum Verhältnis zu den Parteien, d.h. zu Gunst, anderweitiger Verbundenheit zum »Produzenten« wie auch zu Neid, Haß, Mißgunst zu dessen Gegenpart. Dieser und sein Anwalt konnten sich im Konzept an Formelbücher anlehnen, in denen Beispiele für Gemeine Fragstücke aufgeführt waren. Sie konnten aber auch, sofern man sie gewähren ließ, die hier vorgezeichneten Grundlinien überschreiten und bereits hier versuchen, Druck auszuüben. So ließ Arndt Kannengießer aus Lügde sämtliche Zeugen im einzelnen dazu befragen, ob sie oder einer ihrer Mitzeugen jemals wegen Gewalttätig- 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd., fol. 42. 51 Sawr (1595): Teutscher Prozeß (wie Anm. 36), 38. 52 Staatsarchiv Münster, RKG R 190, Bd. 2, fol. 23f. 53 Staatsarchiv Münster, RKG N 34, Bd. 2, fol. 42. Ralf-Peter Fuchs 324 keiten, Schmähworten, Schmachgedichten, Betrügereien, 54 Hurerei, Ehebruch 55 etc. angeklagt oder bestraft worden seien. Mit der Frage nach der Versetzung von Marksteinen und dem Abhauen von Grenzbäumen spielte er auf konkrete zurückliegende Ereignisse im Zusammenhang mit einem Brand an, die er mit bestimmten Zeugen in Verbindung brachte. 56 Es zeigt sich hierbei, daß die offiziellen Gerichtspersonen sich - obwohl sie die Fragstücke auch reduzieren konnten 57 - unter Umständen völlig zurückhielten, um den Parteien das Feld zu überlassen. Im Recklinghäuser Injurienfall traten die Vertreter der Obrigkeit dagegen mit eigenen General Fragstücken, die sich amtpßhalber zu fragen 58 gebührten, in Erscheinung. Hiermit wurde aber ausdrücklich kompensiert, daß von der Seite des Beklagten überhaupt keine Interrogatoria eingelegt worden waren. 59 Die Gesprächssituation läßt sich auf der Basis der Akten nur ausschnitthaft nachzeichnen. Man kann aber davon ausgehen, daß die Zeugen jeweils einzeln verhört wurden, da sie abschließend zu absolutem Stillschweigen verpflichtet wurden. Die Fragen mußten von obrigkeitlicher Seite an sie gerichtet, d.h. von einem Mitglied des Verhörgremiums verlesen werden. Aus der Aussage der Dienstmagd Trineke Brugkmanns im Verhör gegen Arndt Kannengießer kann man die Information beziehen, daß man sich dabei gegenüber saß und die Antworten nicht etwa im Stehen abgegeben wurden: Die Zeugin brachte zum Ausdruck, sie habe Kannengießers Injurien gegen Gottschalk Knedteisen wohl vernommen, denn sie habe bei ihm so nahe geseßen, alß sie itzo gegen dem richter uber sitze. 60 Sicherlich trug bereits die Durchführung der Befragung durch obrigkeitliche Personen dazu bei, den Zeugen den Ernst der Situation zu verdeutlichen. Das Kannengießersche Verhör kam im Grunde einem Bombardement von Fangfragen gleich, konfrontierte einzelne Zeugen mit Verdächtigungen und beinhaltete insgesamt mit zahlreichen Unterpunkten 172 Fragen, bei denen eine enervierende oder auch Widerwillen hervorrufende Wirkung nicht ausbleiben konnte. Ein solches Verhör ließ sich nur abhalten, indem obrigkeitliche Autorität stets präsent blieb. Daß die Zeugen andererseits über die Regeln des Frage-Antwort-Spiels Bescheid wußten und ihnen bekannt war, von wem die Fragen eigentlich stammten, ist dennoch anzunehmen, auch wenn deren juristische Bildung und Erfahrung in rechtlichen Dingen sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Bereits über die formelle Zweiteilung des Verhörs müßte ihnen dies deutlich ge- 54 Fragstück 3: Ob zeuge oder seiner mitzeugen einer gewalttthetligkeit, schmachwortt oder eines schmahgedichts halber jemahls beclagt und daruber in straffe und bruche genommen sey, zu was zeitt und wie offt. - Fragstück 4: Ob zeuge oder seiner mitzeugen einer sich falscher ungeeichter gewichte, ellen maaß gebraucht, bose verfalschete wahren vorkaufft habe, deßhalben beruchtigt oder gestraffet sey, wer, wo und wie offte. Staatsarchiv Münster, RKG K 81, Bd. 2, fol. 580. 55 Fragstück 9: Ob zeuge oder sein mitzeuge horerey, ehebruchs, diebstals, meinaidts, todtschlags oder sonst einer andern straffbaren handlunge in seinem gewißen sich schuldig wiße oder dero beruchtigt oder auch daruber gestraffet sey. Ebd., fol. 581. 56 Fragstück 5: Ob zeuge oder seiner mitzeugen einer deßwegen beruchtigt, das er ander leute gemercke und zeichen vergefelleten baumen außgehouwen andern zur ungebuhr abgepfluget oder auch zehenden endfuhret und wehr sollicher unter der zeugen sey. Ebd., fol. 580. 57 Der Richter soll auch die Fragstück durch sich selbst/ oder seine Beysitzer/ besichtigen und straffen/ also/ daß er die uberflüssigen abschneide/ oder so mangel daran were, daß er denselben erfülle. Sawr (1595): Teutscher Prozeß (wie Anm. 36), 40. 58 Staatsarchiv Münster, RKG R 190, Bd. 2, fol. 130. 59 (...) dweill vonn gegentheill kheine sonderlinge noch gemeine fraigstuck examiniert (...), ebd. 60 Staatsarchiv Münster, RKG K 81, Bd. 2, fol. 637. Gott läßt sich nicht verspotten 325 worden sein. Den Beweisartikeln des »Produzenten«, Behauptungen, die mit bekräftigenden Formeln wie Wahr, daß (...) oder Wahr seyn, daß (...) eingeleitet wurden, folgten die als Fragen formulierten Sätze der Gegenseite. Der Lügder Bürgermeister Henricus Seyler äußerte zudem offen Kritik an einzelnen Fragstücken, bezeichnete sie als captios und nicht zur Sache gehörig. 61 Die im Namen Kannengießers an das Verhörgremium zuvor gerichtete Bitte, mit Fleiß nachzufragen und, da der eine oder ander sich in wortter oder geberden bei seiner außage argwonig und verdechtig animoß oder frech bezeige, oder wechssel wort fuhren wurde, sollichs seiner deposition alle mahl unnachleßig beizuzeichnen, 62 läßt darüber hinaus ebenso erkennen, daß die Parteien selbst davon ausgingen, daß man sie als Fragesteller im Verhör wiedererkannte. Zur Vervollständigung dieses Überblicks über die technischen Abläufe ist schließlich noch kurz auf die Schreiber einzugehen. Daß sich die schriftliche Wiedergabe des Gesprochenen während des Verhörs nur über die Herstellung einer Konzeptschrift erstellen ließ, die erst danach ins Reine übertragen wurde, ist schon vom Umfang einiger Teilaussagen her zu vermuten. Sicherlich hatten aber die Ausformulierungen während der Verhöre zu erfolgen. Angesichts einer Vielzahl von komplizierten, teilweise aufeinander aufbauenden und in sich untergliederten Fragstücken wie etwa im Fall Kannengießer, der einige seiner Specialia-Interrogatoria nur an bestimmte Zeugen richten ließ und wieder andere auf bestimmte Beweisartikel bezog, dürften nachmalige Überarbeitungen in größerem Umfang, ohne in Verwirrung zu geraten, kaum möglich gewesen sein. Zum quellenkritischen Problem, inwieweit die Niederschriften dem Wortlaut der Antworten wirklich entsprachen, kommt hinzu, daß sämtliche Verhöre stark formalisierte Passagen enthalten. Vor allem Nescit, Negat, Affirmat und andere lateinische Begriffe stellten vom Wortlaut abstrahierende Straffungen dar. Zuweilen wurden mit diesen Formeln mehrere Antworten in einem Schwung protokolliert. Daneben befinden sich in den Abschriften auch längere Textabschnitte, die, obwohl immer in indirekter Rede formuliert, den geäußerten Worten bereits von daher sehr weitgehend entsprechen dürften, als sie - was vor allem für die Nacherzählung von Verbalstreitigkeiten gilt - zahlreiche niederdeutsche Elemente enthalten. Bei diesen handelt es sich zumeist um jene Antworten, auf die es zur Klärung der Sache besonders ankam. Daß in diesen Punkten von Seiten der Verhörführung Einfluß auf die Protokollanten genommen worden war, möglichst genau mitzuschreiben, dürfte von daher vorauszusetzen sein. Ein weiteres Indiz dafür, daß durchaus viele Worte direkt zu Papier gebracht wurden, kann man darin erblicken, daß für den zehnten Zeugen im Verhör zu Lügde, Bürgermeister Henricus Seyler, fast ausschließlich mit Juristenlatein durchsetzte Aussagen festgehalten wurden. Dieser auffällige Kontrast zu den anderen Personen wird darauf zurückzuführen sein, daß der bereits im jungen Alter zur Würde eines Bürgermeisters gelangte Seyler de facto ein solches Sprachverhalten an den Tag legte. 3. Aus dem streitbaren Kontext, der in die Struktur der Verhöre einfloß, folgt, daß es keine angenehme Aufgabe war, als Zeuge auszusagen. 63 Auch wenn man dem Zeugenfüh- 61 Ebd., fol. 689. 62 Ebd., fol. 578. Ralf-Peter Fuchs 326 rer sehr gewogen war und ihn unterstützen wollte, hatte man sich doch auf unangenehme Fragen des Gegners einzurichten. Nicht immer waren ausgeprägte Kampfinterrogatoria wie im Fall Kannengießer zu erwarten. Es entsprach aber immerhin dem Sinn und Zweck der Fragstücke, Widersprüchliches aufzudecken und Ungenauigkeiten oder mehr zu entlarven. Im Anschluß an die Kundschaften für den »Produzenten« hatte man auf der Hut zu sein, daß man nicht etwaigen Überrumpelungstaktiken auf den Leim ging und letztendlich als Falschaussager dastand. Eine der wichtigsten Waffen des »Produkten« bildete vor diesem Hintergrund die mahnende Erinnerung an den geleisteten Eid. Der Schwur vor Gott band die Zeugen und engte ihre Handlungsmöglichkeiten ein. Daneben produzierte er Angst. Selbst wenn man nicht unbedingt Delumeau folgen mag, der den Eid als festes Element einer psychotischen Angstkultur des Spätmittelalters und des 16./ 17. Jahrhunderts kennzeichnet, 64 ist festzuhalten, daß neben der Furcht vor hohen weltlichen Strafen eine metaphysische Seite der Folgen des Meineids in den Köpfen präsent war. Auf die Frage Kannengießers, ob auch zeuge oder zeuginne wiße, waß ein aidt sey und was fur zeittliche und ewige straffen ein meinaidiger mensche von Gott und hoher obrigkeit zu gewartten? antwortete der Zeuge Ludwig Hartmann: Sagt ja, und einen meinaidigen menschen werden die finger abgeschlagen, muße sich darzu vermuthen, das er daruber zum teuffel fahre. 65 Die Gewißheit über die Unabwendbarkeit der Strafe Gottes als auch die Ungewißheit darüber, wie diese konkret aussehen würde, kommt in anderen Aussagen ebenfalls zum Vorschein. Trineke Brugkmans erwähnte neben der in der »Carolina« in der Tat festgelegten obrigkeitlichen Strafe des Abhackens der Schwurfinger, daß Gott die Meineidigen an leib und seele straffe. 66 - Gott lest sich nicht spotten! antwortete auch der mit dem Zeugenführer Knedteisen verschwägerte Ernst Hoppenstock. 67 Zwar ist in jüngeren Forschungen auf eine allmähliche Aushöhlung und Entwertung bzw. Entdramatisierung des Eides bereits im 16. Jahrhundert, die auf einen inflationären Gebrauch seit dem Spätmittelalter zurückgeführt wird, hingewiesen worden. 68 Es gibt jedoch keinen Grund, daran zu zweifeln, daß die Zeugen in der Tat, wie angegeben, ihren Eid mit ernst und eiffer gedahn 69 hatten, und dabei aufrichtig wie gottesfürchtig gewesen waren. Daß man trotz allem Wege suchen mußte, um sich aus der Umklammerung eifernder Prozeßparteien zu lösen, ist verständlich. Etwa hinter der Bemerkung (...) das wiße derselbe woll, der darnach fraget 70 läßt sich der Unmut darüber erkennen, vorgeführt und 63 Der Zeuge Ludeke Averbeck beklagte sich indirekt über das Prozessieren seines Zeugenführers Gerken Nagel und gab zu verstehen, er selbst hab woll schaden davon gehabt, dan ehr producenten ein gantz jair gevolgt. Staatsarchiv Münster, RKG N 34, Bd. 2, fol. 45. 64 Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek 1985. 65 Staatsarchiv Münster, RKG K 81, Bd. 2, fol. 621. 66 Ebd., fol. 634. 67 Ebd., fol. 649. 68 André Holenstein: Seelenheil und Untertanenpflicht. Zur gesellschaftlichen Funktion und theoretischen Begründung des Eides in der ständischen Gesellschaft, in: P. Blickle (Hg.): Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993, 11 - 63, insbes. 41ff. Siehe ebenso ders: Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800 - 1800), Stuttgart/ New York 1991, mit kurzen Bemerkungen zum Kundschaftseid auf 31. Im Vordergrund dieser Arbeiten steht allerdings nicht der Wahrheitseid als vielmehr der Huldigungseid gegenüber der Obrigkeit. 69 Staatsarchiv Münster, RKG K 81, Bd. 2, fol. 628. 70 Ebd., fol. 658. Gott läßt sich nicht verspotten 327 gegen seinen Willen zu bestimmten Äußerungen genötigt zu werden. Die Koppelung von mehreren Fragen, hinter denen das Vorhaben steckte, die Zeugen in Bedrängnis zu bringen und untereinander auszuspielen, konnte man unter Umständen kontern, indem man en bloc Unwissen bekundete. So wird wohl das mehrfach protokollierte Nescit auf die Frage Ob zeuge oder seiner mitzeugen einer sich falscher ungeeichter gewichte, ellen maaß gebraucht, bose verfalschete wahren vorkaufft habe, deßhalben beruchtigt oder gestraffet sey, wer, wo und wie offte? 71 zu verstehen sein. Generell lag es aber an der Verhörleitung, ob genauere Antworten abgegeben wurden. Ebenso ließ sich etwa das Unvermögen, sich genau erinnern zu können, mit Plausibilität gerade im Hinblick auf die Gewichtigkeit des Eides und die Ernsthaftigkeit der Befragungssituation vor Gericht anführen: Sagt, davon konne er itzo keinen wahrhafftigen bericht thun (...) 72 oder einfach (...) wuste er sich nicht zu erinnern (...) 73 sind Aussagen, die zuweilen sehr schnell vor Gericht und dem eigenen Gewissen zu rechtfertigen waren. Das eigene Alter konnte ein zusätzliches Argument für entsprechende Bekundungen von Zurückhaltung sein, indem einem Zeugen jegliche Straftaten von Mitzeugen nunmehr alß einem altten manne vergeßen sein konnten. 74 Mit der Aussage, daß man auf derartige böse Gerüchte über seine Nachbarn kein acht gäbe und vielmehr seinem Handwerk nachgehe, einer Begründung also, die unter Hinweis auf die eigene Arbeitsamkeit durchaus obrigkeitlichen Erwartungen entgegenkam, erhoffte man sich ebenfalls das Verständnis des Richters. 75 Zudem wurden geschlechtsspezifische Rollenerwartungen ins Feld geführt: Nescit und da verstehen sich die frauwen nicht auff 76 bekundete Margreta Hartmann im Anschluß an Fragen zur obrigkeitlichen Strafrechtspraxis der Grafen zu Pyrmont außerhalb der Tore von Lügde. Aber auch Männer wie Ernst Hoppenstock nahmen unter Vorhaltung eigener Bescheidenheit für sich in Anspruch, »Nichtwissen« zu begründen: Das mugen rechtverstendige erkennen lautete die Antwort des Zeugen Herman Kalenberg, der immerhin Ratsmitglied war, auf Arndt Kannengießers Fragstück, ob jemand, der das jennige, was er von andern ehrlichen personen glaubwurdig gehort, an gerucht oder sonst vorgelauffen, bloß referirt und erzehlet, (...) fur einen schmeher und schender halten konne. 77 Die in diesen Antworten sich andeutende Möglichkeit, über die Anbringung von Allerweltswissen das konkrete Wissen zurückzuhalten, läßt sich insbesondere über Aussagen nachvollziehen, in denen es um eigene Bewertungen von Sachverhalten oder Personen ging. Heiklen Fragen nach der Parteilichkeit der Zeugen ließ sich z.B. über starre Formeln begegnen, die, obwohl im jeweiligen Moment sicherlich dem Gefühl entsprechend, die Wahrheit zu sagen, doch von der Pflicht entbanden, allzu genau nachzudenken. Von Kannengießer vorgebrachte Fragstücke wie Ob auch zeugen daure, da der producent dieser sachen unterliggen solle? 78 oder Welchen theil zeuge der sache gewin am liebsten gonne? 79 wurden stereotyp beantwortet: Das habe zeuge Gott und den rechten befoh- 71 Ebd., fol. 580. 72 Ebd., fol. 642. 73 Ebd., fol. 618. 74 Ebd., fol. 642. 75 Nescit und gebe dar kein acht uff, er trachte seines handwercks. Ebd., fol. 620. 76 bd., fol. 629. 77 Ebd., fol. 600. 78 Ebd., fol. 582. 79 Ebd., fol. 583. Ralf-Peter Fuchs 328 len 80 - Das stehe dahin, war Gott und der recht hinfüge 81 - Wem Gott die sache gibt, dem gebe ers 82 oder Wen Gott das fuge 83 waren Aussagen, die die eigene Person, auf die die Fragen zugeschnitten waren, geschickt aus dem Blickfeld nahmen, gegen die sich aber seitens der Verhörführung nur schwer etwas einwenden ließ. Bezeichnend ist, daß im streitbaren Lügder Verhör, in dem Kannengießers Vorwurf der Parteilichkeit stets mitschwang und schon von daher die Zeugen eher der anderen Seite zugeneigt haben dürften, jeder einzelne solche Antworten parat hatte. 84 Ein weiteres typisches Feld des Unbestimmten, Unpräzisen ergab sich schließlich aus dem für viele Injurienfälle markanten Untersuchungsgegenstand der fama bzw . mala fama . Dem Gerücht oder gemeynen Geschrei wurde nachgegangen, um dem ursprünglichen Verleumder auf die Spur zu kommen oder — gegebenenfalls - die Bezichtigungen zu bekräftigen. Wie schwierig es war, den Nebel zu durchdringen und etwas mehr Klarheit zu gewinnen, zeigt der Bielefelder Prozeß, in dem es um die bereits über fünf Jahre zurückliegende Ausräucherung der Bienenzucht des Peter zum Wellande ging. Eß sei im gemeinen geschrei geweßen, das NagellWellande die eimen [=Bienen] gedempffet. 85 oder (...) mit schmochen [=ausräuchern], das sei straßen mher und mollenmher 86 sind Äußerungen, die angesichts der Tatsache, daß jeder der Verhörten irgendwann einmal von irgendjemandem zuerst von der Sache gehört haben mußte, wie Ausflüchte wirken mögen. Aber es wurde offenbar auch vom Richter akzeptiert, daß die Herkunft eines solchen Geredes nicht von den Zeugen nachgehalten werden konnte. Daß das Gerücht nicht nur im Kirchspiel Werther, woher die Prozeßteilnehmer stammten, sondern auch in umliegenden Kirchspielen grassiert hatte, 87 macht dies vielleicht 80 Ebd., fol. 620. 81 Ebd., fol. 627. 82 Ebd., fol. 634. 83 Ebd., fol. 628. 84 Die Beteuerungen, unparteiisch zu sein, lauten auf Fragstück 17: Ob auch zeugen daure, da der producent dieser sachen unterliggen solle, vollständig: 1 (männl.) Das habe zeuge Gott und den rechten befohlen. 2 (weibl.) Das stehe dahin, war Gott und der recht hinfüge. 3 (weibl.) Wem Gott die sache gibt, dem gebe ers. 4 (weibl.) Er gewinne oder verliere, gelde ihr gleichviel. 5 (männl.) Wen Gott und das recht gunnet, dem gunne ers auch. 6 (männl.) Gunne dem einen so viel alß dem andern. 7 (männl.) Gunne dem, der recht habe. 8 (männl.) Das gebe er den rechten heimb. 9 (männl.) Das kunne er nicht keren, er gewinne oder verlier, befihle sollichs dem rechte. 10 (männl.) Nihil minus. Auf Fragstück 24: Welchen theil zeuge der sache gewin am liebsten gonne, wurde geantwortet: 1 (männl.) Der, der recht habe. 2 (weibl.) Wen Gott das fuge. 3 (weibl.) Wem sie Gott gunnet. 4 (weibl.) Der recht habe. 5 (männl.) Favet ius habento. 6 (männl.) Der recht habe. 7 (männl.) Dem es Gott und das recht gunne. 8 (männl.) Der da recht habe. 9 (männl.) Dem es das recht gunne. 10 (männl.) Dem die justicia und unparteilige urtel bespringet. 85 Staatsarchiv Münster, RKG N 34, Bd. 2, fol. 46. 86 Ebd., fol. 44. Mit Straßen- und Mühlenmärchen ist das gemeine Gerede gemeint. 87 So die Aussage des Zeugen Gercke Hochmeister, ebd., fol. 55. Gott läßt sich nicht verspotten 329 plausibel. Die Aussage des Zeugen Herman Sairhage vermittelt den Eindruck, daß man mit dem »Gemeinen Geschrei« darüber hinaus aber auch eine sehr substantielle Vorstellung verband und man es tatsächlich unabhängig von demjenigen, über dessen Mund es weitergetragen wurde, in der Erinnerung behalten haben mag: Es hab in der lufft vonn buiten her geflogen [=sei von draußen herein geflogen] und sei so ein geruchte geweßen, das Nagell vatter unnd sohn damit bezichtigt. 88 Die Bedecktheit der Zeugen, die Bekundung von Nichtwissen scheint jedenfalls auch in diesem Zusammenhang insgesamt vielschichtige Hintergründe zu haben. 4. Auf der anderen Seite ist nicht zu bestreiten, daß die Verhöre allesamt wesentliche erhellende Informationen zu einzelnen Sachverhalten zu Tage brachten: Der ursprüngliche Ausstreuer der Bezichtigungen gegenüber Gerken Nagel scheint der mit Peter zum Wellande verwandte Werther Richter Ludolf Stute gewesen zu sein. 89 Auch im Kannengießerschen Verhör kamen überraschende Details auf den Tisch. Einer der verhörten Bürgermeister, Heinrich Steinhagen, brachte widerwillig und unter Hinweis auf seinen Zeugeneid vor, von seinen Eltern gehört zu haben, daß nicht der der Blutschande bezichtigte Gottschalk Knedteisen, sondern dessen Sohn Bernd die verwandte Magd Maria Voßhagen in einer Scheune geschwängert hatte. Eine Nachbarin hatte dies angeblich von der äußeren Seite der Scheunenwand aus durch einen Spalt beobachtet. 90 Neben solchen erzwungenen Aussagen wurden wiederum nicht wenige ins Protokoll eingetragen, die durchaus freiwillig erfolgt waren. Arndt Kannengießers Versuch, Beeinflussungen der Zeugen durch Gottschalk Knedteisen nachzuweisen, fielen im Grunde auf ihn selbst zurück. Vor allem Trineke Brugkmans nutzte die Gelegenheit, Fragen nach parteilicher Bestechung, Bedrohung oder anderweitiger Vereinnahmung mit einschlägigen Hinweisen auf Kannengießer zu beantworten. Sie beklagte sich über mehrmalige Versuche von seiner Seite, sie auszufragen. Oftmals habe er sie angesprochen: Du weist ja von mir nicht, was wiltu zeugen? 91 Zusammen mit anderen Personen, u.a. dem alten Berven, bei dem sie in dieser Zeit als Magd gedient hatte, waren offenbar ebenfalls solche Versuche im Kuhstall erfolgt. 92 Kannengießers Bemerkung, wan sie schwere und sage, was unrecht sey, werde sie in die erde versincken, 93 war zum einen eine 88 Ebd., fol. 60. 89 Der Zeuge Gerke Hochmeister gab an, es sei eben auf die zeitt, als die eimen geschmochet, geweßen, [daß] der richter Ludolff Stute genandt gekommen durch die holtstraße, der zeug selbst dritte einen baum gerodet, und hab ein stuck märten honig inn der handt gehabt unnd gesagt, eß weren seinem vettern Wellande seine immen abgeschmochet, da er daßelbig honig gekregen, wie nhun zeug gefragt, wie das zukeme, hab der richter geantwort, er Wellandt appelat were mit seinem nachbauren unwilligund vermutede sich Nagell und sein sohn producent wurden es gethain haben. Ebd., fol. 55. 90 Und zu ferner bericht dieser sachen zwinge zeugen sein aidt anzuzeigen, das er von seinem sehligen vatter und mutter gehoret, die es nicht anders von der altten Berenschen verstanden, die in ihrer schuren bei einer kreneken [=kranken] kuhe auffsicht gehabtt, und die wandt ihre und Knedeißen schuren scheiden und also durch die wandt in Knedeißen schuren sehen konnen, die habe gesehen, das Gottschalck Knedeißen sohn Berend mit der magdt in der schuren gewesen und habe die magdt ins hauß gangen und gesehen, ob es ledig darinne were, wiederkommen und gesagt, dar kreie weder hane noch hene und daruff habe er sie fleischlich erkandt. Staatsarchiv Münster, RKG K 81, Bd. 2, fol. 675. 91 Ebd., fol. 634. Ralf-Peter Fuchs 330 Erinnerung an die Bedeutung des Meineids, darüber hinaus kam sie einer Drohung gleich. Dem Gericht wurde über die ausführliche Erzählung dieser Bedrängungen vermittelt, daß Kannengießer keineswegs passiv in der Selbstsicherheit, das Recht auf seiner Seite zu haben, die Durchführung des Verfahrens abgewartet hatte. Im Fall Nagel ./ . von Welland lassen die Aussagen der Zeugen sogar noch mehr an Beeinflussungen durchscheinen. Nicht nur waren die Zeugen offensichtlich aufgesucht und aufgefordert worden, die »Wahrheit« zu sagen. 94 Der Vater des Gerken Nagel scheint die »Erinnerung« einzelner Zeugen an bestimmte »Sachverhalte« aufgefrischt zu haben. Zudem wurden noch direktere Versuche, die Zeugen zu bestimmten Aussagen zu bringen, mitgeteilt: Der Zeuge Herman Smet (Schmidt) sagte aus, Nagel und sein vatter Luleff haben gistern freitag bey ime zeugen in der smede geweßen und hette innen etwas underrichten willen, das er zeugen soll, es sei ime aber nit zu thunde. 95 Ein weiterer Zeuge gab an: Hab bemelter Nagell, producenten vatter, ime zu urkundt einen fursten groschen geben. 96 Weitere bereitwillig vorgetragene Informationen ergaben sich aus dem Akt des »sinnhaften« Erzählens. Die Recklinghäuser Zeugen berichteten von ihrem geselligen Zusammensein und lieferten Bilder von ihrem Eintreffen und den Lokalitäten. Engelbert Hillebrink war mit dem Zeugen Johann Markfeld aus dem Suricher Loh auf den Hof des Johann Sternemann gekommen. Unter der Linde habe man gesessen, umb ein kan biers oder mehr daeselbß zu drinckenn. 97 Verschiedene Leute seien bereits dort gewesen, aber es seien noch etliche mehe bei kommen. 98 Johann Markfeld rundete das Bild der Harmonie ab, indem er davon berichtete, daß Gerhard Rasche die beiden Neuankömmlinge mit einladenden Worten angerufen hatte: Wilt ghi fische mit uns essenn, so kumpt her, so ist es even mathe! 99 Die anschließende Wiedergabe der von Rasche ausgestoßenen Schmähungen und Anschuldigungen fügt sich so in eine Dramaturgie ein, aus der sich eine spezifische Bedeutung ergibt. Der Bruch des Friedens durch die Beleidigung des nicht anwesenden Heinrich Suerlender scheint denn auch Verärgerung und Widerspruch in der Gesellschaft produziert zu haben. Mißbilligende Kommentierungen und Ermahnungen bis hin zu barschen Aufforderungen zu schweigen sind in direkter Rede überliefert: Eß were woll uffhoerens zeitt, vonn sollichenn dingenn zureddenn. 100 Viele 92 Sagt, das sie in Jost Berven hauße gedienet und alß sie einßmalß in kuhestall geseßen und gemolcken, sey Arndt Kannegießer in die schuren kommen und gesagt, Trineke, was thust du, sal ich zu dir in den stall kommen, dem sie geandtworttet, was woll gy bei mir thun, damit sey er wider in das hauß gangen, nachgehendes sey Arndt Kannegießer mit dem altten Berven beim Faulert geseßen und habe der altte Berve angefangen, horstu Trineke, was weistu von Arndt Kannegießer, wider gesagt, da weiß ich nicht von alß ehrlich und from, habe Berve wider gesagt, was wiltu dan von Arndt zeugen, nicht mehr alß sie wuste und gehoret, wider gesagt, was das dan sey, das sie gehoret, geandtworttet, wan ich darumb gefraget werde, wil ich die gerechtigkeit sagen, aber ihnen beide itzo nicht, daruff habe Kannegießer gesagt, wan sie schwere und sage, was unrecht sey, werde sie in die erde versincken, wider gesagt, sie wolle mehr nicht sagen, dan was die warheidt were. Ebd., fol. 638f. 93 Ebd. 94 Ms, RKG N 34, Bd. 2, fol. 47. Ebenso war im Lügder Fall der Zeuge Ludwig Hartmann von Gottschalk Knedteisen aufgesucht worden, der zu ihm gesagt haben soll, das er nur die warheidt zeugen solte. Staatsarchiv Münster, RKG K 81, Bd. 2, fol. 621. 95 Ms, RKG N 34, Bd. 2, fol. 64. 96 Ebd., fol. 48. 97 Staatsarchiv Münster, RKG R 190, Bd. 2, fol. 133. 98 Ebd. 99 Ebd., fol. 134; even mathe=etwa: recht und billig (ebenes Maß). 100 Ebd. Gott läßt sich nicht verspotten 331 Zeugen berichteten vom eigenen beherzten Handeln in der Situation. Der Frone Gerhard Himmelreich erzählte, er habe versucht, Rasche den Mund zuzuhalten und ihm bedeutet, er solte schweigenn in thausent theuffell nhamenn! 101 Sämtliche solcher vorgebrachten Details laufen darauf hinaus, über Erzählung die friedfertige Nachbarschaft zu inszenieren und keinen Zweifel an der Verwerflichkeit ihrer Störung zu lassen. Im Zusammenhang betrachtet geben sie somit nicht nur Hinweise auf tatsächliche Ereignisse, sondern stellen, auf einer moralisierenden Ebene, Typen sozialen Wissens dar. Versucht man, dies etwas systematischer zu fassen, so läßt sich das von den Zeugen Berichtete drei größeren Sinnkontexten zuordnen. Diese hängen allerdings nicht nur sehr fest zusammen, sondern überlappen sich in vielen Bereichen. Zum einen enthalten die Verhörmitschriften Informationen über die Lebenswelt des Sozialen d.h. über Grundregeln des Miteinanderlebens. Sie unterrichten über die Bedeutung der Nachbarschaft, über die Intensität von nachbarschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen wie über diesbezügliche Abgrenzungen. Sie unterrichten über sozial wie geschlechtlich bedingtes Rollenverständnis. Sie geben Auskünfte über Feindschaften, deren Bewertung durch das soziale Umfeld und Konfliktlösungsmuster. Zudem offenbaren sie grundlegende Empfindlichkeiten und geben Hinweise auf die Zeichensysteme, die im Alltag relevant waren. Von Georg Rasche wurde berichtet, er habe seine Diebstahlsbeschimpfung mit den Worten bekräftigt, eß solten halße kosten und dabei mit der Hand seinen eigenen Hals angestrechenn. 102 Jeder der Zeugen hatte diese Geste sehr genau in der Erinnerung behalten, weil ihm die Bedeutung sehr wohl bekannt war. Auch daß das Ausschlagen eines Trunkes durch Peter von Wellande einer Beleidigung des Gerken Nagel gleichkam und die Botschaft beinhaltetete, Nagel sei es nicht wert, mit ihm aus einem potte zu trinken, hatte wohl jederman im Trinkgelage verstanden. Aber hatte nicht Nagel zuvor seinem Gegenüber die Gräten eines Fischkopfes zugeschoben und ihm in höhnischer Weise zugetrunken? 103 Die nähere Erörterung solcher Signalements als Elemente sozialen Wissens vor Gericht, die Problematik ihrer Interpretation durch die Beteiligten zeigt, daß man sie stets kreativ in neue Kontexte einbringen und durch die Produktion von Doppeldeutigkeiten bewirken konnte, daß Gegner wie Beobachter im Unklaren blieben. Ein zweites Feld sozialen Wissens kommt in jenen Aussagen zum Vorschein, die im Hinblick auf herrschaftliche Zuständigkeiten und Strukturen gemacht wurden. Dieser politische Bereich wird etwa über zahlreiche Bemerkungen zur Strafjustiz greifbar. Die Zeugen berichteten von Amtmännern und Richtern, die es über Drohungen erreichten, Vergleiche zu erzielen. Der Zeuge Heinrich Reckardt erinnerte sich an eine erste heftige Auseinandersetzung zwischen Gerken Nagel und Peter zum Wellande vor dem ravensbergischen Drosten Aldenbochum im Hause des Landschreibers. Nagel sei entschlossen gewesen, Peter zum Welland und seinen Vater, einen 90jährigen Greis, wegen Injurien zu belangen. Über die Frage, ob Nagel den Bienenstock ausgeräuchert habe, 101 Diese Aussage bezieht sich auf Vorfälle, die sich bei einer anderen geselligen Zusammenkunft im Hause des Ratsherren Johann Hilberg zu Recklinghausen ereignet haben sollen. Ebd., fol. 135. 102 Ebd., fol. 133. 103 Siehe dazu die Frage: Ob nit Nagell auß schimpflicher gantz unguitlicher meinung ime einen fischs kopfs graden vorgelacht, ursach zu hadern dardurch zu suchen? Staatsarchiv Münster, RKG N 34, Bd. 2, fol. 42. Siehe ebenso die Aussage eines Zeugen, das Gercke Nagell erstlich ein stuck fisches vurgelacht und zeuge hart bey Wellande geseßen, und gemelter Nagell imme darzu ein pott bier uber die taffeln zugedruncken. Ebd., fol. 13. Ralf-Peter Fuchs 332 sei ihm vom Drosten nahegelegt worden, er solle sich mit Peter von Welland und dessen Vater, der in der Verhandlung zu weinen angefangen hatte, vertragen, andernfalls wolle er selbst mit ihm prozessieren und alßdan Meister Hans darzu kommen lassen. 104 Daß man ein solches obrigkeitliches Verhalten unter bestimmten Umständen im Sinne der Friedenswahrung als funktional einstufte und durchaus billigte, läßt die direkt im Anschluß festgehaltene Aussage des Zeugen erkennen, er wisse von keiner Nötigung seitens des Drosten Aldenbochum, alleine, das die partheien verglichen, darzu zeug auch mitgehulffen. 105 Im Prozeß Knedteisen ./ . Kannengießer wurde über ähnliche Muster des Drohens gegenüber Personen gehandelt, die sich nicht davon abbringen lassen wollten, einer Sache gerichtlich nachzugehen. 106 Daneben wurde obrigkeitlichen Kompetenzen unter räumlichen Aspekten, der Abgrenzung paderbornischer und pyrmontischer Jurisdiktion nachgegangen. Besonders interessant ist die Aussage des Zeugen Ludwig Hartmann zur Frage Kannengießers, ob nicht seit 30, 40 und mehr Jahren die pyrmontische Regierung die Exzessachen, die außerhalb der Grenzen Lügdes begangen worden waren, bestraft habe. Er antwortete, vor 30 Jahren sei es so scherff nicht gewesen. 107 Damit liegt also offensichtlich die Empfindung einer Veränderung des politischen Klimas vor, die sich sehr gut in den Gesamteindruck einfügt, daß gerade dieser Fall stark durch den zunehmenden Konfessions- und Sozialdisziplinierungsdruck der Zeit um 1600 geprägt ist. Mit dieser Feststellung läßt sich zum dritten größeren Bereich überleiten: Auch religiöses Wissen flackerte in den Zeugenaussagen immer wieder auf. Dies geschah zuweilen an Stellen im Verhör, die dafür gar nicht vorgesehen waren. Die Frage nach Reichtum, Rang und Nahrung der Zeugen wurde etwa nicht nur mit dem Hinweis auf die saure Arbeit beantwortet, sondern auch mit der Feststellung, daß man sich damit behelfe, was [einem] Gott beschere. 108 Die in diesem Fall freilich an das gute Auskommen des Lügder Bürgermeisters Ludwig Bolemann geknüpfte Einschätzung deutet die Hilfestellung an, die die Religion im Hinblick auf die Verarbeitung des eigenen Lebensschicksals und die soziale Selbstverortung bot. Jener Gott, von dem hier in Lügde, unter katholischer Kirchenobrigkeit, die Rede war, konnte jemandem gewogen sein und ihm eine Sache wie den Gewinn eines Rechtsstreits gönnen, er konnte aber diese Gunst jederzeit wieder entziehen. Nach Verfehlungen konnte sich der Teufel beim Sünder zu Wort melden, sein Gewissen belasten und ihn steinigen. 109 Aber auch Gott selbst war furchtgebietend, und insbesondere der um ein gottesfürchtiges Profil besorgte Arndt Kannengießer bemühte sich darum, bereits aus seinen Interrogatoria sichtbar werden zu lassen, daß er über den verdienten Untergang von Sodom und Gomorrha Bescheid wußte - mehr noch: daß er die Zeichen der Zeit verstanden und zur Umkehr vom Leben in Verfehlungen hatte aufrufen müssen. Wie man unschwer erkennen kann, ließ 104 Ebd., fol. 51. 105 Ebd. 106 Der Zehntsammler Ludwig Wenker hatte Gottschalk Knedteisen ursprünglich des Zehntdiebstahls bezichtigt und hatte erzählt, er sei von Bürgermeister und Rat zu Lügde mit staupbeßen und andern straffen starck bedrauwet worden, um seine Anschuldigungen noch einmal zu bedenken. Staatsarchiv Münster, RKG K 81, fol. 600. 107 Ebd., fol. 622. 108 Ebd., fol. 642. 109 Dies wurde anhand des Fragstücks erörtert, ob nicht zeuge gehort, das Laich Harttman der teuffel daruber dergestalt das gewißen gereget, das er kegen Johan von Boleman geclagt, das ihn der teuffel gesteinigt habe. Ebd., fol. 585. Gott läßt sich nicht verspotten 333 sich also auch dieses Bild vom gestrengen Gott durchaus sehr bedürfnisorientiert und nutzbringend, in diesem Fall zur Rechtfertigung, seinen Nachbarn angeschwärzt zu haben, einbringen. Darüber hinaus war es durchsetzt mit Phantasien, die aus der Vorstellung von der unbegrenzten Macht Gottes schöpften. Derartige Vorstellungen führten ein gewisses Eigenleben neben dem, was offiziell in der Kirche an religiösem Wissen unter die Leute gebracht wurde. Auf der anderen Seite war die Kirche und ihr Wissen sehr wohl Maßstab der Religiosität. Dies galt nicht nur für den sich besonders kirchentreu und fromm gebärdenden Kannengießer. Als Antwort auf seine an Trineke Brugkmans gerichtete Frage und Auffforderung, Ob sie zeuginne Thrineke die zehen gebott wiße, und sich des sechsten, siebenden und achten gebotts recht erinnern konne, das sie dieselbe melde, 110 von der er sich offensichtlich selbstsicher eine Bloßstellung der Zeugin erhoffte, wurde protokolliert: Sagt ja, und daruff das 6., 7., und 8. gebott Gottes recitirt und konne sich dem wol erinnern. 111 Schließlich soll noch auf die Erörterung einer weiteren Vorstellung eingegangen werden. Einige der Zeugen berichteten, als Arndt Kannengießer seinem Erzfeind Gottschalk Knedteisen das Delikt der Blutschande nachgesagt habe, sei er auf ein Schauspiel besonderer Art eingegangen, das sich kurz zuvor im Ort ereignet hatte. Einem Mann namens Evert Strohschneider war - offensichtlich als Bedingung für die Zulassung eines Enkelkindes zur Kindtaufe - auferlegt worden, eine Bußprozession vom Haus des Richters bis in die Kirche abzuleisten. Diese im weißen Gewandt und mit ruthen und licht in der handt 112 praktizierte Ehrenstrafe war wegen Ehebruchs erteilt worden. Kannengießers Bemerkungen, Knedteisen solle vor der Taufe seines Enkelkindes ebenso leuchten wie Strohschneider, waren im Gedächtnis der beiden Zeuginnen Trineke Brugkmanns und Margreta Hartmanns deutlich haften geblieben. In einem Detail allerdings liegen Unterschiede vor. Auf dem weißen Laken des Evert Strohschneider waren offensichtlich Zeichen zu sehen gewesen, deren Bedeutung für die Zuschauer nicht ganz klar geworden war. Dies zeigt sich etwa darin, daß in der ersten Klageschrift Knedteisens zunächst noch von judden buchstabe, gemeint waren offenbar hebräische Schriftzeichen, 113 die Rede war und in späteren Schriftsätzen einfach nur noch von roten Buchstaben. 114 Margreta Hartmans erinnerte sich nun, von anderen gehört zu haben, Kannengießer habe von einem roten Buchstaben und einem schwarzen Kreuz gesprochen und eine Interpretation gleich mitgeliefert: Mit dem roten Buchstaben sei das Feuer gemeint gewesen und mit dem schwarzen Kreuz der Galgen. 115 Die Ohrenzeugin Trineke Brugkmanns hingegen sagte aus, das Arend Kannegießer den morgen fruhe in seiner frauwen hauß kom- 110 Ebd., fol. 608. 111 Ebd., fol. 638. 112 Ebd., fol. 607. 113 Ebd., fol. 99. Die Schrift ist hier allerdings verwischt und schwer leserlich. 114 (...) daß Knedteisen ein blutschender wehre und einen roten buchstaben vor dem laken billich führen müste (...) Ebd., fol. 30. 115 (...) Kannegeter weiter gesagt, ja, er muß das laken umbhebben und dafur einen roten buchstab und ein schwartz kreutze, mit dem roten buchstabe meinende das feur und mit dem schwartzen kreutze den galgen, sollichs habe die Bestiansche also paldt ihrer, zeuginnen, schwester, Elschen, der Ollemollerschen, geclagt, dieselbe habe es wiederumb an ihre halbschwester, Gottschalck Knedteisen haußfrauwen, gebracht, das solliche wortt zu der Bestianschen und ihrer magdt durch Kannegießer gesprochen, habe daruff die Knedteisesche nach der magdt geschickt und holen laßen, ihr solliche wortt vorgehalten, hatt sie bekandt, das Arndt Kannegeter solliche wortt zu ihr und ihrer frauwen, der Bestianschen, geredet hebe. Ebd., fol. 630. Ralf-Peter Fuchs 334 men, ein meßer und ein stucke zu eßen in der handt gehabt, von sich selber, ungenotigt gesagt, Everdt Stroschneider habe nu geleuchtet, wan Gottschalck Knedteißen dochter ihre kindttauffe auße [sei], muße Gottschalck auch leuchte und das laken das er umbtragen sal, sal haben einen schwartzen buchstaff, sal bedeuten, das er den hern hette den zehenden voruntrauwet und das rote creutze sal bedeuten, das er bei der magdt geschlaffen. 116 Neben der Verkehrung der Farben in den beiden Versionen erstaunt die substantielle Verschiedenheit in der Wiedergabe von Worten und - was hier das entscheidendere ist - von Deutungen. Hieran läßt sich nachvollziehen, daß im Ort etwas Unbekanntes aufgetaucht war und es seiner Integration in bestehende Denkmuster bedurft hatte. Daß hier etwas Neues in das Alte eingefügt wurde, offenbart den Vorgang der Konstruktion von Sinn und zeigt, wie grundlegend das Bedürfnis nach Symbolisierung und der Entschlüsselung von Symbolik für jene Menschen der Frühen Neuzeit war. Ebenso werden gerade in der Version, die im Lügder Stadtgespräch kursiert hatte, einmal mehr Bereiche angerissen, auf die sie vorzugsweise zurückgriffen: hier die göttliche Macht in der Form des (Fege)feuers und die obrigkeitliche Gewalt in der Form des Galgens. Obwohl es im vorliegenden Fall nicht zu einer Verfestigung dieser Interpretationen der Schandkleidsymbole zu »Typen« kam, die sich in den Köpfen breiterer gesellschaftlicher Schichten sedimentierten, lassen sich Bedingungen ihres Entstehens erkennen. Die Art und Weise der Verdichtung solcher Elemente in Objekten und Begriffen wird gleichsam an einer Schnittstelle faßbar. Insofern können auch diese »punktuellen Sprachereignisse«, wie Rolf Reichardt sie einmal bezeichnet hat, 117 durchaus wichtige Bausteine zur Ergründung kollektiver Glaubensinhalte sein. 5. Abschließend ist festzuhalten, daß die hier vorgenommene Aufteilung sozialen Wissens eine erste grobe Systematik zur Erfassung anhand von Zeugenverhören sein soll. 118 Die Kenntnis wichtiger Alltagsregeln im Umgang mit der direkten sozialen Umgebung sowie religiöses und politisches Wissen dürften über die hier vorgestellten Injurienverfahren hinaus auch für andere Prozeßgattungen neben den Kategorien Zeit- und Raum-Wissen die vorrangig erfaßbaren Felder darstellen. Notwendigerweise wird etwa in Prozessen um Herrschaftsstreitigkeiten der politische Diskurs besonders stark ausgeprägt sein. Das Wissen um den Nachbarn - Aspekte von Feindschaft oder auch Solidarität - oder religiöse Fundierungen von Zuständen und Verhaltensweisen dürften jedoch auch in solchen Kontexten immer wieder zur Sprache gekommen sein. Das gemeinrechtliche Zeugenverhör war ein weitgehend freies Spiel der Kräfte, in dem die Rolle der richterlichen Obrigkeit eine sehr zurückhaltende war, und das von den Parteien unter Umständen in ein Verwirrspiel transformiert wurde. Die Aussagen der Verhörten sind somit immer vor dem Hintergrund der Beeinflussungsversuche durch die Parteien zu deuten. Hier muß ein besonderes Augenmerk der Funktion der 116 Ebd., fol. 635. 117 Rolf Reichardt: Einleitung, in: Rolf Reichardt/ Eberhard Schmitt (Hg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, Heft 1/ 2, München 1985, 39 - 148, 64. 118 Diesen drei Bereichen wären auf jeden Fall noch die Bereiche der Zeit- und Raumwahrnehmung als basale Kategorien hinzuzufügen. In einigen Verhören zum Jagdrecht wurden zudem auch Bereiche des Wissens über die Natur, insbesondere die Tierwelt, berührt. Gott läßt sich nicht verspotten 335 Fragstücke (Interrogatoria) gelten. Diese waren ein taktisches Mittel zur Demontierung schädlicher Aussagen. Mithin waren sie verdeckte Versuche, neue Informationen in die Prozeßakten einfließen zu lassen, wobei die Antwort der Befragten unerheblich war. In der Hauptsache wurden mit ihnen aber die Zeugen in die Defensive gedrängt, zuweilen zu Aussagen gegen ihren Willen gezwungen. Für diese ergaben sich im Bemühen zu schweigen besondere Möglichkeiten, Allerweltswissen als Ersatz für konkrete Informationen zu präsentieren. Aber auch der Frageeifer der »Produkten« konnte zuweilen eine Auseinandersetzung mit dem bewirken, was sich allgemein eher dem »fraglos Gegebenen« 119 zuordnen ließe. Zudem riefen gerade extreme Bedrängungsversuche Widerstand hervor, der das Temperament der Befragten durchscheinen läßt. Zeugen äußerten im Versuch, den Spieß umzudrehen, auch Ungefragtes, d.h. sie sagten mehr, als von ihnen verlangt wurde. »Freiwillige« Äußerungen befinden sich auch in jenen längeren Textpassagen, in denen es auf besonders genaue Antworten ankam, etwa bei der Wiedergabe von Ereignissen und Handlungen. Über sie kann man sich sowohl der Weise des Erzählens als auch der Erinnerung annähern. Diese Textstücke enthalten verfremdende Elemente, bedingt zum einen durch den reinen Vorgang der Übertragung vom Mündlichen ins Schriftliche - der durch die Anwendung der indirekten Rede in den Protokollen stets gegenwärtig bleibt -, zum anderen durch die partielle Übertünchung des Geäußerten mit juristischer Fachsprache. 120 Der Grad der Verfremdung scheint hier jedoch insgesamt relativ niedrig zu sein. Im Vergleich der Antworten verschiedener Zeugen zu gleichen Fragstücken kann man die Bemühung der Protokollanten erkennen, signifikante Äußerungen im Wortlaut zu erfassen und damit das Individuelle in einer Aussage nachvollziehbar zu machen. Frühneuzeitliche Zeugenverhöre sind vielschichtige Quellen. Hinter ihnen steckt Bestreben zur Inszenierung, das sie einerseits zu einem Fall der Kategorie »fiction in the archives« 121 werden läßt. Mit der Schwerpunktsetzung auf die Erforschung des sozialen Wissens entgeht man der absurden Vorstellung, sie lieferten »objektive Wahrheiten«. Auf der anderen Seite birgt das Verhör von seiner Struktur her durchaus die Chance, offensichtlichen Unwahrheiten auf die Spur zu kommen und sich über die vielfache Überblendung ähnlicher Aussagen an Ereignisse heranzuarbeiten. Dem sollte man sich nicht vollends verschließen - auch wenn bereits die Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts sehr skeptisch dieser Beweisführungseinrichtung gegenüberstanden. Dies galt in hohem Maße für die Betroffenen, die zuweilen das Gefühl hatten, einer verschworenen Front gegenüberzustehen. Lassen wir zum Schluß noch einmal Arndt Kannengießer zu Wort kommen: Wider aidtliche zeugenaußage, so vermittelte er dem Gericht, sei eine unschuldt ubell beizubringen. 122 119 Schütz/ Luckmann: Strukturen (wie Anm. 18), 30ff. 120 Die unterschiedlichen Sprach- und Wissensebenen zwischen Juristen und Prozeßbeteiligten werden in einer Semiotik des Rechts, schöpfend aus eigenen, seit den 1970er Jahren in der Rechtssprechung gemachten Erfahrungen, jetzt genauer dargelegt von Thomas-M. Seibert: Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts, Berlin 1996. 121 Hierzu Natalie Z. Davis: Fiction in the Archives. Pardon-Tales and their Tellers in 16th-Century France, Stanford 1987. 122 Staatsarchiv Münster, RKG K 81, fol. 618. Die Aussage war als Fragstück formuliert worden: Ob nicht wahr, das wider die warheidt, dem gemeinen sprichwortt nach, uberzufechten und wider aidtliche zeugenaußage eine unschuldt ubell beizubringen? 337 Heike Talkenberger Bürger oder Außenseiter? Normerfüllung und Normverletzung in der Autobiographie des Luer Meyer (1850) 1 1. Der Verbrecher im Diskurs des 19. Jahrhunderts Im Jahre 1904 gab der evangelische Pfarrer der Strafanstalt im bayerischen Amberg, Johannes Jaeger, unter dem Titel »Hinter Kerkermauern« eine Sammlung autobiographischer Texte von 32 Gefangenen heraus. 2 Sie basiert auf Materialien, die im Gefängnis selbst entstanden: Zumeist sind es Lebensberichte von Häftlingen, Gedichte und Aufsätze, aber auch Notizen in ausgeliehenen Büchern sowie Inschriften an Wänden. In seinem Vorwort 3 setzt sich der Herausgeber mit einer gängigen Theorie der Verbrecheranthropologie auseinander, wie sie von Cesare Lambroso 4 Ende des 19. Jahrhunderts vertreten wurde. Danach seien etwa ein Drittel der Verbrecher nichts anderes als Kranke, deren pathologische Natur sie zum Verbrechen prädisponiere. Der Hang zur Kriminalität sei also eine angeborene Eigenschaft. Die körperlichen Grundvoraussetzungen sprächen dafür, den Verbrecher als »Rückschlag auf den wilden Urmenschen« 5 aufzufassen. Kriminalität sei also ein Zeichen von Atavismus. Daneben gibt es nach Lambroso aber auch den moralisch kranken Verbrecher, dessen psychische Deformationen ihn zu seinem Tun bestimmt. Allerdings leugnet Lambroso die Bedeutung der Umwelt nicht völlig. Gegen diese Auffassung Lambrosos wendet sich Jaeger ganz entschieden. Mit Berufung auf Werke von Baer 6 und von Liszt 7 betont er, daß es keinen »homo delinquens« gebe. Kriminelle unterschieden sich in keiner Hinsicht von Nichtkriminellen. Vielmehr seien die »den Verbrechern gemeinsamen Merkmale lediglich als Folgewirkungen des Milieu(s) anzusehen und psychologische Abweichungen auf mangelhafte Erziehung usw.« 8 zurückzuführen. 1 Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den ich am 12.6.1993 auf der Fachtagung in Stuttgart-Hohenheim: »(Un-) Geschriebene Gesetze: Normensetzung, Normenumsetzung und Normenkonflikte« gehalten habe. Die Anregungen, die ich in der dortigen Diskussion erhalten habe, waren sehr hilfreich. 2 Johannes Jaeger: Hinter Kerkermauern. Autobiographien und Selbstbekenntnisse, Aufsätze und Gedichte von Verbrechern. Ein Beitrag zur Kriminalpsychologie, in: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik Bd. 19 (1905), 1 - 48 und 209 - 257; Bd. 20 (1905), 1 - 48 und 21 (1905), 1 - 48. 3 Jaeger: Kerkermauern (wie Anm. 2), Bd. 19, 2 - 9. 4 Cesare Lambroso: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, 3 Bde, 1887, 1890 und 1896. 5 Zit. nach Jaeger: Kerkermauern (wie Anm. 2), 2. 6 Abraham Adolf Baer: Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung. Leipzig 1893. 7 Friedrich von Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 9 (1889), 452 - 499. 8 Jaeger: Kerkermauern (wie Anm.2), 6. Jaeger verkürzt allerdings Lambrosos Auffassung, dieser selbst hatte immer vor Absolutierungen einer Ursache der Verbrechensentstehung gewarnt. Vgl. Dietrich von Engelhardt: Kriminalität zwischen Krankheit und Abnormität im wissenschaftlichen Denken des 19. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Kerner (Hg.): Kriminologie - Psychiatrie - Strafrecht. Heidelberg 1983, 261 - 278, bes. 274f. Heike Talkenberger 338 Die Gesellschaft spielt auch in einer dritten Argumentationsweise eine Rolle: Der Verfasser des Werks »Deutsches Vagabunden- und Verbrechertum«, der bayerische Anstaltspfarrer Otto Fleischmann 9 , schreibt 1887, er wolle dazu beitragen, daß »die Ursachen dieser sozialen Krankheit« (des Vagabunden- und Verbrechertums; H.T.) bekannt würden. Auch er benutzt den Krankheitsbegriff, diesmal jedoch auf die Gesellschaft bezogen, nicht auf das Individuum. Mit dieser Kontroverse ist ein ganzer Diskurs angesprochen, der seit Ende des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Anthropologie der Aufklärung um die Eigenart des Kriminellen geführt wurde. Nicht die Tat selbst, sondern der Täter, seine Lebensgeschichte und seine Motivationen standen nun im Mittelpunkt der Überlegungen. 10 Verbrechensbekämpfung war ebenso ein Anliegen wie Ursachenforschung und eine entsprechende Prävention. Dabei changierten im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Erklärungen für verbrecherisches Verhalten und das Bild vom Verbrechen 11 zwischen Sünde und Krankheit, angeborener oder erworbener Veranlagung. Kriminalität wurde entweder als ein schuldhafter Verstoß des Einzelnen gegen die gesellschaftliche Norm oder eher als die Folge sozialer Verhältnisse und ihrer Produktion von Ungleichheit angesehen. Im Extremfall galt die Gesellschaft als krank, nicht das Individuum, d.h., es gab theologisch-ethische, biologisch-psychologische oder soziologisch-politische Erklärungsansätze, die sich auch mischen konnten. In den Deutungen von Kriminalität, die von einer auf Krankheit beruhenden Delinquenz ausgingen, spielte der Begriff der Leidenschaft 12 eine zentrale Rolle. Während, so z. B. Lambroso, sich die physische Krankheit eher in Körperbau und Physiognomie ablesen ließe, zeige sich die »moralische Krankheit« des Verbrechers unter anderem darin, daß der Verbrecher nur seinen Leidenschaften folge. So traten Bedürfnisse und Leidenschaft neben Versuchung durch Gelegenheiten, um die Entstehung von Kriminalität zu erklären. 13 Dabei wurde die moralische Krankheit deutlich von der psychischen abgesetzt. Der moralischen Krankheit glaubte man ebenso mit Erziehung wie der psychischen oder physischen mit The- 9 Otto Fleischmann: Deutsches Vagabunden- und Verbrechertum im neunzehnten Jahrhundert, Barmen 1887. 10 Vgl. z.B. Johann Christian Gottlieb Schaumann: Ideen zu einer Kriminalpsychologie, Halle 1792. 11 Vgl. dazu Martin Wiener: Reconstructing the Criminal. Culture, Law, and Policy in England, 1830 - 1914, Cambridge 1990. Trotz der Unterschiede zwischen der englischen Diskussion über Kriminalität und der deutschen stimmten die Verbrecherbilder und die Verbrechensherleitung aus der mangelnden Triebkontrolle des Menschen im Wesentlichen überein. Zur Konstruktion des »kranken Verbrechers« s. a. Jürgen Martschukat: Von Seelenkrankheiten und Gewaltverbrechen im frühen 19. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen, Erhard Chvojka, Vera Jung (Hg.): Neue Blicke. Historische Anthropologie in der Praxis, Wien/ Köln/ Weimar 1997, 223 - 249. Zur literarischen Verarbeitung vgl. Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion narrativer Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, darin bes. Joachim Linder: Deutsche Pitavalgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konkurrierende Formen der Wissensvermittlung und der Verbrechensdeutung, 313 - 342; Joachim Linder (Hg.): Kriminalgeschichten aus dem 19. Jahrhundert, Bielefeld 1990. 12 »Leidenschaft« ist ein zentraler Topos der Aufklärungsanthropologie, die »Nachtseite« eines jeden Menschen bezeichnend. Vgl. z.B. Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume (1778), in: Ders.: Über Literatur und Gesellschaft. Ausgewählte Schriften, hg. v. Claus Träger, 2. Aufl., Leipzig 1988, 65ff. Herder schreibt etwa, der tiefste menschliche Grund offenbare sich in Krankheit und Leidenschaft. Ebd. 98. Vgl. zum gesamten Zusammenhang Doris Kaufmann: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland (1770 - 1850), Göttingen 1995 (Schriften des Max-Planck-Instituts für Geschichte 122). 13 Vgl. von Engelhardt: Kriminalität (wie Anm. 8), 264. Bürger oder Außenseiter? 339 rapie begegnen zu können. Am Begriff der Leidenschaft kristallisiert sich ein Konzept von Kriminalität heraus, das die Tatsache des Unbeherrschtseins, der mangelnden Triebkontrolle zum konstitutiven Element eines bestimmten Typs von Kriminellen erklärt. Auch die psychische Charakterisierung eines solchen Delinquenten zeigt die Auffassung, dieser sei moralisch minderwertig: Er sei durch Stumpfheit und Unempfindlichkeit in der Gefühlswelt, aber auch durch tiefen Haß bestimmt, weiß Lambroso. Leichtsinn und Gleichgültigkeit gegen die Zukunft, Brutalität, Dummheit, Faulheit und Suchtverhalten treten nach Meinung des Autors hinzu. Die charakterlichen Mängel verweisen auf die moralische Verwerflichkeit des Verbrechers. Im Bild des Verbrechers zeigen sich also - in grober Unterscheidung - zwei grundsätzlich verschiedene Denkansätze: Während diejenigen, die den Verbrecher als sünd- oder krankhaft beschreiben, einen vom Normalbürger deutlich unterschiedenen Menschentypus annehmen, sind für die Vertreter der »Umwelttheorie« ehrbarer Bürger und Delinquent nicht grundsätzlich durch körperliche oder moralische Merkmale unterschieden. Während die einen den Kriminellen als »den Anderen« sehen, den seine kriminelle Identität von den Bürgern unterscheidet 14 , gilt für die anderen, daß jeder zum Verbrecher werden kann. Das Bild vom Verbrecher wurde unter anderem anhand der autobiographischen Schriften entwickelt, die die Gefangenen hinterlassen haben. Zu der Aussagekraft derartiger Texte äußert sich Lambroso. Sie zeigen seiner Meinung nach deutlich die moralischen Mängel ihrer Autoren und offenbaren Eitelkeit, Egoismus, die Unfähigkeit zur Reue und Verantwortungslosigkeit für die eigenen Taten. Jaeger wiederum begründet seine gegen Lambroso gerichtete Auffassung mit seiner Kenntnis der Lebensläufe von Verbrechern, wie er sie herausgegeben hat. Fleischmann schließlich schreibt autobiographischen Materialien und ihrer Analyse eine aufklärerische Funktion zu. Die Verbrecherpsyche zu erforschen, erscheint ihm als erster Schritt, dem Übel Kriminalität beizukommen. Ein Blick auf die autobiographischen Schriften könnte also aufschlußreich sein, doch nicht, um aus ihnen mehr oder weniger nachvollziehbare Theorien über »die Verbrecherpsyche« abzuleiten, sondern um den Lebenserfahrungen und dem Selbstbild ihrer Autoren auf die Spur zu kommen. Wie haben die Gefangenen des 19. Jahrhunderts selbst sich beschrieben? Welches Bild von ihrem Charakter, von ihren Lebenserfahrungen und ihrer kriminellen Karriere zeichnen sie? Und wie haben sie ihre Motivation, eine Straftat zu begehen, beschrieben, wie ihr Verhältnis zu den Normen der bürgerlichen Gesellschaft definiert? Vor allem aber: Entwickeln sie eine Identität, die von der bürgerlichen deutlich abweicht? Zur Beantwortung dieser Fragen in exemplarischer Form möchte ich den autobiographischen Text eines Gefangenen in den Mittelpunkt meiner Untersuchung stellen. Um jedoch den Quellencharakter eines derartigen Selbstzeugnisses besser bestimmen zu können, seien einige Anmerkungen zur Gattung der Autobiographie und zur Entstehung von Gefangenenautobiographien vorangestellt. 14 Vgl. Peter Becker: Kriminelle Identitäten im 19. Jahrhundert. Neue Entwicklungen in der historischen Kriminalitätsforschung, in: Historische Anthropologie 2,1 (1994), 142 - 157; hier: 142. Zum Identitätsbegriff auch Aleida Assmann: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Leviathan 1 (1993), 238 - 253. Heike Talkenberger 340 2. Autobiographien von Gefangenen Autobiographien 15 sind Selbststilisierungen und interpretierende Verarbeitungen von Lebenserfahrungen. Die Rekonstruktion der Vergangenheit geschieht mit dem Ziel, einen Sinnzusammenhang herzustellen und Handlungen in einen nachvollziehbaren Ordnungsrahmen zu stellen. Das bedeutet auch, daß Autobiographien keine »authentischen« Lebenseinblicke gewähren; ihre Konstruiertheit muß stets bedacht werden. 16 Da sie jedoch eine Fülle von Informationen über einen individuellen Lebenslauf sowie über gesellschaftliche Prozesse aus der Sicht des Individuums enthalten, die so in anderen Quellen kaum greifbar wären, sind sie eine hervorragende, immer noch zu wenig genutzte, Quellengrundlage der Sozialgeschichte. 17 Dies gilt insbesondere dann, wenn ihr Autor/ ihre Autorin aus einem sozialen Milieu stammt, das ansonsten nur sporadisch in den Quellen vertreten ist, wie dies bis ins 18. Jahrhundert hinein für Unterschichtsangehörige gilt. 18 Und auch für das 19. Jahrhundert, für das in größerer Zahl Autobiographien der »kleinen Leute« vorliegen, gilt, daß das Material bei weitem noch nicht ausgeschöpft wurde. 15 Vgl. dazu M. Westphal: Die besten deutschen Memoiren, Lebenserinnerungen, und Selbstbiographien aus sieben Jahrhunderten. Leipzig 1923, Nachdruck München 1971; Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart u.a. 1965; Georg Misch: Geschichte der Autobiographie Bd. 4,2: Von der Renaissance zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. v. Bernd Neumann, Frankfurt a. Main 1969; Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Theorie der Autobiographie, 3. Aufl., Frankfurt a. Main 1969; Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989. Heidi I. Stull: The Evolution of the autobiography from 1770 - 1850. A comparative study and analysis, New York 1985. Zum 18. Jahrhundert Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1977; Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974; Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie im 18. Jahrhundert. Zur Geschichte der Selbstbiographie, Stuttgart 1987. 16 S. dazu auch die volkskundliche Biographieforschung, die sich kritisch mit dem Status von biographischen Texten, die durch »oral history« gewonnen wurden, auseinandersetzt, etwa Rolf W. Brednich (Hg.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung, Freiburg 1982. Zur sozialgeschichtlichen Biographieforschung s. Andreas Gestrich/ Peter Knoch/ Helga Merkel (Hg.): Biographie - sozialgeschichtlich, Göttingen 1988. Außerdem Grete Klingenstein/ Heinrich Lutz/ Gerald Stourzh (Hg.): Biographie und Geschichtswissenschaft. Aufsätze zur Theorie und Praxis biographischer Arbeit. Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 6, Wien 1979; Martin Kohli/ Günther Robert (Hg.): Biographie und soziale Wirklichkeit. Beiträge und Forschungsperspektiven, Stuttgart 1984. 17 S. Kenneth D. Barkin: Autobiographie and History, in: Societas 6 (1976), 83 - 108. Zum Stellenwert von Selbstzeugnissen generell für die Sozialgeschichte s. Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? in: Bea Lundt/ Helma Reimöller (Hg.): Von Aufbruch und Utopie: Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters, für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages, Köln/ Weimar/ Wien 1992, 417 - 450; Jan Peters: Wegweiser zum Innenleben? Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchung popularer Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 1,2 (1993), 235 - 248. 18 Zu frühen Selbstzeugnissen s. Harald Tersch: Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (1400-1650). Eine Darstellung in Einzelbeiträgen, Wien/ Köln/ Weimar 1998; Werner Mahrholz: Deutsche Selbstzeugnissse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919; Inge Bernheiden: Individualität im 17. Jahrhundert. Studien zum autobiographischen Schrifttum, Frankfurt a. Main 1988: Allgemein: Jens Jessen (Hg.): Bibliographie der Autobiographien, 6 Bde. München u.a. 1983-1989. Zu Selbstzeugnissen von Unterschichtsangehörigen s. Klaus Bergmann: Lebensgeschichte als Appell. Autobiographische Schriften der »kleinen Leute« und Außenseiter, Opladen 1991, mit einer Bibliographie von Autobiographien. Zu Autobiographien von Frauen: Magdalena Heuser (Hg.): Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen 1996. Bürger oder Außenseiter? 341 Eine ganz spezielle Erlebniswelt wird in den Autobiographien von Gefangenen greifbar. 19 Sie versprechen, entgegen der Ansicht mancher Kriminologen 20 , für die Sozialgeschichte der Kriminalität 21 , darüber hinaus jedoch auch für die allgemeine Sozialgeschichte wichtige Aufschlüsse. Nicht die geglückte Vermittlung von gesellschaftlichen Normen und die individuelle Selbstverwirklichung (wie sie mehr oder weniger die bürgerliche Autobiographie auszeichnet) werden thematisiert, sondern gerade die Schwierigkeiten, die das Individuum mit der Erfüllung dieser Normen hat. Sein Weg zum kriminellen Verhalten, seine speziellen Motivationen und Erlebnisse, die zur Produktion eines sozial »abweichenden Verhaltens« 22 bis hin zur Internierung führten, werden aus der Perspektive des Betroffenen selbst, nicht, wie sonst üblich, aus der der Betreuungs- oder Internierungsinstanzen 23 geschildert. Die Abfassung von Gefangenenautobiographien kann unterschiedlichen Motivationen entspringen. Es kann der eigene Wunsch des Gefangenen ausschlaggebend sein, die Zeit der Internierung zur Selbstreflexion zu nutzen, ja, den Leidensdruck, der durch die 19 Bergmann: Lebensgeschichte (wie Anm. 18). Ein frühes Beispiel bringen Martin Scheutz/ Harald Tersch: Das Salzburger Gefängnistagebuch und der Letzte Wille des Zeller Pflegers Kaspar Vogl (hingerichtet am 8. November 1606), in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 135 (1995), 689 - 748. Zur politisch motivierten Gefängnisliteratur s. Sigrid Weigel: »(...) und selbst im Kerker frei (...)! « Schreiben im Gefängnis. Zur Theorie und Gattungsgeschichte der Gefängnisliteratur (1750 - 1933), Marburg 1982. Zu zeitgenössischen Gefängnisautobiographien s. Helga Cremer-Schäfer: Über den Stellenwert autobiographischer Geschichten von Straftätern als eine sozialgeschichtliche Quelle, in: Kriminologisches Journal, 2. Beiheft (1987), 160 - 175; dies.: Biographie und Interaktion. Selbstdarstellungen von Straftätern und der gesellschaftliche Umgang mit ihnen, München 1985. Für England s. z.B.: Philip Rawlings: Drunks, Whores and idle Apprentices, Criminal biographies of the eighteenth century, London/ New York 1992. 20 So etwa Wolf Middendorff in seinem Beitrag zur Historischen Kriminologie in: Hans Joachim Schneider (Hg.): Kriminalität und abweichendes Verhalten Bd. 1, Weinheim/ Basel 1983 (Kindlers Psychologie des 20. Jahrhunderts), 159 - 168, hier: 167 mit weiterer Literatur. 21 Vgl. u.a. Dirk Blasius: Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1978; ders.: Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1988), 136 - 149; Heinz Reif (Hg.): Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1984, bes. die Einleitung von Heinz Reif, 7 - 16; Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: ZHF 4 (1992), 385 - 414 mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen; Richard van Dülmen (Hg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a. Main 1990; Martin Dinges: Der Mauermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994; Fritz Sack: Kriminalität, Gesellschaft und Geschichte: Berührungsängste der deutschen Kriminologie, in: Kriminologisches Journal 19 (1981), 241 - 268. 22 Zum abweichenden Verhalten s. David Matza: Abweichendes Verhalten. Untersuchungen zur Genese abweichender Identität, Heidelberg 1973. S.a. Lerke Gravenhorst: Soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens. Fallstudien an weiblichen Insassen eines Arbeitshauses, Frankfurt a. Main 1970. Einer der am häufigsten diskutierten Ansätze zur Begründung der Entstehung von abweichendem Verhalten ist der sog. »labeling-approach«. Der »labeling-approach« definiert das abweichende Verhalten von Straftätern einseitig als Produkt der Gesellschaft und ihrer Internierungsinstitutionen, die dadurch, daß sie den Gefangenen mit dem Etikett »Krimineller« versehen, erst eigentlich die Kriminalität schaffen. Dieser Ansatz wird inzwischen eindeutig zurückgewiesen zugunsten eines stärker interaktionistisch ausgelegten Modells von Kriminalität. Vgl. Wilfried Ferchhoff/ Friedhelm Peters: Die Produktion abweichenden Verhaltens. Zur Rekonstruktion und Kritik des Labeling Approach, Bielefeld 1981; Werner Rüther: Abweichendes Verhalten und labeling approach, Köln/ Berlin 1975. 23 S. z.B. die Untersuchung der beiden Psychotherapeuten Siegfried W. Engel und Dietrich von Engelhardt: Kriminalität und Verlauf. Literaturbericht - Ein System der Verlaufsforschung - Vier empirische Untersuchungen, Heidelberg 1978. Heike Talkenberger 342 erzwungene Isolation von der Gesellschaft entsteht, durch das eigene Schreiben zu minimieren. Schreiben kann dann Ventilfunktion haben. 24 Die Schreiberlaubnis galt deshalb bei Gefangenen als Belohnung für gute Führung. Neben das Motiv, die Zeit der Gefangenschaft durch das Schreiben besser zu bewältigen, tritt gerade bei politischen Gefangenen der explizite Wille, die Öffentlichkeit außerhalb des Gefängnisses über die eigenen Anschauungen zu informieren. Bei den Texten von politischen Gefangenen ist häufig eine Abgrenzung nach »unten« zu den »normalen« Kriminellen zu finden, um die eigene Identitätsbildung zu befördern. 25 Daneben gibt es auch den Typus des religiös motivierten autobiographischen Schreibens, zu dem anscheinend vor allem Frauen neigen. 26 So mancher Gefangene verfaßte übrigens erst nach der verbüßten Haft eine Autobiographie, um die Erfahrungen während des Gefängnisaufenthalts zu verarbeiten und zudem ohne Zensur schreiben zu können. Weniger bekannt ist, daß im sich wandelnden Strafvollzug des 19. Jahrhunderts die Gefangenen systematisch dazu angehalten wurden, ihre Lebensgeschichte zu verfassen. Man erhoffte sich dadurch eine intensivere Auseinandersetzung des Gefangenen mit seinen Unrechtstaten. Der Gefangene wurde nämlich zunehmend als irregeleitetes Individuum entdeckt, dessen Seele gerettet werden sollte. Die Erziehbarkeit des Subjekts, wie es die Aufklärungspädagogik propagierte, spielt hier eine Rolle. Anknüpfend an die hohe Quote der Rückfälligen wurden Überlegungen angestellt, wie eine tiefgreifende »Besserung« des Gefangenen erreicht werden könne. 27 Eine Möglichkeit sah man darin, daß der Kriminelle sich mit seinen Taten auseinandersetzen und sie aktiv bereuen müsse. Generell hatte sich in der Spätaufklärung die Ansicht durchgesetzt, daß durch Selbstreflexion und Selbstbeobachtung ein Zugang zum Reich des Unbewußten, zum dunklen, unbekannten Teil der Seele eröffnet würde. Die Vernunft könne so die »Nachtseite« des Menschen bemeistern helfen. Diese Überlegung galt für alle Menschen, keineswegs nur für Straftäter, doch entwickelte sich in diesem Zusammenhang auch das aufklärerische Interesse an der Lebensgeschichte von Personen mit abweichendem Verhalten wie Kriminelle oder psychisch Gestörte. 28 Im Strafvollzug Mitte des 19. Jahrhunderts schlägt sich dieses immer noch nieder, wobei eine besondere Bedeutung der schriftlichen Reflexion zukommt: Das Aufschreiben der eigenen Erlebnisse wird als nachhaltigste Form dieser »Selbstbesinnung« angesehen. Die Gefangenen 24 Vgl. Weigel: Kerker (wie Anm. 19), 7. 25 Vgl. die verschiedenen Modelle autobiographischen Schreibens bei Bergmann: Lebensgeschichte (wie Anm. 6); zur Abgrenzung nach unten 154 - 160. Als Beispiel für eine politische Autobiographie sei die des bayrischen Anarchisten Sepp Oerter genannt. In dem 1902 entstandenen Text findet sich explizite Gesellschafts- und Justizkritik. Der Autor beschreibt die Unmenschlichkeit des Strafvollzugs und hat ein klares Freund-Feindschema. Oerters Identitätsbildung vollzieht sich in Abgrenzung vom Staat als dem Bösen. Dem setzt er seine Idee des Anarchismus entgegen. Vgl. Sepp Oerter: Acht Jahre Zuchthaus. Lebenserinnerungen, Berlin (1908). Zur Arbeiterautobiographie s. Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen, Frankfurt a. Main/ New York 1983; Michael Vogtmeier: Die proletarische Autobiographie 1903 - 1914. Studien zur Gattungs- und Funktionsgeschichte der Autobiographie, Frankfurt a. Main u.a. 1984; Wolfgang Emmerich (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland Bd. 1 (bis 1914), Reinbek b. Hamburg 1974 sowie ebenfalls zum frühen 20. Jahrhundert Peter Sloterdijk: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der zwanziger Jahre, München 1978. 26 Ein typisches Produkt dieser Art von Gefangenenliteratur ist z.B. der anonyme Text »Die Wunder der Gnade«. Lebensbeschreibung einer Verbrecherin, von ihr selbst geschrieben im Gefängnis. Hg. v. B. F. v. Tscharner, Stuttgart 1852. Die Verfasserin, eine Kindsmörderin, möchte ihr Bekehrungserlebnis, ihre Rettung durch den Heiland, in missionarischer Absicht mitteilen. Bürger oder Außenseiter? 343 wurden, zumeist vom Direktor oder dem Anstaltsgeistlichen, zur Abfassung ihrer Lebensgeschichte aufgefordert. Des öfteren wurden die so entstandenen Autobiographien auch veröffentlicht. Zumeist liegen allerdings Editionen vor, bei denen die ursprüngliche Gestalt der Texte nicht erhalten blieb, sondern diese von Geistlichen, Juristen oder Psychologen bearbeitet oder nur auszugsweise veröffentlicht wurden. 29 Anders der mir vorliegende Text. Es handelt sich um einen Fund bei der archivischen Erschließung des Bestandes »Staatsanwaltschaft Stade« im Staatsarchiv Stade. Die handschriftlich überlieferte Autobiographie 30 , die nicht durch einen Herausgeber verändert wurde, trägt den von anderer Hand hinzugefügten Titel »Lebensgeschichte des Betrügers Luer Meyer aus Osterholz« und umfaßt 200 Seiten. Anhand dieses autobiographischen Materials möchte ich mit Hilfe von Konzepten der Sozialisationsforschung 31 untersuchen, ob und wie es dem Autor gelingt, eine Identität aufzubauen und zu stabilisieren 32 , seinen Platz in der Gesellschaft zu bestimmen und den Konflikt mit den herrschenden gesellschaftlichen Normen zu beschreiben. In einem ersten Schritt 27 Zum Gesamtzusammenhang s. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976, 295 - 397; Wolfgang Dreßen: Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Preußen/ Deutschland, Frankfurt a. Main/ Berlin/ Wien 1982, bes. 50 - 104 und 271 - 341; Christian Marzahn: Das Zucht- und Arbeitshaus. Die Kerninstitution früher bürgerlicher Sozialpolitik, in: Ders./ Monika Ritz (Hg.): Zähmen und Bewahren. Die Anfänge bürgerlicher Sozialpolitik, Bielefeld 1984, 24 - 53. Eine exemplarische Studie zu Hessen bietet Hubert Kolling: Die kurhessischen »Straf- und Besserungsanstalten«. Institutionen des Strafvollzugs zwischen Fürsorge, Vergeltung und Abschreckung, Frankfurt a. Main u.a. 1994. Verknüpft mit dieser Thematik war die Diskussion um die Einzelhaft und das Zellengefängnis nach dem Vorbild des pennsylvanischen Strafvollzugs. Einer der führenden Köpfe der deutschen Strafrechtsreform war Julius. Vgl. Nikolaus Heinrich Julius: Die amerikanischen Besserungs-Systeme, Leipzig 1837; ders.: Vorlesungen über die Gefängniß-Kunde, oder über die Verbesserung der Gefängnisse und sittliche Besserung der Gefangenen, entlassenen Sträflinge u.s.w., gehalten im Frühling 1827 zu Berlin, Berlin 1828; s.a. Georg Michael Obermaier: Anleitung zur vollkommenen Besserung der Verbrecher in den Strafanstalten, Kaiserslautern 1835; Friedrich J. Behrend: Geschichte der Gefängnisreform, Berlin 1859; C. A. Dietz: Über Verwaltung und Einrichtung der Strafanstalten mit Einzelhaft und die Verbesserungen, die diese Haftart bedürftig und fähig ist, Karlsruhe 1857. Zahlreiche Literaturhinweise finden sich in der Auswahlbiographie bei Joachim Döbler: Gezähmte Jugend. Regulierungsprozesse in der Strafklasse des Hamburger Werk- und Armenhauses (1828 - 1842), 314 - 323; zur Strafrechtsreform bei Döbler 58 - 71. Ein detailliertes Konzept der »Besserung« des Gefangenen wird von dem späteren Direktor des Arbeitshauses in Vechta, Hoyer, vorgelegt, der sich explizit auf Obermaier und Julius bezieht. Vgl. StA Oldenburg, Kabinettsregistratur, Nr. 31 - 13, 69 - 1, 211 - 281. Ich danke Dr. Matthias Nistal vom Staatsarchiv Oldenburg ganz herzlich für die Unterstützung meiner Arbeit. 28 Dahinter steht die Angst des aufgeklärten Bürgers vor einem Ungleichgewicht der Seelenkräfte. Vgl. Kaufmann: Aufklärung (wie Anm. 12), bes. 25 - 49. 29 Heinrich Spengler (Hg.): Aus Kerkermauern. Bilder aus dem Verbrecherleben, Heidelberg 1884; Diakon Stromeyer (Hg.): Aus dem Tagebuch eines Vagabunden, Minden 1893; Fleischmann: Vagabunden- und Verbrecherleben (wie Anm. 9). 30 (Luer Meyer): Selbstbiographie des Verbrechers Luer Meyer aus Osterholz. StA Stade, Rep. 171a Stade, Nr. 1110. Wie die Autobiographie in diesen Aktenbestand geraten ist, konnte nicht geklärt werden, jedenfalls lag sie einer Akte bei, die in keinerlei Zusammenhang zu ihr steht. Wahrscheinlich wurde sie beim Aufräumen des Bodenraums, der der Staatsanwaltschaft Stade als Altregistratur diente, gefunden und einer Akte wahllos beigelegt, damit sie nicht verloren geht. 31 Vgl. z.B. Klaus Hurrelmann (Hg.): Sozialisation und Lebenslauf. Empirie und Methodik sozialwissenschaftlicher Persönlichkeitsforschung, Reinbek b. Hamburg 1976 sowie ders./ Dieter Ulich (Hg.): Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim 1980. 32 S. z.B. Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. Main 1967; Alois Hahn/ Volker Kapp (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a. Main 1987, darin bes. der Aufsatz von Alois Hahn: Identität und Selbstthematisierung, 9 - 25. Heike Talkenberger 344 werde ich daher die Einflüsse beschreiben, die der Protagonist von den Instanzen empfängt, die jeweils Normen, allerdings konkurrierenden Inhalts, vermitteln. Danach soll untersucht werden, wie das Bild, das dieser Gefangene von sich selbst entwirft, sich zu den Bildern vom Delinquenten und seinem Lebensweg verhält, die im wissenschaftlichen Diskurs entwickelt werden. Dabei ist die leitende Fragestellung, ob und gegebenenfalls wie Diskurse über das Verbrechen vom Autor angeeignet wurden, ob sie in das Selbstbild der Gefangenen eingegangen sind bzw. ob und wie das Selbstbild von diesen Diskursen differiert. 3. Zwischen Normerfüllung und Normverletzung: Die Autobiographie des Luer Meyer Der Autor, Luer Meyer, wurde nach eigenen Angaben am 12. Januar 1824 in Oyten unweit von Bremen unehelich 33 geboren und wuchs bis zu seinem neunten Lebensjahr bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf. Seine Eltern heirateten, als sie genügend Geld für einen Hausstand zusammengebracht hatten - Luer war drei Jahre alt - ohne daß sie jedoch ihren Sohn zu sich genommen hätten. Über die ersten neun Lebensjahre erfährt der Leser überhaupt nichts. Luer zieht zu seinen Eltern nach Oberneuland 34 , das im 19. Jahrhundert zum stadtbremischen Gebiet gehörte. Dort war sein Vater erfolgreich als Zimmermann tätig und versorgte gemeinsam mit seiner Ehefrau zusätzlich eine kleine Landwirtschaft. In der Autobiographie schildert Luer Meyer nicht nur seinen Lebensweg, sondern auch die Verhältnisse in den verschiedenen Arbeits- und Zuchthäusern, in denen er eingesessen hat: im Arbeitshaus und im Zuchthaus in Bremen, in den Arbeitshäusern in Hameln und Vechta sowie im Zucht- und Spinnhaus in Hamburg. 3.1. Instanzen der Normvermittlung Verschiedene Instanzen und Autoritäten vermittelten Luer Meyer die herrschenden gesellschaftlichen Normen. Im Elternhaus, der ersten Instanz, wird dem Knaben große Aufmerksamkeit zuteil: »Da ich der einzige Sohn meiner Eltern war und bis soweit mit keinen Andern ihre Liebe zu theilen brauchte, so wandten sie vieles an mich, um aus mir einen nützlichen Menschen zu zu (sic! ) erziehn woran sie Freude haben und ihre alten Tage, wenn Gott sie solche verlieh, beschließen wollten; in welcher Hoffnung ich sie leider bitter getäuscht habe.« 35 Luers Eltern, besonders sein Vater, legen großen Wert auf eine gute Schulbildung ihres Sohnes. Schon als Begründung dafür, daß Luer nach Oberneuland übersiedelt, heißt es: »(...) von diesen Zeiten an nahmen mir meine Eltern zu sich, weil ich in Euten nur einen betrübenden Schulunterricht hatte bei welchem ich noch nichts pro- 33 Vgl. den Eintrag im Kirchenregister StA Stade, Rep 83a Stade, Achim Bd. III (1801 - 1824). »Margarete Ahsendorf, weil. Johann Ahsendorf Häusling in Oiten, Tochter, gebohren einen unehelichen Sohn, den 18. Januar, N. Lüder. Vater: Lüder Meier, Joh(ann) Meier, Anbauer in Rockwinkel im Gebiete der Stadt Bremen Sohn.« 34 Wilhelm Maßolle: Blätter zur Geschichte der Kirchengemeinde Oberneuland, Bremen 1927; Kurt Entholt: Oberneuland, Bremen 1969; Sophie Hollanders (Hg.): Oberneuland: Bilder aus alten Truhen, Bremen 1981. 35 Meyer: Selbstbiographie, (wie Anm. 30), 2. Bürger oder Außenseiter? 345 vitiert hatte und auch nichts konnte.« 36 Der Vater, der sich selbst autodidaktisch in Geometrie und Mathematik weitergebildet hatte und den Sohn beim Lernen unterstützt, schwört auf den Erfolg durch Bildung. So läßt er seinen Sohn statt mit 14 erst mit 16 Jahren aus der Schule offiziell entlassen und verzichtet somit darauf, sich seine Mitarbeit in der häuslichen Landwirtschaft schon früher zunutze zu machen. Engagement in der Schule, Gehorsam und Ehrlichkeit werden von dem Sohn erwartet. Vor allem die Mutter sucht Luer zudem zu einem christlichen Lebenswandel anzuhalten. So gibt sie ihm als Lektüre bei seinem ersten Gefängnisaufenthalt ein Büchlein mit dem Titel: »Christlicher Wegweiser für Wanderer nach der Ewigkeit«. 37 Die zweite Sozialisationsinstanz ist die Schule. Im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht wurde an Luer die Erwartung gerichtet, bis zum 14. Lebensjahr pünktlich und regelmäßig in der Schule zu erscheinen. Neben fleißigem Lernen wurde Wert darauf gelegt, daß die Schüler sich im Unterricht sowie auf dem Schulweg untadelig verhielten. Parallel zur Schule stellte auch der dörfliche Pfarrer Verhaltenserwartungen an Luer. Der Junge besucht die »Kinderlehre« und später den Konfirmationsunterricht, bei dem er gute Bibelkenntnisse vorweisen muß. Auch hier werden die Normen eines christlichen Lebenswandels vermittelt, und Luer wird zur Rechenschaft gezogen, wenn er gegen sie verstößt. Nach dem ersten Gefängnisaufenthalt reagiert denn auch der Pastor: »Aber der Herr Pastor dem dieses zu Ohren gekommen war und auch wohl gehört haben mochte, daß ich geseßen hatte, der nahm mir eines Mittags mit in sein Haus, als wir aus der Cofirmanten-Stunde kamen, und hielt mir eine eindringliche Vermahnung. Er bewies mir durch Biebelstellen das verwerfliche meines Betragens; und suchte mir durch Beispiele darauf hinzuweisen, daß ich mich noch einmal höchst unglücklich machen und meine Eltern ein frühzeitiges Grab bereiten würde, wenn ich auf demWege darauf ich begriffen, so vortfahren würde zu handeln wie ich begonnen hätte. Er schloß mit ein Gebet für mich, daß Gott mir doch bei Zeiten die Augen öffnen und mir vonn den Irrwegen wieder auf den Weg der Erkenntniß und der Tugend zurückführen möchte. Ich verließ ihn unter vielen Versprechungen, daß ich mich bekehren wollte.« 38 Er vermag sein Versprechen jedoch nicht zu halten und wird wieder straffällig. Auf seinem weiteren Lebensweg soll Luer durch mehrere Gefängnisaufenthalte von seinem kriminellen Verhalten abgebracht werden. Zum Verbrecher geworden, bekommt Meyer vielfältigen Kontakt mit Gerichten und Gefängnissen und wird dort an der Norm der Gesetze gemessen. Alle Justizeinrichtungen postulieren dabei die Norm der Gerechtigkeit sowie die der sittlich-moralischen Besserung der Gefangenen. Besonders das Arbeitshaus in Vechta tut sich hier hervor: Inspiriert von Ideen der Gefängnisreform, wird die Strafanstalt als Besserungsanstalt verstanden. Bei den Gefangenen soll eine intensive Gewissensausbildung erreicht werden, die Direktor und Gefängnisgeistlicher anleiten. Eine weitgehende »Ausforschung« des Sträflings und die darauf beruhende »Korrektion« seines Charakters ist das Ziel: »Alles was in der Strafanstalt zu Vechta für die Gefangenen gethan wird, geschieht aus einem religiösen Eifer, und alles Thun und Handeln ist mit einem religiösen Geist durchwoben, um dadurch den Menschen sittlich zu bessern und ihm eine religiöse Richtung bei zu bringen.« 39 Und der Erfolg: 36 Meyer: Selbstbiographie, (wie Anm. 30), 2. »Euten« ist der Geburtsort Oyten. 37 Meyer: Selbstbiographie, (wie Anm. 30), 17. 38 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 36. 39 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 185. Heike Talkenberger 346 »Mancher wurde aus seinem geistigen Schlafe aufgerüttelt und zur Erkenntniß seiner selbst gebracht.« 40 Die auf den Gefangenen zielende Einflußnahme kann die Form von Bußpredigten annehmen: »Er (der Pastor Langreuter, H.T.) ist aber nichts destoweniger ein stränger und ernster Bußprediger, der den Menschen aber wahrhaftig nicht hätschelt und schmeichelt, sondern ihnen da anzufassen versteht, wo das Übel sitzt und wo er ihnen am wehesten thut.« 41 Die Überwachung der Seele im Sinne Foucaults 42 erlebt Luer Meyer hier, gepaart mit einem weitreichenden Bildungsangebot, das der Anstaltsleiter vermittelt. Auch eine Bibliothek steht den Gefangenen zur Verfügung. Gehorsam, Arbeitseifer und Ehrlichkeit werden dabei vom Führungs- und Aufsichtspersonal mit großer Strenge eingefordert. Das von den Autoritäten, zuallererst den Eltern vermittelte Normensystem richtet sich auf das eine Lebensziel: Durch Fleiß, Arbeit, Bildung und das Befolgen christlicher Moralvorstellungen - also den typisch bürgerlichen Tugenden 43 - soll Luer den vom Vater vorgegebenen gesellschaftlichen Status halten, eventuell auch verbessern. Nicht die schnelle Bedürfnisbefriedigung, sondern deren Aufschub und eine bescheidene, sparsame Lebensführung werden gefordert. Der Plan zielt auf das Erlernen eines Handwerksberufs, spätere Heirat und Familiengründung. Schule, Kirche und Gefängnis unterstützen diesen bürgerlichen Lebensentwurf und können zeitweise das Leben des Autors durchaus beeinflussen. 3.2. Das konkurrierende Normensystem: Die Instanz der »peer-group« Luers erste Freunde und Spielkameraden entstammen den reichen Bremer Oberschichtfamilien. Die Eltern dieser Kinder können sich einen finanziell aufwendigen Lebensstil leisten und ihre Sprößlinge mit guter Kleidung, Süßigkeiten und Spielzeug ausstatten. Dies erweckt bei Luer Sozialneid, gepaart mit dem Wunsch, mitzuhalten. Auch er möchte größere Geldmengen für die Erfüllung eigener Bedürfnisse ausgeben können. Das erfordert, Geld schnell und leicht zu beschaffen. Der Kontakt mit den priviligierteren sozialen Schichten löst einen Konflikt mit Luers Rolle als Handwerkerssohn aus: »Die Bekanntschaft mit diesen Kindern hatte jedoch üble Folgen für mich. Denn, da diese allerlei schöne Sachen und Spielzeug hatten, so wurde gar bald der Wunsch in mir rege, auch solches zu besitzen. Anfangs war dieses nur ein leiser Wunsch, der sich in mir regte, aber bald entstanden heftige Begierden in meinem Herzen, die mich antrieben, auf Mittel zu sinnen, wodurch ich meine Leidenschaft befriedigen konnte. Meine Eltern machten mir gerne ein Vergnügen und erfüllten mir gerne einen Wunsch, wenn derselbe nicht ihre Kräfte überstig, allein Alles konnten sie mir niht gewähren; denn ich war bald nicht mehr genügsam, wenn ich das Eine hatte, verlangte ich schon gleich darauf wieder nach dem Andern. 40 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), ebd. 41 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 186. 42 Foucault: Überwachen (wie Anm. 27 ), 327f. 43 Vgl. Paul Münch (Hg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«, München 1984, bes. 9 - 38; Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. Main u.a. 1994; Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680 - 1815), Göttingen 1996 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 127); Heike Talkenberger: Die Konstruktion von Männerrollen in württembergischen Leichenpredigten des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Martin Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 1998. Bürger oder Außenseiter? 347 Ich sann daher auf Mittel, wodurch ich mir selbst meine Begierden befriedigen konnte; und um diese Zeit (ich war noch nicht mal 12 Jahre alt) beging ich schon die erste abscheuliche That, und zwar an meine Eltern.« 44 Luer lebt nicht etwa in bitterster Armut, aus der heraus seine Wünsche leichter verständlich gewesen wären. Vielmehr bringt er schon hier seine »Leidenschaften« 45 ins Spiel, um sein Verhalten zu erklären, ein Motiv, das immer wieder in der Erzählung seines Lebens auftritt. Die von seinem sozialen Milieu geforderte Genügsamkeit kann und will er nicht leisten. Luer gesellt sich deshalb zu Gleichaltrigen, die häufig den untersten sozialen Schichten angehören und die, wie er, das Interesse haben, sich schnell zu bereichern, dabei Lebensgenuß und Spaß für wichtiger halten als Bescheidenheit und das Pflichtbewußtsein gegenüber Eltern und Schule. Die Mißachtung der Normen der Erwachsenenwelt ist hier die Verhaltensregel. Bei den Arbeitskollegen während seiner Maurerlehre, der nächsten »peer-group«, sucht Luer immer wieder Anschluß, indem er sich das Wohlwollen der anderen erkaufen will. So besorgt er des öfteren Alkohol für alle. Das nötige Geld beschafft er sich durch Diebstähle. Er orientiert sich hier an denjenigen, für die Alkoholgenuß und Spiel statt fleißiger Arbeit im Vordergrund stehen, fordert auch hier die Autoritäten heraus. Im Gefängnis schließlich wird Solidarität und Anpassung an die Gefangenenhierarchie erwartet. Dies beschreibt Luer anläßlich seines ersten Aufenthalts im Gefängnis so: »Ich wurde von dieselben (d.i. den Gefängnisinsassen, H.T.) recht freundschaftlich empfangen und das Erste was sie begannen, war, daß sie meinen Tuch visitirten und sich meine Wurste und Speck gutschmecken ließen. Und als ich mich darüber schief zur Seite guckte, sagten sie daß es dort so Gebrauch wäre, daß ich aber wieder was abbekäme, wenn sie was hätten.« 46 Zur Anpassung gehört auch, bei den unerlaubten, aber profitablen Geschäften der Mitgefangenen mit den Wärtern niemanden zu verraten. 47 Meyer ordnet sich so in ein mit den sonstigen gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen konkurrierendes Normensystem ein. Die Mitinsassen erzählen Geschichten über ihre Erlebnisse und teilen Luer ihre Erfahrungen über ein Leben jenseits der Legalität mit. Dies übt auf Luer einen so großen Reiz aus, daß er das Detentionsgefängnis, seinen ersten Internierungsaufenthalt, gar als zu kurz empfindet: »(...) da immer fleißig Geschichten erzählt wurden, verging mir die Zeit viel zu schnell und wäre ich gerne noch länger dageblieben.« 48 Die Einübung in die abweichende Norm geht soweit, daß ein Mitgefangener Luer einem regelrechten Lügentraining für eine Falschaussage vor Gericht unterzieht. 49 Luer nennt daher die Gefängnisse »eine echte Bildungsschule aller Nichtswürdigkeiten und Verbrechen« 50 , erst hier habe er die eigentlichen Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt bekommen, die ihn in seinem kriminellen Weg bestärkt hätten. Als er mit 19 Jahren aus dem Arbeitshaus in Bremen 51 entlassen wird, beginnt er eine eindeutig kriminelle Lebensführung auszubilden. 52 44 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 6. Zum Zeitpunkt der ersten kriminellen Tat s. S. Crossier: Zur Entwicklung von jugendlichen und heranwachsenden Delinquenten, in: Engel/ von Engelhardt: Kriminalität (wie Anm. 23), 231 - 271, bes. 234. 45 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 6. Vgl. auch Anm. 12. 46 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 17f. 47 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 66. 48 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 18. 49 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 30. 50 Dies mit Ausnahme von Vechta. Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 130. Heike Talkenberger 348 Das Lebensziel lautet nun, sich durch schnellen, mühelosen Gelderwerb, der kriminelle Mittel einschließt, ein angenehmes, abenteuerliches und sorgenfreies Leben zu verschaffen. Gesellschaftlicher Aufstieg wird nicht angestrebt, vielmehr ein ungebundenes, keinen Hierarchien unterworfenes Leben mit schneller Befriedigung von Bedürfnissen, ein unbürgerliches Verhalten bis hin zur ständigen Wanderschaft mit Ablehnung der Seßhaftigkeit. 3.3. Zwischen bürgerlicher und krimineller Identität So bewegt sich unser Protagonist ständig zwischen Normerfüllung und Normverletzung. Zunächst scheint es so, als wolle Luer den durch Elternhaus, Schule und Kirche vermittelten Normen folgen und verhalte sich völlig konform. Er geht regelmäßig zur Schule, lernt fleißig und bringt in Schule und Kinderlehre gute Leistungen, so daß Eltern, Lehrer und Pastor zufrieden sind. »Lust und Liebe« zum Lernen 53 bestimmen sein Verhalten. Auch, nachdem Luer Meyer mehrmals straffällig geworden ist, versucht er immer wieder, die bürgerlichen Normen zu erfüllen und ein Leben zu führen, wie es die Autoritätspersonen von ihm erwarten und wie er es zeitweise wohl auch selbst möchte. So beginnt er mit siebzehn Jahren eine Lehre als Maurerlehrling, ist später als Bote und nach seiner ersten Haftentlassung aus dem Arbeitshaus in Bremen, also ab 1843, recht erfolgreich als Zigarrenarbeiter tätig. Nach dem Tod seines Vaters, Luer ist zu diesem Zeitpunkt fünfundzwanzig Jahre alt, gründet er sogar eine Zigarrenfabrik mit mehreren Mitarbeitern im Hause seiner Mutter, die so gut floriert, daß er seine Mutter finanziell unterstützen kann. In dieser Lebensphase trägt er sich mit Heiratsplänen: Einem bürgerlichen Leben scheint nichts im Wege zu stehen. Auch im Gefängnis versteht er es immer wieder, sich das Wohlwollen der Anstaltsgeistlichen oder der Direktoren zu sichern, wenn er als Sträfling lernbegierig und besserungswillig ist. Auf der anderen Seite ist es stets die Ausrichtung an der Bezugsgruppe mit dem konkurrierenden Normensystem und der eigene Wunsch nach Unabhängigkeit und leichtem Leben, der zum Konflikt mit der bürgerlichen Welt und zu abweichendem Verhalten führt, beispielsweise, wenn Meyer sich durch Diebstahl und Betrug schnelles Geld verschafft, die Schule schwänzt, sich mit Pistolenschießen im Wald vergnügt und sich zahllose Lügen ausdenkt, um seine Normabweichungen zu bemänteln. Seinen ersten Diebstahl verübt er mit zwölf Jahren, der zweite folgt ein Jahr später. Mit sechzehn Jahren ist ihm der Aufenthalt in Kneipen bei Tanzmusik und Kartenspiel zur Gewohnheit geworden, auch Frauenbekanntschaften knüpft er dort an. Seine kostspieligen Vergnügungen erfordern immer neue Geldmittel, so daß die Frage, wie er sich hohe Geldsummen beschaffen könnte, das Leben des Autors zu bestimmen beginnt. Schließlich muß er seine Berufsausbildung schon nach einem halben Jahr abbrechen, weil er eines Diebstahls überführt wird. Ein Leben in einer Grauzone der Halblegalität, in der Meyer als Wilderer, z.T. im Auftrag eines Adligen, tätig ist, ein ungebundenes Leben führt und 51 Zum Bremer Arbeitshaus s. Otto Grambow: Das Gefängniswesen Bremens, Diss., Göttingen 1910; Annegret Behrens/ Inge Koepsell: Zur Geschichte des Bremer Gefängniswesens unter besonderer Berücksichtigung des Beschäftigungssystems. Diplomarbeit im Fachbereich Sozialpädagogik an der Universität Bremen, Bremen 1979 (masch.); Hans-Joachim Graml: Der Strafvollzug einst und heute, Düsseldorf 1965. 52 Während seiner Jugendzeit findet also bei Meyer die entscheidende Abkehr von den bürgerlichen Normen statt. S. dazu Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt a. Main 1986. 53 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 3. Bürger oder Außenseiter? 349 sich durch guten Verdienst Tanzabende mit ausgiebigen Trinkgelagen leisten kann, erweist sich zwischenzeitlich als Möglichkeit, diesem Lebensziel nachzustreben, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden. Die herrschenden gesellschaftlichen Normen werden nicht mehr befolgt, doch wird Luer noch nicht als Krimineller auffällig. Aber auch dieser Weg scheitert, als Luer sich nicht mehr so erfolgreich als Wilderer betätigen kann. Nach seiner ersten Haftstrafe, also mit neunzehn Jahren, wird er Spieler, Dieb und Betrüger, eine kriminelle Tat folgt der anderen. Andere, ihm damals offenstehende Handlungsmöglichkeiten, wie etwa, zum Militär zu gehen oder nach Amerika auszuwandern, werden nur erwogen, aber dann doch nicht in die Tat umgesetzt. Sein nochmaliger Anlauf, mit der Gründung einer Zigarrenfabrik ein bürgerliches Leben zu führen, wird jäh abgebrochen, als Meyer entdeckt, daß ihm seine Verlobte drei uneheliche Kinder 54 verschwiegen hat: Der Sohn verläßt das Haus seiner Mutter, damit auch seine Arbeitsstätte, und die dort lebende Verlobte Meta Scheele, ungeachtet der Tatsache, daß die junge Frau inzwischen auch ein Kind von ihm erwartet. Für sein Vorhaben, sich wieder in die bürgerliche Welt zu integrieren, kann eine Frau mit mehreren unehelichen Kindern und ebenso vielen verschiedenen Kindsvätern in seinen Augen nicht die richtige Partnerin sein. Jetzt beginnt der totale Abstieg des Protagonisten: In völliger Bindungslosigkeit, bestimmt von Alkohol- und Spielsucht, begeht Luer immer neue Straftaten. In Hamburg, inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt, ruiniert er schließlich durch ununterbrochenes Spielen und Trinken seine Gesundheit, sein suchtbezogener Lebenswandel tendiert zur Selbstzerstörung. Schließlich boykottiert er auch die Besserungsbemühungen im Arbeitshaus Vechta 55 , indem er dem Einfluß der Mitgefangenen mehr Raum gibt als den Bestrebungen von Pfarrer und Direktor. Damit verliert er die Chance einer Förderung durch den ihm zunächst gewogenen Direktor Hoyer nach seiner Entlassung. Die Autobiographie endet mit der Einlieferung Meyers als Einunddreißigjähriger ins Hamburger Zucht- und Spinnhaus. Luers Leben stellt sich einerseits dar als Versuch, Unabhängigkeit zu erlangen und das vor allem durch den Vater, aber auch andere Autoritäten geprägte Normensystem zu unterlaufen. Die Orientierung an dem durch die »peer-group« repräsentierten Normensystem eröffnet für Luer gleichzeitig die Möglichkeit, den - uneingestandenen - Wunsch nach Rebellion gegen den Vater auszuleben, mit dem er gleichzeitig die bürgerliche Erwachsenenwelt ablehnt. Bezeichnenderweise ist seine erste Straftat der Diebstahl eines Talers aus der Tasche seines Vaters, für den er dann eine Pistole kauft, einen Gegenstand, den der Vater zutiefst verabscheut. 56 Die Auseinandersetzung mit dem Vater und den gesellschaftlich geforderten Normen wird nie direkt ausgetragen, zu stark ist die Angst vor dem Verlust der Elternliebe. Gleichzeitig berühren ihn durchaus 54 Zur Unehelichkeit von Kindern s. allgemein Michael Mitterauer: Ledige Mütter. Zur Geschichte unehelicher Geburten in Europa, München 1983. In der ländlichen Gesellschaft s. u.a. Peter Becker: Leben und Lieben in einem kalten Land. Sexualität im Spannungsfeld von Ökonomie und Demographie. Das Beispiel St. Lambrecht 1600-1850, Frankfurt a. Main 1990; Beate Harm-Ziegler: Illegitimität und Ehe. Illegitimität als Reflex des Ehediskurses in Preußen im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1991; Wolfgang Kaschuba/ Carola Lipp: Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1982, bes. 363-448. Zur Frühen Neuzeit s. Stefan Breit: »Leichtfertigkeit« und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit, München 1991; Rainer Beck: Illegitimität und voreheliche Sexualität auf dem Land. Unterfinning 1671- 1770, in: Richard van Dülmen (Hg.): Kultur der einfachen Leute, München 1983, 112-150. 55 Zum Arbeitshaus in Vechta s. Trude Hauser: Geschichte der Strafvollzugsanstalten in Vechta, in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Vechta, hg. v. der Stadt Vechta, Bd. 3, Vechta 1978, 367 - 408.1 Heike Talkenberger 350 Schmerz und Tränen 57 der Eltern über das Betragen ihres ungeratenen Sohns: »Als ich den Tag wieder zu hause gekommen war, nahmen mir meine Eltern Abends beide vor und baten mich unter Thränen, daß ich doch vonn den betrettenen Weg ablassen sollte, weil ich sonst später noch mal der unglücklichste Mensch werden würde. Meine Eltern weinnten sehr, was mir herzlich dauerte, und ich ihnen daher daß Versprechen gab, das ich niemals wieder etwas unternehmen würde, wovon sie nicht zufrieden wären und daß ich sie hinfort nichts als Freude machen wollte. Anfangs blieb ich auch den festen Vorsatz getreu, daß ich meine Eltern Freude machte und auch regelmäßig die Schule wieder besuchte, allein dieses hielt keinen Stand bei mir.« 58 Seine Beweggründe kann der Protagonist nur hilflos umschreiben: Ein »Dämon« 59 habe ihn erfaßt, ihn beherrschten »Begierden« 60 und »Leidenschaften« 61 heißt es. Die uneingestandene Konkurrenz vor allem zum Vater führt zu einer Verdrängung der Rebellion auf die Ebene der unkontrollierbaren Gefühle. Gegenüber den Sanktionen der Autoritäten wird er immer unempfindlicher: Ob der Vater prügelt, bittet und dem Jungen ins Gewissen redet, Lehrer und Pastor ›Bußpredigten‹ halten, oder später im Gefängnis Predigt und Strafe auf ihn wirken sollen, alles fruchtet nichts. Luer Meyer gelingt es jedoch auch nicht, in der Negation der Erwachsenenwelt eine stabile Ich-Identität aufzubauen, etwa durch eine dezidiert andere als die berufliche Orientierung des Vaters. Vielmehr löst er sich nicht wirklich von den väterlichen Verhaltensanforderungen und erlebt den Konflikt als Zwiespalt seines Wesens. Nicht zufällig kann er am ehesten den Erwartungen, ein bürgerliches Leben zu führen, dann entsprechen, als sein Vater gestorben ist. Damals erfaßte ihn heftige Reue über seinen Lebenswandel: »Denn durch diese Umstände (den Tod des Vaters, H.T.) tratt mir die ganze Vergangenheit vor die Seele. Mein Leben lag wie ein offnes Buch vor mir darin ich nur schwarze Blätter fand worauf meine Thaten verzeichnet standen, die Stimme meines Gewissens, die ich bis dahin immer unterdrückt hatte, fing jetzt an, mir als den Mörder meines Vaters laut anzuklagen. Mein Zustand war ein ganz jämmerlicher; denn vortwährend schwebte mir das Bild meines Vaters vor Augen und immer und immer wieder hörte ich seine Vermahnungen die er mir gegeben, und des nachts sah ich im Traume, wie er sich abhärmte und um mir weinte, und wenn ich jemals gute Vorsätze und Entschließungen gefaßt habe, so habe ich sie damals gefaßt.« 62 Wie um seine Schuldgefühle zu betäuben, erfüllt er im Nachhinein die väterlichen Wünsche. Doch ist er nicht in der Lage, diesen Entwurf durchzuhalten, die Schuld daran aber schiebt er einem »teuflischen Geschick« 63 zu, das ihm Meta Scheele zuführte. So verbleibt Luer Meyer bis zum offenen Schluß seiner Autobiographie in dieser Ambivalenz von Normerfüllung und abweichendem Verhalten, wobei er sich nicht als 56 »Das Pistol durfte ich aber nicht sehen lassen; denn das würde mein Vater auf der Stelle vernichtet haben; litt er es doch nicht einmal, daß die Stadtjungens mit ihre Schießgewehre in die Nähe unsers Hauses kamen.« Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 8. 57 Dazu Anne Vincent-Buffault: The History of Tears. Sensibility and Sentimentality in France, Houndmills 1991. 58 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 18f. 59 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 9. 60 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 6. 61 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), ebd. 62 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 137. 63 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 143. Bürger oder Außenseiter? 351 Herr seiner Entscheidungen fühlt: Stets wird er entweder durch ein unverstandenes Gefühl zur Handlung gedrängt oder er erliegt dem Einfluß anderer. Sogar in seiner kriminellen Praktik herrscht die Ambivalenz der Selbstkonstitution vor: Die Betrügereien, die Meyer verübt, sind so angelegt, daß sie entdeckt werden müssen, denn der Täter gibt sich stets für jemand anderen aus, in dessen Namen er Geld kassiert, ohne sich danach dauerhaft zu verbergen. Wenn dann der wirklich Berechtigte auftaucht, ist natürlich klar, daß Meyer sich eine falsche Identität zugelegt hat. Die Annahme einer falschen Identität ist also keine erfolgreiche Strategie, um sich straflos Geld anzueignen. Fast scheint es so, als entsprängen die Straftaten Meyers einem Wunsch nach Bestrafung. Dennoch gelingt es dem Autor, sein Selbstwertgefühl wenigstens teilweise zu stabilisieren. Durch seine Schulbildung ist er seinen Freunden, Gefängnisgenossen und Reisebegleitern überlegen. Außerdem verfügt er über ein in Teilen positives Selbstbild, wenn er sich selbstbewußt als beliebter, aufgeweckter und gewitzter Mensch beschreibt. 64 Dies zeigt sich auch bei der Schilderung seiner Verbrechen, die seinen Stolz auf das geschickte Betrügen anderer kaum verhehlen kann. Ähnlich wie etwa der Stolz des Handwerkers auf ein gelungenes Werkstück 65 zeigt sich unser Autor angetan von seinem eigenen Einfallsreichtum. Ausführlich schildert er seine Betrugsmanöver und die Gutgläubigkeit seiner Opfer, denen er offensichtlich sympathisch war. Im Gefängnis paßt er sich einerseits an die geforderten Verhaltensregeln an und erhält dadurch Vergünstigungen, andererseits wehrt er sich selbstbewußt, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. So prangert er die Verfehlungen des Oeconoms im Bremer Arbeitshaus an oder er erkämpft sich - als Reformierter - das Recht auf konfessionsgebundenen Religionsunterricht im Gefängnis in Hameln. 66 Dort wehrt er sich auch erfolgreich gegen den ungerechten Zuchtmeister, indem er dessen Veruntreuungen dem Direktor angibt. 67 In der Welt der Gefängnisse, so gewinnt man den Eindruck, kommt Luer ohnehin viel besser zurecht als im Alltag mit seinen Anforderungen, sich selbst versorgen zu müssen. Seine Lebensführung im Gefängnis ist als erfolgreich zu bezeichnen, vermag er sich doch hier durch geschicktes Verhalten Vorteile zu verschaffen, außerdem mißt er die Institutionen an der von ihnen selbst aufgestellten Norm der Gerechtigkeit und sieht sie jämmerlich versagen. Er stabilisiert sein Selbstwertgefühl also nicht nur durch Anpassung, sondern auch durch Abgrenzung nach oben sowie durch Solidarität mit den Mitgefangenen. Seine Intelligenz kommt ihm dabei zugute. In Vechta lernt er etwa Arithmetik, Zeichnen, Mathematik und richtet schließlich einen Jaquard-Webstuhl für die Anstalt ein. Andererseits bekommt er in Vechta die größten Schwierigkeiten, da er dort die Autorität weniger leicht kritisieren kann. Im Vergleich zu den anderen Institutionen, die 64 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 24 und 39 (über seine Beliebtheit); 37 (über seine Intelligenz). Außerdem bescheinigt er sich selbst ein »heiteres und aufgewecktes Temperament«, 5. 65 Zur Handwerkermentalität, zu der dieser Stolz auf ein gelungenes Werkstück gehört, s. Frieder Stöckle: Ein württembergischer Korbmacher. Zur Lebensgeschichte eines alten Handwerkers, in Gestrich/ Knoch: Biographie (wie Anm. 4), 109 - 125. Der Korbmacher kann als Gegenbeispiel zu Luer Meyer dienen, denn ihm war der soziale Aufstieg von vornherein verwehrt, dennoch stabilisiert er sich über die Identifikation mit den bürgerlichen Normen harte Arbeit, Disziplin und Fleiß; s.a. Christian Wilhelm Bechstedt: Meine Handwerksburschenzeit 1805 - 1810, Berlin 1991. 66 Vgl. D. G. Goldmann: Nachricht über Gründung und Zustand des Werkhauses in Hameln, Hameln 1821. 67 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 109ff. Heike Talkenberger 352 dem eigentlich postulierten Gerechtigkeits- und Besserungsanspruch nicht nachkommen, wird dieser in Vechta umgesetzt. Darüber hinaus fungiert der Direktor, der sich persönlich sehr für die Gefangenen einsetzt, für Luer als Vaterersatz. Unser Autor steigert sich, wie er sagt, verleitet durch andere Gefangene, in einen unversöhnlichen Haß auf den Direktor hinein, der emotionaler Ausdruck seines unbewältigten Vaterkonflikts ist und seine bis dahin erfolgreiche Gefängnisstrategie zum Scheitern bringt. Dementsprechend werden auch diese negativen Gefühle von Luer mit Schuldgefühlen besetzt: »Daß ich das Wohlwollen der Vorgesetzten in der Strafanstalt zu Vechta, und dieses Mannes (d.i. der Direktor, H.T.) so sehr verschmäht und gemißbraucht habe, darüber möchte ich mich jetzt noch wohl die Haare ausraufen; denn der Undank womit ich diese Menschen belohnt habe ist gegen das, was sie an mir gethan zu groß! Denn nicht allein, daß man mir dort Vergünstigungen erlaubte, die den Andern nicht zu Theil wurden, sondern man trug mir auch von den ersten Augenblick an, von allen seiten eine ungefärbte Liebe entgegen, die ich garnicht verdient hatte.« 68 Allerdings steigert sich sein konfliktreiches Verhältnis zum Direktor bis zur offenen Rebellion - ein Verhalten, das Luer seinem Vater gegenüber nicht möglich war, - die nur durch drakonische Strafen abgebrochen wird. Danach gibt Luer äußerliche Anpassung vor und wird zum Heuchler. Sein weiterer Weg führt ins gesellschaftliche »Aus«, schließlich wird er in Hamburg straffällig. An diesem Punkt, bei seiner Einlieferung in das Hamburger Zuchthaus, bricht die Autobiographie ab. Über den weiteren Lebensweg des Delinquenten war, bis auf einen Hinweis auf seine Entlassung aus dem Zucht- und Spinnhaus in Hamburg 69 , auch aus anderen Akten nichts zu entnehmen. 3.4. Autobiographie und Identität Die Ambivalenz von Normerfüllung und Normabweichung kennzeichnet auch die Entstehung der vorliegenden Autobiographie. Indem Luer sie überhaupt schreibt, erfüllt er die von ihm erwartete Gewissensüberprüfung und Selbstreflexion. Doch bis zu diesem Schritt waren offenbar große Widerstände zu überwinden: »Der Direktor (in Vechta H.T.) drang jetzt auch wieder in mir, daß ich meine Lebensgeschichte niederschreiben sollte, weil ich, wie er sagte, dadurch mein Inneres genauer kennen lernnte, wenn ich meine Vergangenheit aufs Papir verzeichnet vor mir hätte, und weil ich mit der Feder in der Hand, mir die einzeln Datas meiner Handlungen besser vergegenwärtigen könnte. Meine Eigenliebe und mein ganzes Innere sträubte sich damals dagegen, wenn ich daran dachte, daß ich mein vergangenes Leben zu Papir bringen wollte, und hatte ich schon früher drei Mal dabei angefangen, aber immer wieder damit aufgehört, wenn ich soweit kam, daß ich eine nichtswürdige That beschreiben mußte. Um es aber mit dem Direktor nicht wieder zu verderben, bequemte ich mich zuletzt und schrieb einige Bruchstücke aus meinem Leben 68 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 190. 69 Vgl. StA Hamburg, Gefängnisverwaltung, Sign C6, Bd. 4, Nr. 796, fol. 115f. Meyer wurde am 7. Februar 1855 entlassen und sollte, unter dem Verbot der Rückkehr in die Stadt Hamburg, in seine Heimat abtransportiert werden. Für die Unterstützung meiner Arbeit danke ich herzlich Dr. Rainer Hering vom Staatsarchiv Hamburg. Zum Zucht- und Spinnhaus s. Adolf Streng: Geschichte der Gefängnisverwaltung in Hamburg von 1622 - 1872, Hamburg 1890; H. Föhring: Die Reform und der heutige Stand des Gefängniswesens in Hamburg, Hamburg 1883; F.A. Schacht: Die Bemühungen der hamburgischen Strafrechtsreform 1839 - 1869, Diss., Hamburg 1936. Bürger oder Außenseiter? 353 nieder. Wovon aber - ich mags kaum sagen - das Meiste Lügen waren, was ich ihm auftischte.« 70 Im Gegensatz zu diesen erwähnten »Bruchstücken« ist der vorliegende Text offenbar aus einem Guß entstanden. Es handelt sich also wohl um einen diesmal ernsthaft durchgeführten Versuch, eine Autobiographie zu schreiben, und zwar bei Meyers wahrscheinlich letztem dokumentierten Gefängnisaufenthalt im Zuchthaus von Hamburg. Er verschafft sich schreibend die Möglichkeit, seinen kriminellen Einfallsreichtum ebenso darzustellen wie die kritikwürdigen Verhältnisse in den meisten Gefängnissen, in denen er eingesessen hat. Er kann sich für seine Abweichungen von der geforderten Norm rechtfertigen oder Mitleid mit seinem Schicksal einfordern. Durch die Abfassung eines konsistenten Textes versucht der Autor, Zusammenhänge und ein sinnvolles Ganzes herzustellen. Allerdings bricht der Text mit der Einlieferung des Autors in die Hamburger Strafanstalt ab. Doch wird das Schreiben selbst zur Ausdrucksmöglichkeit seiner Individualität, die er durch die Schilderung seines unverwechselbaren Lebens behauptet. 4. Selbstbild und Fremdbild Nachdem schrittweise die Strukturen der Selbstkonstitution untersucht wurden, sollen nun die Fragen nach der Konstruiertheit des Textes selbst sowie nach dem Verhältnis des im Text entwickelten Selbstbilds des Autors zu den Fremdbildern über »den Verbrecher« untersucht werden. Wie, so könnte man etwa fragen, verhalten sich Luer Meyers Schilderungen zu dem, was er tatsächlich erlebt haben mag? Bezieht sich der Text überhaupt auf reale Begebenheiten, oder ist er nicht doch ein Lügenkonstrukt, wie die Texte, die Luer vorher als Reaktion auf die Bitte des Gefängnisdirektors geschrieben hat? Andere Quellen geben zumindest Anhaltspunkte. So findet sich der Eintrag von Direktor Hoyer im Gefangenenbuch in Vechta mitsamt einer bezeichnenden Charakterisierung Meyers: »Name und Herkunft des Gefangenen: Sträfling Luer Meyer, Osterholz; Verbrechen: Betrügereien; Bemerkungen: äußerst klug und verschlagen, erweckt aber doch einige Hoffnung«. 71 Dieser Eintrag entspricht genau der Haltung Hoyers zu seinem Gefangenen, wie dieser sie selbst schildert. Die von Meyer dargestellten Verhältnisse in Bremen und Vechta konnten aufgrund von Archivmaterial und Literatur verifiziert werden. 72 Auch das vom Autor erwähnte Gefängnispersonal läßt sich z.T. in den Akten auffinden. 73 Da jedoch leider keinerlei Prozeßunterlagen erhalten geblieben sind, sind die Betrugsdelikte nicht an anderer Stelle überliefert. So können wir nicht entscheiden, ob die von Meyer erwähntenTaten so oder anders stattgefunden haben. Ob Meyer bei der Abfassung seines Textes der Vorlage anderer Schriften folgte und diese entsprechend stilisierte, kann nicht sicher bestimmt werden. Denkbar ist, daß er literarische Fassungen des Verbrecherthemas oder auch andere Gefangenenautobiographien gelesen hat. Nirgends findet sich jedoch im Text ein Hinweis auf eine konkrete Lektüre. 70 Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 202. 71 StA Oldenburg, Kabinettsakten, 31 - 13, 69 - 2, 134. 72 Vgl. Hoyers Gutachten über das Bremer Zuchthaus an die Bremer Regierung: StA Bremen 2 D 18 d 1b (Senatsprotokolle) und die Hausordnung der Strafanstalt in Vechta: StA Oldenburg, Kabinettsregistratur, Nr. 31 - 13, 69 - 1, 391 - 433 und 31 - 13 6 9 -20, 2 9 1 -307. 73 So etwa StA Oldenburg, Kabinettsakten, 31 - 13, 69 - 5: Seelsorge und Unterricht in der Strafanstalt zu Vechta. Heike Talkenberger 354 Im wissenschaftlichen wie im literarischen Diskurs werden Verbrecherbiographien entworfen, in denen einige Stereotypen immer wiederkehren, so etwa schlechte oder fehlende Erziehung des Delinquenten, seine Armut, die Unfähigkeit, Autoritäten anzuerkennen und sein Suchtverhalten. 74 Auffallend ist nun, daß von diesen Stereotypen bei Meyer weder die schlechte Erziehung noch Armut oder mangelnde Bildung auftaucht. Nirgends ertönt ein Wort der Kritik an seinen Eltern, immer stellt er diese als fürsorglich, gerecht und auf die gute Ausbildung des Knaben bedacht dar. Auch betont er, daß er nicht unter ärmlichen Verhältnissen zu leiden hatte. Es scheint, als ob die Unfähigkeit des Autors, sich konfliktbezogen mit seinem Vater auseinanderzusetzen, sich auch bei dieser Bewertung wiederfindet. Nur zwei Aspekte der Stereotypen treten hervor: Luers Verhalten zeigt alle Anzeichen von Suchtabhängigkeit (Trinken, Spielen). Außerdem könnte die Tatsache, daß Luer die ersten neun Jahre bei den Großeltern verbrachte und erst danach zu seinen Eltern kam, zu der Vermutung Anlaß geben, daß er deshalb besondere Probleme mit der Akzeptanz der väterlichen Autorität hatte. Meyer selbst gibt aber mehrere Begründungen für seine Delinquenz: Einerseits ist es die Verführung durch die Gleichaltrigen, gepaart mit Sozialneid, sowie ein mißgünstiges, anonymes »Geschick«, das er für ausschlaggebend hält. Dies entspricht zumindest in Teilen eher der »Umwelttheorie« für Kriminalität, wobei jedoch nicht eine soziale Notlage, sondern der Wunsch nach einer unstandesgemäßen, besseren Lebensart als ausschlaggebend angesehen wird. Auch im wissenschaftlichen Diskurs war die »Verführung« ein wichtiger Topos. Andererseits aber sieht er den Grund in sich selbst, in seinen unkontrollierten (und unkontrollierbaren) Affekten, die er als »Leidenschaften« und »Begierden« bezeichnet. Dies aber entspricht genau dem aufklärerischen Diskurs um die Entstehung von Verbrechen und dem Typus des »moralisch kranken Verbrechers«, wie er eingangs dargestellt wurde. Bisher wurde diese Tatsache so interpretiert, daß Meyer seine eigene, unverstandene Gefühlswelt in dieser Weise schildert. Gleichzeitig aber kann nicht ausgeschlossen werden, daß er mit diesen Bezeichnungen Erklärungsansätze des juristischen Diskurses übernimmt, der ihm vor allem vom Gefängnisdirektor Hoyer vermittelt wurde. Sicher aber ist festzustellen, daß die Selbstsicht des Autors, die Wertungen, die er über sein eigenes Verhalten abgibt, deutlich den Diskurs der Autoritäten spiegeln. So spricht er von seinen »verwerflichen« Taten, sieht sich selbst als Verbrecher, Heuchler, Versager. Die Beurteilung seiner Verbrechen als »Sünde« im christlichen Wertekontext scheint ebenfalls auf. Kaum zu trennen ist hier zwischen dem vom Gefängnisdirektor geforderten Reuebekenntnis und tatsächlichen Verurteilungen der eigenen Taten, wenn mir auch zumindest die die gesamte Autobiographie durchziehenden Schuldgefühle Meyers gegenüber seinen Eltern auf einem tatsächlich erlebten Gefühl zu basieren scheinen. Andererseits enthält das Selbstbild durchaus Spuren von Selbstbewußtsein und Stolz, Einschätzungen, die im wissenschaftlichen Diskurs stets als »Verantwortungslosigkeit für das eigene Tun« und »mangelnde Reue« bzw. »Eitelkeit« abqualifiziert werden. 74 Siehe z.B. die Lebensgeschichte des Diebes Bernhard Matter (1854), in: Linder: Kriminalgeschichten (wie Anm. 11), 169 - 198. Matters Neigung zum Diebstahl wird mit der fehlenden Erziehung durch die Eltern, die durch die Führung einer Metzgerei und eines Gasthofs sowie durch ihren Kinderreichtum (insgesamt 9 Kinder) überfordert gewesen seien, begründet. Vgl. auch Becker: Identitäten (wie Anm. 14). Bürger oder Außenseiter? 355 An einer anderen Stelle aber läßt sich der Einfluß des herrschenden Diskurses eindeutig nachweisen: Luers Kritik an den Gefängnissen, vor allem in Bremen und Hameln, findet sich wortwörtlich in Schriftstücken wieder, wie sie der Gefängnisdirektor von Vechta, Hoyer, in verschiedenen Gutachten an die Oldenburger Regierung formulierte. 75 Hoyers Vorschläge zu einer Reform des Gefängniswesens nach amerikanischem Vorbild, d.h. die Einrichtung von Strafanstalten mit modifizierter Einzelhaft, ist gekoppelt an eine heftige Kritik an den Zuständen in anderen Strafanstalten. Hier spielt vor allem die Beobachtung eine Rolle, daß Gefangene, die sich stets zusammen in einem Raum aufhalten, schlechten Einfluß aufeinander ausüben. Zwar mag Meyer selbst eben diese Erfahrung während seiner Gefängnisaufenthalte gemacht haben, doch seine Bezeichnung der Strafanstalten als »Bildungsschulen (...) der Verbrechen« - fast ebenso hatte sie Hoyer 76 genannt - spricht für eine Übernahme des Diskurses über die Reform der Strafanstalten. Luer Meyer war ganz offensichtlich in diesem Punkt ein gelehriger Schüler seines Lehrers. Kein schlagenderes Beispiel vom prägenden Einfluß des Diskurses der Autorität ließe sich finden. Dabei muß jedoch bedacht werden, daß Luer gerade diese Gedankengänge nutzt, um seine Identität zu stabilisieren, konnte er doch sein Selbstbewußtsein gegenüber den als minderwertig entlarvten Internierungsinstitutionen stärken. Hier erweist sich, daß die von der bürgerlichen Gesellschaft gesetzten Normen sich keineswegs nur repressiv, sondern durchaus produktiv auswirken können. 77 So enthält die Orientierung am herrschenden Diskurs beide Aspekte, die Stärkung und die Schwächung der Ich-Identität, denn Meyer ist sich auf der anderen Seite wohl bewußt, daß sein Verhalten nicht den gesellschaftlich geforderten Normen entspricht und leidet darunter. 5. Autobiographie und Gesellschaft Das Leben des Betrügers Luer Meyer zeigt ein Oszillieren zwischen krimineller und bürgerlicher Identität. Dabei ist es keineswegs von vornherein zwangsläufig, daß Luer zum Kriminellen werden und es auch bleiben muß, wie die »bürgerlichen Episoden« in seinem Leben zeigen. Auch sein Selbstbild bestätigt nicht die Theorie, der Verbrecher sei der »Andere«, von vornherein Abweichende, Abnorme, wohlmöglich Kranke. Meyer stilisiert sich keineswegs als von vornherein »verlorene Seele«. Viel stärker als dies im wissenschaftlichen Diskurs zum Vorschein kommt, bietet die Autobiographie das Bild eines Menschen, der sich sowohl angepaßt wie auch unangepaßt verhalten kann, der einmal den bürgerlichen Maßstäben entspricht, um sie dann wieder über Bord zu werfen, der aber auch, stärker als vielleicht zu vermuten war, immer wieder Hilfe, immer wieder Angebote zu einer Reintegration in die Gesellschaft von seiten der wohlsituierten Bürger erhält, sei es, daß er trotz einer Vorstrafe eine Lehrstelle und später auch immer wieder einmal Arbeit erhält, sei es, daß er massive Unterstützung in Form von Krediten bei seinem Versuch bekommt, eine Zigarrenfabrik zu gründen. Der Autor be- 75 Vgl. Gutachten Hoyers über die Strafanstalt in Kaiserslautern als Vorbild: StA Oldenburg, Kabinettsregistratur Nr. 31 - 13, 69 - 1, 64 - 75 sowie über zahlreiche europäische Strafanstalten 1 2 5 -272. 76 Vgl. Meyer: Selbstbiographie (wie Anm. 30), 130; Hoyer schreibt von einer »Hochschule des Lasters«. StA Bremen, Senatsprotokolle 2 D 18 d 1 b, Bericht vom 27. 9. 1843 an die Bremer Regierung. Zum Topos, der sich schon früher herausbildete, vgl. Engelhardt : Kriminalität (wie Anm. 8), 269. 77 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983, 21f. Heike Talkenberger 356 schreibt sich aber auch nicht als Rebell gegen die ungerechte Gesellschaft. Meyer äußert nirgends Gesellschaftskritik, nirgends erscheint der Gedanke der sozialen Ungerechtigkeit, nirgends werden die bürgerlichen Werte offen attackiert. 78 Trotz der Erosion der bürgerlichen Welt durch Julirevolution und Arbeiterprotest entbehrt Luer Meyers Autobiographie jeglicher Sozialklage, doch seine Taten sprechen von dem Wunsch, die gesellschaftliche Rangordnung zu korrigieren. Fast fühlt man sich an die Worte eines preußischen Gerichtsbeamten um 1820 erinnert, der über die neuen Zeiten klagt: »Diese durch die Vervielfältigung der Vergnügungsorte namentlich für die niedere Volksklasse geförderte Vergnügungssucht findet ihren Anhalt in dem gesteigerten Luxus überhaupt und in der Richtung des Zeitgeistes auf Vertilgung der Unterscheidungsmerkmale der Stände so wie in der dadurch bedingten Sucht der niederen Stände, sich dem höheren zu verschmelzen, und deren Genüsse zu teilen.« 79 Die Obrigkeiten des frühen 19. Jahrhunderts nahmen an, daß die zunehmende Kriminalität aus einer Lockerung des sozialen Gefüges, aus einem Verlust des gesellschaftlichen Gleichgewichts herrührte. In der Autobiographie des Luer Meyer ist dieser Zusammenhang implizit vorhanden, denn die Tatsache, daß der Autor die familiäre Autorität nicht mehr akzeptiert und sich auch gegen die Gefängnisaufseher wendet, reflektiert die gesellschaftliche Entwicklung. So liegen nicht nur in der Differenzierung des Selbstbilds eines straffällig Gewordenen, sondern auch im Blick dieses »Außenseiters« auf die Gesellschaft seiner Zeit die historischen Erkenntnismöglichkeiten der Gefangenenautobiographie. 78 Zur politischen Motivation von Verbrechen s. z.B. Dirk Blasius: »Diebshandwerk« und »Widerspruchsgeist«. Motive des Verbrechens im 19. Jahrhundert, in: Dülmen: Verbrechen (wie Anm. 21), 215 - 237. 79 Zit. nach Blasius: Diebshandwerk (wie Anm. 76), 234. Zur Verbindung von wirtschaftlichen Faktoren und Kriminalitätsentwicklung s. Erich Otto Graf: Kriminalität und sozialer Wandel. Ergebnisse einer Untersuchung über den Kanton Zürich von 1850 bis zum ersten Weltkrieg, in: Werner Conze/ Ulrich Engelhardt (Hg.): Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981, 410 - 424. IV. Funktionsweisen der Justiz: Dorf, Stadt und frühmoderner Staat 359 Peter Schuster Richter ihrer selbst? Delinquenz gesellschaftlicher Oberschichten in der spätmittelalterlichen Stadt Die Familie Flar war ein ehrenwertes Geschlecht in der Reichsstadt Konstanz im 15. Jahrhundert. Einem der ihren, Konrad Flar, gelang es 1467 sogar, von Kaiser Friedrich III. unter kaiserlichen Schutz genommen und als kaiserlicher Diener eingestellt zu werden. Der gesellschaftliche Aufstieg des Mertzlersohnes war begleitet von zunehmender ökonomischer Prosperität. Nach seiner Aufnahme in kaiserliche Dienste wuchs sein Vermögen rasant; 1475 war er bereits zum zweitreichsten Konstanzer aufgestiegen. 1 Zudem verwaltete er von 1489 bis 1493 das Amt des einflußreichen Ammanns in der Reichsstadt. 2 Es war der Familie damit offenbar bereits in der zweiten Generationen gelungen, in die Spitze der Gesellschaft zu gelangen: 1418 taucht erstmalig ein Flar in den Konstanzer Quellen auf. In der in der westlichen Vorstadt Stadelhofen gelegenen Roßgasse versteuerte dieser zunächst ein Vermögen von 840 Pfund Heller liegendem und 310 Pfund Heller fahrendem Besitz. Bis 1433 wuchs das zu versteuernde Vermögen stetig und regelmäßig, ohne zu spektakulärer Höhe zu gelangen. 3 Die wenigen erhaltenen Spuren über das Geschäftsgebaren des ersten Konstanzer Flar legen nahe, daß auch dem bescheidenen Aufstieg gelegentlich mit illegalen Mitteln nachgeholfen werden mußte. 1434 wurde ein Klaus Flar gemeinsam mit einigen anderen Mertzlern dafür belangt, daß er beim Salzverkauf systematisch die zugelassene Gewinnspanne von zwei Pfennigen ignoriert hatte. 4 Offensichtlich kam es in der Folge zu Dissonanzen unter den Mertzlern. Zwei Jahre später hatte sich das vormalige Ratsmitglied Klaus Flar erneut vor den Ratsmitgliedern als Instanz der Niedergerichtsbarkeit zu verantworten. Ihm wurde vorgeworfen, den Mertzen vor raut sine eren geschuldiget zu haben. Die Hintergründe der Auseinandersetzung mit seinem Zunftgenossen Hans Mertz müssen offen bleiben. 5 Neben einer Buße von zwei Monaten Stadtverweisung lenkte dieses Delikt jedoch erneut die Aufmerksamkeit des Rates auf die Geschäftspraktiken Flars und anderer Mertzler. Die Stadt entzog den Mertzlern nunmehr das Maß und untersagte ih- 1 Zu Konrad Flar zusammenfassend Peter F. Kramml: Kaiser Friedrich III. und die Reichsstadt Konstanz (1440 - 1493). Die Bodenseemetropole am Ausgang des Mittelalters (=Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 29), Sigmaringen 1985, 321f. Zu seiner Vermögenslage P. Staerkle: Zur Familiengeschichte der Blarer, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 43 (1949), 100 - 131 und 203 - 224, hier: 211. Die vorliegende Untersuchung wurde ermöglicht durch ein von der Stiftung Volkswagen finanziertes Forschungsprojekt zum Gewaltverhalten in der vormodernen Gesellschaft. 2 Kramml: Kaiser Friedrich (wie Anm. 1), 504. Es ist freilich auch möglich, daß es sich bei dem Ammann um einen Sohn gleichen Namens handelt. 3 Vgl. zur wirtschaftlichen Entwicklung Klaus Flars insbes. Klaus D. Bechtold: Zunftbürgerschaft und Patriziat. Studien zur Sozialgeschichte der Stadt Konstanz im 14. und 15. Jahrhundert (=Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 26), Sigmaringen 1981, 95f. 4 Vgl. StadtA Konstanz, B I 6, 224f. 5 Ebenda, 337. Peter Schuster 360 nen fürderhin den Salzhandel, der seither von städtischen Organen kontrolliert wurde. Ohne Widersetzlichkeit freilich ließen die Mertzler sich ihr altes Privileg nicht nehmen. Der chronikalischen Nachricht über diesen Ratsbeschluß ist in anderer Schrift der vielsagende Kommentar beigefügt: es hat es darnocht nit jederman gern. In der Tat suchten die Mertzler die Machtprobe und unterlagen. Noch im selben Jahr verurteilte das Ratsgericht Flar sowie die Mertzler Hans Mertz, Konrad Fundel, Hans Häggeli und Werlin Ellend wegen unerlaubter Salzgeschäfte zu der bemerkenswert hohen Buße von zwanzig Gulden. 6 Ein Jahr zuvor, anno 1435, war Flars erster Sohn, der gleichnamige Klaus Flar, erstmals vor Gericht in Erscheinung getreten. In Zornesweise, so die Formulierung des Ratsbuchs, hatte er einen Stein nach dem Kuhhirten Haggelmann geworfen und dessen Tochter geschlagen. 7 Klaus Flar war ein ausgewiesener Heißsporn. Im Jahr darauf, 1436, tobte und lärmte er nachts mit einigen jungen Männern am anderen Ende der Stadt, in der Niederburg, vor dem Haus eines Juden. Als die Wächter anrückten, empfingen die Jungen diese mit wüsten Schmähungen, einer von ihnen bedrohte die Sicherheitskräfte sogar mit dem Schwert. Der Anweisung, nach Hause zu gehen, widersetzten sich die randalierenden Bürgersöhne. Klaus Flar wurde als Anstifter der nächtlichen Scharmützel ausgemacht und zu zwei Monaten Stadtverweisung verurteilt. 8 Der jüngere, später so erfolgreiche Konrad Flar mochte dem heißblütigen Bruder nicht nachstehen. Nachdem 1443 Klaus Flar eine Messerstecherei angezettelt hatte, geriet auch er 1451 in eine bewaffnete Auseinandersetzung mit einigen Gesellen und wurde wegen Messerzuckens zu einem halben Jahr Stadtverweisung verurteilt. 9 Wie oben bereits angedeutet, fielen die Flar-Brüder freilich nicht nur durch ihr delinquentes und forsches Handeln auf, sondern waren zudem gesellschaftlich und ökonomisch sehr erfolgreich. Zwar gelang es Klaus nicht, wie sein Bruder in die Spitze der Gesellschaft vorzustoßen und am kaiserlichen Hof zu reussieren, doch auch er ging seinen Weg und mehrte das Erbe des Vaters beträchtlich. Zunächst zog Klaus Flar nach dem Tod des Vaters in das Zentrum der Stadt, in den Steuerbezirk Schlegel, in dem die etablierten Mertzler, mit denen sein Vater zweimal vor Gericht gestanden hatte, traditionell ihren Wohnsitz hatten. 10 Von dort aus verwaltete er das väterliche Erbe mit großem Geschick. Zwischen 1440 und 1460 gelang es Klaus Flar immerhin, sein zu versteuerndes Vermögen zu verdoppeln. Mit dem geschäftlichen Erfolg ging der gesellschaftliche einher. Ein Jahr nach seiner Verurteilung wegen Messerzuckens wurde er Mitglied des Großen Rates, dem er bis 1456 und noch einmal ab 1464 angehören sollte. 11 In dieser Zeit nahm er zahlreiche Ämter und Aufgaben wahr. Er war Beisitzer im 6 Ebenda, 374. Zum Verbot des Salzhandels vgl. Philipp Ruppert (Hg.): Die Chroniken der Stadt Konstanz, Konstanz 1891, 191. 7 StadtA Konstanz, B I 6, 288. Daß Haggelmann Kuhhirte war, entnehmen wir einem vorhergehenden Ratsbucheintrag, ebenda, 44. Kurz nachdem Klaus Flar verurteilt worden war, belangte der Rat Haggelmanns Frau und deren Tochter, weil sie Flar Mißworte entboten hatten. Vgl. ebenda, 291. 8 Ebenda, 342. 9 Vgl. StadtA Konstanz, B I 7, f. 89 (Klaus Flar) und Bände L 802, 82 (Konrad Flar). 10 Zu diesem Umzug, wenngleich mit einer gewichtigen Fehlinterpretation, Bechtold: Zunftbürgerschaft (wie Anm. 3), 95f. Er übersieht den Generationenwechsel. Zum Wohnort der anderen Mertzler vgl. Die Steuerbücher der Stadt Konstanz, Teil I: 1418 - 1460, bearb. vom Stadtarchiv Konstanz, Konstanz 1958, 1433, Nr. 48 (Konrad Fundel), 54 (Werlin Ellend) und 57 (Hans Mertz). 11 Vgl. Die Konstanzer Ratslisten des Mittelalters, hrsg. von der Badischen Historischen Kommission, bearb. von Konrad Beyerle, Heidelberg 1898, 146 - 155 und 162 - 164. Richter ihrer selbst? 361 thurgauischen Landgericht und in dem für Zivilrechtsfälle zuständigen Ammanngericht, gehörte zu den sieben Richtern für Bausachen ebenso wie zu den sieben Richtern für Schuldsachen. 12 Die Kontrahenten von einst wurden nun seine Untergebenen. Derselbe Klaus Flar, der 1436 noch den bewaffneten Streit mit den Wächtern gesucht hatte, war 1455 als Ratsmitglied für die Einweisung der neu bestallten Wächter der Stadt zuständig. 13 Nur noch einmal mußte Klaus Flar nach dem Eintritt ins gesellschaftliche Establishment sein Verhalten vor dem Ratsgericht rechtfertigen, nachdem er 1457 in einer Kirche drei Frauen unflätig beschimpft hatte. 14 Konrad mußte sich ebenfalls noch einmal vor Gericht verantworten: 1464 verurteilte ihn das Ratsgericht zu drei Monaten Stadtverweisung, von des wegen, das er Pertelin Payer ain kint geslagen. 15 Auch in anderer Hinsicht blieben Klaus und Konrad Flar dem delinquenten Milieu durchaus verbunden. Beide traten seit den fünfziger Jahren wiederholt als Bürgen für vom Niedergericht wegen Wirtschafts- und Gewaltdelikten verurteilte Personen auf. 16 Delinquenz und gesellschaftlicher Aufstieg scheinen sich, so zeigt der Fall der Familie Flar, in der spätmittelalterlichen Gesellschaft nicht widersprochen zu haben. In eigentümlichem Gegensatz zu dieser These stehen jüngste Beobachtungen von Lothar Kolmer zur Kriminalität im spätmittelalterlichen Regensburg. Demnach war dort die Oberschicht kaum in delinquente Handlungen verwickelt. Unter 800 im Wundenbuch der Stadt Regensburg verzeichneten Delikten konnte er nur drei Taten Angehörigen der Oberschicht zuweisen. 17 Kolmer zieht weitreichende Schlüsse aus seinen Beobachtungen: Die Oberschicht in den spätmittelalterlichen Städten hatte die Macht der Zuschreibung dessen, was Kriminalität ist über ihre Instanzen der Herrschaft, die Gerichte. »Einstufung und Aburteilung durch die normierenden Kreise der Gesellschaft ›schaffen‹ das Delikt.« 18 Insofern diente das Gerichtswesen als Instrument der Herrschaft: »Der jeweils herrschende Diskurs bestimmte die Moral und das Recht - und so wundert es auf der anderen Seite auch nicht, daß die Oberschichten in den Quellen kaum auftauchen: sie sprachen über andere Recht.« 19 Waren die Flars demnach nur die schwarzen Schafe einer ansonsten vor Gericht kaum präsenten upper-class, gleichsam mißratene Parvenus? Oder zeichnet Kolmer ein schiefes Bild von Delinquenz, deren Ahndung und deren sozialem Ort? 20 Immerhin gibt es mit der Untersuchung Susanna Burghartz’ zur Ratsgerichtsbarkeit im spätmittelalterlichen Zürich eine Studie, die explizit darauf hingewiesen hat, daß unter den Züricher Steuerzahlern die »vermögenderen Gruppen vor Gericht übervertreten« waren. 21 Das Züricher Ratsgericht war demnach nicht allein Repressionsinstrument der herrschenden Gruppen, die deviantes Verhalten der Unterschichten kriminalisierten, sondern auch die gesellschaftlichen Eliten hatten sich vor den Schranken des Gerichts zu verantworten. Die Vorwürfe gegen sie reichten, so zeigt die Basler Historikerin an Ein- 12 Vgl. dazu die Listen bei Kramml: Kaiser Friedrich (wie Anm. 1), 505ff. 13 Vgl. StadtA Konstanz, Bände L 1363, f. 12v. 14 StadtA Konstanz, B I 8, 170. 15 StadtA Konstanz, B I 11, 251. Vgl. auch Thomas Amann: Städtischer Alltag im Spiegel der Ratsbücher. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des spätmittelalterlichen Konstanz (Staatsexamensarbeit Universität Konstanz, SS 1994, Ms., StadtA Konstanz, Ab 60), 123f. 16 Vgl. StadtA Konstanz, B I 8, 42,5; Bände L 802, 84; L 803, 57 und 79f. 17 Vgl. Lothar Kolmer: Gewalttätige Öffentlichkeit und öffentliche Gewalt. Zur städtischen Kriminalität im späten Mittelalter, in: ZRG (GA) 114 (1997), 261 - 295, hier: 276 und 292. 18 Ebenda, 268. 19 Ebenda, 295. Peter Schuster 362 zelfällen, bis hin zu Totschlag. 22 In ähnlichem Sinne erkannte Ilse Eberhardt in den Osnabrücker Stadtrechnungen des 15. und 16. Jahrhundert: »Körperliche Auseinandersetzungen waren nicht auf die unteren Bevölkerungsschichten beschränkt, sondern kamen auch im gehobenen Bürgertum vor.« 23 Einen bemerkenswerten Einblick in die Delinquenz der Nürnberger Patrizier um das Jahr 1500 hat Valentin Groebner vorgelegt. 24 Hinzuweisen ist aber vor allem auf die Untersuchung Karl Demandts zur Bußengerichtsbarkeit in der hessischen Stadt Eschwege. Ohne daß er es statistisch-systematisch unterfüttern konnte, drängte sich ihm nach Auswertung der erhaltenen Protokolle des Niedergerichts der Eindruck auf, daß wir es bei den bestraften Personen »nämlich (...) nicht mit einer Gruppe von sozial deklassierten Familien oder Personen zu tun haben, sondern mit solchen, die sich immer wieder oder oft an den zu engen Grenzen ihres Existenzbereiches stießen, die sich damit auseinandersetzten oder sie überschritten und damit eher Eigenständigkeit, Willensstärke, Unabhängigkeits- und Freiheitsstreben erkennen lassen, als eine lädierte Rechts- und Gesetzesaufassung«. 25 Dagegen hat jüngst wieder Helmut Martin nach Auswertung der Chronistik ein »größeres kriminel- 20 Unklar ist, welchen Teilausschnitt geahndeter Delinquenz die von Kolmer ausgewerteten Quellen, insbesondere das Wundenbuch, beschreiben. Die gesamte Niedergerichtsbarkeit offenbar nicht: es umfaßt nur die Delikte, die Verwundungen nach sich zogen. Vgl. ebenda, 270f. Typische Niedergerichtsfälle wie Verbalinjurien, bewaffnete Drohungen und Verstöße gegen die Gewerbeordnungen fehlen demnach. Ein weiterer, für die Erfassung von Oberschichtendelinquenz zentraler Gesichtspunkt, wird ebenfalls bei Kolmer nicht diskutiert. Gerade bei Betrachtungen zur schichtenspezifischen Delinquenz muß sichergestellt sein, daß es neben dem Ratsgericht keine ergänzende Gerichtsbarkeit sozialer Verbände gegeben hat. Hinzuweisen wäre etwa auf die verbreitete Zunftgerichtsbarkeit, die auch Gewaltdelikte unter Zunftgenossen verhandelte. Im frühneuzeitlichen Augsburg, darauf hat Mark Häberlein jüngst verwiesen, dokumentiert sich die Oberschichtendelinquenz nicht in den Protokollen des Ratsgerichts, sie ist vielmehr »intern auf der Herren- oder Kaufleutestube bestraft und geregelt worden«. Mark Häberlein: Tod auf der Herrenstube: Ehre und Gewalt in der Augsburger Führungsschicht (1500 - 1620), in: Sibylle Backmann/ Hans-Jörg Künast u.a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen (=Colloquia Augustana 8), Berlin 1998, 148 - 169, bes. 155. Eine wichtige Konsequenz ist aus Häberleins Befund zu ziehen: Sobald es Formen ergänzender Gerichtsbarkeit gibt, wird sich tendenziell der Anteil der Oberschichtendelinquenz in den Protokollen der Ratsgerichtsbarkeit reduzieren. In Konstanz liegt nun, wie unten gezeigt wird, der ideale Fall vor, daß es neben dem Ratsgericht in dem untersuchten Zeitraum keine Gerichtsbarkeit der Zünfte oder Patrizier gegeben hat. 21 Susanna Burghartz: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990, 103. Ihre Untersuchung basiert auf der Gerichtsbarkeit einer Instanz: des Ratsgerichts. Die Urteile anderer Züricher Gerichte, insbesondere die des Hochgerichts und der Zunftgerichte, sind für den untersuchten Zeitraum nicht erhalten. 22 Vgl. etwa ebenda, 116 - 118. 23 Ilse Eberhardt: Van des stades wegene utgegeven und betalt. Städtischer Alltag im Spiegel der Stadtrechnungen von Osnabrück (=Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 37), Osnabrück 1996, 167f. Einen spektakulären Einzelfall von Oberschichtendelinquenz Ende des 15. Jahrhunderts dokumentieren Dorothee Rippmann/ Katharina Simon-Muscheid/ Christian Simon: Arbeit, Liebe, Streit. Texte zur Geschichte des Geschlechterverhältnisses und des Alltags. 15. bis 18. Jahrhundert, Liestal 1996, 73 - 83. 24 Vgl. Valentin Groebner: Ratsinteressen, Familieninteressen. Patrizische Konflikte in Nürnberg um 1500, in: Klaus Schreiner/ Ulrich Meier (Hg.): Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit (=Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 7), Göttingen 1994, 278 - 308. Zur Delinquenz der Augsburger Führungsschichten im 16. Jahrhundert jetzt Häberlein: Tod auf der Herrenstube (wie Anm. 20). 25 Karl E. Demandt: Recht und Gesellschaft. Rechts-, sozial- und sittengeschichtliche Studien in einer hessischen Stadt des 15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 83 (1972), 9 - 56, hier: 32. Richter ihrer selbst? 363 les Potential« der Unterschichten im spätmittelalterlichen Nürnberg vermeint feststellen zu können. 26 Der widersprüchliche Befund der Forschung, dem zur Klärung auch keine vergleichbare Studie der außerdeutschen Forschung entgegenzuhalten möglich ist 27 , verweist auf die Notwendigkeit, einen genaueren Einblick in das deviante Verhalten von Angehörigen der städtischen Oberschichten im Spätmittelalter zu versuchen. Die schwäbische Reichsstadt Konstanz liefert dazu eine Quellengrundlage, die die Gefahr einer Verzerrung durch Überlieferungslücken gering erscheinen läßt. Nicht nur, daß hier in einer seltenen Vollständigkeit sowohl die Urteile der Hochals auch der Niedergerichtsbarkeit des Rates für fast das ganze 15. Jahrhundert erhalten sind. Zudem gab es bis 1461 keine konkurrierende Gerichtsbarkeit durch die Zünfte, so daß auch das gesamte Feld derVerstöße gegen die Gewerbeordnungen bis hin zur Wirtschaftskriminalität in den Ratsdokumenten überliefert ist. 28 Die soziale Zuordnung der Täter und Täterinnen wird ermöglicht durch die Vermögensangaben in den seit 1418 mit nur wenigen Lücken seriell erhaltenen Steuerbüchern der Stadt sowie mit Hilfe einer durchaus soliden lokalgeschichtlichen Forschung, auf die im Zusammenhang der folgenden Darstellung wiederholt hingewiesen wird. 29 1. Der statistische Versuch Man ist ob dieser glücklichen Überlieferungslage versucht, mit statistischen Verfahren der Delinquenz der Oberschicht näherzukommen. Doch davor stehen neben den üblichen Risiken einer Statistik in vorstatistischer Zeit die Tücken des mittelalterlichen Steuersystems. 30 Ein auch nur in groben Umrissen mögliches Sozialprofil der 1653 von uns erfaßten Delinquenten der Jahre 1430 bis 1460 scheitert bereits daran, daß 1196 der 26 Helmut Martin: Verbrechen und Strafe in der spätmittelalterlichen Chronistik Nürnbergs (=Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Fallstudien 1), Köln 1996, 200. 27 Über die Delinquenz des englischen Adels hat Barbara Hanawalt 1975 einen Aufsatz vorgelegt. Hanawalt stellt keine Vergleiche zur Häufigkeit von Delinquenz in den verschiedenen sozialen Gruppen an, unterstreicht aber die besondere Struktur der Oberschichtendelinquenz: »Illegal acts of the upper-classes (...) are distinct from the crimes of other classes. Usually the upper-classes criminals commit crimes which are related to their control of wealth and power.« Barabara Hanawalt: Fur Collar Crime: The Pattern of Crime among the Fourteenth-Century Nobility, in: Journal of Social History 8 (1975), 1 - 17, hier : 1. Damit stellt sie eine Nähe der spätmittelalterlichen Oberschichtendelinquenz zu den modernen »white-collar crimes« her, die sich im folgenden nicht bestätigen wird. Hanawalt bezieht sich aufgrund der von ihr herangezogenen Quellen vorwiegend auf schwere Kriminalität. Im Bereich der Alltagsdelinquenz ergibt sich, wie zu zeigen sein wird, ein gänzlich anderes Bild. Hinzuweisen wäre auch auf Andrea Zorzi: The Florentines and their Public Offices in the early Fifteenth Century: Competition, Abuses of Power and unlawful Acts, in: Edward Muir/ Guido Ruggiero (Hg.): History from Crime, Baltimore/ London 1994, 110 - 134, der sich vor allem mit der Delinquenz städtischer Amtsträger befaßt, aber eine vergleichende Betrachtung zur Delinquenz anderer sozialer Gruppen nicht vornimmt. 28 Zur Quellenüberlieferung vgl. Peter Schuster: Der gelobte Frieden. Täter, Opfer und Herrschaft im spätmittelalterlichen Konstanz, Konstanz 1995, 47 - 52. 29 Vgl. zu den Konstanzer Steuerbüchern vor allem Bernhard Kirchgässner: Das Steuerwesen der Reichsstadt Konstanz 1418 - 1460. Aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte einer oberdeutschen Handelsstadt am Ausgang des Mittelalters (=Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 10), Konstanz 1960. 30 Zu statistischen Erhebungen aus vormodernen Quellen vgl. den instruktiven Überblick von Walter G. Rödel: »Statistik« in vorstatistischer Zeit, in: Kurt Andermann/ Hermann Ehmer (Hg.), Bevölkerungsstatistik an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Sigmaringen 1990, 9 - 25. Peter Schuster 364 Täter und Täterinnen in den Steuerbüchern nicht aufzufinden sind. Nur die dort verzeichneten 457 Täter, gerade einmal 28% der Delinquenten, sind eindeutig den Bürgern zuzuordnen und in ihrer Vermögenslage zu bestimmen. 31 Ähnliche Werte hat Susanna Burghartz für Zürich ermittelt und auf die damit verbundenen Probleme verwiesen. 32 Wir wissen über zwei Drittel der Täter demnach so gut wie nichts. Denn arm und reich lassen sich in der Gruppe der Nichtsteuerzahler gleichermaßen nachweisen. Ihr gehörten Bürger an, die aufgrund von Armut von der Steuer befreit waren, ehemalige Bürger wie Konrad Flar, der als kaiserlicher Diener aus dem Bürgerrecht austrat und nicht steuerpflichtig war, vagierende Arme, aber auch fremde Händler und Kaufleute. Nicht zu vergessen sind zudem alle die, die keinen eigenen Hausstand bzw. kein eigenes Vermögen hatten: Diener, Knechte, Mägde. 33 Beschränken wir uns deshalb auf die für uns faßbare Gruppe der Steuerzahler, jene 28% der vor dem Rat verhandelten Delinquenten, die wir mit Fug und Recht als bürgerlichen Kern der Kommune bezeichnen können. Auch diese Gruppe war in sich heterogen: Vermögende Patrizier wie der von mir an anderer Stelle vorgestellte Konrad Stickel gehörten ebenso dazu wie der arme Bürger Bertschi Brüttel. 34 Wir werden durch schlichtes Auszählen feststellen können, ob innerhalb dieser Gruppe der Steuerzahler die Reichen in besonderer Weise auffielen. Doch vorausgehen sollen einige Beobachtungen zur Delinquenz der gesamten Gruppe dieser eindeutig als Bürger identifizierbaren Steuerzahler. Der Frieden, so könnte man die Kernthese wagen, war durch sie nicht weniger bedroht als durch vagierende Unterschichten. An Schlägereien und bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligten sich die Steuerzahler mit 28% entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtdelinquenz. Wenig überraschend dürfte es sein, daß sie bei Verstößen gegen die Gewerbeordnungen mit 39% überrepräsentativ vertreten waren. Bemerkenswerter ist freilich, daß sie 38% der wegen Verwundung des Gegners verurteilten Täter stellten. Selten hingegen drohte den Bürgern eine Verurteilung wegen Diebstahls. Hier konnten nur 13 der 101Verurteilten den Bürgern zugerechnet werden. 35 Doch entkräftet dieser Befund nicht die Mutmaßung einer höheren Neigung zu Delinquenz in den Unterschichten. Es waren ja auch Arme und von der Teilhabe an der städtischen Herrschaft ausgeschlossene Schichten unter den Bürgern. Insofern verspricht eine nach Vermögen differenzierende Untersuchung des Deliktverhaltens der Steuerzahler weiteren Aufschluß. 36 31 Tatsächlich lag der Anteil der Bürger an den Delinquenten jedoch höher. Bei Waffeneinsatz oder Verwundung eines Gegners wurden Bürger mit Stadtverweisung bestraft, Nichtbürger gingen stattdessen in Turmhaft. Vgl. Das Rote Buch, hrsg. von Otto Feger (=Konstanzer Stadtrechtsquellen 1), Konstanz 1949, 60 und passim. Wenn wir demnach den Rechtsstatus der Delinquenten nach der Art der Bußen zu ermitteln versuchen, so waren von 118 wegen Verwundung bestraften Tätern mindestens 68 Bürger, wohingegen nur 45 in den Steuerbüchern nachweisbar sind. Bei Drohungen mit der Waffe waren 86 Delinquenten in den Steuerbüchern auffindbar, obwohl dem Strafmaß nach 122 Täter Bürger waren. Daraus ergibt sich der für die Analyse der Steuerbücher höchst interessante Befund, daß nur 70 bzw. 66% der Konstanzer Bürger in den Steuerbüchern auftauchen. 32 Vgl. Burghartz: Leib, Ehre und Gut (wie Anm. 21), 101f. 33 Zur Steuerpflicht in Konstanz vgl. Kirchgässner: Das Steuerwesen (wie Anm. 26), 94ff. und 119ff. 34 Zu Brüttel und Stickel vgl. Schuster: Der gelobte Frieden (wie Anm. 28), 15 - 42. 35 Die Zahlen im einzelnen: von 181 wegen Verstoßes gegen die Gewerbeordnungen Verurteilten waren 70 nachweislich Bürger, bei bewaffneter Drohung betrug das Verhältnis 309: 86, bei Schlägereien 126: 35, bei Diebstahl hingegen 13: 101. Vgl. zu den Delikthäufigkeiten auch Peter Schuster: De iustitia. Delinquenz, Herrschaft und Rechtsordnung in der Reichsstadt Konstanz (1430 - 1460), Habilitationsschrift Bielefeld 1997, Ms., 77ff. Richter ihrer selbst? 365 Der Befund ist überraschend: Es sind die ärmeren Steuerklassen, die unter den Delinquenten unterrepräsentiert sind. Obwohl sie 55% der Steuerzahler ausmachen, sind die Bürger mit einem Vermögen unter 100 Gulden nur mit 40% unter den delinquenten Steuerzahlern vertreten. Dieser Trend setzt sich in der zweiten Steuerklasse fort. Die reicheren Bürger sind hingegen überdurchnittlich oft vor das Ratsgericht zitiert worden. Was für die allgemeine Delinquenz gilt, bestätigt sich mit leichten Verschiebungen bei den Gewaltdelikten. Die ärmste Gruppe der Steuerzahler ist bei diesem Delikt zwar stärker vertreten als bei der Gesamtdelinquenz, bleibt aber leicht unterrepräsentiert. Relativ gesehen waren die sozialen Mittelschichten die Gruppe mit der geringsten Neigung zur Gewalt. Signifikanter tritt jedoch die Gewalttätigkeit der Oberschichten hervor. Nicht nur, daß sie unter den Gewalttätern stärker als es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht vertreten sind, herauszustellen ist auch, daß unter den von ihnen begangenen Vergehen Gewalthandlungen in besonderem Maße hervorstechen. Jede dritte Tat eines mit mehr als 5.000 Gulden Vermögen ausgewiesenen Konstanzers war eine Gewalthandlung. Ein zweiter statistischer Ansatz zur Beschreibung der Oberschichtendelinquenz soll sich nicht an ökonomischer, sondern an gesellschaftlicher Macht orientieren. Durch die in den Ratsbüchern alljährlich niedergeschriebenen Ämterlisten sind uns alle Mitglieder der Konstanzer Ratsorgane für die Jahre von 1430 bis 1460 bekannt. Zwei Ratsgremien sind zu unterscheiden, sowohl in ihrer Bedeutung als auch in Hinblick auf ihre 36 Eine vergleichende statistische Betrachtung muß angemessene Grundlagen des Vergleichs schaffen. Insofern ist es nicht opportun, alle 457 erfaßten delinquenten Steuerzahler in ihrer Vermögens- und Deliktstruktur darzustellen. Vielmehr haben wir uns entschieden, die soziale Struktur der delinquenten und nichtdelinquenten Steuerzahler des Jahres 1440 miteinander zu vergleichen. Die Fallzahl reduziert sich dadurch auf 233. Die hier gebildeten Vermögensklassen auf der Grundlage der Steuerbücher folgen Kirchgässner: Das Steuerwesen (wie Anm. 29), 188f. Die fünfte und sechste Vermögensklasse wurde zu einer (über 5.000 Gulden) zusammengefaßt. 0-100 100-500 500-1000 1-5000 >5000 0 10 20 30 40 50 60 Anteil in % 0-100 100-500 500-1000 1-5000 >5000 Steuerklassen nach Kirchgässner Anteil der Vermögensklassen in % (nach Kirchgässner) Anteil der Täter in % Anteil der bewaffneten Delinquenz in % Peter Schuster 366 richterlichen Aufgaben. Gleichsam geschäftsführendes Gremium der Stadt war der mit 23 Mitgliedern besetzte Kleine Rat, der auch als Nieder- und Hochgericht fungierte. Als gesetzgebendes Organ und Kontrollinstanz des Kleinen Rates gab es zudem den Großen Rat, dem die Mitglieder des Kleinen Rates sowie dreißig weitere Patrizier und Zünftler angehörten. 37 Verfolgt man nun die delinquenten Handlungen jener politischen Elite der Reichsstadt Konstanz, ergibt sich in einem ersten Zugriff Bemerkenswertes. Jedes dritte Mitglied des Gerichtes hatte selbst mindestens einmal in seinem Leben als Beschuldigter vor dessen Schranken gestanden. Von den 39 zwischen 1441 und 1450 amtierenden Kleinratsmitgliedern waren dreizehn zwischen 1430 und 1460 wegen eines Satzungsverstoßes mit einer Buße belegt worden. Höher noch war die Delinquenz unter den Mitgliedern des Großen Rates. Von den 78 zwischen 1441 und 1450 amtierenden Mitgliedern finden sich immerhin 31 in den Strafbüchern des Rates. Zwei Dinge fallen ins Auge: Der spröde statistische Zugriff bestätigt nachhaltig den Eindruck Karl Demandts, daß die aktiven Mitglieder der Gemeinde oft an die Grenzen des Erlaubten stießen. Schaut man noch genauer hin, bedarf es aber einer gewichtigen Einschränkung. Ausgesprochen selten wurden die Mitglieder des Kleinen Rates während ihrer Amtszeit delinquent. Die Richter der Stadt fühlten sich offenbar während der Zeit, in der sie dieses städtischen Ehrenamt wahrnahmen, den Satzungen in besonderer Weise verpflichtet. Die wenigen Fälle eines während der Amtszeit delinquenten Kleinratsmitgliedes in den von uns untersuchten dreißig Jahren sind zwar durchaus verschieden, öffnen damit aber auch den Blick auf die schillernde Vielfalt und Motivation von Delinquenz in den Führungsschichten der Gesellschaft. 1431 stand der Patrizier Ulrich Schiltar vor dem Gericht, dem er eigentlich selbst angehörte. Ihm und Konrad von Ulm, ebenfalls Patrizier, wurde vorgehalten, daß sy baid sit ain ander mit wortten in offnen raut gebärlichat und fravelich wider ainander geredt und darin ains rats nit geschonet hand. 38 Die eher geringe Buße von zehn Schilling Pfennigen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier ein tiefliegender Konflikt den beiden Patriziern offenbar die Contenance geraubt hatte. 1429 war es zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Zünftlern gekommen, in deren Verlauf die Mehrheit der Konstanzer Patrizier vorübergehend das Bürgerrecht aufgegeben und Konstanz verlassen hatte. Konrad von Ulm und Schiltar hatten in diesem Konflikt gegensätzliche Positionen bezogen. Ulrich Schiltar, als Bürgermeister in diesen turbulenten Tagen in besonderer Weise für den inneren Frieden verantwortlich, mußte Ende 1429 den ihn bedrängenden Standeskollegen bescheiden, daß er ihnen nicht mehr helfen könne, dan die sach ist mir uß der hand genomen und gewaxen und stat nit an mir. 39 Kurz darauf räumte die Mehrzahl der Patrizier, unter ihnen auch Konrad von Ulm, die Stadt. Nur wenige Patrizier blieben: Ulrich Schiltar war einer von ihnen. 40 Vor dem Hintergrund dieserVorgeschichte und im Wissen um die angespannte innenpolitische Stimmung Anfang der dreißiger Jahre 41 , ist durchaus anzunehmen, daß die beiden Patrizier den Rat als Forum für einen heftigen politischen Streit gewählt hatten, für den sie nun zur Rechenschaft gezogen wurden. 37 Vgl. dazu ausführlicher Schuster: Der gelobte Frieden (wie Anm. 28), 48ff. Die Ratslisten der Stadt Konstanz sind ediert durch Konrad Beyerle. Vgl. Beyerle: Ratslisten (wie Anm. 11). 38 StadtA Konstanz, B I 5, 231. 39 Ruppert: Chroniken (wie Anm. 6), 140. Zu der Auseinandersetzung zwischen Zünften und Patriziern und der anschließenden Verfassungsreform vgl. zuletzt mit weiterführender Literatur Helmut Maurer: Konstanz im Mittelalter II: Vom Konzil bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, Konstanz 1989, 57 - 70. Richter ihrer selbst? 367 Ganz anders gelagert stellt sich der mehr als zwanzig Jahre spätere Fall des patrizischen Ratsmitgliedes Hans Muntprät d.Ä. dar. Nicht politische Erregung, sondern persönliche Anmaßung trieben ihn 1454 dazu, Andras Maschgole als Lügner zu beschimpfen und ihn zu schlagen. Obwohl Muntprät selbst dem Gericht angehörte, kam der Fall zur Entscheidung an das Ratsgericht. Mit einem halben Jahr Stadtverweisung lag die verhängte Buße auf einer Höhe, die keinen Amtsbonus erkennen läßt. Muntprät trat freilich die Verweisung nicht an. Wie im niedergerichtlichen Verfahren durchaus üblich, löste er die Verweisung mit einer Geldzahlung ab. Unüblich war allenfalls, daß er umgehend und in einer Rate die Buße entrichtete. 42 Der dritte zu berichtende Fall liegt auf der Schnittstelle von politischer und privater Verwicklung. 1452 ahndete der Rat eine nächtliche bewaffnete Auseinandersetzung. Der Patrizier Ulrich von Roggwil sollte wegen eines gegen die Diener des Bischofs gezogenen Schwerts ein halbes Jahr die Stadt verlassen und eine Mark Silber Buße entrichten. Ein Diener des Konstanzer Patriziers Heinrich Blarer erhielt als Nichtbürger für das gleiche Delikt eine Buße von einem halben Jahr Turmhaft und einer Mark Silber. Ulrich Schnaitter, Albrecht Merler und Gebhartt Viol, allesamt Diener des Bischofs, erhielten eine Buße von je einem Jahr Turmhaft und zwei Mark Silber, weil sie Ulrich Blarer den eltern des nachts mit gespanter armbrost uberloffen. Ein vierter Diener, Bentz Huw, sollte gar zwei Jahre in Haft und vier Mark Silber entrichten, weil er Blarers Knecht verwundet hatte. 43 Als Urheber all dieser Gewalttaten benannte der Rat in der folgenden Sitzung nach red und widerred eines ihrer führenden Mitglieder: Ulrich Blarer von Liebburg, oftmaliger und einflußreicher Bürgermeister der Stadt. 44 Er mußte daher alle wegen des Konflikts verhängten Bußen begleichen. Blarer erkannte das Urteil an und nahm Verhandlungen mit den Ratskollegen auf. Die Herren einigten sich auf eine Art Mengenrabatt: Statt der in der Summe zu siebzig Pfund Pfennigen auflaufenden Bußen der vier bischöflichen Diener sollte Blarer fünfzig Pfund bezahlen. Den Betrag entrichtete der Patrizier noch am selben Tag. 45 Den Hintergrund dieser nächtlichen Auseinandersetzung erhellt ein Bericht in der Schultheiß-Chronik. Ihr zufolge lebte zu jener Zeit eine Frau aus Fridingen in Konstanz, um deren Angelegenheiten sich Blarer kümmerte, nachdem sie sich offenbar von ihrem Mann getrennt hatte. EinesTages wurde Blarer zugetragen, daß sich der Konstanzer Domherr Burkhart von Randegg bei der Frau aufhalte. Er eilte mit einigen Knechten dorthin und wolt lugen, ob der sach also wär. Als er nun dar kam, do ward der von Randegg sins inne und waich zu der fraw in die kamer. Es kam zu einer kurzen Auseinandersetzung zwischen den Knechten. Trotz des scheinbar harmlosen Ablaufs der Ereignisse hatte dieser Blarersche Kontrollbesuch Folgen: Dise des Blarers heimsuchung verdross den von Randegg gar ubel, rait von der statt und wolt die sach an dem Blarer rechen und schreibend sy baid ain ander scharpff 40 Ruppert: Chroniken (wie Anm. 6), 147 (Schultheiß-Chronik) und 155f. (Dacher-Chronik), mit abweichenden Angaben über die Zahl der verbliebenen Patrizier. Nach Schultheiß waren es acht, nach Dacher drei Patrizier, die in der Stadt blieben. Ulrich Schiltar wird in beiden Chroniken als zurückbleibend genannt. 41 Vgl. dazu Schuster: De iustitia (wie Anm. 35), 123ff. 42 StadtA Konstanz, Bände L 803, 83f. 43 StadtA Konstanz, B I 8, 48. 44 Es gab zwei Ulrich Blarer in Konstanz zu jener Zeit. Nach Kramml: Kaiser Friedrich (wie Anm. 1), 287, bes. Anm. 40, war Ulrich Blarer von Liebburg der in den politischen Ämtern Aktive. 45 StadtA Konstanz, B I 8, 49,5 und Bände L 803, 74. Peter Schuster 368 brieff. Von Randegg organisierte eine Schar adliger Verbündeter, die Blarer und zwei Mitgliedern der Konstanzer Patrizierfamilie von Roggwil die Fehde ansagten. Zwei Stunden, bevor der die Fehde begründende Absagebrief Blarer erreichte, verbrannten von Randegg und seine Gehilfen eine Scheune und ein weiteres Gebäude auf Blarers außerstädtischen Besitzungen. Trotz einiger Friedensappelle des Konstanzer Rats dauerte es fünf Wochen, bis sich die Parteien zu einem gütlichen Tag, also Friedensverhandlungen, trafen. Blarer wurde vorgehalten, er habe durch seinen aufgeregten und zudem bewaffneten Kontrollgang die Frau von Fridingen in unerlich lümundt gebracht, wo doch von Randegg als ein Freund on alles arges bei ihr gewesen sei. Die Aussprache hatte Erfolg: Die sach ward gantz und gar vertragen und solt jederman sins schaden selb han, daby belaib es. 46 2. Formen delinquenten Verhaltens in den Oberschichten Die drei genannten Fälle haben durchaus unterschiedliche Motivlagen erkennen lassen, die mittels statistischer Verfahren allein nur schwer zu erfassen sind. Auch die gesellschaftlichen Oberschichten der spätmittelalterlichen Städte waren keine uniforme Gruppe. Wie in allen sozialen Schichten gab es dort rauhbeinige und zu Gewalt und Delinquenz neigende Personen ebenso wie solche, die niemals vom Gericht belangt worden sind. 47 Gleichwohl können wir fragen, ob es typische Formen der Oberschichtendelinquenz gab, auf die etwa Barbara Hanawalt hingewiesen hat 48 , und worauf diese zurückzuführen sind. Zugleich erhebt sich die Frage, welche gesellschaftlichen und sozialen Folgen delinquentes Verhalten in den Oberschichten nach sich zog. Im engeren Kreis der sehr reichen Konstanzer 49 und des stadtadligen Patriziats fällt zunächst das fast vollständige Fehlen von Wirtschaftsdelinquenz auf. In dieser Schicht des ökonomischen Wohlstands war der Verstoß gegen die Gewerbeordnungen offenbar kein Weg, um einen zusätzlichen Gewinn einzustreichen. Diesen beschritten vielmehr vorrangig die gesellschaftlichen Mittelschichten und aufsteigenden Familien wie etwa der Mertzler Flar. Das Risiko derartiger Geschäftspraktiken, auch das zeigt das eingangs angeführte Beispiel der Familie Flar, war gering. Meistens ahndete der Rat derartige Delikte mit einer Geldbuße. Nur im Fall des Zünftlers Kundigmann zeigte das Ratsgericht in unserem Untersuchungszeitraum unbarmherzige Strenge. Dieser zwar nicht der eigentlichen Oberschicht angehörige, aber durchaus vermögende Bürger hatte sich 1456 wegen systematischer Unterschlagung ihm anvertrauter Tücher vor dem Ratsgericht zu verantworten und wurde dafür mit einer zehnjährigen Stadtverweisung auf zwei Meilen Entfernung bestraft. 50 In der Gruppe der reichsten Konstanzer fiel der 46 StadtA Konstanz, A I 8, f. 158vf. Eine Zusammenfassung in Regesta Episcoporum Constantiensium IV, hrsg. von der Badischen Historischen Kommission, Innsbruck 1941, Nr. 11670. 47 Auf die »Vielschichtigkeit von individueller und kollektiver Erfahrung und Praxis« hat insbesondere Alf Lüdtke wiederholt verwiesen. Vgl. beispielsweise Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn, in: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Alltagsgeschichte, hrsg. von der Berliner Geschichtswerkstatt, Münster 1994, 139-156, Zitat 142. 48 Vgl. oben Anm. 27. 49 Eine Liste der 34 Konstanzer mit dem höchsten fahrenden Vermögen im Jahre 1450 findet sich bei Bechtold: Zunftbürgerschaft (wie Anm. 3), 88f. Natürlich sind auch, aber nicht nur, Patrizier in dieser Gruppe. 50 StadtA Konstanz, B I 11, 35. S. auch Die Steuerbücher I (wie Anm. 10), 1440, Nr. 348. Richter ihrer selbst? 369 Zünftler Hans Galiatz wegen böser kof durch wirtschaftliche Unregelmäßigkeiten aus dem Rahmen. Dieses Delikt trug ihm 1453 eine Buße von einhundert Pfund Pfennigen ein. 51 Unter den Delikten, die Patriziern vorgehalten wurden, ist allenfalls die 1436 verweigerte Steuerzahlung des Ulrich Hartzer den Wirtschaftsdelikten zuzurechnen. 52 Hartzer hatte mehrfach die Aufforderung, seine Steuerschuld zu entrichten, ignoriert. Armut kann es nicht gewesen sein, die ihn motivierte. Zudem ließ das Steuersystem die Möglichkeit der Ratenzahlung, Pfänderhinterlegung etc. zu. Hartzer war schlichtweg, so Bernhard Kirchgässner, ein »schwieriger Mann«, der sich wiederholt an den Steuerherren rieb. 53 Ein Großteil der Delinquenz reicher und patrizischer Konstanzer scheint diesem Umstand zu entspringen, der eng an die Demandtsche Beobachtung über die Delinquenten in der hessischen Stadt Eschwege anschließt: Die Angehörigen der Oberschichten in der Reichsstadt waren schwierig, widersetzlich und eigensinnig. Sie setzten sich häufig öffentlich und ohne Rücksicht auf eine mögliche Buße über die Ratsgebote hinweg. Sie schurigelten städtische Bedienstete und widersetzten sich ihren Anordnungen. 54 Auffallend häufig trugen sie ihre Konflikte unter den Augen der Ratsmitglieder aus oder übertraten ostentativ die Friedensgebote der Stadt. Der Patrizier Jakob von Ulm erhielt 1433 ein Jahr Stadtverweisung als Buße dafür, daß er, wie zwei Jahre zuvor im oben beschriebenen Fall seines Bruders Konrad, im Rat seine mißworte nicht zurückgehalten hatte. 55 Auch Ulrich Hartzer ließ sich von Rat und Bürgermeister nicht in seinem Ungestüm bremsen. In Gegenwart des Bürgermeisters beleidigte er 1433 den Fischer Heinrich Huch und bewies 1440, daß ihn auch mehrfache Bußen nicht in seinem Eigensinn erschüttert hatten. Wegen Ungehorsams gegen den Rat mußte er abermals eine Buße von zehn Pfund Schillingen entrichten. 56 Konstanzer Patrizier löckten wider den Stachel städtischer Gebote, die nur allzuoft im Mittelalter mit einem Maulkorb einher kamen. Heinrich Schiltar frohlockte gemeinsam mit seinem Patrizierfreund Konrad in der Bünd 1432 in kleinerer Runde über den innenpolitischen Sieg der Patrizier über die Zünfte nach der Sigismundschen Richtung von 1430 und befand, es hab kein zunftmaister kain gewalt mer nit zu gebieten und zu strafen. Die Wahrheit auszusprechen, war strafbar. Schiltar wie in der Bünd sollten laut Urteil des Rates einen Monat lang die Stadt für diese Sätze verlassen. 57 Weitaus spektakulärer freilich war der öffentliche Auftritt des Patriziers Konrad Stickel im Jahr 1445. Anläßlich der Seelmesse für seinen von Dienern des Bischofs in einer lang schwelenden Auseinandersetzung getöteten Sohn Hans kündigte er den in der Pfarrkirche St. Stephan Versammelten öffentlich die Weiterführung des Konfliktes an. Erregt rief Stickel den Anwesenden zu: Ich dank üch och, aber da mir min blut und min fleisch schamlich ermürt wart, do bedorft ich des dankes nit, denn ich sach nit, das es jeman laid sin noch zu hertzen gan wolt. Umb 51 Vgl. StadtA Konstanz, Bände L 802, 81. 52 Vgl. StadtA Konstanz, B I 6, 314. Hinweise zur Person der hier genannten Patrizier unterbleiben in der Regel. Genauere Hinweise finden sich, wenn nicht anders angegeben, bei Kramml: Kaiser Friedrich (wie Anm. 1). Diese materialreiche Studie besticht u.a. durch ein sehr gründliches Register. 53 Vgl. zu den Konflikten Hartzers mit der Steuerbehörde zusammenfassend Kirchgässner: Das Steuerwesen (wie Anm. 29), 124f. 54 Vgl. StadtA Konstanz, B I 5, 261 (Mißworte gegen die Ratspfänder). 55 StadtA Konstanz, B I 6, 126. 56 StadtA Konstanz, B I 6, 123. Zu seinem Kontrahenten vgl. Bechtold: Zunftbürgerschaft (wie Anm. 3), 55. 57 StadtA Konstanz, B I 6, 26. Peter Schuster 370 den mord und übel, so an mir armen man beschechen ist, will ich ewigklich mord und rach in den hymel uffschryen (...). Der Rat nahm die Drohung und Aufkündigung des Friedegelübdes durchaus ernst und ahndete dieses Bekenntnis umgehend mit der hohen Strafe von 50 Pfund Pfennigen, mehr als das von den städtischen Satzungen vorgeschriebene Strafmaß für einen Totschlag. Gleichzeitig thematisierte der Rat, dem in jenem Jahr Stickels Schwiegersohn Hans von Cappel als Reichsvogt in führender Position angehörte, eine weitere Form patrizischer Lebensweise, die nur zum Teil gesellschaftlich akzeptiert war. Bezugnehmend auf seine lange geduldeten privaten Eskapaden befahl der Rat, sein kebsweib, also seine Geliebte, mit der er bereits sieben gemeinsame Kinder gezeugt haben sollte, aus dem Haus zu schaffen. 58 Offene Worte und offene Weigerungen zeigen die gesellschaftliche Oberschicht der Reichsstadt Konstanz als eine soziale Gruppe, die einerseits über ihre Repräsentanten im Rat den städtischen Frieden moderierte und andererseits für sich mit beieindrukkender Renitenz in Anspruch nahm, die Regeln des Friedens und die Definitionsmacht des Rates zu ignorieren. 59 Reichtum schuf Unabhängigkeit: 1464 sollte sich das Großratsmitglied Hans Bischoff wegen frevelhafter Worte vor dem Ratsgericht verantworten. Bischoff war jedoch nicht bereit, sich dem Urteil der Kleinratsmitglieder zu unterwerfen. Bevor es noch zu einer Buße kam, gab er sein Bürgerrecht auf und verließ offenbar die Stadt. 60 Die Kultur der Oberschicht fügte sich eben nur bedingt in die Verhaltensvorschriften, die die städtischen Satzungen vorgaben. Selbst kollektive Widersetzlichkeit war in diesem konfliktgeladenen Beziehungsgefüge nichts Ungewöhnliches. Während der Fastnacht des Jahres 1458 zogen 59 Konstanzer vermummt oder, wie es in den Quellen heißt, verbutzt durch die Stadt. Jeder Teilnehmer erhielt vom Rat eine Buße von einem Pfund Pfennigen auferlegt, immerhin den Gegenwert einer einmonatigen Stadtverweisung. Der Kreis der mit einer Buße belegten Teilnehmer liest sich wie ein Gotha der führenden Familien der Stadt. Wir finden Angehörige der Patrizierfamilien ebenso darunter wie vermögende Zünftler: Die städtische Oberschicht erging sich in einem ständische Grenzen überschreitenden Fest. 61 Ein Grund für das erstmals 1453 belegte Vorgehen gegen das Vermummen könnte eine im Jahr zuvor während der Fastnacht zwischen den Patriziern Ulrich Engili und Ulrich Grünenberg entbrannte Messerstecherei sein. 62 Einen Ausbruch aus dem durch die Sat- 58 Vgl. zu dem Fall Schuster: Der gelobte Frieden (wie Anm. 25), 40 - 42. Vgl. auch Ruppert: Chroniken (wie Anm. 6), 397, StadtA Konstanz, B I 7, f. 146, und Maurer: Geschichte der Stadt Konstanz (wie Anm. 39), 187f. Die Strafe wurde schließlich erlassen, weil man ihm, so die eigentümliche Begründung, an sinem garten schaden tet, vgl. StadtA Konstanz, Bände L 796, 94. 59 Beispiel für derartige Widersetzlichkeiten gegen Ratsentscheidungen enthält auch das älteste Haderbuch der Stadt Nürnberg. Etliche Patrizier wurden dort wegen abfälliger und kritischer Worte zu Ratsentscheidungen mit Bußen verzeichnet. Freundliche Auskunft von Ulrich Henselmeyer (Bielefeld), der derzeit eine Dissertation zur Niedergerichtsbarkeit im spätmittelalterlichen Nürnberg vorbereitet. Vgl. auch Groebner: Ratsinteressen, Familieninteressen (wie Anm. 24), bes. 289 - 291. 60 StadtA Konstanz, B I 11, 252. Bürgerrechtsaufgaben reicher Konstanzer waren nicht selten. Konrad Stickel etwa gab 1439 sein Bürgerrecht auf, um sich in einer Fehde nicht der Intervention des Konstanzer Rats aussetzen zu müssen. Vgl. Schuster: Der gelobte Frieden (wie Anm. 28), 37. Zwischen 1459 und 1472 gaben 138 Konstanzer Bürger ihr Bürgerrecht auf. Ihre Motive zu erforschen, wäre eine lohnende Aufgabe. Vgl. Amann: Städtischer Alltag (wie Anm. 15), 70 - 73. 61 Vgl. StadtA Konstanz, B I 8, 207f. Bereits 1453 war eine derartige, wenngleich kleinere Strafaktion durchgeführt worden. Vgl. ebenda, Bände L 803, 79f. Vgl. auch Maurer: Konstanz im Mittelalter II (wie Anm. 39), 184. 62 Vgl. StadtA Konstanz, Bände L 803, 71 und B I 8, 42,5. Richter ihrer selbst? 371 zungen vorgeschriebenen Katalog stadtbürgerlicher Tugenden bedeutete sicher auch das geahndete Verhalten der drei Patrizier Konrad Stickel, Heinrich Hartzer und Heinrich von Payern, die alle drei 1447 wegen unzulässiger Schwüre belangt wurden. 63 Es fügte sich ebenso wenig in den durch die Satzungen vorgeschriebenen Verhaltenskanon, wenn sich 1466 Ulrich Hartzer und der ebenfalls patrizische Bürger Heinrich Schultheiß zum verbotenen Spiel trafen. 64 Die Patrizierfrauen mochten bei diesen Provokationen bürgerlicher Moral nicht nachstehen. Besonders hervor tat sich darin die Patrizierin Anna Felix, vermutlich die Mutter der durch einen Tanz mit Kaiser Friedrich III. gesellschaftlich geehrten Elisabeth Felixin 65 . Mehrmalige Zitationen vor das Ratsgericht scheinen sie nicht geläutert zu haben: 1417 zog sie wegen eines zu tief ausgeschnittenen Kleides erstmals den Unmut des Ratsgerichts auf sich. 1426 bestrafte sie der Rat, weil sie verbotenerweise in ihrem Haus hatte spielen lassen. Erfolg war diesen Disziplinierungsversuchen nur bedingt beschieden: Erneut stand sie 1431 gemeinsam mit ihrer Standesgenossin Barbara Stetter und einer weiteren Frau wegen illegalen Spiels vor dem Ratsgericht. 66 Eigensinn und Widersetzlichkeit zeigen sich bei Frauen wie bei Männern der Oberschicht. Diese Eigenschaften blieben freilich nicht auf den Umgang mit den Organen der Stadt beschränkt, sondern färbten gelegentlich auf den alltäglichen Umgang ab. Wie bei den Frauen insgesamt, so war auch bei den Frauen der Oberschicht der Hang zu Gewalt gering. 67 Doch wußten sie umso mehr, Worte gezielt einzusetzen. Die Frau des wohlhabenden Zünftlers Hans Stoffachers nutzte 1437 den Gottesdienst, um öffentlich ihre Schwägerin zu schmähen. 68 Ebenfalls wegen beleidigender Worte wurde 1443 Schiltars jungfrow zu einem Monat Stadtverweisung verurteilt. 69 Schließlich gelang es 1447 der Patrizierin Adelheid Roggwil, durch einige Sätze das Ratsgericht mehrfach zu beschäftigen. Sie hatte, vor wem auch immer, öffentlich die Marmerin, über die wir nicht mehr in Erfahrung bringen konnten als daß sie Kerzenmacherin war, als Diebin bezeichnet. In der nächsten Ratssitzung mußten sich drei junge Männer verantworten: Die Patrizier Walch Lind und Jakob Zapf sowie der Sohn des Notars Lienhart Burg, Andres Burg. Gleichsam um die Beschuldigungen Frau Roggwils zu bekräftigen, beschmierten sie am Haus der Kerzenmacherin die Tür mit Kot und zerwarfen die Fensterscheiben. Die verfolgte Frau wählte die Offensive: Ihrerseits schalt sie nun Frau Roggwil und eine weitere Frau eine Diebin. Letztlich verlief diese Auseinandersetzung vor Gericht im Sande. Der gewichtige Vorwurf des Diebstahls blieb auf beiden Seiten unbewiesen. 70 Auch Männer gerieten verbal aneinander. Selbst im ehrwürdigen Gebäude der Patrizier, in der Katz, blieb Streit unter Standesgenossen nicht aus. In einem Fall wurde er 63 Vgl. StadtA Konstanz, Bände L 798, 104f. 64 Vgl. Amann: Städtischer Alltag (wie Anm. 15), 131. 65 Vgl. dazu Kramml: Kaiser Friedrich (wie Anm. 1), 81. Elisabeth war Ehefrau des einflußreichen Patriziers Marquard Brisacher d. Ä. 66 Vgl. StadtA Konstanz, B I 2, 130; B I 4, f. 118v. und B I 5, 252. 67 Vgl. für Konstanz Schuster: Der gelobte Frieden (wie Anm. 28), 79ff. Zur Frauendelinquenz insgesamt vgl. den Beitrag von Joachim Eibach in diesem Band (mit weiterführender Literatur). 68 StadtA Konstanz, B I 6, 448. 69 StadtA Konstanz, B I 7, f. 83v. 1436 erhielt die Ehefrau des Patriziers Ulrich Blarer (der Ältere) eine Buße von einem Jahr Stadtverweisung wegen beleidigender Worte gegen Ulrich Blarer den Langen. Ebenda, B I 6, 321. 70 StadtA Konstanz, B I 8, 176,5 - 177,5. Peter Schuster 372 sogar wenig distinguiert auf der Straße fortgesetzt. 71 Die wenig gezügelte Contenance der Konstanzer Oberschicht mündete bei Männern freilich häufig in physische Gewalt. Gleichsam die Vorstufe von Gewalt war das verbreitete Messerzucken, eine Drohgebärde, bei der es in den meisten Fällen blieb, oder das Drohen mit einer anderen Waffe. 72 Patrizier und andere reiche Konstanzer praktizierten diese gefährliche Form der Konfliktregulierung mit großer Unbefangenheit und schonten dabei weder Standesgenossen noch das eigene Personal. 73 Man könnte bei der Vielzahl derartiger Fälle an eine Form ritualisierter Konfliktaustragung denken, wenn nicht einige Eigentümlichkeiten im Gewaltverhalten der Oberschichten zu erkennen wären. Ebenso häufig, wie wir über das normale Messerzucken unterrichtet werden, berichten die Quellen von ausgesprochenen Wutausbrüchen, die zu recht ungesteuerten Gewalthandlungen führten. Hervorzuheben ist zum einen, daß die Mitglieder der gesellschaftlichen Oberschichten wenig Hemmungen zeigten, ihr Personal zu malträtieren und Gewalt gegen Frauen oder wie im Fall Konrad Flars gar gegen Kinder anzuwenden. Der ökonomisch sehr erfolgreiche Zünftler Kaspar Gaißberg geriet nicht nur zweimal in eine bewaffnete Auseinandersetzung mit einem Mann namens Gebhard Kurtz, sondern verprügelte und beschimpfte 1433 auch eine Frau. 74 Die Patrizierehre verschonte auch Frauen nicht: Ulrich Ehinger sollte 1448 für drei Monate die Stadt räumen, weil er eine Frau namens Wigand verprügelt hatte. 75 Zum anderen ist der konkrete Ablauf und die Wahl der Waffen in den Konflikten mit Angehörigen der Oberschichten bemerkenswert. Wie der eingangs erwähnte Klaus Flar in zornswise einen Stein aufhob, um ihn seinem Gegner nachzuwerfen, so bedrohte auch der vermögende Zünftler Heinrich Schuchtzer 1458 Niggelin Martin mit einem Stein. Als dieser daraufhin sein Messer zog, warf Schuchtzer ihn auf Martin. 76 Ein anderer Schuchtzer, Konrad, schmiß dem ebenfalls vermögenden Zünftler Albrecht Thiver eine Zaunlatte hinterher und sollte dafür ein halbes Jahr der Stadt verwiesen werden. 77 Ebenso beließ es der Patrizier Christoph Grünenberg nicht beim Messerzucken, sondern schlug und bewarf schließlich seinen Gegner Haß Sidenmager. 78 Auch der Sohn des Patriziers Ulrich Schiltar, Heinrich, ging 1436 mit einer bemerkenswerten Brutalität ans Werk, als er einen Bürger namens Vorster mit ainer brechschiben gewundet und durch den kopf geschlagen. 79 Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, als hätten gerade die Angehörigen der Oberschichten in besonderer Weise ihre Wut ausgelebt. Dafür spricht auch, daß sie ausgesprochen häufig als Urheber der bewaffneten Konfrontation 71 Vgl. StadtA Konstanz, B I 6, 321 (Ulrich von Schwarzach gegen Ludwig Schiltar) und B I 8, 69,5 (Heinrich von Payern gegen Diethelm Blarer). 72 Nur jeder vierte Waffeneinsatz endete mit physischen Folgen für einen Beteiligten: Von 290 gezählten Messereinsätzen blieb es in 233 Fällen bei der Drohung des Messereinsatzes. Dem stehen 57 mit dem Messer beigebrachte Verwundungen gegenüber. Vgl. zur Schwere der Verwundungen Schuster: De iustitia (wie Anm. 35), 98ff. Vgl. dazu auch Daniel Lord Smail: Common Violence: Vengeance and Inquisition in Fourteenth Century Marseille, in: Past and Present 151 (1996), 28 - 59. 73 Vgl. StadtA Konstanz, B I 6, 321 und 444; B I 8, 155 (Messerzucken unter Patriziern); Bände L 798, 88 (Messerzucken über den eigenen Knecht). Vgl. auch B I 6, 366; B I 7, f. 57v., B I 8, 18, 145,5 und 151. 74 StadtA Konstanz, B I 6, 142, 366 und Bände L 796, 92. 75 StadtA Konstanz, Bände L 799, 66. 76 StadtA Konstanz, B I 8, 209. 77 StadtA Konstanz, B I 6, 523. 78 StadtA Konstanz, B I 6, 366. 79 StadtA Konstanz, B I, 366. Die brechschibe könnte ein Werkzeug zum Brechen des Flachses beschreiben. Richter ihrer selbst? 373 auszumachen sind. 80 Umgekehrt ist es von den reichen Gewalttätern nur Kaspar Gaisberg gelungen, seinem Kontrahenten den sogenannten Urhab nachzuweisen. 81 Ein entsprechendes Ansinnen des Patriziers Hans Konrad Blarer scheiterte. In der ihm vom Rat gewährten Frist von acht Tagen gelang es ihm nicht, Beweise dafür beizubringen, daß sein Gegner, Wak der Müller, den Streit angefangen hatte. 82 Daß Patrizier und andere reiche Bürger sowohl von ihrer Delikthäufigkeit her als auch in ihrem konkreten Verhalten während eines Streits der Gewalt nicht abgeneigt waren, scheint evident. Sie waren zudem nur bedingt an einer gerichtlichen Aufarbeitung des Konflikts interessiert. Besonders nachhaltig unterstrich dies 1432 Werner Ehinger, der sich weigerte, den Kürschner Peter von Kasteln anzuzeigen, nachdem dieser ihn verwundet hatte. 83 Doch bleiben auf der reinen Delikt- und Verhaltensebene die Motive offen. Unbeherrscht wie viele ihrer Standesgenossen verhielten sich 1455 der bereits erwähnte Konrad Schuchtzer und sein Sohn Ulrich. Dieser Fall dokumentiert als einer der ganz wenigen aus den Konstanzer Quellen den Anlaß des Streits zumindest in Ansätzen. Der Rat verurteilte die beiden zu fünfzig Gulden Geldstrafe von des wegen als (sie) den Opfertzhover, also nach dem sy vor den sibnern in recht gegenainander gestanden und von dem vor rat zu recht gewist sint an alle uffstoß darnider geworffen, in geschlagen und getretten. 84 Demnach waren die beiden mit dem Urteil des für Schuldsachen zuständigen Siebenergerichts nicht einverstanden gewesen und hatten ihren Zorn darüber an ihrem Prozeßgegner ausgelassen. 85 In einigen anderen Fällen ist die Motivlage nicht so eindeutig zu erkennen wie bei den Schuchtzers, doch gibt es zumindest Indizien. An die Regeln der Fehde erinnern zwei Fälle. Der Sohn des reichen Zünftlers Hans Galiatz, Peter Müller, nahm 1451 seinen Vater gefangen, um ihn zu schätzen, d.h. von ihm eine Geldzahlung zu erpressen. 86 Konstantin Stoffacher nahm 1455 ohne Erlaubnis des Rates einen Mann namens Peter Schiffmann gefangen, vermutlich, um die Rückzahlung offener Schulden zu erpressen. 87 Neben materiellen Interessen, die möglicherweise dem für den Angegriffenen schließlich tödlich endenden Angriff des Patriziers Hans Stickel auf seinen Standesgenossen Heinrich von Tettikoven ebenso zugrunde lagen wie dem brutalen Angriff des Patriziers Hans Brisacher auf den einflußreichen Metzger Jos Zollikoven 88 , wird auch Standesehre als Motiv in Ansätzen erkennbar. Die oben geschilderte Fehde des Ulrich Blarer kann dafür ebenso angeführt werden wie die Auseinandersetzung zwischen der Familie Stickel und Hug Thiver, einem aufsteigendem Zünftler, der 1434 in Frankfurt 80 StadtA Konstanz, B I 6, 442; B I 7, f. 57v.; B I 8, 145,5, 151, 209 81 StadtA Konstanz, B I 6, 366. Zum Urhab vgl. Das Rote Buch (wie Anm. 31), 59, und Schuster: De iustitia (wie Anm. 35), 232ff. 82 StadtA Konstanz, B I 8, 152,5. 83 StadtA Konstanz, B I 6, 34. 84 StadtA Konstanz, B I 8, 119. 85 Zum Siebenergericht vgl. Kramml: Kaiser Friedrich (wie Anm. 1), 247 - 250. 86 StadtA Konstanz, B I 8, 21,5. 87 StadtA Konstanz, B I 8, 121. Zum Schuldrecht und der damit verbundenen Schuldhaft und ihrer Anwendung im Spätmittelalter fehlt es an tiefergehenden Untersuchungen. Sicher scheint, daß noch im 15. Jahrhundert Selbstjustiz gegen säumige Schuldner nicht unüblich war. Vgl. dazu Ernst Meyer: Über das Schuldrecht der deutschen Schweiz in der Zeit des XIII. bis XVII. Jahrhundert (=Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 115), Breslau 1913, bes. 146f. 88 Stickel: StadtA Konstanz, B I 6, 366. Vgl. dazu vor allem Schuster: Der gelobte Frieden (wie Anm. 28), 35ff. Zu Brisacher, der wie Stickel zu einer bemerkenswert hohen Geldstrafe verurteilt wurde: StadtA Konstanz, B I 7, f. 240v. Peter Schuster 374 öffentlich erklärt haben soll, daß alle Frauen der Konstanzer Patriziergesellschaft »Die Katz« Huren seien. Der Rat ahndete diese zünftische Anmaßung und Beleidigung der Reichsstadt mit der einzigartigen Strafe von fünf Jahren Verweisung aus dem Königreich. 89 Zudem traten die Stickels als Wahrer der patrizischen Ehre auf: Zunächst lauerte Hans Stickel gemeinsam mit einem Knecht dem verurteilten Thiver in der Schottengasse auf und verprügelte ihn. Thiver setzte sich mit einem Messer zur Wehr. Gleichsam aus Rache für die an seinem Bruder geübte Selbstjustiz überfiel daraufhin Albrecht Thiver den Patriziersohn und seinen Knecht. Auch Konrad Stickel und Hug Thiver gerieten kurz darauf bewaffnet aneinander. 90 Die sozialen und ökonomischen Folgen der durch das Niedergericht geahndeten Verstöße gegen das Satzungsrecht waren gering. Gleichwohl setzten sich die gesellschaftlichen Oberschichten im Bewußtsein geringer sozialer und verschmerzbarer materieller Folgen nicht nur nonchalant über die Satzungen hinweg. Wie bei der städtischen Bevölkerung insgesamt kamen gelegentlich auch in den Oberschichten eindeutig als kriminell zu qualifizierende Delikte vor, die der Rat in seiner Eigenschaft als Vogtgericht mit schweren Strafen in ausgrenzender Absicht ahndete: Todesstrafen und Stadtverweisungen mit einer Entfernungsangabe waren nicht ohne weiteres in Geldbußen oder -strafen wandelbar. Zwar diente die der Stadt verliehene Hochgerichtsbarkeit in erster Linie als eine scharfe und tödliche Waffe gegen Fremde, vor allem gegen Diebe 91 , doch gelegentlich drohte dort auch Bürgern Unbill. Die Oberschichten blieben davon nicht verschont. Nicht soziale Herkunft, sondern die Art des Deliktes provozierte drohende soziale Ausgrenzung. Hug Thiver mußte dies nach der Beleidigung der Patrizierfrauen erleben. Die daraufhin gegen ihn verhängte fünfjährige Verweisung hat er zwar nicht vollständig außerhalb der Stadt verbracht. Denn bereits 1437, drei Jahre nach dem ersten Urteil, stand er wegen eines Beleidigungsdelikts abermals vor dem Ratsgericht. Auch in den Steuerbüchern erscheint er 1437/ 38 erneut. Offensichtlich gelang es ihm jedoch nicht, in der Reichsstadt wieder Fuß zu fassen: Seit 1439 ist er in den Quellen nicht mehr zu finden. 92 Thiver war nicht der einzige wohlhabende und reiche Konstanzer, dem die Rechtsprechung die Lebenspläne durchkreuzen konnte. Recht unspektakulär aus Forscherperspektive sind die Verurteilungen wegen angeblich politischer Vergehen und Verbrechen. 93 Mit diesem Risiko mußte mancher politischer Wür- 89 StadtA Konstanz, B I 6, 208. 90 Vgl. Schuster: Der gelobte Frieden (wie Anm. 28), 32 - 34. 91 Circa die Hälfte aller zwischen 1430 und 1460 in Konstanz Hingerichteten waren Diebe. Unter den 49 an den Galgen geführten Dieben war nur ein eindeutig als Bürger auszumachender Mann: Hans Ruber, der 1459 wegen Diebstahls zum Tode verurteilt wurde. Ein anderer Dieb, Hans Moll, läßt sich ebenso als Bürger nachweisen. Ihm blieb der Tod erspart, und er mußte auf ewig die Stadt verlassen. Vgl. StadtA Konstanz, B I 8, 100 (Moll) und B I 11, 47 (Ruber). Vgl. auch Die Steuerbücher der Stadt Konstanz (wie Anm. 10), 1450, Nr. 844 (Moll) und 2046 (Ruber). Neben Ruber ist nur ein weiterer Hingerichteter eindeutig als Bürger auszumachen: Ulm Diethelm, der 1445 wegen Mordes an seiner Frau mit dem Rad gerichtet wurde. Vgl. StadtA Konstanz, B I 7, f. 48, und Die Steuerbücher der Stadt Konstanz (wie Anm. 10), 1440, Nr. 403. 92 StadtA Konstanz B I 6, 489. 93 Darauf wurde in der Literatur wiederholt verwiesen. Vgl. z.B. Ruth Elben: Das Patriziat der Reichsstadt Rottweil. Von den Anfängen bis zum Jahr 1550 (=Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen 30), Stuttgart 1964, 25ff. und bes. 30f. und 35f. Vgl. auch Ernst Gagliardi (Hg.): Dokumente zur Geschichte des Bürgermeisters Hans Waldmann (=Quellen zur Schweizer Geschichte N.F., Band 2), Basel 1911 - 13, und Hartmut Boockmann: Die Stadt im späten Mittelalter, München 1986, 163 - 170. Richter ihrer selbst? 375 denträger jener Zeit rechnen. Als Urheber der politischen Wirrungen der Jahre 1429/ 30 wurde nach der kaiserlichen Einigung Heinrich Ehinger benannt. Gleichsam als Scherbengericht verurteilte der neue Rat den gewesenen Bürgermeister zu ewiger Stadtverweisung auf vierzig Meilen Entfernung. 94 Aber auch weniger staatstragende Delikte rückten Angehörige der Oberschichten an den Rand der Gesellschaft. Ulrich Elsar, Sohn des vormaligen Steuerherrn Hermann Elsar und durchaus nicht unvermögend, stand 1451 vor dem Rat, weil er versucht hatte, mit einem Jungen anal zu verkehren. Diese Tat trug ihm zunächst die ewige Stadtverweisung ein. 1453 gelang es Elsar jedoch, in Verhandlungen eine Umwandlung der Verweisung in eine Geldstrafe in Höhe von 200 Gulden zu erwirken. Das Geld zahlte er umgehend. 95 Gleichwohl konnte er einen ökonomischen Niedergang in den folgenden Jahren nicht verhindern. 96 Auch Jakob Stickel, der Patrizierfamilie Stickel zugehörig, wurde 1471 verbotten 10 mil verr uber Rin und ewenclich, umb das er die Isenbißmen mit sampt den andern nachts notzoget und des abred gewesen ist. 97 Wenn überhaupt, so mußte Stickel nicht lange seine Heimatstadt verlassen. 1473 wird Jakob Stickel im Zusammenhang der noch offenen Nachlaßangelegenheiten des Hans Stickel erwähnt. Zwei Jahre später gehört Jakob Stickel zu fünf berittenen Konstanzern, die vom Rat im Rahmen eines Truppenkontingents zur Unterstützung des Kaisers aufgeboten wurden. 98 Das Schicksal seines und seiner Kumpanen Opfer ist weniger offensichtlich. Isenbißmen verwies der Rat kurz darauf wegen liederlichen Lebenswandel der Stadt. Wo sie geblieben ist, wissen wir nicht. 99 Die Spanne der Bürgern vorgeworfenen schweren Verbrechen war nicht groß in der spätmittelalterlichen Stadt. Neben Sexualdelikten führte noch der Bruch eines nach vorhergegangen Konflikten vom Rat ausgesprochenen Friedgebots, dessen sich 1453 Hans Gans, Sohn des früheren Großratsmitglieds gleichen Namens schuldig gemacht hatte, zur Bedrohung der sozialen Existenz des Täters. Hans Gans wurde zu ewiger Stadtverweisung verurteilt. 100 Es mögen wenig Beispiele sein, die schwere Strafen für Angehörige der Oberschichten dokumentieren. Und letztlich sind die meisten der scheinbar für immer aus der Stadt Verwiesenen ja zurückgekehrt oder gar nicht gegangen, indem sie im letzten Augenblick eine Wandlung der Strafe zu verhandeln vermochten. Doch galt diese Verhandlungsbereitschaft und Neigung zur Strafrücknahme selbst bei schweren Verbrechen nicht nur für reiche und einflußreiche Bürger. Wer nicht zum Tode verurteilt wurde, hatte trotz schweren Verbrechens durchaus die Chance, nach teilweiser Ableistung der ewigen oder langjährigen Stadtverweisung nach Konstanz zurückzukehren. Ein Mann namens Thomas Roßmeld, den wir weder in den Steuerbüchern noch in den üb- 94 StadtA Konstanz, B I 5, 168. Die gebotenen vierzig Meilen hielt Ehinger nicht ein: er bürgerte sich auf der anderen Seeseite in der Reichsstadt Überlingen ein. 1431 verzieh ihm der Kaiser offiziell seine Beteiligung an den Unruhen. Schließlich gestattete er ihm freien Wandel in Konstanz. Vgl. Kramml: Kaiser Friedrich (wie Anm. 1), 313. Bereits einer seiner Vorgänger als Bürgermeister, Heinrich Gunterschwiler, war 1423 für ewige Zeiten der Stadt verwiesen worden. Auch er kehrte in ruhigeren Zeiten zurück und ließ sich als Wirt nieder. Vgl. Ruppert: Chroniken (wie Anm. 6), 77 und 285f. 95 StadtA Konstanz, B I 8, 19; Bände L 803, 49. Zu seinem Vater vgl. Kirchgässner: Das Steuerwesen (wie Anm. 29), 35f. und 226. 96 Vgl. Schuster: De iustitia (wie Anm. 35), 303f. 97 StadtA Konstanz, B I 11, 204. Vgl. auch Amann: Städtischer Alltag (wie Anm. 15), 159. 98 Kramml: Kaiser Friedrich (wie Anm. 1), 96 und 286. 99 StadtA Konstanz, B I 11, 245. 100 StadtA Konstanz, B I 8, 74. Peter Schuster 376 rigen Quellen haben finden können und der vormals ewiclich und 12 meilen von der statt verbotten ist, vermochte zunächst zu erreichen, daß ihm darnach die meilen abgelaussen untz (=bis) an ain meil. 1432 schließlich genehmigte der Rat, daz er dann hinfur wol herin wandern oder hie wesentlich sin mag, ob er will. 101 Einer auf ewig der Stadt verwiesenen Frau, so entnehmen wir einem Ratsbucheintrag aus dem Jahre 1440, wurde auf Bitten ihres Gatten und ander erber lut die Rückkehr nach Konstanz genehmigt. 102 Konrad von Ehingen, genannt Cuntz mit der Gigen, war 1434 wegen Falschspiels mit gebleiten Würfeln mit der drakonischen Strafe des Augenausstechens bestraft worden. Zudem sollte er ewig auf vier Meilen die Stadt meiden. Auch er suchte um Rückkehr in die Stadt seiner Peiniger nach. 1437 wurde sie ihm gestattet. 103 Überblicken wir insgesamt das Delinquenzverhalten der gesellschaftlichen Oberschichten, so fällt es schwer, ein universelles Erklärungsmuster zu finden. So schillernd wie die Gewaltausbrüche in ihrer konkreten Ausgestaltung gewesen sind, so deutlich muß man die simple Einsicht herausstellen, daß sowohl in den Oberschichten wie in der Stadtgesellschaft insgesamt die meisten Männer nicht wegen einer Gewalttat vor dem Ratsgericht gestanden haben. Gewalt war eine »Gattung« im »kommunikativen Haushalt« spätmittelalterlicher Männer, die man auf Ehre als einen letztlich ubiquitären Begriff zurückführen kann, aber nicht muß. 104 Durch das Einbeziehen von Gewalt in das kommunikative Repertoire unterschieden sich die männlichen Angehörigen der Oberschichten im Grundsatz kaum von anderen sozialen Gruppen der Stadt. Als Tendenz und Hypothese ließe sich dem Konstanzer Material entnehmen, daß die Oberschichten ihren Unmut und ihre Aggressionen freier spielen ließen als die meisten anderen Gruppen der Gesellschaft. Statistische Daten besagen freilich für sich wenig: Die Überrepräsentanz von Oberschichtangehörigen unter den Delinquenten mag auch auf ihrer soziale und räumliche Nähe zu den Gerichtspersonen zurückzuführen sein. Wenn zwei Patrizier sich in der Geschlechterstube prügelten und beleidigten, kann ein Ratsmitglied nicht weit gewesen sein. Zudem ist zu bedenken, daß das spätmittelalterliche Bußensystem im Kern ein System der Geldbußen war, das auf Reiche nur wenig abschreckend wirken konnte. Wenn wir also abschließend eine höhere Neigung der Oberschichten zu delinquentem Verhalten nur mit gewissen Vorbehalten annehmen wollen, so ist aber aufgrund der Konstanzer Befunde umso eindeutiger herauszustellen, daß die Oberschichten sich nicht durch höhere Gesetzestreue auszeichneten und auch keine besondere Form der Delinquenz, etwa als ›Weiße-Kragen‹ Täter, praktizierten. 3. Perspektiven des Themas Eine Geschichte der gesellschaftlichen Oberschichten hat sich bislang wesentlich an der Genealogie von Familien, deren gesellschaftlichen Erfolgen und ökonomischen Wechsellagen orientiert. 105 Die systematische Einbeziehung von Gerichtsakten kann 101 StadtA Konstanz, B I 6, 66. 102 StadtA Konstanz, B I 7, f. 10. 103 StadtA Konstanz, B I 6, 209. 104 Vgl. zu diesen Begriffen Martin Dinges: Ehrenhändel als »kommunikative Gattungen«. Kultureller Wandel und Volkskulturbegriff, in: Archiv für Kulturgeschichte 75 (1993), 359 - 393. Als einen Versuch, dem Gewaltverhalten der Oberschicht im 16. Jahrhundert über das Konzept der Ehre näherzukommen, vgl. Häberlein: Tod auf der Herrenstube (wie Anm. 20). Richter ihrer selbst? 377 gleichsam die soziale Praxis stadtadliger und reicher Lebensweisen herausarbeiten und die Charaktere in ihrer Individualität stärker hervortreten lassen, als dies in den traditionellen Familiengeschichten möglich war. Es gab viele Wege zu Reichtum und gesellschaftlicher Anerkennung in der spätmittelalterlichen Gesellschaft: Mehr als einen, so belehren uns die Gerichtsakten, begleiteten delinquente Verhaltensweisen. 106 Diese Perspektive weiter zu verfolgen lohnt: Die Ellbogengesellschaft, so ließe sich folgern, ist keine Schöpfung der kapitalistischen Moderne. Doch bieten Gerichtsakten mehr als die Möglichkeit, gesellschaftliche Oberschichten präziser in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen zu erfassen. So wie eine Geschichte der Delinquenz die gesellschaftlichen Oberschichten in der vormodernen Gesellschaft aus dem Zerrspiegel der ehrpusseligen Porträtmalerei herausholen könnte, so kann gerade die Delinquenz der Oberschichten unser Bild von der vormodernen Rechtsprechung revidieren helfen. Die Richter im Konstanzer Ratsgericht, die sich persönlich während der Amtszeit in allerstärkster Zurückhaltung übten, kannten die Mentalität der vor ihnen erscheinenden Delinquenten nur zu genau. Delinquenz begleitete ihre eigene Biographie vor und nach der Ratstätigkeit, wie auch ihre Familienangehörigen durchaus ihrem Urteil ausgesetzt wurden. Als etwa Heinrich Schiltar seinen Kontrahenten Vorster mit einer brechschibe verwundete, war die Elite unter sich. Sein Vater verhandelte als Kleinratsmitglied das Urteil, ebenso wie das geprügelte Opfer, das als zünftischer Vertreter dem Kleinen Rat angehörte. Doch nicht nur die aufsässige Jugend band die Energie des Gerichts. Im Jahr nach seinem Ausscheiden aus dem Kleinen Rat traf der Patrizier Ulrich Lind die Kollegen wieder, als er wegen Messerzuckens gegenüber Heinrich Blarer vom Ratsgericht zur Rechenschaft gezogen wurde. 107 Auch die Kleinratsmitglieder Utz Vischer, Ulrich von Roggwil, Jos Kettenaker und Hans Babenberg waren durch ihre Tätigkeit als Richter nicht dauerhaft geläutert, sondern kehrten nach ihrer Amtszeit als Beschuldigte vor das Ratsgericht zurück. 108 Wenn die Neigung zu delinquentem Verhalten den Richtern nicht fremd war, nimmt es nicht Wunder, daß das Ausgrenzungspotential der Rechtsprechung auf der Ebene der Niedergerichtsbarkeit gering gewesen ist: Der alltägliche Verstoß gegen die Satzungen vereinte Unter- und Oberschichten der spätmittelalterlichen Stadt. 109 105 Vgl. für Konstanz beispielhaft Johannes Müller: Die Ehinger in Konstanz, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N.F. 20 (1905), 19 - 40; Staerkle: Zur Familiengeschichte der Blarer (wie Anm. 1); Gerhard Hirschmann: Das Nürnberger Patriziat, in: Hellmuth Rössler (Hg.): Deutsches Patriziat 1430 - 1740. Büdinger Vorträge 1967 (=Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit 3), Limburg/ Lahn 1968, 257 - 298, kündigt zwar an, »Verhaltensformen der Patrizier« beschreiben zu wollen, blendet aber den Bereich der Delinquenz vollständig aus. Ebenda, 262. 106 Ausgesprochen viele Hinweise auf patrizische Delikte und Verbrechen finden sich bei Gerhard Pfeiffer: Das Breslauer Patriziat im Mittelalter (=Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 30), Breslau 1929 (ND Aalen 1973), bes. 311 und 178 und 275 die Fallbeispiele der Familie Rempel und des Marcus Beckenschläger. Pfeiffer verweist aber selbst darauf, daß er die einschlägigen Kriminalquellen für seine Untersuchung nicht systematisch ausgewertet hat. Vgl. ebenda, S. XII (libri excessuum et signaturarum). 107 StadtA Konstanz, B I 6, 444. 108 StadtA Konstanz, B I 8, 178 (1457, Hans Babenberg wegen Beherbergung fremder Armer. Mitglied des Kleinen Rates von 1442 bis 1456, danach im Großen Rat); B I 8, 216,5 (1458, Jos Kettenaker wegen Schlägerei. Er war bis 1451 im Kleinen Rat); B I 6, 444 (1452, Ulrich von Roggwil wegen eines nächtlichen Scharmützel. Mitglied des Kleinen Rates bis 1441); B I 8, 157 (1457, Utz Vischer alias Utz Bäldin wegen Verstoßes gegen die Fischereiordnung. Vischer war 1457 Mitglied des Großen Rates, 1456 gehörte er dem Kleinen Rat an. 1457 belegte ihn der Rat bereits zum vierten Mal mit einer Geldbuße wegen Verstoßes gegen die Fischereiordnung). Vgl. ebenda, B I 6, 135; B I 7, f. 171; B I 8, 126,5. 109 Zum Ausgrenzungspotential der Niedergerichtsbarkeit vgl. ausführlich Schuster: De iustitia (wie Anm. 35). Peter Schuster 378 Es fällt auf der Grundlage der Konstanzer Überlieferung insgesamt schwer, explizite Schonungen der Oberschichten im Rechtsalltag nachzuweisen, auch wenn dies bereits von den Zeitgenossen gelegentlich insinuiert wurde. 110 Rechtsprechung war und ist seit jeher ein Instrument von Herrschaft, indem sie die bestehende Ordnung und Verfassungsstruktur zu stabilisieren hilft. Sie war im Spätmittelalter hingegen kein bedeutendes Instrument der sozialen Repression im Innern: Die Bürger waren vor Gericht weitgehend gleich. Im delinquenten Verhalten folgten die Oberschichten den Handlungsmustern der anderen Mitglieder der Gesellschaft, sie waren sogar häufiger delinquent. 111 Ihnen wurde vor Gericht auch keine Sonderbehandlung zuteil. Sie mußten wie alle Bürger für ihr Delikt geradestehen, wobei ihnen das Geldbußensystem natürlich entgegenkam und Vorteile verschaffte. Gleichwohl: Als These sollte man durchaus die Aussage wagen, daß vor den Gerichten der spätmittelalterlichen Reichsstadt Konstanz alle Bürger und Einwohner gleich waren. Die Definitionsmacht über das, was kriminell ist, lag offenbar in Händen aller Mitglieder der Bürgergemeinde. Auch deshalb finden wir kaum Bürger unter den kriminalisierten Delinquenten jener Zeit. Der gerichtlich verfügte Tod und der durch ein mit Meilenangaben versehenes Verweisungsurteil beschlossene dauerhafte Ausschluß aus der städtischen Gesellschaft traf vorwiegend fremde und vagierende Menschen. Nicht die Armen wurden von den Reichen kriminalisiert, sondern das Fremde und Andere von der Bürgergemeinde. Doch wenn wir auch insofern den via Rechtsprechung ausgetragenen Klassenkampf der vormodernen Gesellschaft verneinen, so rückt damit der Rechtsalltag in der spätmittelalterlichen Gesellschaft nicht in ein günstigeres, allenfalls in ein rechtes Licht. 110 Valentin Groebner zeigt Beispiele für eine Sondergerichtsbarkeit im spätmittelalterlichen Nürnberg in Fällen patrizischer Delinquenz. Sie waren gekennzeichnet durch Diskretion. Vgl. Groebner: Ratsinteressen, Familieninteressen (wie Anm. 24), 287f. Andere von Groebner angeführte Fälle zeigen freilich, daß nicht jedes patrizische Delikt diskret verhandelt wurde. Vgl. ebenda, 289 - 291. Weitere Beispiele für einen diskreten oder geheimen Umgang mit der Delinquenz von Ratsmitgliedern bei Elisabeth Wechsler: Ehre und Politik. Ein Beitrag zur Erfassung politischer Verhaltensweisen in der Eidgenossenschaft (1440 - 1500) unter historisch-anthropologischen Aspekten, Zürich 1991, 285, 289 u.ö. Wechslers Quellen zeigen eine Form von Diskretion, die m.E. nicht auf eine Schonung des Täters oder seiner Ehre abzielte. Im Mittelpunkt der Erwägungen stand die Ehre des Rates und die möglichen politischen Weiterungen eines öffentlichen Verfahrens. Eine Schonung des Täters war nicht der handlungsleitende Impuls. Ebenda, 207, ein Beispiel für allgemeinen Unmut über die Rechtspraxis des Rates. Diskretion kam gelegentlich auch in der Konstanzer Rechtsprechung vor, ohne daß immer genau erkennbar wird, warum gerade in diesen Fällen. Als 1453 eine ganze Reihe von Patriziern wegen Vermummung zur Fastnacht mit einer Buße belegt wurde, blieb ein Täter ungenannt. Das Strafbuch verbuchte die Zahlung der Buße: Ulrich Lind dederit von ain person, so ain rat wol waiß, 15 ß dn von verbutzens wegen. StadtA Konstanz, Bände L 803, 80. 1431 wurden drei Patrizier zu der geringen Buße von zehn Schillingen verurteilt. Das Delikt blieb ungenannt. Vgl. StadtA Konstanz, B I 5, 252. Zweimal hielt das Ratsbuch aus Gründen des Schutzes der Opfer deren Namen geheim. Hans Wannenmacher hatte 1454 einen Mann einen pfaffensun gehaissen. Neben der Buße mußte er seinem ungenannten Opfer die Spesen erstatten, als dieser kuntschafft bracht, daz er elich sy. In einem anderen Fall blieb eine als Diebin denunzierte Frau ungenannt. Vgl. StadtA Konstanz, B I 8, 105 und B I 6, 348. 111 Für die spätmittelalterliche Dorfbevölkerung in England hat bereits vor Jahren James Sharpe darauf verwiesen, daß sie trotz sozialer Differenziertheit einen ausgeprägten Werte- und Verhaltenkonsens aufwies. »There existed within the village a ›moral community‹ which encompassed both the successful upper peasant and the near-landless labourer.« Erst in der Frühen Neuzeit erwuchs »a growing divergence between the ›mores‹ of the richer and poorer villagers«. James A. Sharpe: Crime in Early Modern England, New York/ London 1984, 75. Der Gedanke einer »moral community« könnte auch für die spätmittelalterliche Stadtbevölkerung weiterführend sein. 379 Steffen Wernicke Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit Die Regensburger Urfehdebriefe im 15. Jahrhundert Im Frühherbst des Jahres 1439 vermerkte ein Schreiber, der die wöchentlichen Sitzungen des Regensburger Rates protokollierte, wie einige der ehrwürdigen Herren ihrer Verärgerung über den Bischof der freien Reichsstadt, Friedrich II. von Parsberg, mit deutlichen Worten freien Lauf ließen. Entzündet hatte sich ihr Zorn an der Tatsache, daß der Bischof, ein graduierter Jurist, einen Mönch des Schottenklosters St. Jakob, den die Stadtknechte festgenommen hatten, weil er in der Stadt vieles gestohlen und so von Bürgern und anderen über 70 Gulden erbeutet hatte, und den der Rat daraufhin der bischöflichen Gerichtsbarkeit überantwortet hatte, kurzerhand freigelassen hatte, obwohl das Urteil ihn zunächst in ainen ewigen ka e rcher gesprochen hatte. Anstoß der Empörung war allerdings weniger das Faktum der Begnadigung, als vielmehr, daß sie on wissen meiner herren vnd - das vor allem war der springende Punkt - an alle vrfech geschehen war 1 , schließlich war die Freilassung eines Gefangenen ohne dessen Urfehdeschwur, der die Stadt vor jeglichen Rechtsfolgen schützen und den Missetäter dauerhaft befrieden sollte, nach Auffassung des Rates schlechterdings unmöglich. Folglich sind denn auch die Regensburger Stadt- und Gerichtsbücher des 15. Jahrhunderts mit unzähligen Hinweisen versehen, einer sei nach dem sweren der vrfed alz gewonhait ist wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Andere wurden auf ein alte vrphed ausgeben oder auf slehte vrfed seins aides ledig lassen . Manche dieser kurzen Notizen, die in der Regel auch schon in dürren Worten über den Grund der Inhaftierung berichten (also »Urfehdeprotokolle« sind, die die ursprünglich rein mündliche »Urfehdeleistung als geschehen vom Stadtschreiber zu Zwecken künftigen Beweises« 2 in Sammelhandschriften festhalten), enthalten überdies den Hinweis, der Betreffende habe darüber kainen brief geben (auch: hat vrfed gesworn on brief). Die daraus zu folgernde Vermutung, für andere aus städtischer Haft entlassene Personen sei ein ebensolcher Urfehdebrief ausgestellt worden, bestätigte gleichfalls die weitere Durchsicht der Stadtbücher: In sieben verschiedenen Handschriften 3 fanden sich für insgesamt 188 Fälle zeitgenössische Verweise auf die Existenz von Urfehdeurkunden, die im damaligen Sprachgebrauch außer als vrfedbrief, auch als guter brief, vanchnuzbrief oder - wenn eine Begnadigung vom Tode erwirkt worden war - galgenbrief bezeichnet wurden; oftmals heißt es aber auch nur: dt. j brief. In solchen Fällen kam dem Eintrag in ein Stadtbuch dann tatsächlich nur mehr Verweischarakter zu, so wenn es von Kristof Gravenreuter, einem gerichtsnotorischen Krawallmacher aus gutem Hause, heißt: Jtem er ist jnngelegen von vr- 1 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA.), Bestand Reichsstadt Regensburg: Literalien (RRLit.) 398, fol. 14r. 2 Wilhelm Ebel: Die Rostocker Urfehden. Untersuchungen zur Geschichte des Deutschen Strafrechts (=Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv der Seestadt Rostock. Band 1), Rostock 1938, 31. 3 BayHStA, RRLit. 297 (»Gelbes Stadtbuch«, 1370-1419), 298½ (Ratsprotokollfragmente, 1469-1476), 389 (Gerichtsprotokolle, 1418-1442), 399 (Bekenntnisbuch, 1443-1481), 408 (»Braunes Stadtbuch«, Mitte 15. Jahrhundert) und 409½ (»Purtingbuch«, 1401-1410) sowie der sogenannte »Merkzettel« (Ratsprotokollfragmente, 1468-1486) im Stadtarchiv Regensburg (Hist. I, 1). Steffen Wernicke 380 sach wegen jn seinem vrfedbrief, so er geben hat, begriffen und au e slaszen vmb pete seiner fre ue ndt. 4 Realiter stellen diese Querverweise jedoch nur die Spitze eines Eisberges dar, enthält doch der ohne große Verluste überlieferte reichsstädtische Urkundenbestand im Bayerischen Hauptstaatsarchiv 5 mit seinen etwa 17.000 Urkunden aus der Zeit zwischen 1100 und 1800 allein 3.187 Urfehdebriefe, von denen der erste aus dem Jahre 1326, der letze von 1617 datiert. Damit bewegt sich die Anzahl urkundlich tradierter Urfehden in Regensburg in einer Größenordnung, die die Quellenbestände anderer Städte bei weitem übertrifft: Zwischen 158 erhaltenen Urfehdebriefen in Osnabrück 6 - wo, wie in München mit 54 7 oder in Hamburg mit gar nur 24 8 noch weniger Urfehdeurkunden überliefert sind, ist dies in der Regel auf Verluste des ursprünglichen Bestandes zurückzuführen - und »über 1.300« in Lübeck 9 bewegen sich die publizierten Zahlen. Natürlich schlugen sich bei weitem nicht alle Freilassungen in Urfehdeurkunden nieder, jedoch scheint mir die Quote derer, die eine solche ausstellten, vor allem während der Blütezeit der Überlieferung (siehe unten), in Regensburg besonders hoch. Obwohl schon Radbruch/ Gwinner Urfehden als »die wichtigsten unmittelbaren Quellen der Verbrechensgeschichte« einstuften 10 und auch in der Folge immer wieder hervorgehoben wurde, daß man in Deutschland infolge der späteren Entwicklung kriminalhistorisch relevanter Schriftquellen im Vergleich zu England oder Italien »für das späte Mittelalter fast ausschließlich auf den Bestand von Urfehdeurkunden angewiesen« 11 sei, sind die Erkenntnismöglichkeiten dieser Quellengattung bis heute bei weitem nicht ausgeschöpft. 12 Um die Vielzahl der in ihr enthaltenen Informationen zur städtischen Rechts- und Alltagsgeschichte überhaupt hinreichend würdigen zu können, schien allein eine EDVgestützte Analyse den Anforderungen des umfangreichen Regensburger Quellenbestandes gewachsen zu sein 13 : Die letztendlich rund 130.000 Einzeleinträge in der Da- 4 Stadtarchiv Regensburg, Hist. I, 1, fol. 343r. 5 BayHStA, Bestand Reichsstadt Regensburg Urkunden, im folgen zitiert: RRU Datum (die Urkunden des 14. Jahrhunderts sind mit fortlaufenden Nummern signiert). 6 Gerd Steinwascher: Die Osnabrücker Urfehdeurkunden, in: Osnabrücker Mitteilungen (=Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück) 89 (1983), 25-59. 7 Erwin Neuner: Der »Liber malorum hominum« im Münchener Stadtarchiv, Diss. jur., München 1953, 62. 8 Elsa Hennings: Das hamburgische Strafrecht im 15. und 16. Jahrhundert, Hamburg 1940, 181. 9 Antjekathrin Graßmann: Raub, »Rebellicheit« und unredliche Handlung. Bemerkungen zu den Lübekker Urfehden 1400-1550, in: Civitatum Communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift für Heinrich Stoob zum 65. Geburtstag, hg. von Helmut Jäger, Franz Petri und Heinz Quirin, Köln 1984, 765-780. 10 Gustav Radbruch/ Heinrich Gwinner: Geschichte des Verbrechens. Versuch einer historischen Kriminologie, Frankfurt am Main 1990 (auf der Grundlage der Erstausgabe von 1951), 8f. 11 Gerd Schwerhoff: Ein Blick vom Turm. Kölner Quellen zur historischen Kriminalitätsforschung, in: Geschichte in Köln 27 (1990), 43-67 (Zitat: 62), oder anders formuliert: »Die besten Informationen über Kriminalität im 15. Jahrhundert vermitteln Urfehdeurkunden« (Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Köln 1991, 202). 12 Vgl. z.B. Lothar Kolmer: Promissorische Eide im Mittelalter (=Regensburger Historische Forschungen. Band 12), Kallmünz 1989, 137f., Peter Neumeister: Der Urfehdeeid des Berliner Stadtbuches, in: Hansische Stadtgeschichte - Brandenburgische Landesgeschichte. Hansische Studien VIII (=Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte. Band 26). Eckhard Müller-Mertens zum 65. Geburtstag, Weimar 1989, 79-87, Gregor Richter: Urfehden als rechts-, orts- und landesgeschichtliche Quellen. Beobachtungen an Haigerlocher Beispielen im Staatsarchiv Sigmaringen, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 14 (1978), 63-76. Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 381 tenbank »Regensburger Urfehdebriefe« gaben dem Aufwand während der Erfassung schließlich recht. Zeitlich läßt sich die Entwicklung des Urfehdewesens in Regensburg in fünf Phasen einteilen: Während der Frühphase wurden sie in Form von Urkunden nur sporadisch, nie mehr als zwei pro Jahr, ausgestellt. Eine Ausnahme stellte lediglich das Jahr 1343 dar, als sich nach dem Aueraufstand das Geschlecht der Auer und ein Teil seiner Anhänger wieder mit der Stadt versöhnte. Ein entscheidendes Datum für die Weiterentwicklung dieses Rechtsmittels war dann offenbar der 14. Februar 1360, als Markgraf Ludwig von Brandenburg der Stadt Schultheißenamt, Friedgericht und Kammeramt für zunächst dreißig Jahre versetzte. Auf diese Weise war es zu einer Konzentration der politischen und gesetzgeberischen Macht in den Händen des Rates gekommen, die dieser in der Zukunft, nicht zuletzt mit dem Mittel des Urfehdeeides, zu festigen und auszubauen gedachte: Gegenüber den 50er Jahren des 14. Jahrhunderts erhöhte sich die Anzahl der Urfehdebriefe während der folgenden Dekade beinahe um das zehnfache. Im Zuge der zunehmenden Verschriftlichung aller rechtlichen Vorgänge innerhalb der städtischen Verwaltung, die sich keineswegs auf das Strafrecht beschränkte, sondern ebenso, teilweise sogar noch wesentlich ausgeprägter, im Bereich des Privatrechts als auch des öffentlichen Rechts beobachtet werden kann, wurde schließlich zwischen 1410 und 1459 die größte Überlieferungsdichte mit zum Teil über 50 Urkunden pro Jahr erreicht. Der abrupte Einbruch im Jahre 1460 läßt darauf schließen, daß es zu dieser Zeit zu einer Umstrukturierung der städtischen Kanzlei im Hinblick auf eine weitere Rationalisierung des ständig anschwellenden Schriftgutes innerhalb des Verwaltungsapparates der Reichsstadt gekommen ist, in deren Folge man sich zur Anlage eines eigenen Urfehdebuches entschloß. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich übrigens auch hinsichtlich der Aufzeichnung des Bürgereides feststellen: Auch hier geht die Ausstellung von Bürgeraufnahmeurkunden ab 1460 schlagartig zurück, weil man sich ab diesem Zeitpunkt auf die intensivere Nutzung des bereits 1419 angelegten ersten Bürgerbuches verlegte. Erhalten ist ein solches Urfehdebuch jedoch nicht, was aber angesichts der großen Vernichtungswelle reichsstädtischer Archivalien im 19. Jahrhundert nach dem Übergang an Bayern wenig verwunderlich ist. 14 Die Überlieferung der vierten Phase bewegt sich auf niedrigem Niveau von 5 bis 10 Urfehden im Jahr, woraus noch einmal, als Ergebnis der gewaltsamen Unterdrückung einer Aufstandsbewegung, die Jahre 1513/ 14 herausragen. Ab 1540 schließlich war die Ausstellung von Urfehdebriefen in Regensburg zu einer Seltenheit geworden, auf die aber trotzdem noch über ein halbes Jahrhundert lang - nun allerdings ausschließlich noch im Zusammenhang mit besonders schweren Delikten - zurückgegriffen wurde. 13 Dabei kam mir zugute, daß ich mich bereits zuvor, im Auftrag des Stadtarchivs Regensburg, mit den Möglichkeiten der EDV-gestützten Analyse komplexer Quellen des Mittelalters beschäftigt hatte: Steffen Wernicke/ Martin Hoernes: »Umb di unzucht die ich handelt han (...)«, Quellen zum Urfehdewesen (=Halbgraue Reihe zur Historischen Fachinformatik; hg. von Manfred Thaller, Max-Planck-Institut für Geschichte. Serie A: Historische Quellenkunden. Band 9), St. Katharinen 1990. Die dort erarbeitete Datenstrukturvereinbarung für das vom Max-Planck-Institut für Geschichte entwickelte Datenbanksystem κλειω liegt, in nur leicht modifizierter Fassung, auch der Erfassung der Urfehdeurkunden im Rahmen meiner Dissertation, die unter dem Arbeitstitel »Friedenssicherung oder soziale Kontrolle? Die Regensburger Urfehdeurkunden (1326-1617)« zur Zeit leider anderen Prioriäten nachgeordnet ist, zugrunde. 14 Vgl. Heribert Sturm: Archive in Regensburg, in: Archivalische Zeitschrift 58 (1962), 95-118. Teilweise wurden die Archivalien im Zuge eines umfangreichen »Makulaturverkaufes« als Altpapier unters Volk gebracht. Steffen Wernicke 382 Normalerweise wurde für jeden Gefangenen eine eigene Urkunde ausgestellt, lediglich bei Ehepaaren begnügte man sich regelmäßig mit einer Urkunde für beide Partner. Darüber hinaus kam es aber bei gemeinschaftlich verübten Vergehen gelegentlich vor, daß der Eid aller Tatbeteiligten in einem Urfehdebrief zusammengefaßt wurde. In zehn Fällen verzeichnen die Urfehden sogar zehn oder mehr Aussteller, die meisten davon in einer Urkunde aus dem Jahre 1450, als 19 Bäckerknechte Urfehde schworen, die wegen ihrer Meinung nach zu geringer Lohnzahlungen den Aufstand gegen die Meister ihres Handwerks geprobt hatten. 15 Auf diese Weise stehen hinter den 3.187 Urkunden insgesamt 3.754 Täter bzw. Tatverdächtige, die sich, in Zehnjahresabschnitten zusammengefaßt, wie folgt über den Untersuchungszeitraum verteilen: Obwohl die Urfehdebriefe, anders als etwa die Kölner Turmbücher, nicht alle Personen erfassen, die sich zeitweilig im Gewahrsam des Rates befanden, erweist sich die Anzahl der Häftlinge als durchaus vergleichbar. So zählte Schwerhoff in Köln, das Ende des 16. Jahrhunderts mit ca. 37.000 Einwohnern zu den bevölkerungsreichsten Städten des Reiches gehörte, in 15 Jahren 1.993 Verhaftungen 16 , also durchschnittlich 132 pro Jahr. Für das in etwa dreimal kleinere Regensburg - die Schätzungen liegen zwischen 10.000 und 14.000 Einwohnern - ergibt sich zwischen 1410 und 1459 ein Mittelwert von 43 Gefangenen pro Jahr, ein Wert also, der in der Proportion exakt dem Kölner entspricht. 15 RRU 1450.X.09. 16 Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör (wie Anm. 11), 37 und 90. Anzahl der Urfehder in Dekaden 0 50 100 150 200 250 300 350 400 450 500 1500 1600 1450 1400 1350 1550 Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 383 Urfehden als personengeschichtliche Quelle Die Beschäftigung mit dem umfangreichen Regensburger Urfehdenbestand erfolgte ursprünglich nicht unter kriminalitätsgeschichtlichen Fragestellungen, sondern war Teil des Forschungsprojektes »Regensburger Bürger- und Häuserbuch« , dessen Zielsetzung u.a. in der Errichtung einer umfassenden Personendatenbank bestand, die nicht allein, wie es der Titel vielleicht vermuten ließe, die geschworenen Bürger oder Hausbesitzer der Stadt, sondern alle Einwohner sowie alle in den verschiedensten Regensburger Quellen - Bürgeraufnahmebücher, Stadtbücher, Heirats- und Totenbücher, Siegelprotokolle, Bauamtschroniken, Wachtprotokolle, Stadtkammerrechnungen, Gerichtsbücher, Urkunden (allen voran Testamente und eben Urfehden) - bis zum Ende des alten Reiches aktenkundigen Personen mit ihren Lebensdaten und möglichst vielen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusatzinformationen erfassen sollte. 17 Tatsächlich erwiesen sich die Urfehden auch unter diesem Gesichtspunkt als außerordentlich ergiebige Quelle, die insgesamt 14.010 Personendatensätze lieferte, hinter denen sich in etwa 11.000 verschiedene Personen verbergen. Neben dem Aussteller der Urkunde, dem aus der Haft entlassenen Straftäter, tritt in jeder Urfehde zumindest eine städtische Amtsperson in der Funktion des Sieglers auf, in der Regel der Schultheiß, seltener der Propstrichter, mitunter auch beide. Führte der Aussteller ein eigenes Siegel, so hängte er es ebenfalls an die Urkunde. Neben diesen wenigstens zwei Personen finden sich in annähernd der Hälfte aller Urfehdebriefe Informationen über die Geschädigten bzw. Opfer der Straftat, was einen erhellenden Blick auf die Konfliktmuster und Reibungspunkte innerhalb der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft erlaubt. Viele Urfehden nennen auch Fürsprecher und Bürgen, die als ein Indikator für die soziale Integration des Täters gewertet werden können. Die immer wieder genannten Kläger und Veranlasser einer Inhaftierung waren wohl vereinzelt, keinesfalls jedoch mehrheitlich identisch mit den Geschädigten, denn häufig brachten auch Familienoberhäupter für einen Verwandten oder Meister für einen Gesellen oder Knecht einen Fall zur Anzeige. Die namentliche Verzeichnung von in der Regel zwei Siegelzeugen kam im Regensburger Urkundenwesen erst seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in Gebrauch und findet sich folglich nur in den 571 spätesten Urfehden. Je nach dem, wie ausführlich ein Fall geschildert wurde und wie hoch das »soziale Kapital« des Täters war, das vor dem Rat für ihn arbeitete, konnten bis zu 40 Personen in einer Urfehdeurkunde aktenkundig werden, wobei allerdings der Grad der Information sehr unterschiedlich ausfallen konnte und sich im Extremfall allein auf das Geschlecht reduzierte, so z.B. wenn es im Zuge der Schilderung von Gewalttätigkeiten heißt, einer habe eine Frau geschlagen und diese an den Haaren durch den Kot der Gasse geschleift. Hinsichtlich der Gefangenen, die ja mit ihrem Eid im Mittelpunkt der Urkunde standen, sind wir jedoch in den meisten Fällen mit wesentlich weitreichenderen Perso- 17 Vgl. Bettina Callies/ Lothar Kolmer: A computerised medieval city archive: the project »Regensburger Bürger- und Häuserbuch«, in: History and Computing II, edited by Peter Denley, Stefan Fogelvik, Charles Harvey, Manchester 1989, 266-272, Bettina Callies/ Heinrich Wanderwitz: Das Regensburger Bürger- und Häuserbuch. Eine Projektstudie, in: Regensburg und Bayern im Mittelalter (=Studien und Quellen zur Geschichte Regensburgs. Band 4), Regensburg 1987, 131-147. Infolge der Mittelknappheit des städtischen Haushalts konnte das Projekt leider nicht im geplanten Umfang zu Ende gebracht werden. In jüngster Zeit erschien zumindest die Edition des ersten Bürgeraufnahmebuches (1419-1485) auf einer CD-ROM, die über das Stadtarchiv Regensburg zu beziehen ist. Steffen Wernicke 384 nendaten, die Rückschlüsse auf deren Lebensumstände erlauben, versorgt. Dabei fällt zunächst einmal ins Auge, daß Frauen in allen Funktionen vor Gericht chronisch unterrepräsentiert waren; ein Phänomen, das sich in allen vormodernen Justizquellen verfolgen läßt. 18 Denn obwohl im Spätmittelalter von einem geschlossenen System der Geschlechtsvormundschaft nicht mehr gesprochen werden kann, findet man in der alltäglichen Praxis nicht nur die Ehefrau, sondern die Frau allgemein in ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit zurückgesetzt. 19 Ehemänner waren innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung »die erste Instanz sozialer Kontrolle ihrer Frauen« 20 und diese im Rahmen der öffentlich-ritualisierten Ehrhändel, die einen großen Teil der auf Friedenswahrung abzielenden Justiz des Rates ausmachten, quasi nicht satisfaktionsfähig 21 . So verwundert es nicht, daß die insgesamt 466 weiblichen Urfehder lediglich einen Anteil von 12,4% an allen Ausstellern erreichten. Eine höhere Beteiligung von Frauen vor Gericht ist lediglich in der Rolle des Opfers (meist männlicher Aggression) festzustellen (21,8%), während sie in anderen Funktionen allenfalls marginal bis überhaupt nicht vertreten sind. Außer dem Geschlecht sind Vor- und Beiname des Delinquenten die einzigen Informationen, die in jedem Fall zur Verfügung stehen. Eine solche Minimalbeschreibung des Täters, die keinerlei Rückschluß auf dessen soziale Stellung erlaubt, ist allerdings nur in 474 Fällen gegeben (12,6%). Immerhin 1.115 Gefangene (29,7%) waren geschworene Bürger zu Regensburg, ein Wert, der in der Folge der frühneuzeitlichen Bemühungen der Städte, eine möglichst große Anzahl ihrer Bewohner mit Bürgerrecht und -pflichten auszustatten, gegen Ende des Untersuchungszeitraums stetig zunahm. Die Festnahme von Bürgern anderer Städte war dagegen immer eine heikle Angelegenheit, die in aller Regel nach kurzer Zeit auf Intervention der Heimatgemeinde mit einer Begnadigung des Betreffenden endete, schließlich erwartete man im umgekehrten Fall auch die Schonung der eigenen Bürger. Aus diesem Grund wurden während annähernd 300 Jahren überhaupt nur 30 auswärtige Bürger in Regensburg festgesetzt, die überwiegend aus den benachbarten Großstädten Augsburg, Nürnberg, Passau und Straubing, mit denen die Donaumetropole in regem Handelsverkehr stand, stammten. Darüber hinaus findet man unter den Urfehdern nur noch etwas mehr als hundert Personen, die zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung einen festen Wohnsitz außerhalb der Stadtmauern angaben, so daß der Anteil der Fremden lediglich 4% betrug. Eine besondere Gruppe von nicht im eigentlichen Stadtgebiet »gesessenen« Ausstellern waren die Bewohner der für rund hundert Jahre an Regensburg verpfändeten Herrschaftsgebiete Donaustauf (1385-1486) und Stadtamhof (1408-1486), die während dieser Zeit praktisch reichsstädtisches Territorium waren. Bei den Bewohnern dieser Gebiete erfreute sich das Regiment der Regensburger offenbar keiner großen Beliebt- 18 Vgl. Susanna Burghartz: Kein Ort für Frauen? Städtische Gerichte im Spätmittelalter, in: Bea Lundt (Hg.): Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, Zürich 1991, 49-61. 19 Dieter Schwab: Schutz und Entrechtung - Die Rechtsstellung der Frau nach älterem Recht mit Bezug auf Regensburger Quellen, in: Emanzipiert und doch nicht gleichberechtigt? Lebensräume von Frauen im Blick heutiger Forschung, hg. von Helmut Altner (=Schriftenreihe der Universität Regensburg. Band 18), Regensburg 1991, 83-99. 20 Claudia Opitz: Frauenalltag im Spätmittelalter (1250-1500), in: Geschichte der Frauen. Band 2: Mittelalter, hg. von Christiane Klapisch-Zuber, Frankfurt am Main 1993, 283-339 (Zitat: 294). 21 Vgl. Gerd Schwerhoff: »Mach, daß wir nicht in Schande geraten! « Frauen in Kölner Kriminalfällen des 16. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), 451-473 (bes. 462ff.) und Nicole Castan: Straffällige Frauen, in: Geschichte der Frauen. Band 3: Frühe Neuzeit, hg. von Arlette Farge und Natalie Z. Davis, Frankfurt am Main 1994, 493-505 (bes. 499ff.). Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 385 heit, zumal die neuen Herren oftmals wenig Rücksicht nahmen und dort, wo es um wirtschaftliche Interessen ging, auch ohne Skrupel zu Unterdrückungsmaßnahmen griffen. 22 Deutlicher als bei jedem anderen Täterkreis tritt bei diesem der Disziplinierungscharakter des Urfehdeeides hervor: Weit über die Hälfte der 214 Straftäter aus den Pfandschaftsgebieten war nämlich nicht wegen der üblichen Kleinkriminalität, sondern wegen Ungehorsam und Widerstand gegen die von der Reichsstadt eingesetzte Verwaltungsspitze festgesetzt worden; der Schwur der Urfehde wurde hier eindeutig dazu instrumentalisiert, die Renitenz der neuen Untertanen zu brechen. Bei annähernd 30% derjenigen, die in Regensburg mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, handelte es sich um Personen, die zwar hier lebten und einem Broterwerb nachgingen, aber selber erst vor kürzerer oder längerer Zeit eingewandert waren. Dieser Befund deckt sich präzise mit den Verhältnissen in anderen europäischen Großstädten, wie beispielsweise Avignon, Brescia oder Köln, wo »›fremde‹ Personen, auch wenn sie in Köln seßhaft wurden, eher mit der Justiz in Berührung kamen als in Köln geborene.« 23 Knapp ein Viertel der straffälligen Immigranten stammte aus dem unmittelbaren Nahbereich der Stadt, aus Ortschaften, die nicht weiter als 20 km um Regensburg lagen - angeführt von Burgweinting, Obertraubling, Prüfening und Winzer; bereits weit über die Hälfte rekrutierte sich aus einem für Städte dieser Größenordnung typischen Einziehungsbereich von 60 km 24 mit dem Schwerpunkt um die »Mittelzentren« Straubing, Cham, Ingolstadt und Landshut. Der Bereich bis 100 km wird eindeutig dominiert von der Handelsmetropole Nürnberg, mit der die Regensburger seit Jahrhunderten rege Wirtschaftsbeziehungen verbanden, mit der sie aber in Konkurrenz um die Vormachtstellung im europäischen Fernhandel standen 25 und aus der überhaupt die meisten Delinquenten außerhalb des Regensburger Machtbereichs stammten. Je weiter die Heimat entfernt war, um so häufiger wurden, der Orientierung halber, größere Städte wie Augsburg, Eger, München und Passau genannt. Lediglich 87 Delinquenten stammten ursprünglich aus einer Gemeinde wie Breslau, Konstanz, Köln oder Wien, die weiter als 200 km von Regensburg entfernt waren. Sie alle hatten jedoch ihr Auskommen in Regensburg, auch wenn nur für 1.706 Urfehder (45,4%) Informationen über deren berufliche Tätigkeit vorliegen. Die meisten 22 Vgl. Diethard Schmid: Regensburg I. Das Landgericht Stadtamhof, die Herrschaften Donaustauf und Wörth (=Historischer Atlas von Bayern. Teil Altbayern. Heft 41), München 1976, 180-190. 23 Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör (wie Anm. 11), 202; vgl. auch Jaques Chiffoleau: La violence au quotidien. Avignon au XIVe siècle d’après les registres de la Cour Temporelle, in: Mélanges de l’École française de Rome, Moyen Age et Temps Modernes 92 (1980), 325-371 (bes. 369ff.), Giorgetta Bonfiglio-Dosio: Criminalità ed emarginazione a Brescia nel primo Quattrocento, in: Archivo Storico Italiano 497/ 498 (1978), 113-164 (bes. 144 und 163) sowie Herman Diederiks: Stadt und Umland im Lichte der Herkunftsorte der Kriminellen in Leiden im 17. und 18. Jahrhundert, in: Hans K. Schulze (Hg.): Städtisches Um- und Hinterland in vorindustrieller Zeit, Köln/ Wien 1985, 183-205. 24 Vgl. Rolf E. Portmann: Basler Einbürgerungspolitik 1358-1798, mit einer Berufs- und Herkunftsstatistik des Mittelalters, Basel 1979, 83 oder Karl Bücher: Die Bevölkerung von Frankfurt am Main im XIV. und XV. Jahrhundert. Socialstatistische Studien, Tübingen 1886, 455. In kleineren Städten, wie Freiburg im Üechtland/ Schweiz sank dieser Einzugsbereich auf 30 km (Urs Portmann: Bürgerschaft im mittelalterlichen Freiburg. Sozialtopographische Auswertungen zum ersten Bürgerbuch 1341-1416, Freiburg/ Schweiz, 1986, 177) oder wie im Falle der schwäbischen Kleinstadt Meersburg, gar auf nur etwa 15 km (Nadja Lupke/ Eveline Schulz: Meersburg: Wanderstation und Wanderziel durch die Jahrhunderte. Untersuchungen zur Migrationsgeschichte in Südwestdeutschland, Konstanz 1992, 90). 25 Vgl. Steffen Wernicke: Handel und Händel. Regensburg im späten Mittelalter, in: Regensburg. Historische Bilder einer Reichsstadt, hg. von Lothar Kolmer und Fritz Wiedemann, Regensburg 1994, 51-80. Steffen Wernicke 386 von ihnen hatten sich demnach als Diener bzw. Mägde in bürgerlichen Haushalten verdingt (116), ein Broterwerb, der die so Beschäftigten per definitionem als Angehörige der Unterschicht ausweist. Darüber hinaus sind die Erkenntnismöglichkeiten der Gewerbezugehörigkeit hinsichtlich des sozialen Status der Gefangenen relativ beschränkt. Ein besonders »kriminelles Handwerk«, das unter Umständen besonders häufig mit dem Gesetz in Konflikt geraten wäre, läßt sich jedenfalls nicht feststellen, entspricht doch der Anteil der Bäcker (108), Kürschner (94), Schmiede und Schuster (je 72), Metzger (71) und Schneider (65) an den Urfehdern 26 in etwa ihrem Anteil an der städtischen Bevölkerung. 27 Betrachtet man die übergeordneten Gewerbezweige so dominiert eindeutig der Bereich »Nahrung/ Urproduktion« (19,3% aller Urfehdeaussteller deren Beruf bekannt ist) vor dem Fell/ Leder verarbeitenden Gewerbe (15,0%) und dem Textilbereich (12,3%). Über den Status des einzelnen Handwerkers berichten die Urkunden dagegen vergleichsweise selten: Das Dutzend Meister jedenfalls ist unter den Turmhäftlingen allenfalls marginal vertreten, während sie andererseits als Bürgen und vor allem als Geschädigte häufig genannt werden. In 136 Fällen werden die Delinquenten als Gesellen, 192 mal als Knechte bezeichnet, wobei anzunehmen ist, daß letzteres den Normalfall darstellte, der nicht eigens betont werden mußte. Bemerkenswert erscheint schließlich die nicht geringe und überdies konstante Zahl städtischer Bediensteter unter den Häftlingen, angeführt von den Wachtbütteln und Turmwächtern. Aber auch zwei Henker der Stadt mußten ihr Urfehde schwören 28 . Zu erklären ist dieser Umstand zum einen dadurch, daß neben der »normalen« Delinquenz mit der Verletzung der Amtspflichten ein Tatbestand existierte, der wesensmäßig nur von dieser speziellen Gruppe verübt werden konnte. Zum anderen stand es um das Ansehen der Stadtdiener in der Bevölkerung keinesfalls zum besten. Schlecht entlohnt war ihr sozialer Status durch den täglichen Umgang mit dem Gesindel der Gassen, den Bettlern und nicht zuletzt dem Henker, ihr Tun hart an der Grenze der Unehrlichkeit angesiedelt. 29 Die Fluktuation in diesem Bereich war außerordentlich hoch, und oft war der Rat froh um jeden, der sich um einen solchen Posten bewarb. Dementsprechend sind auch die Stadtbücher voll von Klagen über Nachlässigkeiten, Trunkenheit, Übergriffe (die bis zur Vergewaltigung weiblicher Gefangener reichten) und Korruption; manchmal machten die Stadtdiener regelrecht gemeinsame Sache mit denen, die sie eigentlich verfolgen sollten. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts ging die Verachtung, die den städtischen »Polizisten« aus den Reihen der Bevölkerung entgegenschlug, sogar so weit, daß der Rat 26 In der Häufigkeit der Berufsangaben, die einen Querschnitt durch das gesamte städtische Handwerk bilden, folgen Müller (54), Wollwirker (45), Schreiner/ Zimmerleute (44), Barchenter (42), Fischer (40), Bader (29), Kramer (28), Winzer (26), Küfer (23), Goldschmiede (22), Köche (21), Hafner (20), Tuchscherer (17), Gürtler (14), Lederer (14), Steinmetze (14), Färber (13) und Schlosser (13). 27 Vgl. Helmut Wolff: Regensburgs Häuserbestand im späten Mittelalter. Eine topographische Beschreibung der alten Reichsstadt aufgrund der Beherbergungskapazitäten für den Reichstag von 1471, in: Studien und Quellen zur Geschichte Regensburgs. Band 3, Regensburg 1985, 91-198 (bes. 170-177). 28 Wegen »unehrbarer Worte und Werke«, die er sich mannigfach hatte zu Schulden kommen lassen, wurde Hanns Su e ssengrus der hengker von No e rdling im August 1426, nachdem er erst knappe vier Monate zuvor in dieses Amt bestallt worden war (RRU 1426.IV.27), auf unbestimmte Zeit der Stadt verwiesen. Maister Hanns von Stukgarten die zeit zuchtiger zu Regennspurg durfte dagegen nach Gewalttätigkeiten gegen einige Frauen nach kurzer Haft in der Stadt bleiben (RRU 1449.VI.13). 29 Vgl. Paul Frauenstädt: Breslaus Strafrechtspflege im 14. und 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 10 (1890), 1-35 und 229-250 (bes. 6-9). Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 387 sich mehrfach gezwungen sah, Personen festnehmen zu lassen, die den Stadtknechten in der Öffentlichkeit jegliche Ehre abgesprochen hatten. 30 Daß eine effiziente Strafverfolgung unter diesen Umständen kaum zu gewährleisten war, liegt auf der Hand. 31 Das zusammen mit Beruf und Herkunft bedeutendste Charakteristikum der Person stellt zweifellos die Wohnlage dar, hat doch die sozialtopographische Forschung der letzten Jahrzehnte den Zusammenhang zwischen städtischem Siedlungsraum und sozialer Position überzeugend nachgewiesen. Leider erwiesen sich die Urfehdeurkunden in dieser Hinsicht als wenig ergiebig, schließlich erfahren wir nur von 167 Gefangenen (4,4%) eine Adresse. Aber selbst auf dieser dürftigen Basis läßt sich das erwartete Gefälle zwischen Peripherie und Zentrum beobachten: Die wenigen in der Stadtmitte genannten Wohnlagen beziehen sich in der Regel auf etablierte Bürger, während Adressen gegen den Stadtrand hin häufiger erwähnt werden, insbesondere die erst um 1300 nach der Erweiterung des Befestigungssystems in den Mauerring einbezogene Westen- und Ostenvorstadt, wo überwiegend arme Handwerker und kleine Gewerbetreibende siedelten. Aber auch Prebrunn - ein zum mittelalterlichen Stadtbereich gehörender, jedoch außerhalb des Mauerbereichs gelegener Stadtteil - sowie die Wöhrde, zwei seit altersher besiedelte Donauinseln zwischen Regensburg und Stadtamhof, die stets zum Hoheitsgebiet der Reichsstadt gehörten, wurden deutlich häufiger genannt als Straßen und Plätze der Innenstadt. Um jedoch von einer Konzentration der Kriminalität in bestimmten Problemvierteln sprechen zu können, ist die Informationsdichte zu gering und die Streuung noch immer zu groß. Ähnlich verhält es sich mit dem Lebensalter der Verhafteten, das überhaupt nur in jenen 55 Fällen ins Blickfeld der Urfehde tritt, in denen der Aussteller als »der alte« (13) bzw. »der junge« (42) näher charakterisiert wird. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß es sich bei den Gesellen grundsätzlich um sehr junge Männer handelte, daß häufig Familienangehörige der vorigen Generation (Vater, Onkel usw.) Fürsprache für den Delinquenten einlegten oder für ihn bürgten und daß nicht selten die Jugend eines Täters als Begnadigungsgrund herangezogen wurde, so bestätigt dies das Bild der v.a. französischen Forschung, wonach sich jugendliche »Unruhe« vielfach in (Klein-)Kriminalität manifestierte. 32 Juden waren, obwohl die jüdische Gemeinde in Regensburg eine der ältesten und wirtschaftskräftigsten in ganz Deutschland war, entsprechend ihrem Anteil an der Be- 30 So schwor beispielsweise der Regensburger Exel German Urfehde von miszhandels wegen die ich irer gnaden diena e r den wachtpu e ttel angelegt han, wann ich offenlichen von jn ausgeben vnd geredt han, sie seien recht verra e ter vnd kayn frummer man werde kayn wachtpu e tl (RRU 1451.III.15). Vom Küfergesellen Jorg Garr aus Landshut heißt es 1455, er sei in Haft genommen worden, wann ich sie (die Stadtknechte) verra e ter gehaissen vnd dabey gesprochen, das schade sey das ain biderman mit jn esse oder trinck (RRU 1455.I.09). 31 Zur miserablen Verfassung städtischer Ordnungsorgane im Spätmittelalter vgl. auch Andrea Bendlage/ Peter Schuster: Hüter der Ordnung. Bürger, Rat und Polizei in Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 82 (1995), 37-55. 32 Vgl. Robert Muchembled: Die Jugend und die Volkskultur im 15. Jahrhundert, in: Peter Dinzelbacher/ Hans-Dieter Mück (Hg.): Volkskultur des europäischen Mittelalters, Stuttgart 1987, 35-58, Norbert Schindler: Nächtliche Ruhestörung. Zur Sozialgeschichte der Nacht in der frühen Neuzeit, in: Mensch und Objekt im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Leben - Alltag - Kultur, Wien 1990, 223-253, Peter Blastenbrei: Kriminalität in Rom 1560-1585 (=Bibliothek des deutschen historischen Instituts in Rom. Band 82), Tübingen 1995, 29f. und 94f. Steffen Wernicke 388 völkerung auch vor Gericht eine Randgruppe 33 : Nur 69 Juden schworen in Regensburg zwischen 1391 und 1520 in 37 Fällen Urfehde. In der letzten - ein Jahr nach der großen Judenvertreibung geschworen, die der langen Tradition jüdischer Kultur ein jähes Ende setzte - heißt es, daß sich Michel Jud von Boberlitz vergangner tage verdeckter ergkweniger weise mit vnwarem angeben, jch sey ain criste jn die stat Regenspurg gesleicht hatte, woraus man ihn umgehend auf ewige Zeiten wieder verwies. 34 Ein großer Teil der früheren Urfehden resultierte aus, oftmals nur schwer nachvollziehbaren, innerjüdischen Streitigkeiten, die unter Vorsitz eines christlichen Richters vor dem Judengericht in der Synagoge verhandelt wurden, wo dann auch die erforderlichen Eide nach altmosaischem Ritual geleistet wurden. 35 Unterhalb des deutschen Urfehdetextes befindet sich bei den meisten Regensburger Urkunden ein Vermerk in hebräischer Sprache von der Hand des jeweiligen jüdischen Hochmeisters. Darin bestätigt dieser mit eigener Unterschrift die formgerechte Abnahme eines Thora-Eides, mit dem der Schwörende sich verpflichtet habe, alles, was in dieser Urfehde geschrieben stehe, ohne List und Trug zu halten. Die christliche Furcht vor jüdischer Rabulistik äußerte sich nicht zuletzt auch darin, daß von den Juden im Anschluß an die üblichen Renuntiationsklauseln auch noch gefordert wurde, auf den Gebrauch des Talmuds zu verzichten (mich des talmuts dar innen nit gebrauchen). In den Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden dominieren eindeutig Schuldsachen sowie der immer wiederkehrende Vorwurf, man sei von dem Juden in irgendeiner Weise betrogen worden. Unnachgiebig verfolgt wurden während der ganzen Zeit auch stets sexuelle Beziehungen zwischen jüdischen Männern und christlichen Frauen, wohl vor allem darum, um in diesem exemplarischen Bereich die Trennung der beiden sozialen Gruppen konsequent aufrechtzuerhalten: Als eine Elspet Swaigerin von Abensberg im März 1459 Urfehde schwor, weil sie sich mit ainem juden vergessen und mit dem ain kindel eru e brigt hatte, wurde dies als eine abscheuliche Tat wider die ordenung der hailigen cristenhait bezeichnet. 36 Der Gipfel der Auseinandersetzungen mit den Juden war zwischen 1474 und 1480 erreicht, als die führenden Köpfe der Gemeinde nach dem Verdacht des Ritualmordes an einem Christenkind monatelang im Gefängnis des Rates lagen. Nur das energische Eintreten des Kaisers verhinderte eine Vertreibung bereits zu diesem Zeitpunkt. Bliebe hinsichtlich der Person der Urfehdeaussteller letztlich noch festzuhalten, daß die allerunterste soziale Schicht, der Bodensatz der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft, unter ihnen so gut wie nicht vertreten ist: Bezeichnungen wie Ruffian, Vierharter, Pfossenschneider, Schlafweib oder Pfäffin, die diesen Personenkreis in den Stadt- und Gerichtsbüchern in großer Zahl erfassen, findet man in den Urfehden ebenso wenig wie Namen wie der plutig Ha e nsel, di trunkchen Ma e rl oder die rotzig Els. Auch der Begriff »Gänsbeiner« - ein spezifisch regensburgischer Terminus, der das Gelichter, Ge- 33 Vgl. Susanna Burghartz: Juden - eine Minderheit vor Gericht (Zürich 1378-1436), in: Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, hg. von Susanna Burghartz u.a., Sigmaringen 1992, 229-244. 34 RRU 1520.V.11. 35 Vgl. Hans Hagn: Mittelalterliche Judeneide in Bayern, in: Manfred Treml/ Josef Kirmeier (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern (=Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur. Nr. 17), München 1988, 95-110 (v.a. 107-110) sowie Rolf Schmidt: Judeneide in Augsburg und Regensburg. Mit einem Quellenanhang, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 93 (1976), 322-339. 36 RRU 1459.III.12. Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 389 sindel, die Halbwelt der Stadt bezeichnete, und der in anderen Quellen v.a. des 15. Jahrhunderts vielfach verwandt wurde - taucht in den Urfehden ganze viermal im Rahmen der Täterbeschreibung auf. Ebenso fehlen die im Stadtbild des Spätmittelalters allgegenwärtigen Bettler und Bettelbetrüger, von denen z.B. in Basel zahlreiche Urfehden überliefert sind 37 , in dieser Quelle völlig. Abgesehen davon, daß man diese Klientel selten im Gefängnis durchfütterte, sondern in regelmäßigen »Säuberungsaktionen« kollektiv aus der Stadt wies, lag deren sozialer Status offenbar unterhalb einer Ebene, die den Aufwand von Zeit und Material für das Ausfertigen einer Urkunde gerechtfertigt hätte. jr leib, ere vnd ir gut anru e rend: Die Delikte Der besondere Erkenntniswert der Regensburger Urfehdeurkunden ergibt sich daraus, daß in ihnen, anders als etwa in Göttingen, wo bis 1460 keinerlei Grund für die Festnahme genannt wurde 38 , regelmäßig - mehr oder minder ausführlich - über die Umstände, die zur Haft und damit zur Ableistung des Eides führten, berichtet wird. Insgesamt lediglich 92 Urkunden (2,5%), von denen wiederum ein Großteil aus der Frühphase der Überlieferung, dem 14. Jahrhundert, stammt, lassen keinen Rückschluß auf die Tat zu. Anders auch als beispielsweise in Köln, wo Urfehdebriefe allein aufgrund der geringen Überlieferung »nicht als quantitativ auswertbare serielle Quelle behandelt werden« 39 können, läßt sich in Regensburg sehr wohl eine aussagekräftige Statistik auf dieser Grundlage erstellen. Vor allem für die 50 Jahre der Blütezeit dieser Gattung zwischen 1410 und 1459 lassen sich somit auf breiter Basis fundierte Kenntnisse über die vom Rat verfolgte Delinquenz gewinnen, die die Perspektiven anderer Quellen, zumindest in Regensburg, bei weitem übersteigen. Natürlich entspringt die folgende Kategorisierung der einzelnen Haftgründe letztlich einem »Akt forscherischer Willkür« 40 - nicht zuletzt deshalb, weil der Rat kraft seiner umfassenden Autorität, nicht gezwungen war, sich in seinen Entscheidungen auf bestimmte Statuten zu beziehen - ist aber als heuristisches Hilfsmittel unverzichtbar und könnte bei Bedarf weiter vereinfacht oder differenziert werden: 37 Katharina Simon-Muscheid: Randgruppen, Bürgerschaft und Obrigkeit. Der Basler Kohlenberg, 14.-16. Jahrhundert, in: Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, hg. von Susanna Burghartz u.a., Sigmaringen 1992, 203-225 (v.a. 223ff). 38 Andrea Boockmann: Urfehde und ewige Gefangenschaft im mittelalterlichen Göttingen (=Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen. Band 13), Göttingen 1980, 61. 39 Schwerhoff: Ein Blick vom Turm (wie Anm. 11), 63. 40 Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör (wie Anm. 11), 469. Steffen Wernicke 390 Deliktstruktur der Regensburger Urfehdebriefe (1410-1459) Vergehen Gefangene % Frauen % weibl. Anteil Gewalt 647 30,0 15 5,1 2,3 Lebenswandel/ Sitte 369 17,1 126 42,7 34,1 Verbalien 341 15,8 27 9,2 7,9 gg. die Obrigkeit 302 14,0 14 4,7 4,6 Ordnungswidrigkeiten 183 8,5 19 6,4 10,4 Inzicht/ Leumund 166 7,7 31 10,5 18,7 Diebstahl 162 7,5 46 15,6 28,3 Betrug 107 5,0 1 4,4 12,1 Untreue 44 2,0 5 1,7 11,4 Eidbruch/ Meineid 42 1,9 4 1,4 9,5 Fehde 34 1,6 - - - Streit um Eigen u. Erbe 32 1,5 8 2,7 25,0 Verleumdung 28 1,3 4 1,4 14,3 Schuldhaft 20 0,9 2 0,7 10,0 Magie/ Zauberei 14 0,6 13 4,4 92,9 Mord/ Totschlag 10 0,5 - - - Sonstige Haftgründe 138 6,4 19 7,2 13,8 Gesamt 2.160 100 % 41 295 100 % 13,7 Vergleicht man diese Werte mit der Deliktstruktur aller Urfehden zwischen 1326 und 1617 42 , so ergeben sich aufgrund der großen Übereinstimmung beider Datensätze keine wesentlichen Unterschiede. Blickt man dagegen auf die Zeit vor 1410, so fällt vor allem die weitgehende Absenz von Sittendelikten und Urfehden wegen anstößigem Lebenswandels auf. Auch dem Diebstahl kam im 14. Jahrhundert mit nur 4,4% der Häftlinge vergleichsweise geringe Bedeutung zu, während zwischen 1460 und 1539 bereits über 20% der Urfehder deswegen einsaßen (zuzüglich 9,9% wegen Betrugs! ). Im nachreformatorischen Regensburg schließlich nahm erwartungsgemäß die Zahl der Urfehdebriefe wegen »unchristlichem Lebenswandel« noch einmal deutlich zu, ansonsten dominieren in dieser Spätphase eindeutig die Gewaltdelikte und zwar nunmehr nur noch solch kapitale Vergehen, die ursprünglich mit der Todesstrafe hätten gesühnt werden sollen. Über Bagatelldelikte stellte man Ende des 16. Jahrhunderts keine eigenen Urkunden mehr aus. 43 Die Ahndung von Gewalttätigkeiten war während des gesamten Mittelalters die zentrale Aufgabe städtischer Justiz, schließlich war die Aufrechterhaltung des Friedens in 41 Die 100% beziehen sich auf die Gesamtzahl der Urfehdeleistenden. Da mitunter mehrere Vergehen zur Verhaftung führten, wurden diese auch den verschiedenen Delikttypen zugewiesen, wodurch sich in der Addition der Prozentwerte einWert über Hundert ergibt. 42 Diese ist abgedruckt bei: Steffen Wernicke: »Weil ich mich gegen meinen benannten Mann vergessen (...)«. Frauen vor Gericht, in: Regensburger Frauenspuren. Eine historische Entdeckungsreise, hg. von Ute Kätzel und Karin Schrott, Regensburg 1995, 64-85 (Deliktstruktur: 71). Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 391 der Stadt die Grundlage eines florierenden bürgerlichen Gemeinwesens. Die Dominanz der Gewaltdelikte ist denn auch ein gesamteuropäisches Phänomen und Kennzeichen aller vormodernen Kriminalitätsstatistiken. Dem Bild der Rechtshistoriker, die stets die Funktion der Stadt als Sonderfriedensbereich, als Insel des Friedens in einer wenig friedfertigen Umwelt, hervorgehoben haben 44 , widersprechen die Ergebnisse der historischen Kriminalitätsforschung, die die Städte vielmehr als Ballungsgebiete der Gewalt charakterisiert, nur vordergründig, indem sie auf ein eminentes Spannungsverhältnis zwischen Norm und Wirklichkeit hinweisen. Für eine konkrete Analyse spätmittelalterlicher Streitkultur erscheint jedoch die Kategorie »Gewalt« zu wenig differenziert, da sie keinerlei Aufschluß über die Qualität der Auseinandersetzung bietet. Zugeordnet wurde diesem Delikt die ganze Spannbreite von Angriffen auf die physische Unversehrtheit eines Kontrahenten, angefangen vom - allerdings selten als alleiniges Vergehen genannten - bloßen Messerzücken, einfachen Schlagen und Raufen über Messerstechereien bis hin zum heimtückischen Mordversuch. Daß eine gewaltsame Auseinandersetzung nicht einen der Beteiligten zum Totschläger machte, war oft genug nur dem Zufall oder dem beherzten Eingreifen Dritter zu verdanken. So heißt es in der Urfehde des Regensburger Bürgers Peter Wiendel vom 19. Dezember 1443, das ich mich mit einem jr gnaden burger genant Peter Zeller mit worten jn zorn heftiglichen zutragen vnd also jn solichem mit einem messer nach jm geworffen vnd den also mit solichen nochwerffen mit dem messer troffen vnd so swerlichen gewundet han, damit er vmb sein lebtag komen mocht sein. Der Fall ist bezeichnend für den Ablauf vieler Streitigkeiten, die zunächst auf verbaler Ebene geführt wurden, bis sie endlich eskalierten und einer mehr oder minder schwer verletzt am Boden lag. Begreift man die Schlägereien und Messerstechereien als Endpunkte verbaler Auseinandersetzungen, so wird verständlich, warum insgesamt beinahe jeder fünfte Urfehder (19% zwischen 1326 und 1617) wegen seines losen Mundwerks im Turm saß: Worte waren eben gelegentlich schärfer als das Schwert, zumindest aber eine gefährliche Waffe, mit der man trew, ere vnd gelympf seines Gegenüber schweren Schaden zufügen konnte. Man darf mit Fug und Recht davon ausgehen, daß der körperlichen Gewalt immer Worte vorausgingen 45 , auch wenn die Urfehden dies nicht ausdrücklich erwähnen, während andererseits drei Viertel aller Wortgefechte beendet werden konnten, bevor die nächsthöhere Eskalationsstufe erreicht wurde. In den weitaus meisten Fällen waren Drohungen, konkret die Androhung von Gewalt, Inhalt solch strafwürdiger Worte; 20% dagegen waren Beleidigungen, Verunglimpfungen und Schmähungen, die auf die Ehre des anderen zielten: Verräter, Dieb, Schalk, Schelm und Bösewicht waren in dieser Hinsicht die beliebtesten Schimpfwörter, aber auch Behauptungen wie die, einer sey ain banckhart, Sohn eines Pfaffen oder ein Hurenkind, konnten der Reputation eines Menschen schweren Schaden zufügen. Sexuelle Konnotationen trafen immer, so wenn ein Taschner einem Werkgenossen smahe vnerberge 43 Diese Tendenz, im Verlaufe der frühen Neuzeit nur mehr bei Kapitalverbrechen eigene Urfehdeurkunden auszustellen, läßt sich auch andernorts, so beispielsweise in Schwäbisch Hall, beobachten (vgl. Ulinka Rublack: Magd, Metz’ oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt am Main, 1998, 334), womit sich eine Kriminalstatistik auf dieser Quellengrundlage natürlich dramatisch verändert. 44 Vgl. Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter, 1250-1500. Stadtgestalt, Recht Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, 74ff. 45 Vgl. Peter Schuster: Der gelobte Frieden. Täter, Opfer und Herrschaft im spätmittelalterlichen Konstanz, Konstanz 1995, 108ff. Steffen Wernicke 392 schympfliche wort jm an sein ere vnd guten lewten treffend zugeredt vnd den vnendlich gehaissen 46 hatte; eine Bürgerin der Stadt mußte der Rat gar gegen ihren eigenen Ehemann in Schutz nehmen, der öffentlich verbreitet hatte, er habe sie nach der Hochzeit nit als ein frume junckfrawen erfunden. 47 Einiger Beliebtheit erfreute sich auch das nächtliche Anschlagen von Schelt- und Lästerbriefen, zum Teil auch verziert mit »unziemlichen« Zeichnungen, an die Haustür, mit denen die Betroffenen dem Spott der Nachbarschaft preisgegeben wurden. Von dieser Art der Beleidigung oder Verleumdung unterschieden wurde das Delikt der falschen Anschuldigung, bei dem der Beleidiger den Wahrheitsbeweis vor einer öffentlichen Instanz, dem Gericht, zu erbringen sucht, und so »die Sache auf den Andern bringen oder weisen« will. 48 Darunter sind Fälle wie der des Andre Rosenmeier zu Bach in der Herrschaft Donaustauf zu verstehen, der einen Dorfgenossen zunächst in öffentlicher Rede beschuldigt hatte, einen Markstein verrückt zu haben, was er später auch vor Gericht wiederholte, wo sich aber dann die Haltlosigkeit seiner Vorwürfe erwies. 49 Waren Frauen - entgegen dem in der Literatur des Spätmittelalters oft zitierten Bild der zänkischen und streitsüchtigen Frau - schon im Rahmen der Verbaldelikte deutlich unterrepräsentiert, so war ihre Beteiligung an gewalttätigen Auseinandersetzungen allenfalls von marginaler Bedeutung (an Tötungsdelikten schließlich waren sie überhaupt nicht mehr beteiligt): Gewalt war, zumindest auf der Wahrnehmungsebene der Justiz, Männersache. Auch Frauen schimpften, rauften und schlugen; in den allermeisten Fällen handelte es sich dabei aber um Konflikte, die zwischen Frauen ausgetragen wurden und die in der Regel weniger blutig verliefen. 50 Weibliche Gewalt wurde von den Männern oft »mit ironischer Nachsicht betrachtet« 51 und von den Ordnungsorganen der Stadt nicht als ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung angesehen. Daß Frauen in der damaligen Öffentlichkeit gleichwohl präsent waren, belegt die Tatsache, daß sie vergleichsweise häufig Opfer gewaltsamer Auseinandersetzungen waren (22%). Urfehden wie die des Michel Va e chel, der ain frawen vnuerdienter sachen geslagen vnd jn dem kot auf dem pflaster vnerberlichen vmb gezogen 52 hatte, oder eines Kramers, welcher ain arme frawen zu Regenspurg vnpillicher dinnge jn ainen keler geworffen vnd da plutru e nstig geslagen 53 hatte, stellen diesbezüglich keine Ausnahmen dar. Beim Gros der mißhandelten Frauen handelte es sich aber um Ehefrauen, die von ihrem eigenen Mann zum Teil übel zugerichtet worden waren. Die knapp hundert Urfehdebriefe gewalttätiger Ehemänner zeichnen sich ausnahmslos durch ein hohes Maß an Brutalität aus. Da die hausherrliche Gewalt auch ein Züchtigungsrecht gegenüber Familienmitgliedern und dem Gesinde umschloß, wurden nämlich nur solche Fälle vom Rat geahndet, in denen der Hausherr den Bogen bei weitem überspannt hatte und seine Frau anders gestraffet hatte, dann erbern ela e wten zugebu e ret. Das Schlagen der Ehefrau an sich gehörte fraglos zum 46 RRU 1456.V.21. 47 RRU 1459.VIII.07. 48 Rudolf His: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. Band II, Weimar 1935, 121 (siehe auch 136-140). 49 RRU 1449.XI.17. 50 Vgl. Robert Jütte: Geschlechtsspezifische Kriminalität im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 108 (1991). 86-116. 51 Nicole Castan: Straffällige Frauen, in: Geschichte der Frauen. Band 3: Frühe Neuzeit, hg. von Arlette Farge und Natalie Z. Davis, Frankfurt am Main 1994, 495-505 (Zitat: 499). 52 RRU 1456.VII.15. 53 RRU 1454.III.21. Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 393 mittelalterlichen Alltag. Fast immer ließ man die Täter, die mit den fu e ssen jn sie gespru e ngen, ihr lebensbedrohliche Verletzungen mit Messerstichen oder gar den Abgang eines Kindes bei einer Schwangeren verursacht hatten, nach Abnahme des Versprechens, sich fürderhin friedfertiger zu verhalten, ohne weitere Bestrafung wieder zu ihren Familien. Grundsätzlich lassen sich bei der Entstehung gewalttätiger Auseinandersetzungen zwei unterschiedliche Ausgangspositionen beobachten. In der Mehrzahl der Fälle kannten sich Opfer und Täter, und ihr Zusammenstoß kam nicht aus heiterem Himmel, sondern hatte eine mitunter längere Vorgeschichte. Häufig waren die Kontrahenten in irgendeiner Weise miteinander verwandt oder sie hatten beruflich miteinander zu tun. Auch langwierige Streitigkeiten um Geld und Gut, die teilweise auch schon zuvor vor Gericht ausgetragen worden waren, kulminierten immer wieder in Gewalt. In Schuldsachen entschied in der Regel das Recht des Stärkeren, welche der beiden Parteien im Turm landete: Mal verprügelte der Gläubiger den säumigen Schuldner, mal umgekehrt. Zwar schwor ein Gewalttäter mit seinem Urfehdeeid jeglicher Rache bezüglich seiner Gefangennahme ab, sein Opfer war damit jedoch noch lange nicht befriedet, so daß es nicht verwunderlich ist, daß so manche Kontrahenten unter umgekehrten Vorzeichen erneut aneinander gerieten. 54 Daneben kam es aber auch zu einer ganzen Reihe von spontanen Gewaltausbrüchen, bei denen das Opfer vnuerschulter ding, vnuerdienter sach oder vngeno e t attackiert worden war. Als auslösender Faktor solcher Aktionen wurde während des gesamten Untersuchungszeitraumes immer wieder übermäßiger Alkoholkonsum genannt: wann ich so weinig vnd truncken worden bin, do ist nyemant sicher vor mir gewesen. Die ausgelassene und aufgeladene Atmosphäre in den Wirtshäusern tat ein übriges, um kleine Provokationen schnell hochkochen zu lassen. Meist eskalierten solche Konflikte aber nicht in der Schenke selber, sondern - wahrscheinlich auf Intervention des Wirtes, der die Streithähne beizeiten vor die Tür setzte - auf der Gasse davor. 55 Neben den oft als auf offner gassen oder freier strazz charakterisierten Tatorten, waren vor allem die Badestuben und Frauenhäuser jene Orte, welche die männlichen Aggressionsriten evozierten. Bemerkenswert häufig kam es auch auf der Steinernen Brücke, dem über 300 Meter langen Donauübergang, auf dem sich der gesamte Nord-Süd-Verkehr der Reichsstadt begegnete und auf dem man sich schlecht aus dem Weg gehen konnte, zu Gewalttätigkeiten. Überfälle im Haus des Opfers, einem besonders befriedeten Bereich, wirkten sich, im Gegensatz zum weit verbreiteten Herausfordern-aus-dem-Haus 56 , immer strafverschärfend aus. Wie andere städtische Magi- 54 Ein typischer Fall dieser Art ereignete sich 1449 in Donaustauf, wo der dortige Bürger Hans To e ter nach längeren Streitigkeiten einem Müller des Nachts mit einer Armbrust aufgelauert und ihn überfallen hatte (RRU 1449.II.07). Offenbar konnte es sein Opfer nicht verwinden, daß bei seinem Gegner nach Fürsprache zahlreicher Freunde und Biederleute von einer schweren Leibesstrafe abgesehen wurde und er gegen Urfehde wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, denn nur drei Monate befand sich eben jener Müller selber im Gefängnis des Pflegers von Donaustauf , weil er seine veindtschafft haimlich getragen hatte und nur auf den geeigneten Moment gewartet hatte, mich selbs an jm ze rachen (RRU 1449.V.06). 55 So schworen beispielsweise zwei Wollknappen Urfehde, weil sie einen ihnen zunächst völlig Unbekannten zu e m wein mercklichen geslagen vnd des wir vns aber gein jm nit genugen lassen haben sunder dem darnach auf der gassen bey na e chtlicher weile nachgangen vnd angeloffen sint vnd haben den vnuerschulter sachen herttiglichen mit messern vnd fewsten geslagen vnd gestossen vnd ob man vns mit geschray von dem nit bracht het, so mo e cht er von vns mit solichen slegen vnd vnfur an jme begangen vom leben zum tode gebracht worden sein (RRU 1458.III.02). 56 Vgl. Karl-S. Kramer: Das Herausfordern aus dem Haus. Lebensbild eines Rechtsbrauches, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1956, 121-138. Steffen Wernicke 394 strate versuchte auch der Regensburger Rat in wiederholt erneuerten Erlassen das Tragen von Waffen in der Stadt zu unterbinden oder zumindest einzuschränken. Durchzusetzen war dieses Ansinnen jedoch ganz offensichtlich nicht: Messer waren in gewaltsamen Auseinandersetzungen allgegenwärtig; aber auch Dolche, Degen, Schwerter, Hellebarden und Streitäxte waren probate Waffen, um dem Gegner schwere Verletzungen zuzufügen. Eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit stellten wegen ihres großen Wirkungsradius Armbrüste und die seit dem 16. Jahrhundert eingesetzten Schußwaffen dar. In den Wirtshäusern bot sich das Werfen von Krügen, Gläsern oder Weinkannen quasi von selbst an, was durchaus zu schlimmen Verletzungen führen konnte, wie die Aktion eines Wollknappen zeigt, der seinen Kontrahenten mit ayner kandl werffen hab wellen vnd also hab ich mit demselben wu e rff mit der kandl ain fru e me frawen troffen vnd damit geworffen, das jr schaden muest die weil sie lebt. 57 Eine Form von Gewalt, die in mittelalterlichen Gerichtsakten generell nur selten thematisiert wurde, ist die Vergewaltigung 58 : Ganze vier Urfehden gingen in Regensburg während annähernd 300 Jahren auf vollzogene Notzucht zurück. Dabei handelt es sich in zwei Fällen um sexuellen Mißbrauch von einem fünfbzw. neunjährigen Mädchen 59 ; im dritten Fall um die gemeinschaftliche Päderastie zweier Bürger, die sie an einem knaben begangen haben mit gewalt, während im vierten Vorkommnis dieser Art eine noch sehr junge Hausangestellte das Opfer war. Für erwachsene Frauen war es offenbar kaum möglich, vor Gericht als das Opfer einer Vergewaltigung anerkannt zu werden, wenn es ihr nicht gelungen war, durch ihren Widerstand eine Öffentlichkeit herzustellen, mit der sich ihre Gegenwehr auch beweisen ließ. So resultierten denn auch weitaus mehr Urfehden aus Übergriffen, bei denen der Täter eine Frau genotzogt wolt haben, was aber durch das rechtzeitige Erscheinen von Zeugen verhindert worden war. Die permanente Auseinandersetzung mit dem Problem der Friedenswahrung, das das genossenschaftliche Regiment der Städte seit dem 13. Jahrhundert beschäftigte, führte über die Intensivierung der Verbrechensbekämpfung längerfristig auch zu einer Stärkung der obrigkeitlichen Strafjustiz. Schließlich war es der kommunale Friede, der die Voraussetzung schuf für eine gottgefällige Lebensführung und das Seelenheil, für das geistliche und materielle Wohlergehen der Stadt und ihrer Bürger. Je weiter sich die genossenschaftliche Verbandsgewalt des Rates im Laufe des Mittelalters zur obrigkeitlichen Herrschaft verselbständigte 60 , umso mehr begann der Rat als selbstbewußter Herrscher, dem die Wohlfahrt seiner Untertanen anvertraut war, fürsorglich und intensiv die verschiedensten Lebensbereiche der Einwohnerschaft mit administrativen Reglementierungen zu durchdringen. Eine kriminalpolitische Aufgabe, für die sich die erstarkten Obrigkeiten seit dem 15. Jahrhundert zunehmend ereiferten und die den Radius städtischer Strafjustiz in der Folge beträchtlich erweiterte, war die Hebung der Sittenzucht. Inspiriert von polizeilichen, sozialen und ökonomischen Motiven wurde die 57 RRU 1455.I.11. 58 Vgl. z.B. Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör (wie Anm. 11), 395, Susanna Burghartz: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990, 145 oder Katharina Simon-Muscheid: Gewalt und Ehre im spätmittelalterlichen Handwerk am Beispiel Basels, in: Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991), 1-31 (bes. S.25). 59 Vgl. Wernicke: »Weil ich mich gegen meinen benannten Mann vergessen (...)« (wie Anm. 42), 69ff. 60 Vgl. Erich Maschke: »Obrigkeit« im spätmittelalterlichen Speyer und in anderen Städten, in: Archiv für Reformationsgeschichte 57 (1966), 7-22. Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 395 Sittenaufsicht des Rates nichtsdestoweniger ganz fundamental von religiösen Vorstellungen und kirchlichen Impulsen bestimmt, insbesondere von der Sorge um Gottes Lob und Ehre, einer Sorge, die seit den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts auch in den Urfehdebriefen, die dem lasterhaften Lebenswandel ihrer Aussteller entsprangen, ausgesprochen wurde. 61 Dahinter stand die Vorstellung, daß Gott die Mißachtung seiner Gebote nicht nur an den sündigen Menschen, sondern auch an ihrem Gemeinwesen strafen werde. 62 Die Untersuchung der Regensburger Urfehden bestätigt eindrucksvoll, daß »die Sorge um dieWahrung der Ehre Gottes schon vor der kirchlichen Reformation die weltliche Sittenzucht beeinflußte« 63 , und daß die Verfolgung von Vergehen gegen Sittlichkeit und Eheordnung in ihrer Relevanz eben nicht erst Produkte einer »puritanischen« Moral waren, die sich nach Reformation bzw. Gegenreformation allenthalben durchsetzte und zu einer Kriminalisierung großer Bereiche sittlichen Verhaltens führte. 64 Waren derartige Haftgründe während des 14. Jahrhunderts noch überaus selten, so nahmen sie ab 1410 sprunghaft zu. Zwischen 1440 und 1449 endlich saßen ein Viertel der Gefangenen wegen ihres anstößigen Lebenswandels ein, ebensoviele wie wegen Gewalttätigkeiten. Ein Gutteil dieser Verhaftungen, u.a. wegen »unordentlicher«, »ungeordneter«, »unrichtiger«, »unziemlicher«, »unführlicher« Lebensweise, waren zweifellos unter dem Aspekt der »auskömmlichen Nahrung« der städtischen Bevölkerung vorgenommen worden. Spielsucht, Alkoholismus und andere Laster konnten dazu führen, daß der Betreffende sein Hab und Gut durchbrachte und samt seiner Familie zum Sozialfall wurde, eine Entwicklung, der der Rat beizeiten entgegenzuwirken suchte, so wenn er den Tuchler Hans Tanner von spils vnd anders vnordenlichs lebens das ich bisher taglichs triben vnd tan han festsetzte, weil sein Haushalt zunehmend verwahrloste und seine Frau nichts mehr zu essen hatte 65 . Nicht immer war ein solches Eingreifen von Erfolg gekrönt: Im Falle einer Bürgerwitwe, die in den Turm gebracht worden war von meins vngeordneten lebens wegen dez sich mein erberg frewnt vnd nachpawrn schamten vnd da von ich vnd mein sun Martein paydew an er vnd gut gar verdorben mochten sein, entschloß man sich zu retten, was noch zu retten war. Nachdem sie alles Vermögen, den Hausrat und ein Haus durchgebracht hatte und vom Erbe ihres Mannes nurmehr ihr Wohnhaus übrig geblieben war, billigte sie dem Rat mit ihrer Urfehde zu, dieses zu verchawffen so tewrist si mu e gen vnd zu seinem (des Sohnes) nutz vnd pesten halten vnd anlegen nach seiner notdu e rft daz er auch nicht gar verderb als ich layder verdorben pin. 66 Stufte man also den Fall der Witwe als quasi hoffnungslos ein, so stellte sich 61 So heißt es diesbezüglich mehrfach, einer habe sich gein got vnd auch meiner armen sel swarlichen vergessen, habe wider got vnrecht tan oder sich wider got vnd mich selbs swa e rlich vergessen. 62 Hans-Rudolf Hagemann: Basler Rechtsleben im Mittelalter. Band I, Basel 1981, 31 und 72f. 63 Adrian Staehelin: Sittenzucht und Sittengerichtsbarkeit in Basel, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 85 (1968), 78-103 (Zitat: 97). 64 Vgl. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Band 2: Dorf und Stadt, München 1992, 264ff. 65 RRU 1449.VII.18. Während der Rat die Spielleidenschaft der Zeitgenossen aus ordnungspolitischem Interesse schon früh in Wort und Tat zu bekämpfen suchte (auch ohne das Motiv der Verschwendung zu bemühen), war Trunksucht an sich erst seit dem 16. Jahrhundert Gegenstand verstärkter Verfolgung. Lediglich im Falle des Hans Staynmaissel von Eger, der bereits mehrmals von den Wachtbütteln auf der Straße liegend aufgelesen worden war, entschied man sich bereit im Jahre 1445, einen chronischen Alkoholiker, der sich sonst nichts hatte zuschulden kommen lassen, für einige Tage ins Gefängnis zu legen, wo er dann wegen vnrichtiger tru e nckner weise Urfehde schwor (RRU 1445.VIII.16). 66 RRU 1405.IX.04. Steffen Wernicke 396 der Rat in der Urfehde seines Bürgers Jacob Poschendorffer als Erretter von dessen bürgerlicher Existenz dar: Hätten ihn nämlich die »gnädigen Herren«, nachdem er durch »unziemliche Zehrung« in und außerhalb der Stadt in große finanzielle Schwierigkeiten geraten war, nicht in ihr Gefängnis genommen, so hätte sich jener bei Fortsetzung seines unfertigen Lebens unzweifelhaft selbst zugrunde gerichtet. 67 Der Schwerpunkt der um die Mitte des 15. Jahrhunderts ganz enorm zunehmenden Aktivitäten des Rates zur Hebung der »öffentlichen Sittlichkeit« lag ganz eindeutig auf der verstärkten Ahndung jedweder geschlechtlicher Vergehen. Vor allem die sogenannten »unendlichen Weiber« - Frauen, deren nicht-eheliche Beziehungen so häufig wechselten, daß es den Anschein hatte, sie würden nie ein Ende finden 68 - waren den Hütern der städtischen Ordnung ein Dorn im Auge. Für viele Frauen aus der ländlichen Unterschicht - kein anderes Delikt wurde den Immigrantinnen, ausgenommen Diebstahl, so oft zur Last gelegt, wie dieses -, die es im späten Mittelalter in die Städte zog, und die sich, familiärer Kontrolle entzogen, vielfach nur mit Gelegenheitsarbeiten durchschlugen, war es oft genug eine ökonomische Notwendigkeit, sich von vermögenderen Geliebten aushalten zu lassen. Die Grenze zur Prostitution ist dabei natürlich fließend und läßt sich auch in den Quellen selber nur schwer festmachen. Frauen wie der Gathrey Wismairin, die von vnendlicher bu e bischer weise wegen, die jch vnuerschemt jn jrer stat mit eemannen vnd annderen gehanndelt vnd begangen Urfehde schwor, verwies man fast ausnahmslos der Stadt. 69 Ihre in aller Regel verheirateten Gönner kamen dagegen, hatten sie doch für ihre Familie zu sorgen, überwiegend glimpflich davon, selbst als urfehdebrüchige Wiederholungstäter. 70 Die Wachsamkeit, die der Rat gegenüber den Beziehungen zu unendlichen Frauen an den Tag legte, lag wohl in erster Linie darin begründet, daß sie, anders als die dem Frauenwirt unterstellten »gemeinen Frauen« im Frauenhaus, versuchen konnten, den Ehemann an sich zu binden, wodurch sie eine Gefahr für das Sozialgefüge der Stadt darstellten. Im Zentrum der Ratspolitik, für die der Urfehdeeid ein treffliches Druckmittel sowohl gegen die Frauen als auch die Männer darstellte, stand der Schutz der Ehe als eine das städtische Zusammenleben ordnende Gemeinschaft. Zwar wurden die über 150 Urfehden wegen Ehebruchs zu etwa 70% von Männern geschworen - Ehebruch von Frauen zu bestrafen, war zunächst einmal Sache des Ehemannes -, jedoch wurden untreue Ehefrauen deutlich strenger als Männer, meist mit Stadtverweisung, bestraft. Außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten wurde nur in solchen Fällen geahndet, in denen die Interessen Dritter berührt wur- 67 RRU 1444.I.27: von vnrichtiger weis vnd vnordenliches leben so ich dann zu Regenspurg jn der stat vnd auch awsserhalb bej den fremden mit vntzymlicher zerung vnd spil triben vnd tan han damit jch jn grosz mercklich schuld komen bin vnd heten mich die obgenanten mein gnedig herren von solichem vnordenlichem leben jn jr straf vnd fangnus nit genomen vnd das ich solichem vnfertigem leben lenger nachgangen were so mocht jch des gantz zu verderben komen sein. 68 Beate Schuster: Die unendlichen Frauen. Prostitution und städtische Ordnung in Konstanz im 15./ 16. Jahrhundert, Konstanz 1996. 69 RRU 1448.VI.06. 70 Der Steinmetzgeselle und Bürger zu Regensburg Seitz Semler, der festgesetzt worden war von vnordenlicher weis wegen, die ich mit andern vnendlichen weiben wider mein elichs weib vnd daz sacrament der heiligen ee gehandelt han, dorumben ich dan vormals jn jrer gnaden straff vnd vangnu e s auch gewesen bin vnd brief dorumben uber mich geben vnd daz ich aber v e berfaren vnd nit gehalten han, mußte sich lediglich verpflichten, im Falle nochmaligen Ehebruchs seiner Frau ihr Heiratsgut zurückzuerstatten (RRU 1446.IV.01). Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 397 den, so wenn Mägde bei Nacht ihre Liebhaber ins Haus ließen, wodurch die Hausehre ihres Herrn verletzt wurde, oder wenn Paare über längere Zeit hinweg zusammenlebten, sie an der vnsta e te beieinander saßen. Ein ganz wesentlich von Frauen geprägtes Delikt war die Kuppelei, gegen die der Rat so massiv vorging, weil sie die seiner obrigkeitlichen Kontrolle entzogene (Gelegenheits-)Prostitution außerhalb des Frauenhauses kanalisierte und professionalisierte: Nimmt man die Urfehdebriefe jener Jahre beim Wort, so gewinnt man den Eindruck in beinahe jeder Gasse hätte eine Kupplerin darauf gewartet, paarungswilligen Männern und Frauen, Juden und Pfaffen ihr Federbett unterzuschieben. 71 Ursprünglich eine Angelegenheit der geistlichen Gerichtsbarkeit, nahm sich der Rat im 15. Jahrhundert auch der Verfolgung von Bigamie, widernatürlicher Sexualpraktiken sowie gleichgeschlechtlicher und inzestuöser Beziehungen an, Vergehen, die allesamt vereinzelt Niederschlag in den Urfehden fanden und also keineswegs zwangsläufig zur Hinrichtung des Delinquenten führten. Die Vergehen gegen die Obrigkeit stellen ein Deliktfeld dar, dem während des gesamten Untersuchungszeitraumes ein bemerkenswert konstanter Anteil der Urfehder (10 bis 15%) seinen Aufenthalt im Gefängnis verdankte. Dabei handelte es sich zum geringsten Teil um politisch motivierte Aufstandsbewegungen gegen das Regiment des Rates, wie den Aueraufstand 72 oder den großen Aufruhr von 1513/ 14 73 , vielmehr verbergen sich dahinter die verschiedensten Formen des Ungehorsams und der Widersetzlichkeit, die des öfteren nicht einmal konkret benannt wurden: So schwor der Regensburger Bürger Ludweig der Porttner 1391 Urfehde von ettleicher vngehorsamer weys vnd das ich meinen herren vom rat zu Regenspurg in mangerley sachen allzeit widerpru e chtig bin gewesen. 74 Auf jegliche Kritik ihrer Politik, sei es mit worten oder mit werchen reagierte die »fürsorgliche« Obrigkeit der Reichsstadt äußerst sensibel. Beschimpfungen der Ratsherren als »Bluthunde« oder der Vorwurf, sie »wucherten ärger als die Juden«, führten regelmäßig zu Verhaftungen, zu mehr allerdings selten. Unbotmäßiges Verhalten vor Gericht oder lautstarkes Kundtun der Unzufriedenheit mit einem Urteil gehören in die gleiche Kategorie; nicht selten war auch die trotzige Weigerung, dem ergangenen Spruch eines Hintergangs oder einer Teidigung nachzukommen. Ungehorsam war das bürgerliche Delikt schlechthin, schließlich hatten sie sich mit ihrem Bürgereid auf Treue und Gehorsam gegenüber dem Rat verpflichtet. Eine eigene Kategorie bilden die Urfehden der Bewohner der an die Stadt verpfändeten Gebiete, die den neuen Herren gegenüber widerspenstig waren di weil si vnser geweltig gewesen sind, und deren Widerstand auf diese Weise gebrochen werden sollte. Ebenfalls den Vergehen gegen die Obrigkeit zugerechnet wurden die zahlreichen Auflehnungen der Handwerker gegen ihre Organisation bzw. die Meister, sei es, daß es sich um Ar- 71 Eine Anna Bawmanyn hatte gestanden, das jch mich jn irer stat vnerberlichen gehalten, layen vnd pfaffen, frawn man vnd juden zu den vneren jn meinem haws ausz vnd ein zugeen gehalten han, jr buberej dorjnnen zetreiben vnd dortzu e jch mein vederwat bej tag vnd bej nacht gelihen vnd ander schub vnd hilff dorjnnen getan hatte, wofür sie nach Begnadigung vom Tode aus der Stadt gejagt wurde (RRU 1445.V.20). 72 Johann Schmuck: Der Aueraufstand, in: Regensburg im Mittelalter. Beiträge zur Stadtgeschichte vom frühen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit. Band 1, hg. von Martin Angerer und Heinreich Wanderwitz, Regensburg 1995, 131-136. 73 Vgl. Maria A. Panzer: Sozialer Protest in süddeutschen Reichsstädten 1485-1525. Anhand der Fallstudien: Regensburg, Augsburg und Frankfurt am Main (=Miscellaenea Bavarica Monacensia. Heft 104), München 1982. 74 RRU 3118 (1391.IX.02). Steffen Wernicke 398 beitsniederlegungen, die Gründung von verbotenen Gesellenvereinigungen oder um Lohnstreitigkeiten handelte. Das zweifellos heterogenste Deliktfeld stellen die von mir als Ordnungswidrigkeiten bezeichneten Verstöße wider die Ordnungen, Gebote und Gesetze des städtischen Gemeinwesens dar, die sich auf einer Ebene unterhalb der klassischen Vergehen gegen Leib, Ehre und Eigentum bewegen, sich aber durch den fehlenden subversiven Charakter von denen gegen die Obrigkeit unterscheiden. Dazu zählen so unterschiedliche Verfehlungen wie die eines Regensburgers, der in Frankfurt einen Mitbürger in Beschlag hatte nehmen lassen und somit Regensburger Stadtrecht verletzt hatte, 75 oder die einer Pfründnerin im Spital St. Lazarus, die verhaftet wurde, weil sie entgegen der gesetzten Ordnung des Spitals mehrfach über Nacht ausgeblieben war und nicht »daheim gelegen« hatte, wie es ihrer Pflicht als Pfründnerin entsprochen hätte. 76 Selbst so vergleichsweise geringfügig erscheinende Vergehen wie das des Andre, Schneider am Fischmarkt, der entgegen seinen Bürgerpflichten keinen eigenen Harnisch besaß, wurden mit kurzen Haftstrafen und anschließender Urfehde geahndet. 77 Auch Verstöße gegen die stark reglementierenden Handwerksordnungen brachten so manchen ins Gefängnis, so den Schwertfeger Chunrat Scherff, der sich unterstanden hatte, Messer zu schälen, was aber von Rechts wegen nur Angehörigen des Handwerks der Messerer erlaubt war. 78 Weitere Ordnungsverletzungen betrafen heimliche Eheschließungen ohne Wissen und Willen der Eltern, verbotenes Spiel bzw. den Betrieb »privater Spielkasinos«, das Tragen verbotener Waffen (selbst, wenn sie nicht zum Einsatz kamen) oder die Mißachtung von Stadtverboten. Letztlich sind in dieser Kategorie auch verschiedene Zeugnisse jugendlichen Übermuts anzusiedeln, so das Besteigen der Domtürme, nächtliches Herumklettern auf der Stadtmauer oder das Läuten an Häusern zu nachtschlafender Zeit. In auffallendem Gegensatz zu der großen Anzahl von Personen, die vom Rat wegen Obrigkeits- und Ordnungsdelikten festgenommen wurden - zusammengenommen machen sie mit 22,5% fast ein Viertel der Inhaftierten aus - steht deren ausgesprochen milde Bestrafung: Keine anderen Vergehen, ausgenommen Drohungen und Beleidigungen, wurden so selten mit der schwerwiegendsten Sanktion der Urfehden, der Stadtverweisung, belegt wie diese. Haft und Eid waren hier deutlicher als in jedem anderen Zusammenhang Instrumente zur Disziplinierung der Einwohnerschaft, mit deren Hilfe sie zum Nutzen des gemainen mans verstärkt in das Ordnungsgefüge der Stadt eingebunden, keinesfalls aber stigmatisiert werden sollten. Eigentumsdelikten kam in den Urfehden in quantitativer Hinsicht zu keiner Zeit eine besondere Bedeutung zu. Erst als nach 1460 für Alltagsdelikte keine Urkunden mehr ausgestellt wurden, stieg ihr prozentualer Anteil, ohne daß damit die Zahl der Fälle gestiegen wäre. Das Spektrum der hier einzuordnenden widerrechtlichen Bereicherungen ist außerordentlich breit und reicht vom kleinen Gelegenheitsdiebstahl auf dem Markt über Beutelschneiden bis hin zum Einbruch in Bürgerhäuser und Kirchen sowie Straßenraub. Jedoch sind die Fälle von schwerem Diebstahl, ein todeswürdiges Vergehen, das fast allen Hinrichtungen im Spätmittelalter zugrunde lag, bei weitem in 75 RRU 1429.IV.28. 76 RRU 1458.X.21. 77 RRU 1442.VII.31. 78 RRU 1427.V.30. Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 399 der Minderzahl. Die vergleichsweise hohe Frauenquote unter den Dieben erklärt sich aus der Versuchung, dem das meist aus ärmlichen Verhältnissen stammende Dienstpersonal bürgerlicher Haushalte bei seiner täglichen Arbeit ausgesetzt war, und der es oft genug nicht widerstehen konnte. Charakteristisch für diese hawsdieberei ist der Fall der Dienstmagd Katharina, Tochter eines niederbayerischen Bauern, die von ihrem Arbeitgeber, dem Regensburger Bürger Vlrich Valdrer, ins Gefängnis gebracht wurde von heimlichs vnd helichs entragens wegen, besunder das ich dem Valdrer bey vier oder funff reisten flachs vngeuarlich heymlich genomen, das spynnen vnd steuchel (Schleier, Kopftücher) darausz machen lassen vnd sust auch anders genomen vnd damit mein trew vnd gelubd alsdann ein ehalt seiner herrschafft pfligt zugeben vergessen han. 79 Wie in diesem Fall die sprichwörtliche Gelegenheit die genannte Dienstmagd zur Diebin gemacht hatte, so läßt sich auch generell ein eher situativer Charakter vieler Diebstähle feststellen. War die Gelegenheit günstig, so taugte alles was nicht niet- und nagelfest war als potentielles Diebesgut, schließlich ließ sich das meiste versilbern oder in Wein umsetzen, wie das auch der Steinbrecher Steffel Hembawer getan hatte. Diesem war nämlich von etlich fru e m diern jr ma e ntel bej dem tantz in trewen empfolhen worden, eine Gelegenheit, die er sogleich beim Schopf packte und die Mäntel also mutwilliglichen genomen, zu dem wein tragen vnd jn die vertru e ncken hatte. 80 Wie in diesem Fall waren in knapp einem Viertel der Diebstähle Kleidungsstücke, allen voran Mäntel, aber auch Hosen, Röcke, Schuhe u.a. das Objekt der Begierde; ebenso häufig wurde Hausrat gestohlen, vor allem hochwertig verarbeitete Kannen, Becher und Geschirr. 43,5% des Diebesgutes bestand aus Bargeld - die sicherlich unproblematischste Beute - und Schmuck, wohingegen Lebensmittel nur 11,6% des Gestohlenen ausmachten, was ein Stelen inn rechter hungers nott unwahrscheinlich macht. Der Menge nach unbedeutend sind die elf gestohlenen Tiere, fast ausschließlich Pferde, aber auch ein Hund und ein Kalb. Vermögensschädigung durch Betrug äußerte sich in einer Vielzahl sehr verschiedener Einzeldelikte, von denen das häufigste das Falschspiel war, ein Vergehen, das hauptsächlich von professionell organisierten Kriminellen betrieben wurde. 81 Im Bereich der Lebensmittel- und Warenfälschung lag das Hauptaugenmerk des Rates darauf, Gesundheitsgefährdungen der Bevölkerung durch verdorbene Waren zu verhindern, so wenn Chunrat der Ha e ring, verdorbene Heringe, die er für wenig Geld aufgekauft hatte, nun als gute weiterveräußerte, waz den lewten an ir leben wa e r gegangen. 82 Im Prinzip waren den Möglichkeiten, von gutgläubigen Zeitgenossen durch das Vortäuschen falscher Tatsachen Gelder zu erschwindeln, allein durch die Phantasie des Betrügers Grenzen gesetzt. 83 Urkunden-, Münz- und Siegelfälschungen waren dagegen nur sehr vereinzelt Gegenstand eines Urfehdeschwurs. 79 RRU 1468.II.01. 80 RRU 1457.III.02. 81 Vgl. Robert Jütte: Die Anfänge des organisierten Verbrechens. Falschspieler und ihre Tricks im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 70 (1988), 1-31. 82 RRU 1413.III.24. 83 Vgl. Robert Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum Liber Vagatorum (1510), Köln 1988, bes. 70-105. Steffen Wernicke 400 Gnade und Recht Jeder, der sich, aus welchem Grunde auch immer, in der Gewalt des Rates befand, war, selbst wenn sich im Laufe der Untersuchung seine Unschuld erwies, auf das Wohlwollen des Richters angewiesen: Einen Rechtsanspruch auf Freilassung gab es nicht. Der ausdrückliche Hinweis, daß die Entlassung ein Akt der Gnade war, der im freien Ermessen des Rates stand, fehlt folglich in keiner der 3.187 Urfehdeurkunden. Zum Mindesten heißt es stets, daß die Ratsherren den Delinquenten fru e ntleich vnd gena e dichleich auz der selben vankchnu e zz habn chomen lazzen; häufig schließt sich daran eine Formel des Dankes an (dez jch in ze dankchen han, di weil ich leb), die die Souveränität der Entscheidung unterstreicht. Durch die Betonung erwiesener Gnade band der Rat den Urfehder stärker an das städtische Gemeinwesen und seine Ordnungen als mit Strenge und Unterdrückung. Neben der formelhaften Selbststilisierung als gnädige Obrigkeit wurde in 60,5% aller Urfehden aber auch Gnade im engeren Sinne, in Form von Erlaß bzw. Milderung einer ursprünglich vorgesehen Strafe, gewährt. In etwa der Hälfte dieser Fälle verlautbart der Urfehdetext allerdings nur, es sei von einer »Strafe« bzw. einer »schweren Strafe« (ain hertte straff wol verdient) abgesehen worden, ohne daß erläutert würde, worin diese konkret hätte bestehen sollen. Dem Gros der Begnadigten (658 an der Zahl) war expressis verbis eine Leibesstrafe oder, wie es häufiger heißt, aine swa e re straff an meinem leib erlassen worden. Meist handelte es sich dabei um das Ausstreichen mit Ruten oder Verstümmelungen, vornehmlich das Abschlagen der Hände oder das Ausstechen der Augen. Jugendlichen Straftätern gegenüber bestand der Gnadenerweis mitunter auch darin, die Züchtigung im Keller des Rathauses, den Blicken der Öffentlichkeit entzogen, zu vollziehen. Immerhin 330 Personen (8,8%), die der Rat während des gesamten Untersuchungszeitraumes gegen Schwur der Urfehde auf freien Fuß setzte, hätten ursprünglich hingerichtet werden sollen. Wenn man davon ausgeht, daß ausweislich der Rechnungs- und Ausgabebücher der Reichsstadt zwischen 1401 und 1498 in Regensburg 199 Personen hingerichtet worden sind, während weiteren 208 (laut Urfehdebriefen) innerhalb desselben Zeitraumes die Exekution auf dem Gnadenwege erlassen worden war, so bedeutet dies, daß im 15. Jahrhundert nicht einmal die Hälfte aller Todesurteile auch tatsächlich vollstreckt worden ist! Von Todesstrafen bedroht war vor allem das gesellschaftlich am meisten geächtetste Delikt des Diebstahls, das auch fast allen vollzogenen Hinrichtungen zugrunde lag. Die Mehrzahl der begnadigten Todeskanditen hatte sich dafür mit ihrem Urfehdeeid ewiger Verbannung zu unterwerfen. Abgesehen von gottes parmhertzigkeit nennen über die Hälfte der Urfehdebriefe einen konkreten Grund, der den Rat dazu bewogen hatte, Gnade walten zu lassen. Dabei ließ man sich einesteils von den konkreten Lebensumständen des Täters wie hohes Alter, Jugend, Armut, eine große Schar minderjähriger Kinder, Krankheit, Schwangerschaft bzw. Schwangerschaft der Ehefrau u.v.a milde stimmen. Das mit Abstand wichtigste Kriterium der Entscheidung für Gnade oder Recht war jedoch immer der Grad der Intensität, mit der sich das soziale Umfeld eines Gefangenen für ihn einsetzte: Um Gnade mußte gebeten werden und so sind denn auch 52,4% aller Urfehden in Regensburg nicht zuletzt auf Fürsprache Dritter vor dem Rat zustande gekommen. Zwar tritt auch in Regensburg ein Querschnitt der gesamten hohen Geistlichkeit und des weltlichen Adels - angeführt vom Regensburger Bischof und den bayerischen Herzögen - als Fürbitter beim Rat in Erscheinung, 85% der Bittsteller rekrutierten sich jedoch aus Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 401 dem Kreise der dem Gefangenen nahestehenden Personen. 84 Die Familie, allen voran Ehepartner und Väter, Handwerksgenossen, Nachbarn sowie »ehrbare« und »biedere« Leute werden immer wieder als diejenigen genannt, die sich um den Delinquenten bemüht hatten. An ihrer Intervention maß der Rat den Grad der sozialen Integration eines Missetäters. Dabei begann die »eigentliche Fürbitte der Freunde« keineswegs, wie beispielsweise in Göttingen, erst dann, »wenn der Spruch gefällt war«, 85 sondern begleitete die Untersuchungen des Rates vom ersten Augenblick an; in Ausnahmen begann der Gnadenhandel sogar schon, bevor die Richter des Delinquenten überhaupt habhaft geworden waren. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluß in Richtung auf eine gnädige Minderung des Strafmaßes bewirkte auch die Tatsache, daß sich Freunde und Bekannte nicht nur dazu bereit fanden, für den Gefangenen zu bitten, sondern darüber hinaus eine noch weiterreichende Verantwortung übernahmen, indem sie für sein künftiges Wohlverhalten und das sorgsame Einhalten aller in der Urfehde beschworenen Artikel bürgten. Insgesamt wurden in 622 Urkunden (19,5%) Bürgen aufgeboten, meist einer bis vier, selten mehr als zehn. Offenbar legte man seitens des Rates besonderen Wert darauf, daß Urfehder und Bürge in engem Vertrauens- und Autoritätsverhältnis zueinander standen, denn je enger dieses Verhältnis war, umso eher durfte man vom Bürgen »einen besänftigenden Einfluß erwarten, der vielleicht nicht immer den Bruch der Urfehde verhindern, aber doch wenigstens eine gütliche Beilegung des Konflikts erleichtern« 86 konnte. Die weitaus meisten Bürgen waren deshalb nahe Verwandte des Ausstellers, gefolgt von Vertretern seines Handwerks. Am häufigsten, nämlich jeweils in etwa einem Viertel der geahndeten Vergehen, wurden Bürgschaften im Zusammenhang mit Obrigkeitsdelikten und Verbalien gefordert, am seltensten in der Folge von Tötungen (11,6%), Betrug (8,4%) und Diebstahl (9,7%). Der Erfolg von Bürgschaften jedenfalls ist offensichtlich, wurden doch Stadtverweisungen mit Bürgen in allen Deliktkategorien nur etwa halb so oft verhängt, als wenn sich für den Täter keine Bürgen fanden. Daß Turmhaft und Urfehdeschwur an sich in keinster Weise ehrenrührig wirkten, belegt die Tatsache, daß allein 93 Personen zum Zeitpunkt ihrer Bürgschaft in der Vergangenheit bereits selber einmal Urfehde geschworen hatten, was die Richter jedoch nicht davon abhielt, sie nun ihrerseits als Bürgen zu akzeptieren. Am Ende eines langwierigen Selektionsprozesses verließ über die Hälfte der Gefangenen das Gefängnis, ohne sich weiteren Sanktionen ihrer Obrigkeit unterwerfen zu müssen. Jedoch hatte der Rat nun noch umfangreichere Zugriffsmöglichkeiten auf die Betreffenden, die quasi unter Bewährung standen und beim geringsten Ordnungsverstoß des Eidbruchs belangt werden konnten. Da der Katalog der Maßnahmen im Rahmen der Urfehdeurkunden über die Jahrhunderte kaum Veränderungen unterworfen war, kann er im folgenden für den gesamten Untersuchungszeitraum wiedergegeben werden: 84 Vgl. Andreas Bauer: Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1996, 116-187. 85 Boockmann: Urfehde (wie Anm. 38), 89. 86 Werner Ogris: Die persönlichen Sicherheiten im Spätmittelalter. Versuch eines Überblicks, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 82 (1965), 140-189 (Zitat: 163). Steffen Wernicke 402 Sanktionsstruktur 1326-1617 Sanktion Urfehder % Frauen % weibl. Anteil Keine Sanktionen 2048 54,5 170 36,4 8,3 Stadtverweisung 981 26,1 224 48,0 22,8 Eidesversprechen 651 17,3 72 15,5 11,1 Eingrenzung 74 2,0 12 2,6 16,2 Ehrenstrafen 70 1,9 2 0,4 2,9 Bereits gestraft 54 1,4 5 1,1 9,3 Geldbuße 40 1,1 1 0,2 2,5 Wiederstellen 21 0,6 3 0,6 14,3 Kirchenstrafe 8 0,2 - - - Haftstrafe 2 0,1 - - - Sonstiges 38 1,0 4 0,9 10,5 Gesamt 3754 100% 466 100% 12,4 Die Stadtverweisung war zweifelsohne das quantitativ bedeutendste Strafmittel in der Hand des Rates; dabei stellen die im Rahmen der Urfehdebriefe überlieferten Stadtverbote nur einen Bruchteil der tatsächlich ausgesprochenen Verbannungen dar. So wie das Urfehdewesen an sich Ausdruck des spätmittelalterlichen Gnadenstrafrechts war, so waren auch die Mehrzahl der Stadtverweisungen arbiträre Strafen, die an die Stelle gnadenhalber erlassener peinlicher Strafen traten: 57,3% der Ausweisungen ersetzten zunächst vorgesehene Leibesstrafen, 21,3% folgten einer Begnadigung vom Tode. Nur in 21,4% der Urfehden, überwiegend in Folge von Gewalttätigkeiten, erscheint die Stadtverweisung als Primärstrafe. Ansonsten sind es überwiegend die Eigentums- und Sittendelikte die besonders oft auf diese Weise sanktioniert wurden. Vor allem die zwischen 1410 und 1459 besonders verfolgten »unendlichen Weiber« wollte der Rat jn seiner stat nymmer wissen. Sie wurden zu über 70% verwiesen. Auch ließ man gegenüber straffälligen »Immigranten« nur bedingt Gnade walten: Über ein Drittel von ihnen jagte man, unabhängig von ihrem Vergehen, aus der Stadt, während nur 15% der verhafteten Regensburger Bürger dieses Schicksal teilen mußten. Abgesehen davon, daß die Verbannung für den Rat immer die - zumindest vordergründig - billigste und bequemste Lösung darstellte, war sicherlich ihre außerordentliche Variabilität in Dauer und Entfernung für die häufige Anwendung ausschlaggebend. Am häufigsten (41,5%) wurden Stadtverweisungen auf Lebenszeit verhängt (in die stat nymmer mer komen di weil ich leb). Die kürzeste Frist, nach der ein Ausgewiesener um Wiederaufnahme nachsuchen konnte, betrug in Regensburg ein Jahr (20%), allerdings waren auch 27,7% der Exulanten auf unbestimmte Zeit verwiesen worden, so daß unter Umständen auch eine frühere Rückkehr möglich sein konnte. Mehrjährige Ausschlußfristen - meist zwei, drei oder fünf Jahre - von bis zu zehn Jahren wurden dagegen nur selten verhängt. Eine im Vergleich zur Dauer der Stadtverweisung sekundäre Auflage betraf die räumliche Definition des Gebietes, das der Betreffende während dieser Zeit nicht betreten sollte. In der Regel (68,2%) war dies beschränkt auf Stadt, Burgfried und die Herrschaften Stadtamhof und Donaustauf - solange diese an die Reichsstadt ver- Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit 403 pfändet waren. Darüber hinaus wurde mitunter das Gebiet von einer bis hin zu 40 Meilen um die Stadt als verboten erklärt, ohne daß sich hinter den verschiedenen Entfernungsgeboten ein System erkennen ließe. Da aber die Einhaltung solcher Auflagen in der Praxis sowieso kaum zu kontrollieren war, dürfte ihnen allenfalls symbolischer Charakter zugekommen sein. Was den Urfehdeeid für das friedenssichernde Interesse des Rates so praktikabel machte, war nicht zuletzt die Möglichkeit, seine ursprünglich allein auf Racheverzicht wegen der Gefangenschaft gerichteten Inhalte beliebig zu erweitern. Diese Zusatzbestimmungen standen immer in direktem Zusammenhang mit dem Vergehen, das sich einer hatte zuschulden kommen lassen. So wurde bei Obrigkeitsdelikten häufig ein Gehorsamsschwur gegenüber dem Rat, ähnlich dem der Neubürger gefordert. War eine sittlich-moralisch anstößige Lebensführung der Haftgrund gewesen, so konnte gefordert werden, daß der Übeltäter schwöre, daz ich zucht vnd ere uebe vnd mich vor vnendlichen sachn hute. Von zur Brutalität neigenden Ehemännern schließlich wurde verlangt, jeglicher Gewalt abzuschwören. Häufig wurde schon in der Urfehde das Strafmaß für den Fall der Zuwiderhandlung festgesetzt. 87 Ebenfalls als konkrete Reaktion auf Gewalttaten unterwarfen sich die Urfehder zuweilen Waffen- und Wirtshausverboten, der einzigen Form von Ehrenstrafen, die in den Urfehdebriefen überliefert ist. Von den zahlreichen Delinquenten, die am Pranger dem Spott der Bevölkerung preisgegeben wurden, nahm man keine Urfehdeurkunde, wohl auch, weil sie in der Regel nicht im Gefängnis gesessen hatten. Geldbußen waren im Rahmen dieser Quellengattung so gut wie bedeutungslos; die wenigen Fälle wurden fast ausschließlich nach Gewalt- oder Tötungsdelikten gefordert. Abschließend bleibt festzuhalten, daß die Urfehdebriefe eine Quellengattung darstellen, die - zumal, wenn sie in solchen Quantitäten überliefert sind, wie das in Regensburg der Fall ist - für die Geschichtswissenschaft nicht allein unter kriminalhistorischen Aspekten, sondern darüberhinaus auch als Grundlage für demographische oder prosopographische Untersuchungen von Interesse sein könnten. Weit über 10.000 Personen, von denen die wenigsten ihre Spuren in anderen Schriftstücken jener Zeit hinterlassen haben, zeichnen dabei das lebendige Bild einer städtischen Gemeinschaft im späten Mittelalter - über 70% der Dokumente stammen aus dem 15. Jahrhundert - ,von ihren sozialen Gruppen und Außenseitern, vom Konfliktpotential und den Mechanismen der Solidarität. Das breite Spektrum der vom Rat mit kurzer Gefangenschaft, die in der Regel als eine Art Untersuchungshaft zu charakterisieren ist, geahndeten Vergehen wird eindeutig bestimmt vom weiten Feld zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen, von Beleidigungen, Drohungen, Messerzücken und Gewalttätigkeiten bis hin zur Körperverletzung. Der Erhaltung des Friedens galt das Hauptaugenmerk ratsherrlicher Ordnungspolitik. Insgesamt gesehen vermitteln die Regensburger Urfehdebriefe ein Bild spätmittelalterlicher Verbrechensbekämpfung, das dem Klischee einer grausamen Strafjustiz in keinster Weise entspricht. Peinliche Strafen, die auf die Ausgrenzung und Vernichtung 87 So verpflichtete sich beispielsweise der Regensburger Bürger Vlreich Ro e rla e r mit seinem Urfehdeschwur, daz ich mit meiner elichen wirtinn freuntlichn vnd getreulichn leben sol vnd wil alz got di ee gesetzzt hat, daz ich ir ires hauzz noch irer hab nicht anwerden noch mit gewalt nicht nemen sol vnd daz ich sye nicht wunden noch stechen noch ander vnpillich vnzucht nicht anlegen sol noch wil, andernfalls sieht er sich mit einjähriger Haft im Gießübel, dem gefürchtetsten Gefängnis Regensburgs, bedroht (RRU 1483 vom 27. August 1365). Steffen Wernicke 404 derjenigen Delinquenten abzielten, die die soziale Balance innerhalb der Gemeinschaft gefährdeten, waren exemplarische Ausnahmen, die, meist theatralisch inszeniert, die Stellung des Rates als Schlichter unterstreichen sollten. Nicht Maßregelung mißliebigen Verhaltens und Gerechtigkeit im Einzelfall waren oberstes Gebot der Rechtsprechung, sondern Ausgleich und Friedenswahrung. Diesem Ziel diente eine wohlabgewogene Gnadenpraxis weitaus eher als unerbittliche Strenge. Dabei kam den Herrschaftsträgern natürlich die Vertragsnatur der Urfehde zugute, auch wenn sie »strafrechtlich paradox« 88 erscheint: Als Gegenleistung für die ihm widerfahrene Gnade beschwört der Entlassene bestimmte Auflagen und Verwillkürungen. Im Ringen um die Beilegung der unterschiedlichsten Konflikte war der Urfehdeeid den Beteiligten also gantz va e terlich allein zur pesserung vnd warnung gemaint. 88 Walter Asmus: Das Urfehdewesen zu Freiburg im Breisgau von 1275 bis 1520, Diss. jur., Freiburg im Breisgau 1923, 37. 405 Erika Münster-Schröer »Grave gegen Düren« Zaubereianklage und Schöffenurteil, Feme und Reichskammergericht im frühen 16. Jahrhundert »Es koste, was es wolle, Gerechtigkeit zu verschaffen« (Heinrich v. Kleist, Michael Kohlhaas) Im Jahr 1509 beschuldigte ein Waidfärber namens Johann Grave in einer Stadt im Herzogtum Jülich zwei Frauen der Zauberei. Aus diesem zunächst lokalen Konflikt erwuchsen mehrere Gerichtsverfahren an unterschiedlichen Instanzen, die sich über die Jahre 1509 bis 1513 hinzogen. Sie zeigen, auf welche Weise aus der Klage eines Einzelnen eine Reichsangelegenheit werden konnte. Traditionelle und moderne Gerichtsverfahren stehen hier - teilweise konkurrierend - nebeneinander und zeigen die Intensität von Justiznutzung insbesondere durch Johann Grave. Die für diese Zeit schon totgeglaubte Feme spielt in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Rolle, die bisher in der Forschung noch kaum berücksichtigt wurde. 1 Aber auch »rechtsrelevantes Verhalten«, das engstens mit alltäglichen Verhaltensweisen verbunden war, läßt sich während des Prozesses vor dem städtischen Gericht gut beobachten. Das Fallbeispiel zeigt sehr deutlich, daß unterschiedliche Vorstellungen von Recht nebeneinander existierten, die sich nicht ohne weiteres unter Aspekten wie »Rechtsnorm« und »Rechtspraxis« auflösen lassen. Im folgenden sollen zunächst die komplizierten Gerichtsverfahren, bedingt durch die verschiedensten Instanzen, die involviert waren, rekonstuiert werden. Im Anschluß daran sollen Landrecht, Schöffenurteil und Femegerichtsbarkeit näher beleuchtet werden. Der letzte Teil wird sich, unter Einbeziehung von Alltagsverhalten und »Gewohnheitsrecht«, mit weitergehenden Fragestellungen von Recht und seiner Durchsetzung befassen. 1. Die Gerichtsverfahren Der Ausgangsort der Gerichtsverfahren, die im folgenden näher untersucht werden sollen, ist Düren, um 1500 mit etwa 3.000 Einwohnern die größte Stadt im Herzogtum Jülich. Das auf den fruchtbaren Böden des Herzogtums geerntete Korn wurde hier gehandelt, Vieh- und Holzmärkte wurden abgehalten, und insbesondere das Tuchgewerbe hatte - die Stadt lag an der Rur, einem Nebenfluß der Maas - eine zentrale Bedeutung für die Wirtschaft der Stadt. Dürener Kaufleute besuchten seit der Mitte des 15. Jahrhunderts regelmäßig die Frankfurter Messe, und auf Messen im nahen Köln, aber auch 1 Vgl. R.Gimbel: Feme, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG )1, Sp. 1099 - 1103, insbes. Sp. 1103. Erika Münster-Schröer 406 im fernen Straßburg, wurden Dürener Tuche gehandelt. 2 Seit 1501 war die Stadt ein vielbesuchter Wallfahrtsort, da eine aus Mainz stammende Annen-Reliquie dort verehrt wurde und große Scharen von Menschen anzog. 3 Aus der Rechnung des Amtes Düren ersehen wir, daß 1509 eine Frau namens Agatha Nyffs wegen des Vorwurfs der Zauberei in der Stadt Düren gefangensaß. Sie war mehrere Male im Beisein von Dürener Schöffen durch den Scharfrichter gefoltert und schließlich, zusammen mit einer weiteren »mißtätigen Frau«, durch Verbrennung hingerichtet worden. 4 Über diesen Fall erfährt man zum einen mehr aus der Korrespondenz, die mit dem Landesherrn, dem Herzog von Jülich-Berg, Johann III., zwischen 1511 und 1513 geführt wurde, zum anderen aus Aktenstücken einer Klage der Stadt Düren beim Reichskammergericht aus den Jahren 1512/ 1513. 5 Ein Dürener Bürger, der Waidfärber Johann Grave, hatte die schon erwähnte Agatha Nyffs - die zum Tode verurteilt worden war - bezichtigt, ihn durch Zauberei schwer geschädigt zu haben. Aber nicht allein sie, sondern eine weitere Frau namens Lena Ferbers war seiner Ansicht nach ebenso verantwortlich und hätte deshalb genauso bestraft werden müssen. Die beiden »Zauberinnen« hätten ihm zunächst eine Krankheit zugefügt, die seinen Leib gequält habe, so legte er dar. Dies habe er dem Dürener Stadtrat geklagt, der aber habe ihm nicht glauben wollen. 6 Dann sei die Zauberei an seinem Brunnen offensichtlich geworden: das wasser in dem Bronnen wart gemacht weys als milch und schaumpt als byer, und wie mein nachbarren und mein meyd des wassers ungeferlich gemerken und auch kranck dar von wurden 7 . Nun erst habe der Stadtrat bei ihm 2 Vgl: Erich Keyser (Hg.): Rheinisches Städtebuch, Stuttgart 1956, 96. Vgl. auch Wilhelm Janssen: Kleve- Mark-Jülich-Berg-Ravensberg 1400 - 1600, in: Städtisches Museum Koekkoek, Kleve/ Stadt Düsseldorf (Hg.): Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg, Kleve 1984, 17 - 40, bes. 18 - 28. 3 Vgl. Otto R. Redlich: Zur Geschichte der St. Annen-Reliquie in Düren, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 18 (1896), 319 - 336. 4 Vgl. Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (=NWHStA), Jülich-Berg III R, Düren 1508 - 1509, Bl. 267a - 268b. Eine weitere Frau war Tage zuvor befragt worden, die der Zauberei verdächtig war, aber über sie erging offensichtlich kein Urteil. 5 Johann III. war 1521 auch Herzog von Kleve geworden. In diesem Jahr wurde die Vereinigung Kleve- Marks mit Jülich-Berg-Ravensberg vollzogen. Zu den Quellen: Diese Aktenstücke sind zum einen unter dem Bestand NWHStA, Jülich-Bergische Literalien DIII, Nr.4, in einem alten Repertorium verzeichnet. Ich konnte sie nur partiell als Mikrofiche unter Jülich-Berg I, 1016, 1292, wiederfinden und benutze die von Emil Pauls 1901 edierten Quellen: Emil Pauls: Ein Vehmgerichtliches Verfahren gegen die Stadt Düren aus Anlaß eines Hexenprozesses (1509 - 1513), in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 23 (1901), 367 - 402. Zum anderen kann zurückgegriffen werden auf NWHStA, RKG D 788/ 2003. Pauls stellte seiner Quellenedition, die teilweise die Überlieferungszusammenhänge auseinanderreißt, eine ausführliche Darlegung der Vorkommnisse voran, wobei ihn besonders der Zusammenhang »Hexenprozeß und Feme« anregte. Allerdings untersucht er diese Aspekte letztendlich nicht näher. Das Interesse für solche Zusammenhänge dürfte besonders auf eine Veröffentlichung des 19. Jahrhunderts zurückgehen: Oskar Wächter: Vehmgerichte und Hexenprozesse in Deutschland, Leipzig 1882, Reprint. Dieses eher populärwissenschaftliche Werk konstituiert auf kaum nachvollziehbare Weise Zusammenhänge zwischen Femegerichtsverfahren und Hexenprozessen, die eher als »Legendenbildung« gewertet werden müssen. Allerdings ist auffällig, daß wichtige Werke zu den Femegerichten im 19. Jahrhundert erschienen sind, wozu ihre Bewertung als »uralte Volksgerichte« bzw. die »Heimlichkeit« der Verfahren beigetragen haben mag. Sicherlich wäre es aufschlußreich, in diesem Kontext die Wirkungsgeschichte des »Käthchens von Heilbronn«, das Heinrich von Kleist 1806/ 07 abgeschlossen hatte, mit zu berücksichtigen, was hier jedoch nicht geleistet werden kann. Auffällig wiederum ist m. E. auch, daß zwei weitere Arbeiten, auf die weiter unten näher eingegangen wird, gerade in der Zeit zwischen 1940 und 1952 veröffentlicht wurden. 6 Vgl. NWHStA, RKG D 288/ 2003, Bl. 15a, 1512. »Grave gegen Düren« 407 anfragen lassen, wer dies gemacht haben könne, und er habe Agatha Nyffs und Lena Ferbers als die Schuldigen benannt. Lena Ferbers sei aber aus dem Gefängnis schon nach einer Nacht entlassen worden, weil sie Bürgen benennen konnte, und nur Agatha sei zum Tod verurteilt worden, obwohl auch Lena die Zaubereien begangen habe, die weder den heylgen Christen glawben syndt. 8 Deshalb habe er zweimal an den Herzog von Jülich und Berg geschrieben und geclagt (...) das man Lenen Schopffen-urteill wederfaren solle lassen. 9 Die Schöffen wandten sich dann zur hauptfart genn Aach, wonach Lena Ferber nochmals gefangengesetzt wurde, aber ohne peinliche Befragung bald darauf wieder freikam. 10 Dies war nach Ansicht Johann Graves sünder versüchünge und justicie geschehen, obwohl er angeboten habe, seinen voess by den iren zu setzen, also selbst mit ins Gefängnis zu gehen, wie es das Jülicher Landrecht vorgesehen hatte. 11 Aus einer Eingabe des Vaters von Lena Ferbers, Gerhard Börnen von Froitzheim, an den Landesherrn, in welcher er sich zur Bürgschaft bereiterklärte, erfährt man mehr von der Gegenpartei. Danach hatte die als Zauberin verbrannte Agatha Nyffs in Gegenwart der Lena Ferber in ihrem Gefängnis im Stadttor ausgesagt, diese habe ihr geraten, Johann Grave die Waidansätze, die er zum Färben brauchte, zu verderben. Agatha habe gerufen und geschrien, waiffen oever Lena und sachte, sy brecht sy elendlich in den dood. Lena Ferber habe ihr energisch widersprochen und voller Zorn Agatha ins Gesicht geschlagen. Der Schultheiß, der ebenfalls anwesend war, habe Lena dies untersagt mit den Worten: Huere up, du en solts selver neyt richten. Für dieses Verhalten habe Lena eine Geldstrafe bezahlen müssen, und in der Angelegenheit des Zaubereivorwurfs, den Grave zu strafen verlangte, wurde von den Schöffen für Recht befunden, daß sie, die als geborene Dürenerin und als gut beleumdet bezeichnet wurde, die ganze Angelegenheit myt irem eyde erledichen, also einen Reinigungseid schwören mußte. 12 Grave mochte dieses Urteil aber noch immer nicht akzeptieren und äußerte ihr gegenüber, er wolt das myt recht darzu brengen, das sy auch verbrant solt werden, oder mynes leven sult mir gebrechen, worauf sie entgegnete: du haist niet zu geven noch in die buysse zu blaissen, dairumb kanstu das darzu nit brengen; des ich eyn ganze nachberschaft zu kontschaft haven mach. 13 7 Ebd. 8 Ebd., Bl. 17a. In der Eingabe an den Landesherrn, undatiert 1509 - 1511, argumentierte Grave etwas abweichend: Dort wurde die Zauberei direkt an dem vergifteten Brunnen offenbar, wie die Stadtknechte nach der gleich erfolgten Besichtigung feststellen konnten. Vgl. Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 382. Auf Einzelheiten des Zaubereivorwurfs kann ich hier nicht näher eingehen. Vgl. dazu Erika Münster-Schröer: Zauberei- und Hexenprozesse in den Herzogtümern Jülich und Berg, in: Marielies Saatkamp/ Dick Schlüter: Van Hexen un Düvelslüden. Über Hexen, Zauberei und Aberglauben im niederländisch-deutschen Grenzraum, Vreden/ Enschede/ Doentichen 1995, 49 - 62. 9 NWHStA, RKG D 288/ 2003, Bl. 16b. 10 Ebd., Bl. 16b. 11 Vgl ebd. und Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 384. In dieser Eingabe beschwerte sich Grave schon zum vierten Mal beim Landesherrn. Zum Landrecht, das erst 1537 systematisch schriftlich niedergelegt wurde, vgl.: Landrecht des Fürstentums Jülich, in: Theodor Joseph Lacomblet (Hg.): Archiv für die Geschichte des Niederrheins, Bd. 1, Düsseldorf 1831, 111 - 147. Auf das Stellen von Bürgen geht insbes. der Artikel I ein. Im Kommerrecht wird u.a. geregelt, wie mit Schädigungen, Schuldforderungen und Beschlagnahmungen zur Wiedergutmachung umgegangen werden soll. 12 Vgl. Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 396, 384 und NWHStA, RKG D 788/ 2003, Bl. 16a. Ein detaillierter zeitlicher Ablauf ist aufgrund der lückenhaften Datierung nur sehr schwer zu rekonsturieren. Die Auseinandersetzungen haben sich über etwa zwei Jahre, 1510 bis 1512, erstreckt. 13 Ebd. Erika Münster-Schröer 408 Weil Grave dieses Urteil als nicht akzeptabel empfand, rief er wegen Rechtsverweigerung das Femegericht in Arnsberg an. Er begründete dies damit, daß die Stadt Düren es nicht gestatte, am kaiserlichen Kammergericht gegen ihre Urteile zu appellieren. 14 Seine große Not und der Schaden, der ihm durch die Zauberei der Lena Ferbers entstanden sei, habe ihn deshalb dazu gezwungen, des keyserlichen heymlichen rechten meins gnedigsten herren, herren Phillipsen, erzbischoves zu Colen, als stathelter und verweser der freyen und heymligen gericht der freyen stule, mich meines rechts und gerechtikeyt zu erholen. 15 Der Arnsberger Freigraf Gerart Struckelmann habe darauf Schultheiß und Schöffen aus Düren vorgeladen, die dieser Ladung aber offensichtlich nicht folgten. Er verurteilte die Stadt Düren in Abwesenheit zu einer Strafe von 1.200 Gulden, zur Erstattung von Unkosten und Schadensersatz an Grave von 400 Gulden, und verhängte die heimliche Acht über die Stadt, also über Schultheiß, Schöffen und alle Einwohner. 16 Die Stadt Düren klagte gegen dieses Urteil vor dem Reichskammergericht, das im August 1512 gegen Johann Grave das Mandat erließ, bei einer Strafe von 30 Goldmark, das ir auf obgemelt westfelisch untuglich, mutwillig (...) process, mandat oder ersuchung (...) mit angreifen, arrestirung, verpot, beschedigung, beleydung oder anderem nachteyl gegen der genanten von theuren oder der iren leyb, habe und guet nicht furnempt (...) und unsere und des reichs ungnade, straf und buess zu vermeyden, daran thut ihr unserer erenstlich meynung. 17 Aus diesem Schriftstück geht außerdem hervor, daß der Kölner Erzbischof als »Oberherr« der heimlichen Gerichte den Freigrafen Struckelmann hatte vorladen lassen und seine Handlung und das Urteil für nichtig und untauglich erklärt hatte. 18 Dem war vorausgegegangen, daß die Stadt Düren sich auf dem Kölner Reichstag im August 1512 über den Freigrafen beschwert hatte. 14 Unklar ist, auf welche Bestimmung hier zurückgegriffen wird. Um 1500 ist im Herzogtum Jülich verstärkt zu beobachten, daß Landesherr und Stände daran interessiert sind, das »ius de non evocando et de non appellando« durchzusetzen. Dies richtete sich generell gegen auswärtige Gerichte wie die Femegerichte, das kaiserliche Gericht in Rottweil oder auch das Reichskammergericht. Hierzu diente auch das fortwährende Beharren auf Landrecht und Schöffenurteil, womit schon die geistliche Rechtsprechung recht erfolgreich zurückgedrängt werden konnte. Der Jülicher Landtag von 1518 erbat eine Regelung, die die Appellation am Reichskammergericht betraf. Darin heißt es: »(...) mit dem camergericht ind applacien, nemlich, wane overmitz rede ind heuftgericht zu Gulge urdel gewist ist, dann appelliert dat wederteil ind blift so sitzen sonder anrichtonge des gegenurteils. Bidden rede ind heuftgericht, dat men doch ein foeglich insien haven wille, dat de enkelen in ire alderen stat stain moegen, so men bedunkt, so damit ein lange zit her gehalden ist, geinen gang haven mach umb der appellacien wille«. Im Jahr 1520 erließ der Landesherr das gewünschte Privileg, in welchem er den Gerichten im Land die Entscheidung in diesem wiederkehrenden erbrechtlichen Problem, dem »Repräsentationsrecht der Enkel« zubilligte, das zuvor beim Reichskammergericht gelegen hatte. War bis zu diesem Zeitpunkt von Jülicher Untertanen an das Reichskammergericht appelliert worden, so konnte letzteres das Urteil aufheben, wenn es nach anderen Gesetzen als denen für das Reichskammergericht geltenden gefällt worden war (also nach Jülicher Landrecht und Schöffenurteil).In dem Privileg war die Übereinstimmung des Repäsentationsrechts mit dem göttlichen und dem natürlichen Recht hervorgehoben worden. Vgl. Georg v. Below: Landtagsakten von Jülich-Berg 1400 - 1600, Düsseldorf 1895, 110 - 123, bes. 111f. und 196 (hier das Zitat). Bisher liegen hierzu keine neueren Arbeiten vor. Zum Rechtswesen in Territorien kann vergleichend hinzugezogen werden: Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln-Weimar-Wien 1997. Der Stadt Düren war 1474 ein Femeprivileg verliehen worden. Vgl. Theodor Lindner: Die Veme, Paderborn 1896, 524 - 525 (auch als Reprint, neu eingeleitet von Wilhelm Janssen, Paderborn 1989). 15 NWHStA, RKG D 788/ 2003, Bl. 17a. 16 Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 385, NWHStA, RKG D 788/ 2003, Bl. 10a. »Grave gegen Düren« 409 Offensichtlich hatte Grave sich inzwischen entschieden, das kaiserliche Hofgericht in Rottweil einzuschalten, denn dorthin wurde ein Geleitbrief übersandt, der auf Veranlassung des Landesherrn, Herzog Johann III., durch Schultheiß, Schöffen und Rat der Stadt Düren ausgestellt worden war. Daraus geht hervor, daß Grave nicht mehr in Düren wohnte, sondern sich inzwischen in Köln aufhielt. Düren wollte aber offensichtlich nicht vor dieses Gericht ziehen, sondern ließ Grave mitteilen, daß man nur vor unparteiischen Richtern mit ihm verhandeln wolle, womit vermutlich die territorialen Gerichtsinstanzen gemeint sind. 19 In einer Eingabe, die Grave an den Landesherrn, Herzog Johann III., machte, wird auch ersichtlich, daß er selbst unter dieser Konfliktsituation zu leiden hatte. Seine Hausfrau hätten die Dürener aus seinem Hause vertrieben, und durch weitere unwahre Angaben der Dürener habe er in Köln 22 Wochen im Gefängnis gesessen. Schon zuvor habe er das herzogliche Gebiet verlassen müssen, was ihn viel Geld gekostet habe. 20 Johann Grave hatte sich dann an den Erzbischof von Mainz gewandt und von diesem eine Schrift erlangt, kraft des Femegerichtsurteils die Dürener mit Schadenersatz belegen zu dürfen. Außerdem hatte er an Kaiser Maximilian eine Bittschrift in seiner Angelegenheit gerichtet. Darauf hab ich der von thewren neun ir leyp, habe und guteren mit kommer nider thun legen zu Meyntz umb meins erlangten keyserlichen rechten zu bekommen. 21 Kaiser Maximilian wandte sich nach diesem Vorfall an den Kurfürsten von Mainz: Er sei der Meinung, daß Grave zur Durchführung seines Rechts verholfen werden müsse, riet dem Kurfürsten jedoch, sich erst in dieser Angelegenheit genauer zu erkundigen, damit wie sich geburt recht ergein könne und sich kein teyl wider die billikeyt besweren könne. 22 Durch das Urteil des Reichskammergerichts war dieses Verhalten Johann Graves nicht gedeckt, sondern es war eindeutig rechtswidrig. Er konnte sich jedoch darauf berufen, daß ihm nichts anderes bekannt war als das anders lautende Femegerichtsurteil. Es stellte sich nämlich als ein Problem heraus, wie Johann Grave das Mandat des Reichskammergerichts übergeben werden konnte. Erst im Herbst des Jahres 1512 konnte es ihm offensichtlich zugestellt werden - er wurde im Dom von Mainz aufgegriffen, und im Beisein von drei Zeugen wurde es ihm überreicht. 23 Johann Grave legte gegen das Mandat im März 1513 Beschwerde ein, indem er Schultheiß, Schöffen, Bürgermeister und Rat von Düren des auffsetzigen betruges bezichtigte und betonte, daß er im heylgen reich kein Recht bekomme, obwohl er in grundlich verderben gestelt 17 NWHStA, RKG D 788/ 2003, Bl. 10b. Zur Tätigkeit des Reichskammergerichts siehe u.a. die Arbeit von Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, Bde. 1 und 2, Köln 1985. Zu einzelnen Prozessen vgl. Bernhard Diestelkamp: Rechtsfälle aus dem alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995. Die neue und wichtigste Kompetenz gegenüber dem königlich/ kaiserlichen Kammergericht war die Zuständigkeit für Landfriedensbruchklagen. In diesen Fällen konnte jedermann sofort beim Reichskammergericht gegen den Friedensbrecher klagen. Allerdings hatte das Gericht keine direkten Sanktionsmöglichkeiten, es konnte als Strafen lediglich die Acht und die Aberacht aussprechen. Ebd., 27. 18 Ebd., Bl. 10a., Bl. 13bff. 19 Vgl. Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 396 - 398. 20 Ebd., 397. 21 Ebd. 22 NWHStA, RKG D 788/ 2003, Bl. 20a. 23 NWHStA, RKG D 788/ 2003, Bl. 8b. Als Zeugen werden genannt: Johann von Oesterreich, Friedrich Kuch und Peter Binge. Erika Münster-Schröer 410 sei. 24 Die Stadt Düren bevollmächtigte daraufhin den Doktor der Rechte Peter Kirsser und den Licentiaten Christoph Hietzhofer, ihre Sache vor dem Reichskammergericht oder jedem anderen Gericht zu vertreten. Das Reichskammergericht entschied, Grave habe wider des hailigen romischen reichs reformation und derselwiger ordenong in die westuelischen haimliche gerichten hait erfordert zosampt anderen seinen unbillichen fornemen gehandelt, und er wird aufgefordert, in Worms vor dem Reichskammergericht oder einem anderen Gericht zu erscheinen, damit eine Verhandlung stattfinden könne. 25 Von März bis Mai 1513 gab es dann mehrere Verhandlungen vor dem Reichskammergericht in Worms, wobei die Stadt Düren durch die bereits genannten Juristen und Johann Grave durch Doktor Reinhardt Thiel vertreten wurde. Grave selbst erschien nicht; dazu war er jedoch aufgefordert worden, um zu bekunden, daß er das Mandat des Reichskammergerichts akzeptieren werde, daß das ergangene Femegerichtsurteil ungültig sei. Weil drei Gerichtstage vergingen, ohne daß Grave erschien, wurde am 30. Mai 1513 ein Contumaz-Urteil gefällt. Es wurde befunden, daß Grave kein beweysung thet, das er dem mandat gelebt und volg gethan hett, ine in die acht ercleren. 26 Zwar war Johann Grave nicht vor dem Reichskammergericht erschienen, für das Frühjahr 1513 liegen jedoch etliche Nachrichten vor, die deutlich machen, daß Grave während des Prozesses keine Ruhe gab und weiterhin versuchte, Dürener Bürger zu schädigen. Sein Ausgangspunkt war dabei offensichtlich die Stadt Köln, in welcher er sich zu dieser Zeit noch immer aufhielt. Im Februar 1513 beschwerten sich Bürgermeister und Rat der Stadt Düren bei ihrem Landesherrn, daß Grave in Köln ihren Ruf schädige, indem er vast vyl verwender ind gecklichgen drauwe wort up uns luyden laisse und bitten ihn, eynem eirsamen raide van Coilne darumb doin schriven. 27 Grave berufe sich dabei auf eine Frauensperson, mit Namen Leynhe Verffers, ingesessen burgersche alhie zo Duyren as vur eynen tzeufersche, der halfen wir zo groisschen mircklichen costen ind schaden komen synt, und sie bitten den Landesherrn, diese Frau aufzugreifen, damit Johann Grave weiter keinen Grund für seine schmelichge worde habe. 28 Und auch der Überfall auf die Dürener Kaufleute in Mainz auf dem Weg zur Herbstmesse 1512 nach Frankfurt hinterließ seine Wirkung - man fürchtete, noch mehr bei den Handelsgeschäften geschädigt zu werden. Diese Furcht wurde weiter genährt, weil Grave in Köln nicht nur Dürener Bürger beleidigt hatte, sondern weil er mehrfach mitburger angetast ind gegriffen und mehrfach sogar mit seinen von Mainz her bekannten Gesellen ihre Pferde beschlagnahmt habe. 29 Deshalb hatte sich die Stadt Düren auch beim Rat der Stadt Köln beschwert und darauf verwiesen, daß Düren Kölner Bürger ungern genauso behandeln würde. Die Stadt stünde gegen Grave in einem Prozeß beim Reichskammergericht, und man solle vor weiteren Handlungen dessen Urteil abwarten. Gerhard von dem Wasservass, Kölner Bürgermeister, antwortete den Dürenern, man habe dem Kölner Stadtrat ihr Schreiben noch nicht vorgelegt, denn man wünsche zuvor eine Änderung der Stelle, 24 NWHStA, RKG D 788/ 2003, Bl. 5bff. 25 Ebd. In den ersten Jahren seiner Existenz hatte das Gericht verschiedene Sitze, so z.B. auch Frankfurt, Nürnberg, Regensburg, Augsburg, Nürnberg, Speyer, Esslingen und auch noch mehrmals Worms. Vgl. Diestelkamp: Rechtsfälle (wie Anm. 17), 16. 26 NWHStA, RKG D 788/ 2003, Bl. 1b. »(...) ine in die acht erkleren in contumac. cum refusione expensarum.« 27 Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 391. 28 Ebd. 29 Vgl. Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 391 - 394, 400. »Grave gegen Düren« 411 in welcher von dem Dürener Prozeß beim Reichskammergericht die Rede sei. 30 An den Landesherrn wandten sich Bürgermeister und Rat der Stadt Köln im Mai 1513 und betonten, daß sie das Verhalten Graves gegen Dürener Bürger nicht gedeckt hätten, sondern sogar darunter zu leiden gehabt hätten, daß er eine zeitlang in Köln inhaftiert gewesen sei, weil sie durch manchfeldig anstrengungen des gnanten Johanns frunde as graven und anderen edelluden inen up synen gewoenlichen oirfeden zo unserem unwillen und schaiden qwyt gegeven haben. Sie betonen, daß die fruntliche eynicheit und gunstige naberschaft zo allen deylen unterhalden moege blyven. 31 Danach bricht die Überlieferung ab: Vielleicht hat die Verhängung der Acht über Johann Grave durch das Reichskammergericht seine Wirkung getan. Auf das Urteil des Femegerichts konnte er sich jedenfalls nicht länger stützen, und da alle Rechtsmittel ausgeschöpft waren, war er selbst in seinem Leben nun offensichtlich gefährdet. Johann Grave muß auch vor der letzten Phase gute Rechtskenntnisse gehabt haben, denn die Gerichtsverfahren verraten Vertrautheit mit noch rechtlich möglichen, teilweise miteinander konkurrierenden Normen und Instanzen. Ganz offensichtlich wurde auch einkalkuliert, wie schwierig die Zustellung einer Ladung vor ein auswärtiges Gericht sein konnte, so daß die betroffenen Parteien erfolgreich Möglichkeiten finden konnten, dieser zu entgehen. 32 Im folgenden soll insbesondere der Frage nach Funktion und Bedeutung der Femegerichte sowie ihrer Stellung zu anderen Gerichten in der Spätphase ihrer Existenz nachgegegangen werden, wobei systematische neuere Untersuchungen hierzu noch ausstehen. 2. Landrecht und Schöffenurteil versus Femegerichtsbarkeit Johann Grave führte seine Klage zunächst vor dem Dürener Schöffengericht, das auch die Blutgerichtsbarkeit besaß. Den Vorsitz führte, wie traditionell in den Stadt- und Landgerichten des Herzogtums, ein fürstlicher Beamter, der Vogt oder Schultheiß. Dieser ermittelte auch bei gravierenden Vorwürfen und war bei der peinlichen Befragung anwesend. 33 Die Rechtsprechung, geprägt durch Landrecht und Schöffenurteil, war um 1500 noch immer in diesem tradierten gemeindlichen Kontext verankert, wenn auch den landesherrlichen Beamten eine immer stärkere Bedeutung zukam. Die Rechtsgrundlage war das jülichsche Landrecht, das 1537 im Vorfeld einer Rechtsre- 30 Ebd., 399. 31 Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 399 - 400. 32 Vgl. Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd 2, Hamburg 1973, 264 - 265. Dort ist der Bericht eines Boten des Reichskammergerichts abgedruckt, der nur unter großen Schwierigkeiten seine Ladung zustellen kann. Weitere Beispiele finden sich bei: Ludwig Veit: Nürnberg und die Feme. Der Kampf einer Reichsstadt gegen den Jurisdiktionsanspruch der Westfälischen Gerichte, Dissertation (masch.), Erlangen 1952, 138 - 173. 33 Das Dürener Stadtgericht fungierte gleichzeitig als Oberhof für einen großen Umkreis, zu welchem zu diesem Zeitpunkt die Orte Lendersdorf, Derichsweiler, Arnoldsweiler und Merzenich gehörten.Der Rat setzte sich je zur Hälfte aus Patriziern und zur Hälfte aus den Geschworenen des Wollenamtes und den Zunftmeistern zusammen. Vgl. Keyser: Städtebuch, (wie Anm. 2), 99f. Zur Rolle der Amtleute vgl. Rainer Walz: Stände und frühmoderner Staat. Die Landstände von Jülich-Berg im 16. und 17. Jahrhundert, Neustadt a.d.Aisch 1982 (=Bergische Forschungen Bd. 17), 165 - 173. Die Berufung auf »alte Rechtsvorstellungen« spielte auch im 17. und 18. Jahrhundert noch eine Rolle. Vgl. Jörg Engelbrecht: Das Herzogtum Berg im Zeitalter der Französischen Revolution. Modernisierungsprozesse zwischen bayrischem und französischem Modell, Paderborn-München-Wien-Zürich 1996, 48 - 75. Erika Münster-Schröer 412 form, die u.a. die Zuständigkeit von Reichskammergericht und den Gerichten des Landes näher regeln sollte, erstmals systematisch schriftlich niedergelegt wurde, wobei zahlreiche Erlasse des 15. und 16. Jahrhunderts vorausgingen, die immer wieder Landrecht und Schöffenurteil bestätigt hatten.Allerdings sind auch Versuche des Landesherrn zu erkennen, darin die Position seiner Beamten zu stärken. 34 Daß Johann Grave im Falle seiner Schädigung zunächst das Dürener Gericht hinzuzog, entsprach also voll dem üblichen Procedere, denn es war auch für Anklagen von Zauberei oder Hexerei zunächst die richtige Instanz. Diese Delikte wurden im frühen 16. Jahrhundert in Jülich nicht als »crimen exceptum« behandelt. Auch in diesem Fall wurde zunächst ein Schöffenurteil gefällt, das dann lediglich, wenn es sich um ein Todesurteil handelte, zur Bestätigung beim Landesherrn eingereicht wurde. 35 So erklärt sich auch, daß Grave eine Eingabe beim Landesherrn machen ließ - er hatte wohl Helfer und »Hintermänner« an seiner Seite, wie auch der Fortgang des Verfahrens zeigt - in welcher er sich über die Nichtverurteilung der Lena Ferbers wegen Zauberei beschwerte. Vermutlich spielten innerstädtische Konflikte bei diesem Verfahren eine Rolle, und Lena hatte eine einflußreiche Partei, vermutlich sogar aus Schöffen- und Ratskreisen, hinter sich, da sie als gut beleumundet galt. (Der Bürgermeister äußert sich für sie). Möglicherweise spielten sogar Streitigkeiten innerhalb der Färberzunft eine Rolle, da Lena auch den Namen »Ferber« trägt und Berufs- und Namensbezeichungen zu dieser Zeit manchmal noch identisch waren. Daß die Schöffen zu weiteren Erkundigungen an den Oberhof nach Aachen zogen, war insofern folgerichtig, weil sie dem seit dem hohen Mittelalter bestehenden Rechtszug folgten. Das Hauptgericht Jülich entwickelte sich nach 1500 erst allmählich zu einer Appellationsinstanz, zuvor waren jedoch bereits immer wieder Klagen laut geworden, die Untertanen sollten sich nicht sofort an das Reichskammergericht wenden, sondern zunächst das »heufft von Gulich« anrufen. 36 Im Rahmen der Gerichtserkundigungen der Jahre 1554/ 55 im Herzogtum Jülich wurde von den Schöffen immer wieder darum gebeten, die appellation besser zu ercleren. 37 In diesem Zusammenhang wurde von den Beamten des Landesherrn ausgeführt, daß die einzelnen Gerichte (Untergerichte werden sie hier genannt) in den Ämtern das Haupt- 34 Vgl. J.J. Scotti: Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in den ehemaligen Herzogtümern Jülich, Cleve und Berg und in dem vormaligen Großherzogtum Berg ergangen sind. Vom Jahre 1475 bis zu der am 15. April 1815 eingetretenen Königlich Preuß. Landes-Regierung, Bde. 1 - 3, Bd. 1, Düsseldorf 1821; Lacomblet: Landrecht des Fürstentums Jülich (wie Anm. 11). Die 1537 eingeleitete »Reformation des Rechts« kam bald darauf mit dem Ausbruch des geldrischen Erbfolgestreites zum Erliegen, der 1543 durch einen Sieg Kaiser Kals V. endete. Erst die große Gerichtserkundigung im Jahr 1555 knüpfte wieder an diese Bestrebungen an. 35 Ursprünglich waren die Zaubereivergehen in Jülich in den Bereich der Sendgerichtsbarkeit gefallen und entsprechend milde mit Geldbußen geahndet worden. Nach 1500 wurden sie jedoch generell vor den weltlichen Schöffenstühlen verhandelt. Vgl. Wilhelm Janssen: Landesherrschaft und Kirche am Niederrhein im späten Mittelalter, in: Johann F.G. Goeters/ Jutta Prieur (Hg.): Der Niederrhein zwischen Mittelalter und Neuzeit, Wesel 1986, 9 - 42, 13. 36 Vgl. z.B. NWHStA Jülich-Berg 3 R Grevenbroich 2, Bl. 172a, 266a; sowie v. Below: Landtagsakten, 110 - 128. Über das Hauptgericht Jülich gibt es bisher nur eine Untersuchung, die lediglich Aspekte der Rechtsnorm berücksichtigt. Vgl. Peter Robertz: Die Strafrechtspflege am Haupt- und Kriminalgericht Jülich von der Karolina bis zur Aufklärung (1540 - 1744), in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 61 (1941), 1 - 63 und 62 (1949), 2 - 44. 37 v. Below: Landtagsakten (wie Anmerk. 35), 711f.; Heinrich Eschbach: Die Erkundigung über die Gerichtsverfassung im Herzogtum Jülich von 1554 und 1555, in: Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 17 (1902), 116 - 131, 120f. »Grave gegen Düren« 413 gericht Jülich konsultieren und dort auch die Appellation erfolgen sollte, in der zweiten Instanz solle an den Landesherrn appelliert werden und erst dann an das Reichskammergericht. 38 Dieses Verfahren versuchte man wohl schon früher durchzusetzen, woraus sich möglicherweise die Rechtfertigung Johann Graves dafür, ein Femegericht anzurufen, erklären läßt - die Stadt Düren gestatte es nicht, am Reichskammergericht gegen ihre Urteile zu appellieren, war von seiner Seite gegenüber dem Reichskammergericht behauptet worden. Hieraus wird auch ersichtlich, wie schwer für die Schöffen sich neu etablierende Instanzen und prozeßrechtliche Regularien, die auf römisch-rechtlichen Vorstellungen basierten, zu verstehen waren, und dies galt sicherlich für die Untertanen nicht minder. 39 In Jülich-Berg waren die Femegerichte generell in viel geringerem Ausmaße angerufen worden als in süd- und westdeutschen Städten und Territorien 40 . Der Grund ist wohl darin zu suchen, daß Städte und Stände seit dem 15. Jahrhundert auf den Landtagen immer wieder verlangt hatten, in der Rechtsprechung bei Landrecht und Schöffenurteil zu bleiben und diese Forderung von Seiten des Landesherrn und seiner Beamten recht erfolgreich umgesetzt wurde. Im Jahr 1474 hatte die Stadt Düren ein Femeprivileg erlangt, die Stadt Köln erstmals bereits 1415. 41 Allerdings war die Durchsetzung eher schwierig, denn in der Regel wurde das Privileg außer Kraft gesetzt, wenn Recht verweigert wurde. So war es auch in dem Dürener Femeprivileg, in welchem festgelegt wurde, daß Bürgermeister und Rat sowie Bürger und Einwohner nicht vor das Femegericht, sondern gegebenfalls nach altem Recht (da sy von allter zu recht hingehoren) vor den Oberhof nach Aachen ziehen sollten, außer im Falle der Rechtsverweigerung: es wurde dann yemand das recht an der obgeschriben ennde einem versagt, das warlich beibracht und beweist mag werde. 42 38 Ebd. A. Laufs: Reichskammergericht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 4, Sp. 655 - 662, insbes. 659, stellt heraus, daß das Reichskammergericht als Appellationsinstanz für die Anfechtung von Urteilen territorialer und reichsstädtischer Obergerichte in Zivilsachen fungierte; zudem als Kontrollinstanz über Klagen wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung durch Untergerichte sowie Nichtigkeitsbeschwerden gegen Urteile territorialer oder städtischer Gerichte. Wegen Bruchs des Reichslandfriedens war das Reichskammergericht erstinstanzlich zuständig. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts wurden zahlreiche Mandatsprozesse geführt. Zugespitzte Konfliktsituationen, ohne Rücksicht darauf, ob sie vor das Gericht gehörten, wurden in diesem Zusammenhang verhandelt. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren besonders viele erstinstanzliche Prozesse beim Reichskammergericht anhängig. Zu Mandatsprozessen vgl. Ralf-Peter Fuchs: Hexereisachen vor dem Reichskammergericht. Einige Prozesse westfälischer Herkunft, in: Saatkamp/ Schlüter: Van Hexen (wie Anm. 8), 87 - 110, 101ff. Für das 17. und 18. Jahrhundert ist für Konflikte zwischen Untertanen, Landesherrn und Reichskammergericht aufschlußreich: Helmut Gabel: Widerstand und Kooperation. Studien zur politischen Kultur rheinischer und maasländischer Kleinterritorien (1648 - 1794), Tübingen 1996. 39 v. Below: Landtagsakten (wie Anmerk. 35), 111f. 40 Neuere Forschungen zur Femegerichtsbarkeit, insbesondere zur Rechtspraxis, stehen noch aus. Hier kann nur kurz auf einige wichtige Aspekte eingegangen werden. Vgl. Lindner: Veme (wie Anm. 14), 56 - 136. Als Beispiel läßt sich Nürnberg heranziehen, das bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts allein 157 Femklagen zu verzeichnen hatte. Vgl. Veit: Nürnberg (wie Anm. 32); 10f; Carl Wilhelm Scherer: Die westfälischen Femgerichte und die Eidgenossenschaft, Aarau 1941, 157 - 159. 41 Lindner: Veme (wie Anm. 14), 524. Während sich die Untersuchung von Lindner weitgehend mit Verfahrens- und Verfassungsfragen befaßt, geht die Untersuchung von Veit: Nürnberg (wie Anm. 32) systematisch den Gründen und Formen der Abwehr am Beispiel Nürnbergs nach. Auch Scherer: Femgerichte (wie Anm. 40) untersucht dies in Ansätzen. 42 Walter Kaemmerer (Bearb.): Urkundenbuch der Stadt Düren 748 - 1500, Bde. 1a/ b , 2, Düren 1974, hier: Bd. 1a, 578 - 580. Erika Münster-Schröer 414 So konnte von Seiten des Landesherrn oder der Städte nicht verhindert werden, daß einzelne Untertanen immer wieder vor den Femegerichten Recht suchten und dabei recht erfolgreich sein konnten. Die Chancen für eine Durchsetzung der eigenen Rechtsposition waren wohl auch deshalb relativ günstig, weil die gegnerischen Parteien der Ladung oftmals nicht folgten. Die althergebrachten Rechtsvorstellungen im Lande konkurrierten und kollidierten mit neueren, aus römisch-rechtlich beeinflußten Prozeßgrundsätzen, wie sie beispielsweise im Kameralprozeß des Reichskammergerichts sichtbar wurden. Alle daraus resultierenden Möglichkeiten für ein Klageverfahren wurden ausgeschöpft, wie das Fallbeispiel zeigt, und daraus läßt sich wohl auch eine Häufung solcher Prozesse gegen Ende des 15. Jahrhunderts hin ausmachen, wobei systematische Untersuchungen dazu noch nicht vorliegen. 43 Was hatte eigentlich die Attraktivität der Femegerichte ausgemacht, und in welchen Fällen wurden sie hinzugezogen? Diese Aspekte sollen im folgenden näher beleuchtet werden. Seit 1408 ist unter normativen Aspekten recht zuverlässig überliefert, für welche Delikte diese Gerichte zuständig sein sollten. Dazu gehörten schwerer Diebstahl, Mord und Mordbrand, auch Vergehen gegen die Ehre, Notzucht und Gewalt gegen Wöchnerinnen, Schändung von Kirchen und Friedhöfen, Meineid, Verrat und Fälschung. 44 In der Arnsberger Reformation von 1437 kam als wichtiger Punkt der »Abfall vom Christenglauben« hinzu - man denke hier an die Beschuldigung Graves gegenüber Lena Ferbers. In dieser Zeit, so Lindner, sollen die Femegerichte ihre größte Bedeutung erlangt haben. 1490, auf dem großen Generalkapitel in Arnsberg, wurde dieser Punkt nochmals aufgegriffen. Dort wurde festgelegt, daß jemand in die Acht fallen solle, der der Ketzerei verdächtig sei oder vom Glauben abfalle, ferner, der zaubere oder hexe oder mit dem Bösen in einem Bündnis stehe. Entgegen der Rezeption im 19. Jahrhundert, das den Femegerichten eine nicht unbedeutende Rolle bei der Führung von Hexenprozessen nachsagte, hält schon Lindner dagegen, daß dies nicht zugetroffen haben kann. Gerade im Arnsberger Kapitel von 1490 wurde ein Fall wegen Ketzerei behandelt, der allerdings von Seiten des Gerichts abgewiesen wurde. 45 Daß die Rechtspraxis 43 Diese Fragestellung ist bisher in der Forschung noch ungeklärt. Wenn auch die Quellenlage schwierig ist, mögen immerhin für die ehemaligen Herzogtümer Jülich, Berg und Kleve - und andere Territorien - doch noch Überlieferungen vorhanden sein. Vgl. z.B. Otto R. Redlich u.a.: Geschichte der Stadt Ratingen von den Anfängen bis 1815, Ratingen 1926, 167f. Hier verklagte im Jahr 1493 ein Bürger einen anderen wegen Erbstreitigkeiten vor dem Freistuhl in Rheda. 1497 verklagte ein anderer wegen einer Schuldforderung das Ratinger Schöffengericht vor dem Reichskammergericht mit dem Ergebnis, daß Ratingen in die Reichsacht erhoben wurde. 44 Lindner: Veme (wie Anm. 14), 472. Diese Angaben wurden in den sog. Ruprechtschen Fragen überliefert, welche u. a. die Durchführung von Urteilen bzw. die Bedeutung von Freischöffen und Stuhlinhabern zum Gegenstand hatten. 45 Ebd, 475f. Allerdings dürfte es im frühen 16. Jahrhundert noch vereinzelte Prozesse gegeben haben, die Ausdruck der Wandlung der Femegerichte waren. Das behandelte Fallbeispiel, das von einem Zauberereivorwurf ausgeht, ist möglicherweise kein Einzelfall. 1523 wurden beispielsweise vor dem Freistuhl im sauerländischen Medebach zwei Frauen als »toversche« für schuldig befunden und verbrannt. Das erste Blatt dieser Überlieferung trägt die Überschrift »Winterbergisch Halßgericht«. Die Verhörprotokolle sind zudem von einem Gorichter unterschrieben, was auf den Wandel der Funktion der noch verbleibenden Femegerichte hinweist. Die Prozeßakten sind veröffentlicht in Heimat- und Geschichtsverein Winterberg (Hg.): »De Fitterkiste«. Geschichtliches aus Winterberg und seinen Dörfern 5, 1993, 20 - 40. Das Original befindet sich im Staatsarchiv Münster, Msc.VII. 5909,1. Vgl. auch Wolfgang Behringer (Hg): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, München 1988, 78 und 101 (Dokument 57). »Grave gegen Düren« 415 anders aussah, als die oben skizzierten normativen Vorstellungen vermuten lassen, zeigt auch die Untersuchung Veits, der alle 268 zwischen 1427 und 1478 von Nürnberg aus geführten Femegerichtsprozesse nach Delikten aufschlüsseln konnte. Die weitaus überwiegende Zahl betraf Geldschulden, gefolgt von Abforderungen. In weitaus geringerer Zahl kamen Diebstähle, Erbstreitigkeiten, Rechtsverweigerung und Beleidigungsklagen vor sowie Wegelagerei, Brandschatzung (während des Markgrafenkrieges 1450), Meineid und Hausfriedensbruch. Um eine Anschuldigung wegen Mordes ging es explizit ein einziges Mal im Jahr 1463, auch Vergewaltigung und Brandstiftung kamen lediglich je einmal vor. 46 Dies deutet darauf hin, daß die Aktivitäten der Femegerichte nicht primär in der Kriminalgerichtsbarkeit zu suchen sind, sondern eher in Rechtsstreitigkeiten, die wir heute als zivilrechtlich bezeichnen würden. Ihr Kompetenzanspruch - daß sie nämlich dazu tendierten, alle Arten von Klagen anzunehmen - machte ursprünglich - im Gegensatz zu den Verfahren gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts - eine individuelle Nutzung auch ohne juristischen Beistand möglich. Außerdem bot sich so die Möglichkeit, einen Rechtsstreit aus dem Geflecht von Einflußnahmen und Konfliktkonstellationen städtischer Gruppen herauszulösen, aus welchen sich üblicherweise die Schöffen rekrutierten. Dies erklärt, warum auffallend häufig Städte vor den Femegerichten verklagt wurden, die deshalb möglichst ein Privileg zu erhalten suchten. Veits Untersuchung zeigt sehr genau, daß unter den Klägern alle Berufs- und Gesellschaftsschichten vertreten waren, und zwar beiderlei Geschlechts. Auch gegen den hohen Adel gingen die Femegerichte im 15. Jahrhundert vor. 47 Obwohl zahlreiche Femeprivilegien bestanden, war doch die Zuständigkeit bei Rechtsverweigerung im 15.Jahrhundert - und teilweise noch danach - auch auf »Reichsebene« anerkannt. Daß die Urteile der Femegerichte die Kläger oftmals zur Selbsthilfe selbst mit Waffengewalt ermunterten - das Beispiel Johann Graves zeigt es ja noch deutlich - kam möglicherweise den »Rechtsvorstellungen« der damaligen Menschen sehr entgegen, weil es die tradierten - das alte Recht - waren. Auf diese Art konnte auf »legitime« Weise das auf dem Reichslandfrieden von 1495 erlassene Fehdeverbot umgangen werden, denn wenn ein Rechtstitel eines Femegerichts wie im Fall Graves vorhanden war, so war sein Verhalten nicht ohne weiteres als einVergehen gegen bestehende Reichsgesetze zu bewerten, auch wenn es stets die Gefahr der Überschreitung der Grenze zum sträflichen Handeln barg. 48 Auch im Herzogtum Jülich wurde im übrigen das Friedensgebot nicht generell beachtet. Das Fehderecht wurde dort noch in den landständischen Privilegien von 1511 und 1542 zugestanden, allerdings nicht gegenüber dem Landesherrn und seinen Untertanen. 49 46 Veit: Nürnberg (wie Anm. 32), 178 - 200. Diese Übersicht über die einzelnen Prozesse, in welcher jeweils die Kontrahenten namentlich genannt sind sowie weitere Informationen zu Berufen etc. gegeben werden, ist außerordentlich wichtig, um Aufschlüsse über die Rechtspaxis der Femegerichte zu erhalten. Eine ähnliche Tendenz auch bei Scherer: Femgerichte (wie Anm. 40), 172 - 222. 47 Veit: Nürnberg (wie Anm. 32), 20 - 22. Vgl. auch Ranieri: Recht und Gesellschaft (wie Anm. 17), Bd. 1, 139ff. und 147ff. Hier wird dargelegt, in welchen Streitigkeiten das Reichskammergerichts gegen Ende des 16. Jahrhunderts überwiegend angerufen wird. Dabei zeigen sich klare Parallelen zu den Delikten, die vor die Femegerichte gelangten. 48 Noch 1512 versuchten die Stände, eine Aufhebung der Femegerichte durch Kaiser Maximilian durchzusetzen, was jedoch nicht gelang. 1521 gab Karl V. noch die Anweisung, in den Entwürfen zu einer Kammergerichtsordnung den Zuständigkeitsbereich der Feme genau zu umreißen. Vgl. Veit: Nürnberg (wie Anm. 32), 173 - 175, Scherer: Femgerichte (wie Anm. 40), 169f. Erika Münster-Schröer 416 Die Durchsetzbarkeit von Femegerichtsurteilen getaltete sich jedoch häufig als sehr schwierig. Große Entfernungen, Verfahren in der gleichen Sache vor mehreren Stühlen, auch Eigeninteressen der Stuhlherren, seien sie finanzieller oder machtpolitischer Art, verweisen wiederum auf die Grenzen der Wirksamkeit dieser Gerichte. Wichtig waren hinsichtlich der einzelnen Freigrafen auch immer die Stuhlherren, und es ist anzunehmen, daß der Arnsberger Freigraf Gerhard Struckelmann unter dem besonderen Schutz des Kölner Erzbischofs stand. 50 Daß das Femegerichtsurteil gegen Düren auf dem Reichstag 1512 in Köln aufgehoben wurde, ist wohl aus der viel stärkeren machtpolitischen Position Herzog Johann III. von Jülich-Berg zu erklären. 51 Aber auch der Wechsel von einer Stadt in die andere - Grave ging von Düren in die nahe Stadt Köln - machte eine Durchsetzung von Recht schwierig. Offensichtlich nutzte Grave zeitweise in Köln die Möglichkeit, Dürener Kaufleuten gegenüber Schuldforderungen geltend zu machen und sich an ihnen schadlos zu halten. Der Rat der Stadt Köln verfügte über das vom Kaiser verliehene Antastrecht und war damit die zentrale Jurisdiktionsgewalt, die den innerstädtischen Frieden zu wahren hatte. Allerdings existierte auch um 1500 noch ein Schöffenkollegium, das über ein Selbstergänzungsrecht verfügte und damit den Zugang nach eigenem Belieben steuern konnte. Die formelle Einsetzung erfolgte jedoch durch den Kölner Erzbischof. 52 Dies dürfte nicht gerade zu einer Stärkung der städtischen Exekutive geführt haben, wie auch die Verhaltensweise des Kölner Bürgermeisters Wasservass und des Rates der Stadt gegenüber der Stadt Düren zeigten. 53 Aber nicht nur die konkurrierenden juristischen Instanzen und ihre Rechtsprechung, sondern auch die - offensichtlich unterschiedlichen - Vorstellungen der einzelnen Beteiligten, was das Recht sei, müssen berücksichtigt werden, wobei auch die Anklage der Zauberei noch einmal unter dem Aspekt »alltäglicher« Verhaltensweisen, wie sich aus den Gerichtsprotokollen entnehmen läßt, zur Sprache kommen soll. 3. Recht, Verfahren und Durchsetzbarkeit Zwar wurde bei der vorhergehenden Darstellung des Falles ersichtlich, daß städtische Gruppenkonflikte eine bedeutende Rolle dabei gespielt haben müssen, die aufgrund der Überlieferung nicht weiter entschlüsselt werden können. Wahrscheinlich standen ökonomische Aspekte im Vordergrund - auf jeden Fall aber muß sich Grave in außeror- 49 v. Below: Landtagsakten (wie Anmerk. 35), 114 - 116. Vgl. zu dieser Thematik auch Klaus Graf: Die Fehde Hans Diemars von Lindach gegen die Reichsstadt Schwäbisch Gmünd (1543 - 1554). Ein Beitrag zur Geschichte der Städtefeindschaft, in: Kurt Andermann (Hg.): »Raubritter« oder »Rechtschaffene vom Adel«? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter, Siegmaringen 1997, 167 - 189. 50 Lindner: Veme (wie Anm. 14), 497. Ohne weitere Einzelheiten ist hier erwähnt, daß um 1500 gegen Gerhard Struckelmann auf Betreiben der Stadt Frankfurt eine kirchliche Bestrafung verhängt worden war, die vom Kölner Erzbischof wiederum aufgehoben wurde. 51 Diese Aspekte sind im Hinblick auf die weiteren konkurrierenden Instanzen im Fallbeispiel (Rottweil, Erzbischof von Mainz) natürlich ebenfalls zu berücksichtigen. 52 Vgl. Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn-Berlin 1991, 50 - 54; 73 - 82. 53 Zwischen den Territorien Jülich-Berg und Kurköln wurden 1533 detaillierte gegenseitige Rechts- und Polizey-Maßregeln geschlossen, und auch zuvor hatte es schon Übereinkünfte gegeben. Vgl. Scotti: Gesetze und Verordnungen (wie Anm. 34), Bd. 1, 29 - 31. »Grave gegen Düren« 417 dentlich starkem Maße getroffen und geschädigt gefühlt haben. Anders wäre seine Beharrlichkeit bei der Durchsetzung seiner Rechtsvorstellungen - man denke zum einen an die finanzielle Belastung durch die Prozesse, zum anderen an den Wegzug von Düren und die Aufgabe seines Hauses, möglicherweise auch an eine dadurch bedingte Zerstörung seiner Familie - nicht zu erklären. Es kann auch nicht mehr geklärt werden, welchen näheren Hintergrund die Zaubereibeschuldigungen hatten: Einerseits waren sie - unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt - eine so schwere Verdächtigung, daß eine Verurteilung der Lena Ferbers von Grave als wahrscheinlich angenommmen werden konnte. Andererseits muß die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß er zu Recht glauben konnte, durch ihr Handeln krank geworden zu sein, denn in seinem Gesuch an den Landesherrn spricht er auch davon, daß er seine gesunden Glieder nicht mehr habe gebrauchen können. Lena habe die Zauberei nicht von ihm zurückgenommen - auch das hatte er gefordert - und deshalb habe er schließlich zu einem »weisen Beichtvater« gehen müssen, der ihn geheilt habe. 54 Auf jeden Fall sah sich Johann Grave in seiner Ehre verletzt und schwer geschädigt. Nach seinem »subjektiven Rechtsgefühl«, das aus seiner Sicht vielleicht mit der »Gerechtigkeit«, die es wiederherzustellen galt, gleichgesetzt werden kann, erklärt es sich, daß er alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfte. 55 In den Verhaltensweisen nicht nur Graves, sondern auch der beteiligten Frauen, wie sie sich durch die Protokollierung der verbaler Äußerungen in den Gerichtsakten zeigen, muß aber auch ein »Rechtsraum« berücksichtigt werden, der mit dem Alltagsverhalten der Untertanen eng verbunden war. Dies soll im folgenden kurz beleuchtet werden. 56 54 Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 383f. Zur Problematik des Gruppenbegriffes vgl Frank Rexroth: Mediävistische Randgruppenforschung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift, Beiheft 20, München 1995 (Mittelalterforschung nach der Wende, hg. von Michael Borgolte), 427 - 451. Zu Zaubereianklagen im Kontext städtischer Gruppenkonflikte vgl. auch: Erika Münster : Zaubereiverfolgungen in Ratingen und Angermund 1499/ 1500, in: Ratinger Forum 2 (1991), 10 - 31. Neben des Vorwurfs der Brunnenvergiftung hatte Grave von Lena behauptet, sie habe Agatha mit Tuch belohnt, weil sie de zauferey van Lena in aller dufel namen hait und in dem namen gegangen und also in myn huys geworfen. Vgl. auch Münster-Schröer: Zauberei- und Hexenprozesse (wie Anm. 8), 56 - 58. Für den Zeitraum von 1511 bis 1530 konnte ich aufgrund der Amtsrechnungen - andere für diese Zusammenhänge relevanten Überlieferungen existieren nicht mehr - die Verfolgung von Zaubereidelikten in den meisten jülichschen Ämtern nachweisen. In der Regel war anfangs eine »gemeine fame« von den naberen verbreitet worden, und schließlich kam es zu Gerichtsverfahren, die mit Todesurteilen endeten. Es finden sich jedoch auch Zauberei-Injurien darunter, die direkt vor den Vogt gebracht wurden, da die Betroffenen die weitere Verbreitung eines solchen Gerüchts unterbinden wollten. Vermutlich wußten sie genau, wie gefährlich sie werden konnten. Auch von Seiten der Obrigkeit läßt sich ein Interesse erkennen, Verfahren wegen Zauberei nicht ausufern zu lassen. So ist in den Rechnungen des Amtes Jülich für das Jahr 1536 überliefert, daß jemand »aus Haß« über zwei Frauen das Gerücht in Umlauf setzte, sie seien Zauberinnen. Die Schöffen fällten daraufhin das Urteil, den Verdächtigenden mit der Hinrichtung durch das Schwert zu bestrafen - auf die Bitte von frunden, Verwandten also oder Fürsprechern, wurde er schließlich begnadigt. Vgl. z.B. NWHSTA Düsseldorf, Jülich-Berg R Jülich 3, Bl. 25a. Zur Bedeutung von Pfarrern im Kontext von Zaubereivorwürfen sei angemerkt, daß in den Kirchenvisitationen von 1533 immer wieder Geistliche genannt wurden, die wairsagen und wicheleien ausübten oder auch wegen Gegenzaubers konsultiert wurden. Vgl. Otto R. Redlich: Jülich-Bergische Kirchenpolitik am Ausgange des Mittelalters und in der Reformationszeit, Bd. 2, Bonn 1991, 6, 13. 55 Ich bin mir der Problematik der Begrifflichkeiten »subjektives Recht« und »Gerechtigkeit« hier durchaus bewußt. Dazu formuliert z.B. Otto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Darmstadt 1965, 5. Aufl., insbes. 133 - 197, weitere Überlegungen. Erika Münster-Schröer 418 Es ist festzustellen, daß Johann Grave sich gegenüber Lena Ferbers noch nach dem Urteil des Schöffengerichts außerordentlich agressiv verhielt, denn er beschrie sie öffentlich, möglicherweise vor dem Haus der Lena Ferbers, worauf die Umstände hindeuten. 57 Er wolle es mit Recht dazu bringen, daß auch sie verbrannt werde. Sie wiederum hatte entgegnet, daß er weder etwas zu geben habe noch »in die Büchse blasen könne«. Sie habe eine ganze Nachbarschaft zu Zeugen, und er könne es bestimmt nicht dazu bringen, daß sie verbrannt werde. 58 Vergleichbar den unterschiedlichen Gerichtsinstanzen, die Grave anrief, verhielt er sich auf dieser »Rechtsebene des Alltags« ähnlich vehement. Es verwundert nicht, daß Lena Ferbers eine ebenso starke verbale Entgegnung wählte. 59 Daß auch sie, trotz der Gerichtsverfahren, die schon anhängig waren, noch immer bedroht war, zeigten z.B. die Forderungen der Dürener Kaufleute, die sich in ihren Handelsbeziehungen gestört sahen, denn sie verlangten, wie oben ausgeführt, schließlich doch vom Landesherrn, die als Zauberin verdächtigte Lena Ferbers abzuurteilen. Die verstärkten öffentlichen Verdächtigungen von Seiten Graves zeigten damit ganz deutlich Wirkung. Andererseits ist gerade an diesem Beispiel sehr gut erkennbar, daß Lena Ferbers in ihrem sozialen Kontext stärker verankert war als Johann Grave, da es sich um eine Frau gehandelt haben muß, die andere, einflußreiche Personen auf ihrer Seite hatte und wohl dadurch vor dem Schöffengericht eine stärkere Position hatte, wie weiter oben gezeigt wurde. Agatha Nyffs wiederum, die als Zauberin verbrannt worden war, hatte Lena noch im Gefängnis bei einer Gegenüberstellung als die »eigentliche Anstifterin« der Tat benannt und dies mit den Worten »Waffen über Lena« zum Ausdruck gebracht, was als verzweifelter Wunsch verstanden werden kann, dieser Schlimmstes zu wünschen und das an ihr begangene Unrecht herauszuschreien. Von ihr gewinnt man aufgrund der Überlieferung den Eindruck, daß sie ganz allein stand. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation muß ihr verzweifelt bewußt gewesen sein. Daraus wiederum erklärt sich die Gegenreaktion Lenas. Sie schlug Agatha ins Gesicht, wohl auch ein Ausdruck des sozialen Gefälles zwischen Agatha und der als Dürener Bürgerin gut beleumdeten Lena. Der Schultheiß konnte diese Form der »Selbstjustiz«, die Landrecht und Schöffenurteil eklatant mißachtete, selbstverständlich nicht dulden. Sie solle nicht selbst richten, äußerte er eindringlich, und zudem wurde sie zu einer Geldstrafe verurteilt. 60 Der physische Angriff der Lena Ferbers auf Agatha Nyffs im Gefängnis kann aber ebenfalls als eine Form »ritualisierten Alltagsverhaltens« gedeutet werden. Die als Zau- 56 Weitergehende Überlegungen dazu finden sich in Rainer Walz: Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit. Die Verfolgungen in der Grafschaft Lippe, Paderborn 1993: »Alltägliche Interaktion und Recht waren auf der Ebene des Dorfes noch nicht genügend differenziert, wenn auch selbstverständlich viele agonale Rituale seit langem, schon in den germanischen Volksrechten sichtbar, von Alltagshandlungen unterschieden waren«. Er hat u.a. Verhaltensweisen von Verdächtigten und Verdächtigenden differenziert dargestellt. Wenn er Bezug nimmt auf eine dörfliche Struktur, so kann sie für kleine Städte wie Düren sicherlich vergleichbar angenommen werden. Ebd., 306. 57 Vgl. dazu Walz: Hexenglaube (wie Anm. 56), 320. 58 Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 385. Zum Begriff der Ehre, auf den ich hier nicht weiter eingehen möchte, gibt es zahlreiche neue Literatur, die hier nicht im einzelnen genannt werden soll. Es sei verwiesen auf Walz: Hexenglaube (wie Anm. 56), insbes. 422ff. 59 Vgl. Walz: Hexenglaube (wie Anm. 56), 348f. Walz benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der Retorsion und unterscheidet zwischen symmetrischen und asymmetrischen Retorsionen. 60 Literalien III, Nr. 4, gedruckt bei Pauls: Vehme (wie Anm. 4), 396. »Grave gegen Düren« 419 berin bezeichnete Agatha wurde von Lena in beinahe »fehdeähnliche« Weise behandelt, indem sie sie schlug, denn ihr gegenüber war auch Agatha eine Verdächtigende - sie hatte Lena als Zauberin bezichtigt und gesagt, sie bringe sie elendiglich in den Tod. 61 Agatha Nyffs verlor in diesen Auseinandersetzungen ihr Leben, denn sie wurde zum Tode verurteilt. Johann Grave hatte viel verloren, er war möglicherweise gänzlich ruiniert und hatte sich gegen die Stadt Düren letztendlich nicht durchsetzen können. Es bleibt der Eindruck, daß Lena Ferbers noch am besten von allen unmittelbar Beteiligten davongekommen ist. Auffällig ist, daß die geschilderten Vorfälle im Beisein von »Beamten« wie z. B. des Schultheißen stattfanden, die zwar teilweise Beamten des Landesherrn waren, gleichzeitig aber der städtischen Bevölkerung eher nahe standen. Die in dem Rechtsstreit von der Stadt Düren beauftragten gelehrten Juristen können dagegen eher »höheren« Positionen zugeordnet werden, die stärker auf der Seite des Landesherren und seiner Verwaltung verankert waren. Hier tangieren und überschneiden sich verschiedene »rechtsrelevante Ebenen«, deren normative Vorstellungen in unterschiedlichen Bereichen angesiedelt sind - grob gesagt im »Alltagsrecht«, im Landrecht und im gelehrten Recht. Die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von »Reichsrecht« wurden am Beispiel von Reichskammergericht und Femegericht bereits weiter oben ausgeführt. Auch der jülich-bergische Landesherr forderte immer wieder, bestimmte Rechtsvorstellungen einzuhalten: daß auch alle Sachen gleich zugehen, und dem armen als dem Reichen zu recht geholfen werde und daß einem jederen geburlich, austrucklich und unpartheyisch Recht wiederfahren müsse. Der hier behandelte Prozeß vor dem Dürener Schöffengericht - beispielsweise, daß Lena sich mit einem Eid reinigen durfte, für Agatha jedoch Folter und Hinrichtung zur Anwendung kamen - zeigt, daß diesen Erfordernissen noch längst nicht generell Rechnung getragen wurde. Mehrere Verordnungen, in welchen von Seiten des Landesherrn gefordert wurde, daß »Amtsleute, Diener oder Befehlshaber« kein Geld, keine Gabe oder kein Geschenk annehmen sollten - dies seien sie Gott und dem Nächsten schuldig - verweisen darauf, daß auf der Ebene der Schöffengerichte manches im Argen gelegen haben muß. 62 Graves Versuche, eine Verurteilung Lena Ferbers, die sünder versüchünge und justicie freigekommen sei, myt recht zu erwirken sowie Schadenersatz für Schädigungen an Leib und Gut rechtens durchzusetzen, ist nicht nur gescheitert und hat ihn selbst in den Ruin getrieben. Der ihm erfolgreich erscheinende und gebotene Weg, durch ein Femegerichtsurteil rechts und gerechtigkeit zu erholen und mit Unterstützung des Mainzer Kurfürsten und Kaiser Maximilians seins erlangten keyserlichen rechten zu bekommen, ist ihm letzlich als Verstoß wider das Recht angelastet worden. Die Antwort des Kaisers wie sich geburt recht ergein, ohne daß sich ein teyl gegen die billigkeyt besweren könne, hat das Reichskammergericht schließlich damit beantwortet, daß die Klage vor dem Femegericht ein Verstoß wider des hailigen romischen reichs reformation und derselwiger ordenung darstelle, daß es ein mutwillig process gewesen sei und daß seine Versuche, sich aufgrund des Femegerichtsurteils an den Dürener Bürgern schadlos zu halten, als unbillich fornemen zu bewerten sei. Insofern hatte sich Grave sowohl durch das Verfahren wie in der Durchsetzung wider die Rechtsordnung und die Billigkeit gestellt, die Stadt 61 Zu physischen Angriffen vgl. Walz: Hexenglaube (wie Anm. 56), 330ff. 62 Scotti: Gesetze und Verordnungen (wie Anm. 34), Bd. 1, 23f.; Redlich: Kirchenpolitik (wie Anm. 54), Bd. 1, 1 - 121. Erika Münster-Schröer 420 Düren hatte sich durchgesetzt und das Schöffenurteil hatte Bestand. Grave, der den Weg des Rechts, der ihm offenstand, gewählt hatte, um sein Recht und seine Gerechtigkeit durchzusetzen, war am Ende ein »Opfer« der Reichsreform und - wenn man so will - zugleich ein Opfer der noch unvollendeten Gestalt der territorialen Gerichtsbarkeit in Jülich und natürlich der innerstädtischen Interessen und Machtverhältnisse in Düren geworden. Hätte er sich durchgesetzt, wäre Lena Opfer geworden. In einer Phase, als der Schaden für die Dürener Kaufleute durch die Akte der Schadloshaltung durch Grave und seinen Anhang und der Konflikt mit den Kölnern allzu belastend wurde, gab es kurzzeitig die Tendenz, Lena aufzuofpern. Hinsichtlich der Justiznutzung hatten die Dürener mit dem Reichskammergericht gegenüber Grave, der die traditionellen Reichsgerichte in Arnsberg und Rottweil benutzte, den erfolgreicheren Weg gewählt. Die Dürener, die offensichtlich vor dem Femegericht nicht erschienen waren, hatten es Grave dadurch vielleicht erleichtert, ein für ihn günstiges Urteil zu erlangen. Die Durchsetzung des Urteils mit den traditionellen Methoden, die Grave wählte, trieb den Konflikt mit Düren auf die Spitze und erweiterte sich um den Konflikt mit dem Kölner Rat und den Kölner Bürgern. Als Grave der Ladung vor dem Reichskammergericht nicht folgte, war der Rechtsstreit, in dem die Parteien durch die gelehrten Juristen Kirsser, Hietzhofer und Thiel vertreten wurden, zu seinen Ungunsten besiegelt. Erfolglos war schon sein Versuch gewesen, sich der Zustellung des Mandats zu entziehen, und möglicherweise hatte er sich zu spät um gelehrten Rechtsbeistand bemüht. War der Rechtsstreit am Anfang noch durch Konfrontationen von Angesicht zu Angesicht geprägt, so sind sich die Streitparteien später vor keinem Gericht mehr persönlich begegnet. Für eine Zeitlang hatte Grave sich durch das Femegerichtsurteil, sein »kaiserliches Recht«, wie er betonte, eine starke Position geschaffen und Düren inVerlegenheit gebracht. Um jedoch nicht Gefahr zu laufen, als Landfriedensbrecher dazustehen, als er das Urteil durchsetzen wollte - er hatte Freunde, Helfer, über die man nichts Näheres sagen kann - versicherte er sich des Rückhalts des Mainzer Erzbischofs und beschlagnahmte Güter von 9 Dürener Kaufleuten. Wenn auch die Vorgänge in Köln in den Einzelheiten nicht ganz klar werden, führten seine fortgesetzten Übergriffe dort auf Dürener Bürger zum Konflikt mit der Stadt und seiner mehrmonatigen Verhaftung. Daß das Femegerichtsurteil in der Auffassung der Zeit keineswegs bedeutungslos wurde, zeigt das Vorgehen des Kölner Erzbischofs, der nach der Entscheidung des Reichskammergerichts, mit einiger Mühe den Arnsberger Freigrafen dazu brachte, das Femegerichtsurteil als nichtig zurückzunehmen und auf diese Weise die Konkurrenz zweier Reichsgerichtsentscheidungen aus der Welt zu schaffen. Kaiser Maximilians Verlangen nach Klärung, wie sich geburt recht ergein, zeigt deutlich, daß wirkliche Klarheit noch nicht bestand. Der Klärungsprozess ging zu Lasten Graves, dessen traditionelle Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit und Rechtsdenken durch das Reichskammergerichtsurteil zunichte gemacht wurde. Sein »kaiserliches Recht« (mit Arnsberger Beglaubigung) stand gegen das neue Rechts- und Verfahrensverständnis, und er führte die Annullierung seines Rechtstitels selbst dadurch herbei, indem er ihn durchsetzen wollte. Die Frage der Justiznutzung und der Rechtsdurchsetzung war offenbar zu Beginn des 16. Jahrhunderts, was die Gerichtsverfassung in Territorien und im Reich angeht, von Unsicherheit und Fährnissen geprägt. Ein Rechtsstreit, in dem es anfangs um einen »Grave gegen Düren« 421 »vergifteten Brunnen« ging, hat das Dürener Schöffengericht, den Oberhof in Aachen, das Femegericht in Arnsberg, das kaiserliche Landgericht in Rottweil, das Reichskammergericht, den Reichstag zu Köln, den Herzog von Jülich als Landesherrn, zwei Kurfürsten, den Kölner Erzbischof (als Herzog von Westfalen) und den Erzbischof von Mainz, Kaiser Maximilian und als Nebenschauplatz Rat und Gerichte der Stadt Köln beschäftigt und ist letztlich zum Gegenstand der Durchsetzung der reformierten Reichsverfassung geworden. Jürgen Schlumbohm hat kürzlich darauf aufmerksam gemacht, daß die frühneuzeitlichen Staaten (und das gilt auch für das Reich) einerseits zahlreiche Gesetze und Verordnungen erließen, diese jedoch andererseits nur partiell durchsetzten und dies nicht allein aus der quantitativen und qualititativen Unzulänglichkeit des Verwaltungsapparates herzuleiten sei. Deshalb plädiert er dafür, »die spezifischen Züge der Staatswesen in der Frühen Neuzeit mit in das Zentrum der Betrachtung zu rücken«, um sie systematischer als bisher beleuchten zu können, »nicht als Vorform eines Späteren, sondern als etwas Eigenständiges.« 63 Seiner Ansicht nach wurde der »rechten Form des Publizierens« häufig mehr Aufmerksamkeit gewidmet als der Überwachung der Befolgung von Verordnungen, und er erklärt das Erlassen von Gesetzen als ein Bedürfnis der Selbstdarstellung der Territorien. Weiter fordert er, die »Untertanen« stärker in den Blick zu nehmen und nicht nur auf die Obrigkeit zu schauen und verweist auf Juristen der damaligen Zeit, die der Ansicht waren, daß Gesetze nur dann »Geltung hätten, wenn sie gewohnheitsrechtlich rezipiert seien.« 64 Die Verwicklungen, die in dem angeführten Fallbeispiel zum Ausdruck kommen, unterstreichen diese Forderungen. Traditionelle Geltung, neue Geltungsansprüche, konkurrierende Instanzen, Durchsetzungsmöglichkeiten von Entscheidungen führten zu Kollisionen, Unsicherheiten und Konfliktverschärfungen. Nicht nur die unterschiedlichen Rechtsnormen, die Rechtspraxis, die beispielsweise durch die Nutzung alter und neuer Reichsgerichte offenbar wurde, und die gewohnheitsrechtlichen Komponenten sind meiner Ansicht nach zu berücksichtigen. Die »Verwissenschaftlichung des Rechts« insbesondere im Bereich des Verfahrens bedeutete zugleich, daß das Recht zunehmend theoretisch wurde. Es wurde zur rechtlichen Argumentation nicht nur im Beurteilen des Einzelfalls, sondern setzte Normen. »Die (neuen) Juristen wenden erlerntes Wissen an, setzen ihr Denken ein, argumentieren gesetzlich; weshalb ihre Individualität unerheblich wird zugunsten der Allgemeinheit des methodischen Arguments«, so formuliert es Wolfgang Schild. 65 Johann Grave setzte Recht gleich mit der Gerechtigkeit überhaupt. Mehrfach ließ er in den Klageschriften betonen, daß Lena Ferbers »wider den heiligen Christenglauben« gehandelt, also die göttliche Ordnung verletzt habe. In gewisser Weise muß es für ihn unfaßbar gewesen sein, daß er trotz intensiver Justiznutzung - angefangen von einer 63 Jürgen Schlumbohm: Gesetze, die nicht durchgesetzt werden - ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? , in: Geschichte und Gesellschaft, 23. Jg./ H.4 (1997), 647 - 663, 658f. Vgl. auch Martin Dinges: Michel Foucault, Justizphantasien und die Macht, in: Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1993, 189 - 212. 64 Vgl. Schlumbohm: Gesetze (wie Anm. 54), 660 - 662. 65 Wolfgang Schild: Verwissenschaftlichung als Entleiblichung des Rechtsverständnisses, in: Norbert Brieskorn (Hg.): Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft, Paderborn 1991, 247 - 260, 247. Erika Münster-Schröer 422 Ebene des Alltags, geprägt von Gewohnheitsverhalten und -rechten, bis hin zu den höchsten Gerichtsinstanzen, unter Einbeziehung gelehrter Juristen - in seinem Bestrebungen nicht erfolgreich war. Johann Grave hatte wohl auch das Bedürfnis, sich an Lena Ferbers und ihrem »Anhang« zu rächen. Grave war kein »Michael Kohlhaas« (Kleist). Er hat schließlich nicht den Weg der Fehde gewählt, sondern immer wieder versucht, den gerichtlichen Weg zu verfolgen, aber er ist gescheitert wie jener. Von einem »Rechtgefühl«, »das einer Goldwaage glich« und ihn »zum Räuber und Mörder machte« (Kleist, Michael Kohlhaas), läßt sich bei ihm nicht sprechen. Ein vergleichbar konsequenter Durchsetzungswille, Recht und Gerechtigkeit zu bekommen - oder mynes levens sult mir gebrechen - läßt sich jedoch auch bei ihm feststellen. Er war ruiniert, in die Acht getan, und sein Ende wissen wir nicht. 423 Gudrun Gersmann Konflikte, Krisen, Provokationen im Fürstbistum Münster Kriminalgerichtsbarkeit im Spannungsfeld zwischen adeliger und landesherrlicher Justiz Der Streit um die Patrimonialgerichte Unter der Überschrift Westfälische Schilderungen aus einer westfälischen Feder präsentierten die Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland ihren Lesern im Jahre 1845 einen bunten Bilderbogen aus Vergangenheit und Gegenwart. Fast schon in moderner Reportagenform berichtete der Artikel über allerlei westfälische Sitten, Gebräuche und Eigenheiten, angefangen bei der angeblichen Sangeslust der Paderbörner über den volkstümlichen Aberglauben bis hin zum Gerichtswesen, denn in einer Passage kam die Rede auch auf eine Szene, die sich vierzig Jahre zuvor vor einem westfälischen Patrimonialgericht zugetragen haben sollte. Recht humorvoll wurde an besagter Stelle ein einst in einem westfälischen Dorf um die Person eines betrügerischen Meiers entbrannter und während des entscheidenden Gerichtstages unerwartet in Aufruhr und Empörung umgeschlagener Streit geschildert. Erst sei ein Haufen barfüßiger Weiber, wahrer Poissarden, in den Schloßhof gezogen, um gegen die Entscheidung des Gutsherren zu protestieren, dann wären die Bauern selbst wie die Beduinenschwärme mit Knüppeln in ihren Händen herbeigeeilt, um sich ihrerseits in das Geschehen einzuschalten. Mit einer letztlich harmlosen Schlägerei sei die Sache alles in allem einigermaßen glimpflich ausgegangen, doch hätten die meisten Gemeindemitglieder danach eine Woche lang wie mit Pestbeulen behaftet ausgesehen und eine unverkennbare Schwerfälligkeit in ihren Bewegungen bezeugt. 1 Niemand Geringerer als die westfälische Dichterin Annette von Droste-Hülshoff zeichnete für diesen Text verantwortlich, dessen Veröffentlichung ein ungeahntes publizistisches Echo entfachte und eine lebhafte Diskussion auslöste. Ein im Jahr darauf, 1846, ebenfalls in den Historisch-politischen Blättern als Reaktion auf den Beitrag der Droste abgedruckter Kommentar warf der »westfälischen Feder« neben anderen falschen Deutungen insbesondere die naive Verharmlosung früherer Rechtsverhältnisse vor. In Wahrheit seien die Patrimonialgerichte wenig bukolische Orte der Willkür und Brutalität gewesen, an denen vom Gerichtsherren abhängige und wie Marionetten behandelte Doctoren oder Licentiaten in überaus parteiischer Weise Recht gesprochen hätten. Der Gutsherr oder dessen Justitiar hätten den Landmann schon für kleinste Übertretungen aufs schärfste bestraft, ihm nach Ermessen eine Portion Stockschläge oder Peitschenhiebe verabreicht und gelegentlich sogar das gutsherrliche Hundeloch bei Wasser und Brot angedeihen lassen. 2 1 Abgedruckt in Annette von Droste-Hülshoff: Werke in einem Band, München/ Wien 1984, 743ff. Gudrun Gersmann 424 In der Kontroverse zwischen der Droste und ihrem Kritiker ging es um mehr als den Austausch individueller Meinungen. In den divergierenden Ansichten spiegelte sich vielmehr im lokalen Zuschnitt jene langwährende Diskussion über den Nutzen oder Schaden der Patrimonialgerichtsbarkeit wider, die mit der Französischen Revolution begann und, so monierte jedenfalls ein zeitgenössischer Schriftsteller, schließlich sogar bis in die eigentlich zur Damenlectüre bestimmten Zeitungen vordrang. 3 In der Radikalität ihrer Ablehnung übertrafen die Gegner der Patrimonialgerichtsbarkeit den anfangs genannten Kontrahenten der Droste häufig sogar noch um ein Vielfaches. Ihre Überzeugung, daß die Patrimonialgerichtsbarkeit ein mit den reinen Staatsgrundsätzen unvereinbares Institut verkörpere, das in allen Theilen Teutschlands eine Gefahr für die Rechtssicherheit im Staate bilde, verknüpften sie konsequenterweise mit der expliziten, aus den Geboten der Vernunft und Staatsklugkeit abgeleiteten Forderung, die Patrimonialjurisdiction vom teutschen Boden gänzlich zu vertilgen. 4 Welche Art von Gerichtsbarkeit verbarg sich jedoch hinter diesem so sehr ins Kreuzfeuer des öffentlichen Interesses geratenen Begriff? Dem Allgemeinen Landrecht zufolge machte der Zusammenfall von Gerichtsrechten und dem Besitz einer gewissen Art von Gütern das Hauptcharakteristikum von Patrimonialgerichtsbarkeit aus. 5 Detaillierter, aber im Tenor gleich beschrieb der »Brockhaus« 1835 Patrimonialgerichtsbarkeit als diejenige Gerichtsbarkeit, welche die Grundherren über ihre Erbzins- und Lehnleute ausüben, sie verdanke ihren Namen der Tatsache, daß sie als ein zum Erbvermögen oder Erbgut (patrimonium) gehöriges Recht betrachtet werde. 6 Über alle interpretatorischen Facetten und regionalen Besonderheiten hinaus läßt sich Patrimonialgerichtsbarkeit ganz allgemein als eine private Gerichtsbarkeit definieren, die auf der Grund- oder Gutsherrschaft beruhte. Wenn das staatliche Justizmonopol heute als Selbstverständlichkeit gilt, als unverzichtbares Element moderner politischer Kultur, handelt es sich in Wahrheit doch um eine vergleichsweise junge, aus dem fortgeschrittenen 19. Jahrhundert stammende Einrichtung. Denn bis zur endgültigen Abschaffung 7 der Patrimonialgerichtsbarkeit nach der 1848er Revolution verfügten Adel und Geistlichkeit vielerorts über ausgedehnte Justiz- und Herrschaftsrechte, die sie im Laufe einer wechselvollen Geschichte durch Verpfändungen oder Belehnungen der Landesherren erlangt hatten. 8 Daß die Patrimonialgerichte als »Staat im Staat« fungierten, verlieh ihnen von vornherein einen problematischen Anstrich. Auseinandersetzungen mit dem jeweiligen 2 Erwiderung und Berichtigung aus dem Fürstenthum Paderborn, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland des Jahrgangs 1846, 657 - 686, hier bes. 683ff. Vgl. dazu auch Friedrich Keinemann: Das Hochstift Paderborn am Ausgang des 18. Jahrhundert. Verfassung, Verwaltung, Gerichtsbarkeit und soziale Welt, 1. Teilband, Bochum 1996, 337. 3 D. B. W. Pfeiffer: Ueber die Grenzen der Civil-Patrimonial-Jurisdiction, Göttingen 1806, XV. 4 Ebd. Pfeiffer referiert hier die Argumente Hollers (G.L. Holler, Geschichte und Würdigung der deutschen Patrimonialgerichtsbarkeit, mit besonderer Rücksicht auf Bayern. Landshut 1804). 5 Allgemeines Landrecht , Th. II Titel 17, 66 u. 23ff. 6 Hier zitiert nach Monika Wienfort: Ländliche Rechtsverfassung und Bürgerliche Gesellschaft. Patrimonialgerichtsbarkeit in den deutschen Staaten 1800 bis 1855, in: Der Staat 33 (1994), 207 - 239, hier: 207. 7 Vgl. dazu die neuere rechtshistorische Darstellung Sabine Werthmanns: Vom Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit. Ein Beitrag zur deutschen Justizgeschichte des 19. Jahrhundert, F.a.M. 1995, 1f.: »Die Revolution von 1848 markiert das Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit. Zwar existierten auch nach diesem Zeitpunkt noch in einigen wenigen und kleinen Gebieten private Justizrechte bis 1877 fort, diese wurden jedoch offenbar von den Zeitgenossen als bedeutungslos empfunden.« 8 Vgl. dazu Karl Oppenheim: Das Gerichtswesen im Münsterland, Münster o.J. (masch.), 19ff. Konflikte, Krisen, Provokationen 425 Landesherren in Hinsicht auf die Zuständigkeit in Gerichtsangelegenheiten waren quasi vorprogrammiert und ereigneten sich so häufig wie Zusammenstöße mit den bäuerlichen Untertanen. Die leidenschaftlichen Debatten über die Patrimonialgerichte, die einst die intellektuell und politisch interessierten Kreise bewegten, sind längst verklungen. Dafür hat jedoch die sozialhistorische Forschung der letzten Jahre die Patrimonialgerichte als Untersuchungsobjekte neu entdeckt 9 und ihnen unter den Stichworten »Gutsherrschaft« und »Konfliktaustrag« sorgfältige Untersuchungen gewidmet. 10 Den in diesem Zusammenhang entstandenen Arbeiten ist es in eindrucksvoller Weise gelungen, das alte, weltanschaulich geprägte Schreckensbild der Patrimonialgerichte zu verabschieden und durch eine differenzierte Beschreibung ihrer Rolle innerhalb frühneuzeitlicher Argargesellschaften zu ersetzen. Im mikrohistorischen Zugriff auf die außerordentlich reichen Quellenüberlieferungen einzelner Gerichte konnten u.a. wichtige Erkenntnisse über die im Dorf herrschenden Geschlechterverhältnisse zutage gefördert und symbolische Ausdrucksformen der Rechtsbeziehung von Untertan und Gutsherr analysiert werden. Es gab freilich nicht nur das »Modell ostelbische Gutsherrschaft«, fand doch die Patrimonialgerichtsbarkeit eben in vielen Teilen des Alten Reiches bis ins 19. Jahrhundert hinein weite Verbreitung, und das nicht zuletzt im westfälischen Raum: Der Blick auf die politische Landkarte vor der Neuordnung der Justiz zeigt schon aus der Vogelperspektive, daß im Paderborner Land und im Herzogtum Westfalen, im Oberstift Münster und der Grafschaft Mark zahlreiche Patrimonialgerichtsbezirke existiert haben müssen. Welchen Umfang die einzelnen Gerichte besaßen, welchen Anteil sie an der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Westfalens im 16. und 17. Jahrhundert hatten und mit welchen Fällen sie konfrontiert wurden, ist bisher allerdings noch kaum erforscht. Obwohl die benannten Defizite nur langfristig, auf der Basis systematischer Studien beseitigt werden können, soll auf den folgenden Seiten an einem landesgeschichtlichen Beispiel aus dem Fürstbistum Münster zumindest ein erster Versuch unternommen werden, das »Funktionieren« dieser speziellen Form von Gerichtsbarkeit in einer bestimmten historischen Phase zu beschreiben. Da die notwendige Eingrenzung des Themas die Konzentration auf ausgewählte Schwerpunkte erfordert, wird insbesondere die Frage zur Diskussion stehen, inwieweit die Ausübung der Kriminalgerichtsbarkeit zu einem Machtinstrument des adeligen Gerichtsherren umfunktioniert werden konnte, während der für eine ganze Reihe von Arbeiten zentrale Aspekt »Kriminalität im Alltag« dagegen lediglich am Rande gestreift wird. Vorab sei zunächst jedoch kurz das Problem der Begrifflichkeit angerissen. Empfiehlt es sich wirklich, wie es einige Autoren tun, den Begriff »Patrimonialgericht« der Epoche der Frühen Neuzeit überzustülpen? 11 In der Sache ist ein solches Verfahren sicher nicht zuletzt deshalb legitim, weil das Etikett der Patrimonialgerichtsbarkeit ja einen Typ von Gerichtsbarkeit benennt, der sich schon lange vor dem 18. Jahrhundert 9 Zur historiographischen Einordnung der neueren Forschungen vgl. Wienfort (wie Anm. 6), 212. 10 Einen guten Überblick über aktuelle Projekte gewähren die beiden von Jan Peters herausgegebenen Bände: Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften, Göttingen 1995 und Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995 (Beihefte der HZ, Neue Folge, Bd. 18). 11 So u.a. Friedrich Keinemann: Das Hochstift Paderborn am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Verfassung, Verwaltung, Gerichtsbarkeit und soziale Welt, Bochum 1996, 321ff. Gudrun Gersmann 426 herausgebildet hat. 12 Da es sich bei Patrimonialgerichtsbarkeit und Patrimonialgericht andererseits aber um eng mit dem Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts verknüpfte Termini handelt, die in frühneuzeitlichen Quellen m. W. nie auftauchen, wird auf den folgenden Seiten stattdessen der Begriff des »adeligen Gerichts« bevorzugt. Zur Erforschung der westfälischen Rechtsgeschichte - Versuch einer Bilanzierung Die Ausgangslage für rechtshistorisches Arbeiten ist in Westfalen im großen und ganzen nicht sonderlich verheißungsvoll, ganz zu schweigen davon, daß äußerst zählebige Geschichtsmythen den Blick auf manche rechtshistorischen Phänomene bis heute verstellen. In Abwesenheit neuerer Forschungsbeiträge muß die Literatur des 19. Jahrhunderts zwangsläufig weiterhin als Richtschnur dienen, obwohl Historiker wie Julius Schwieters aus Prinzip sämtliche historischen Entwicklungen bis in die Zeit vor Karl dem Großen zurückzuführen pflegen und ihre Angaben natürlich nie mit Quellenmaterial belegen. 13 Westfälische Rechtsgeschichte scheint zudem bisweilen in allzu hohem Maße auf die Femegerichtsbarkeit konzentriert. Das schon an Besessenheit grenzende Interesse, mit dem sich Historiker aus dem »Land der roten Erde« immer wieder auf die Feme stürzten, speiste sich aus dem Mysterium, das die heimlichen Gerichte Westfalens bis heute umgibt, und wurde wohl noch zusätzlich genährt durch die Möglichkeit, die Männer der Feme zu freien, gerechtigkeitsliebenden, vorbildhaften und unbestechlichen Volkshelden verklären zu können. 14 Gegenüber der Fülle diesbezüglicher Publikationen mehr oder minder seriösen Zuschnitts fällt die Armut in anderen Bereichen um so stärker ins Gewicht. Von Ausnahmen einmal abgesehen, fehlt es insbesondere an systematischen Untersuchungen zur Kriminalgerichtsbarkeit. Die wenigen greifbaren, oft leicht angestaubt wirkenden Studien blicken entweder nicht über den Tellerrand der eigenen Stadt oder des eigenen Dorfes hinaus, 15 verzichten mithin auf jede Art von Vergleich, oder bekunden manchmal eine um so voyeuristischere Lust am spektakulären Kriminalfall, die der wissenschaftlichen Durchdringung der Materie eher schadet. 16 Wurde der Komplex »Recht und Gerichtsbarkeit« in Stadtgeschichten bisher lediglich unter institutionellen Aspekten gestreift, beginnen Fragestellungen der jüngeren all- 12 Auch in vielen Findbüchern wird der Begriff »Patrimonialgericht« für die älteren Gerichte benutzt, vgl. Stadtarchiv Recklinghausen, Gräflich Westerholter Archiv II, Das Patrimonialgericht Westerholt. 13 Vgl. etwa Julius Schwieters: Die Bauernhöfe des östlichen Teiles des Kreises Lüdinghausen, Münster 1888 und ders.: Geschichtliche Nachrichten über den westlichen Teil des Kreises Lüdinghausen, Münster 1891. Kritische Anmerkungen zu Schwieters’ Arbeiten von Peter Theißen: Ichterloh - Der Anfang vom Ende, in: Geschichtsblätter des Kreises Coesfeld 1988, 21 - 53, hier: 21. 14 Vgl. dazu die Bemerkungen von Wilhelm Janssen in der neuen Herausgabe von Theodor Lindner: Die Feme. Geschichte der »heimlichen« Gerichte Westfalens, ND der 2. Auflage von 1896, Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1989, 8f. 15 Vgl. etwa Ludwig Bielefeld: Die Galgenheide, in: Heimatblätter 1927, 118 - 119; Hugo Hölker: Gerichtsalltag in Lembeck, in: Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck 1994, 88 - 90; Josef Lappe: Stadtgründung und Stadtverfassung im Gebiete der Einzelhöfe (Werne im Münsterlande), in: Westfälische Zeitschrift 1932, 1 - 148. 16 So hat der Fall des Kort Kamphus die heimathistorische Forschung in hohem Maße beschäftigt. Kamphus, seit 1553 Stadtrichter in Coesfeld, wurde wegen Aufruhrs und Brandstiftung angeklagt und 1578 mit dem Schwert hingerichtet. Vgl. zu dieser Affäre etwa Kurt Fischer: Kort Kamphus. Richter in Coesfeld, in: Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld, Heft 4, Coesfeld o.J. Konflikte, Krisen, Provokationen 427 tags-, geschlechter- und kriminalitätshistorischen Forschung, wie die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Kriminialität oder der veränderten Wahrnehmung einzelner Delikte, in letzter Zeit jedoch allmählich Einzug in die einschlägige Literatur zu halten. In Sabine Alfings und Christine Schedensacks Buch über »Frauenalltag im frühneuzeitlichen Münster« aus dem Jahre 1994 ist von der städtischen Organisation der Justiz kaum mehr die Rede, während die historischen Akteure andererseits nun selbst mit ihren Biographien und Erfahrungswelten ins Rampenlicht treten. Es sind - nach den Normen ihrer Zeit - schuldig gewordene Frauen, deren Spuren die Autorinnen folgen, Kindsmörderinnen, Hexen oder Ehebrecherinnen, deren Schicksale sie rekonstruieren. Glückt es ihnen dabei, die münsterische Stadtgeschichte um einige interessante Pinselstriche aus dem Stadtleben des 17. Jahrhunderts zu bereichern, läuft ihre auf die Individuen konzentrierte Sichtweise, die die politischen und rechtlichen Implikationen des Umgangs mit den »Täterinnen« nahezu vollkommen ausblendet, jedoch manchmal ein wenig Gefahr, über private Momentaufnahmen kaum hinaus zu gelangen. 17 Über die münsterländische Gerichtsbarkeit wissen wir trotz alllem nach wie vor im wesentlichen nur das, was C. von Olfers in seinem in der Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Beitrag zur Geschichte der Verfassung und Zerstückelung des Oberstiftes Münster besonders in Beziehung auf Jurisdiktions-Verhältnisse 18 notierte, daß es nämlich im Fürstbistum Münster zahlreiche Privatgerichte gegeben habe, die das Recht auf die Ausübung einer eigenen Criminal-Jurisdiction besessen und weitgehend eigenständig agiert hätten und lediglich bei schweren Verbrechen gehalten gewesen wären, das Urtheil von einer Universität oder Juristen-Facultät einzuholen. 19 Mit dieser Beschreibung erwähnte Olfers jedoch nicht einmal ansatzweise das Chaos, das bis zur Neuordnung der Justiz überall dort im Münsterland herrschte, wo auf engem Raum ein Gericht neben dem anderen lag und die Untertanen sich nicht einmal über die genauen Zuständigkeiten im klaren waren. 20 Anton Voß, Verfasser diverser Studien über die »Patrimonialgerichte im Paderborner Lande«, irrte, wenn er für seinen Untersuchungsbereich eine »Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit« in Hinsicht auf die Gerichtsordnung konstatierte, die in anderen Territorien ihresgleichen suche. 21 Wie das Fürstbistum Paderborn, in dem 71 von 183 Ortschaften adliger Gerichtsbarkeit unterstanden, 22 war auch das frühneuzeitliche Münsterland von einem undurchdringlichen Gewirr von rivalisierenden Gogerichts- und Freigerichtsrechten, von Vogteirechten und allodialen Herrschaftsrechten durchzogen, das in seiner vollen Ausprägung erst beim Versuch einer akribischen Rekonstruktion der Verhältnisse anhand archivalischer Quellen evident wird. 17 Sabine Alfing/ Christine Schedensack: Frauenalltag im frühneuzeitlichen Münster, Bielefeld 1994 (Münsterische Studien zur Frauen- und Geschlechtergeschichte). Eine interessante Studie zur Entwicklung von Gewaltdelikten im Fürstbistum Münster ist demnächst zu erwarten von Margarete Wittke (Witten). 18 C. von Olfers: Beiträge zur Geschichte der Verfassung und Zerstückelung des Oberstifts Münster, Münster 1848. 19 Ebd., 14. 20 In diese Richtung geht auch das Urteil Theodor Badings: Die innere Politik Christoph Bernhards von Galen, Fürstbischof von Münster, in: Westfälische Zeitschrift 69 (1911), 179 - 303. 21 Anton Voß: Patrimonialgerichte im Paderborner Lande, in: Westfalen 1936, Heft 1, 106 - 116. 22 Friedrich Wilhelm Henning: Herrschaft und Bauernuntertänigkeit. Beiträge zur Geschichte der Herrschaftsverhältnisse in den ländlichen Bereichen Ostpreußens und des Fürstentums Paderborn vor 1800, Würzburg 1964, 195. Gudrun Gersmann 428 In groben Strichen läßt sich die Situation vor Ort folgendermaßen skizzieren: Aufgeteilt war das Fürstbistum in die Ämter, größere Verwaltungseinheiten, die von den landesherrlichen ›Beamten‹ verwaltet wurden. In jedem Amt existierten neben den landesherrlichen Gerichten verschiedene private Gerichte und »Beifänge« 23 , d.h. aus dem Bereich des Gogerichts herausgelöste Bezirke mit jeweils eigenen Gerichtsherren, die sich aus Adel oder Klerus rekrutierten. Im Amt Werne gab es zum Beispiel, um nur einen Eindruck von der Verworrenheit der Verhältnisse zu vermitteln, den Beifang Stockum der Herren zu Stockum, der sich über drei Bauerschaften erstreckte, den Beifang Lenklar des Probstes zu Cappenberg und den Beifang Capelle, ferner die Beifänge Drensteinfurt, Meinhövel, Wolfsberg und Vischering. Im Besitz des Domkapitels befand sich das Gericht Lüdinghausen, während das Gericht Davensberg-Nordkirchen ein vom adligen Gerichtsherren gemeinschaftlich mit dem Landesherren beaufsichtigtes war. Um das Chaos komplett zu machen gesellten sich noch das Werner Stadtgericht und das landesherrliche Gogericht dazu, das sich über jene Teile des Amtes erstreckte, die keinem Beifang angehörten. Der Begriff »Beifang« oder »Byfank« läßt sich im übrigen urkundlich bereits für das 9. Jahrhundert belegen. Abgeleitet aus den Wörtern »befangen« oder »umfangen«, soll er ursprünglich für das Umziehen und Markieren eines »Stück herrenlosen Bodens oder der gemeinen Mark mit Grenzzeichen« 24 benutzt worden sein. In den auf diese Weise konstituierten kleineren Gerichtsbezirken wurde von den jeweiligen Gerichtsinhabern - wie in den Beifängen Merfeld und Capelle - auch die hohe Gerichtsbarkeit ausgeübt. Im nachhinein verwundert es nicht, daß das Nebeneinander der verschiedenen Gerichte nur allzu häufig in ein Gegeneinander umschlug. Der Problematik der Situation waren sich schon die Zeitgenossen in hohem Maße bewußt: Da die viell(en) verschiedene(n) Beifänge im Amt Werne einen erhöhten Regelungsbedarf nach sich zögen, sei es um so dringender erforderlich, nach dem Tod des alten Fiskals Wichartz dessen vakante Stelle möglichst schnell zu besetzen, argumentierte etwa ein Bernhard Greving, Prokurator der Stadt Münster, als er sich im Februar 1628 um den frei gewordenen Posten bewarb. 25 Bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts konnten die adligen Gerichtsherren trotz mancher Konflikte mit dem Landesherren oder benachbarten Gerichtsbesitzern in ihren eigenen Gerichtsbezirken relativ frei schalten und walten, dann wurden jedoch auch sie in den Prozeß tiefgreifender Veränderungen hineingezogen, der im Fürstbistum Münster mit der Durchführung fundamentaler Rechts- und Verwaltungsreformen anbrach. Im Zentrum dieses Umbruchs stand der neu gewählte Bischof Johann von 23 Zur Definition des Begriffs Beifang vgl. Venantius Kindlinger: Minoriten. Münsterische Beiträge zur Geschichte Deutschlands hauptsächlich Westfalens, Erster Band, Münster 1787, 114: »Man nennet noch heut zu Tag unterschiedliche Herrlichkeiten Beifänge: da aber auch Beifänge vorhanden sind, womit keine Herrlichkeit oder Gerichtsbarkeit mehr verbunden ist; so ist es wol der Mühe werth, auch hievon etwas bestimmters aufzusuchen. Geht man in die ältern Zeiten zurück: so ergiebt es sich, daß Beifang einen geschlossenen Bezirk eines Haupthofes und der dahin gehörigen Erbe a) bezeichnen sollte. Die Gerechtsamen, welche einem Haupthofe, nebst der Jagd und Fischerei in dem Hofesbezirke, anklebten, sind oben b) erzählt worden. Der Besitzer des Haupthofes war Hofsherr und natürlicher Richter c), so wol über die Einwohner, als derer Hofsgüter und gemeinschaftlichen Gerechtsamen.« 24 So Julius Schwieters: Geschichtliche Nachrichten über den östlichen Theil des Kreises Lüdinghausen, die Pfarrgemeinden Werne, Herbern, Bockum, Hövel, Walstedde, Ascheberg, Nordkirchen, Südkirchen und (Filiale) Kapelle umfassend, Münster 1886, 61. 25 Staatsarchiv Münster, Fstm. Münster, Landesarchiv 328, Nr. 22, Bl. 181. Konflikte, Krisen, Provokationen 429 Hoya. Der ehemalige Richter am Reichskammergericht zu Speyer erließ im Jahre 1571 neben einer Hofgerichtsordnung, die das Münsterische Hofgericht im gesamten Fürstbistum zur Appellationsinstanz für weltliche Zivilsachen erhob, eine Landgerichtsordnung, die der Rechtsprechung nach gelehrtem römischen und kanonischen Vorbild im Münsterland Geltung verschaffte. Auch für das künftige Verfahren der Gerichte »in criminalibus« sollten von nun an klare Regeln herrschen und Strafprozesse auf der Grundlage der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (CCC) geführt werden. Nach Artikel 1 des III. Teiles der Landgerichtsordnung galt das Gericht des Tatortes als erstinstanzlich zuständig für Kriminalsachen. Wenn Richter und Schöffen eines lokalen Gerichts jedoch an ihnen hoch und wichtig erscheinende Fälle gerieten, sollten sie die Akten an unparteiische Rechtsgelehrte verschicken. Bei diesen handelte es sich später gewöhnlich um bei der münsterischen Regierung selbst tätige Juristen, 26 waren die Regierungsgeschäfte nach dem frühen Tod Johanns von Hoya doch von einer zentralen, ständisch besetzten Verwaltungsbehörde übernommen worden, die im Rahmen ihrer zahlreichen Aufgaben auch - in Vertretung für den meist abwesenden Fürstbischof als eigentlichen Landesherren - die stiftischen Justizorgane beaufsichtigte. 27 Wenn man den heute im Staatsarchiv Münster aufbewahrten, sogenannten »Regierungsprotokollen« Glauben schenkt, gingen die landesherrlichen Gerichte allmählich in starkem Maße dazu über, das Verfahren in peinlichen Sachen fast ganz in die Hände der münsterischen Räte zu legen. Vor Ort, d.h. in den Ämtern, beschränkte man sich oft nur noch auf die Einleitung des Verfahrens und die Feststellung des Sachverhalts, während alle darüber hinausgehenden Entscheidungen in Münster fielen, 28 angefangen bei der Anberaumung von Zeugenverhören über die Klärung von Indizien bis hin schließlich zur Abfassung des Endurteils. Informiert wurden die Räte über die anstehenden Fälle durch ihre landesherrlichen »Beamten«, mithin den adligen Drosten und bürgerlichen Rentmeister, die als ›Tandem‹ gemeinsam an der Spitze der Ämter standen. 29 Obwohl das Reformwerk des Johann von Hoya im Münsterland zweifellos einen Einschnitt bedeutete, konnte die oben umrissene Ordnung doch vorerst vielfach nur auf dem Papier realisiert werden. Ihrem Selbstverständnis nach und im Bewußtsein der ihnen zustehenden Gerechtsame fuhren viele der adeligen münsterländischen Gerichtsinhaber zwischen 1580 und 1650 ungebrochen damit fort, sich an ihren Gerichten wie »Landesherren« zu gebärden, »denen der größere Bruder in Münster in nichts hereinzureden hätte«. 30 Wie empfindlich sie auf jeden tatsächlichen - oder auch nur vermeintlichen - Übergriff des Landesherren reagierten, belegt die große Zahl der einschlägigen, am Münsterischen Hofgericht oder am Reichskammergericht verhandelten Prozesse. 31 26 Elisabeth Kloosterhuis: Fürstbischof Johann von Hoya und das Eindringen der Reichsjustiz in den Fürstbistümern Münster, Osnabrück und Paderborn zwischen 1566 und 1574, in: Westfälische Zeitschrift 142 (1992), 57 - 117. 27 Vgl. dazu Hans-Georg Schmitz: Die hochstift-münsterische Regierung von 1574 - 1803. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Rechte durch die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster (masch.), Münster 1964, 39. 28 Ebd., 38. 29 Rudolf Gmür: Grundriß der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Auflage, Berlin 1996, 73. 30 So treffend eine Formulierung von Heinrich Glasmeier: Das Geschlecht von Merveldt zu Merfeld. Ein Beitrag zur Familien- und Standesgeschichte der Münsterschen Ritterschaft, in: Westfälisches Adelsblatt Nr. 1 - 3, Januar -März 1931, 1 - 87, hier: 46. Gudrun Gersmann 430 So kristallisiert sich aus der historischen Distanz der starke Eindruck einer außerordentlich bewegten und offenen Situation heraus: Im Unterschied zu dem von der Sekundärliteratur vermittelten Eindruck geklärter Verhältnisse zwischen Adel und Landesherren scheinen beide Seiten in jenen Jahrzehnten vielmehr mit großer Aggressivität versucht zu haben, die Grenzen der Macht des anderen auszuloten. Daß der Kampf um die Verteidigung der (behaupteten) eigenen Privilegien gerade in Kriminalangelegenheiten dabei nur allzu oft auf dem Rücken der Untertanen ausgetragen wurde, spielte offenbar keine Rolle. Ein Fallbeispiel: Das Gericht Davensberg-Nordkirchen Ausgehend von diesen Beobachtungen sei auf den folgenden Seiten am Beispiel eines einzelnen münsterländischen Adelsgerichts exemplarisch gezeigt, wie sich die Konkurrenz zwischen Gerichts- und Landesherr konkret auf die Ausübung der Kriminalgerichtsbarkeit auswirken konnte. Das Gericht Davensberg ist nicht zuletzt aufgrund seiner vorzüglichen Quellenlage das geeignete Objekt für eine solche Analyse, läßt sich die Auseinandersetzung zwischen der adligen Familie von Morrien und den landesherrlichen Beamten doch minutiös über die Bestände des Staatsarchivs Münster und des vom Westfälischen Archivamt betreuten Archivs Nordkirchen rekonstruieren, das eine wahre Fundgrube für jede Art von rechtshistorischer Forschung darstellt. 32 Die ersten Aufschlüsse über Umfang und räumliche Ausdehnung des Gerichts Davensberg liefert ein aus dem 19. Jahrhundert stammender Text, der unter der Überschrift Bemerkungen hinsichtlich des vormaligen Gräflich-Plettenbergschen Patrimonial- Gerichts zu Nordkirchen den Versuch einer exakten Bestandsaufnahme aus der ex-post- Perspektive unternahm. Dem unbekannten Autor zufolge verloren sich die Ursprünge der Jurisdiktion zwar im Dunkel des Alterthums, doch wußte er immerhin zu berichten, daß sich das ehemalige Patrimonialgericht Nordkirchen aus zwei Gerichten - dem Gericht der Herrlichkeit Nordkirchen und dem Gogericht Davensberg - zusammengesetzt habe. Schloß ersteres die Criminal- und Civil Jurisdiction in Dorf und Kirchspiel Nordkirchen sowie im Dorf Capelle, dem Beifang Capelle und dem Beifang Meinhövel ein, erstreckte sich letzteres auf einen ungleich größeren Bereich. Verknüpft mit dem Gogericht Davensberg war die Kriminal- und Zivilgerichtsbarkeit in der Freiheit Davensberg, im Dorf und Kirchspiel Ascheberg, Dorf und Kirchspiel Ottmarsbocholt, Dorf und Kirchspiel Südkirchen, Dorf und Kirchspiel Selm, im Kirchspiel Seppenrade sowie in den Bauerschaften Venne, Ermen, Brochtrup, Tüllinghof, Rechede und Kökkelsum. Insgesamt zählte das geeinigte Patrimonial Gericht sieben Dörfer, vier ganze Kirchspiele und vierzehn Bauerschaften zu seinem bezirk. 33 Am adeligen Gericht Davensberg wurden bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts kraft der hier ausgeübten Kriminal- und Ziviljurisdiktion alle Arten von Vergehen und Verbrechen verhandelt, von Beleidigungen und Diebstählen bis hin zu Betrügereien und 31 Zur münsterländischen Patrimonialgerichtsbarkeit vgl. neuerdings auch Friedrich Keinemann: Vom Krummstab zur Republik: westfälischer Adel unter preußischer Herrschaft 1802 - 1945, Bochum 1997, 52ff. 32 Dazu auch Wolfgang Bockhorst: Adelsarchive in Westfalen. Die Bestände der Mitgliedsarchive der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive e.V., Kurzübersicht, Münster 1998, 225ff. 33 Archiv Nordkirchen 7228 und Kasten 90c, Bl. 3ff. Konflikte, Krisen, Provokationen 431 Kindstötungen, Gewaltexzessen und Mißhandlungen. Das ganze Spektrum frühneuzeitlicher Kriminaldelikte, das Gerd Schwerhoff am Beispiel der Reichsstadt Köln beschrieben hat, 34 findet sich in der archivalischen Überlieferung des Gogerichts Davensberg wieder - und zudem in sehr gut dokumentierter Form. Die zahlreich erhaltenen Gerichtsprotokolle erlauben zwar nur einseitige, eben an der Übertretung der Norm orientierte, aber dennoch ungemein aussagekräftige Rückschlüsse auf den konflikt- und emotionsgeladenen Alltag einer bäuerlichen Bevölkerung, die unter der Knappheit der Ressourcen ebenso zu leiden hatte wie unter den Folgen des spanisch-niederländischen und des 30jährigen Krieges. Von klaren Kompetenzabgrenzungen und geordneten Verhältnissen konnte am Gericht Davensberg allerdings während der Dauer seines Bestehens nur selten die Rede sein. Daß um die Frage der Zuständigkeit in Rechtsangelegenheiten heftige Auseinandersetzungen entbrannten, die ihrerseits dem Agieren des Gerichts in criminalibus einen drastischen Stempel aufdrückten, wurzelte in der spannungsvollen Geschichte des Gerichts, die nun wenigstens kurz rekapituliert sei. Der Versuch einer Rekonstruktion führt weit zurück in die Vergangenheit der melancholischen, von Wiesen, Weiden, Ackerflächen und Wallhecken geprägten Landschaft des Kernmünsterlandes, tief hinein in ein noch immer dünn besiedeltes Gebiet, in dem die Landwirtschaft das wirtschaftliche Fundament der Bevölkerung bildet. 35 Das Dorf Davensberg liegt am Rande des ausgedehnten Sumpf- und Heidegebietes der Davert, die bis ins 19. Jahrhundert hinein als unwirtliche Gegend galt und in Form von Spukgeschichten die einheimische Sagenwelt bevölkert. 36 Heute erinnert nur noch der restaurierte, zu einem Heimatmuseum umgestaltete Wehrturm der alten Burg Davensberg an den Sitz des ehemaligen Gerichts. 37 Dort, auf der obersten Pforte des Davensberges, in einem »Gemach auf einem der Thorhäuser«, wurden die Gerichtssitzungen abgehalten und die Gefangenen der »peinlichen Frage« unterworfen. Im 16. und 17. Jahrhundert stellte der Davensberg nichts anderes als den Mittelpunkt einer Ansammlung ärmlicher Anwesen dar, in denen zumeist »dürftige Kötter« lebten, 38 die unter der Nordkirchener Herrschaft »unter Verding« arbeiteten und neben der Arbeit auf dem Feld häufig Leinwandweberei betrieben. 39 Die nächste größere Ortschaft war das stättlein Werne an der Lippe, wo der Droste als Vertreter des Landesherren seinen Amtssitz hatte und wo der Richter des Gerichts Davensberg zugleich die Tätigkeit eines Stadtrichters ausübte. 40 Seit dem Mittelalter gehörte das Gericht Davensberg zwar zum Besitz der adligen Familie zu Büren, die unter der stiftmünsterschen Ritterschaft einen hohen Rang einnahm. Nach heftigen, mit Waffengewalt geführten Auseinandersetzungen mit dem Landesherren hatte man jedoch eine Teilung vollzogen, bei der die eine Hälfte des Ge- 34 Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/ Berlin 1991. 35 Helmut Müller: Ascheberg. Geschichte eines münsterländischen Ortes von den Anfängen bis zur kommunalen Neuordnung 1975, Ascheberg/ Davensberg 1978, 2f. 36 Eine atmosphärisch dichte Schilderung liefert Gisela Schwarze: Westfalen, Teil II: Das Münsterland, Münster 1996, 240ff. 37 Vgl. dazu den Artikel »Davensberg«, in: Westphalia. Zeitschrift für Geschichte und Alterthumskunde Westphalens 1826, 78f. 38 Zitiert nach Müller: Ascheberg (wie Anm. 35), 25. 39 Vgl. auch die Festschrift: 725 Jahre Davensberg, Davensberg 1980, 4f. 40 Vgl. dazu Schwieters: Geschichtliche Nachrichten (wie Anm. 25) 53f. Gudrun Gersmann 432 richts in die Hand des Bischofs überging, während die andere Hälfte bei den Herren zu Büren verblieb. 41 Was diese Regelung für die konkrete Rechtspraxis bedeutete, hat die Familie von Büren später einmal aus ihrer Sicht wie folgt dargestellt: Zusammen mit dem Landesherren sei man für die hohe und niedere Obrigkeit zuständig gewesen und habe ungehindert, wie von uralten unverdencklichen zeiten an, die criminal und civil jurisdiction, mit allem, was derselben anklebt, 42 ausgeübt. Die auf Geheiß der adeligen Gerichtsinhaber aufgegriffenen Übeltäter habe man im Kirchspiel Ascheberg am Remberg, wo der Galgen stand, hinrichten lassen, während die durch die landesherrlichen Beamten festgenommenen Verbrecher am fürstlichen Gericht zu Werne bestraft worden wären. 43 Das Gericht sei alle 14 Tage oder wenigstens einmal im Monat zu Ascheberg gehalten worden. Lieferte die »Zweiherrigkeit« des Gerichts ohnehin schon reichlich Grund für Differenzen, verkomplizierte sich die Situation noch zusätzlich, als das Gericht Davensberg in die Hände der Adelsfamilien von Morrien zu Nordkirchen und Wulf zu Füchtelen überging. Zum Zeitpunkt der Übergabe des Gerichts behaupteten die Morriens bereits eine einflußreiche Position im südlichen Münsterland. Da, wo sich seit dem 18. Jahrhundert das prachtvolle, von Schlaun im Auftrag des Fürstbischofs Friedrich Christian von Plettenberg im holländisch-westfälischen Barock erbaute Schloß Nordkirchen erhebt, hatte ursprünglich eine mit starken Rundtürmen bewehrte Wasserburg den Stolz und Herrschaftsanspruch der Herren von Morrien symbolisiert, 44 die ihren Stammbaum bis auf die Heiligen Drei Könige zurückverfolgten und angeblich mit Karl dem Grossen in das Land gekommen waren. 45 Von Anfang an hatten es die Morriens verstanden, ihre Position innerhalb des Stiftsadels zu konsolidieren und auszuweiten. Im Jahre 1350 konnte ein Johann von Morrien das mit der Führung der Ritterschaft und dem Vorsitz auf den Landtagsversammlungen verbundene Erbmarschallamt des Bistums an sich bringen. Weitere wichtige, mit dem Amt des Erbmarschalls verknüpfte Vorrechte umfaßten die Verwahrung des Ritterschaftsarchivs und den Empfang der Landesprivilegien der gewählten Bischöfe. 46 Von Nutzen für den Aufstieg der Familie erwies sich neben der Übernahme des Hofes Nordkirchen aus den Händen des Abtes Bruno von Werden vor allem jedoch ein Ereignis, die Tatsache nämlich, daß Graf Engelbert von der Mark dem Johann von Morrien und seinen Erben im Jahre 1370 für 156 Mark die Vogtei über Nordkirchen mitsamt den dazu gehörigen Gütern verpfändete. Mit der Ausdehnung der Güter und dem Erwerb weiterer Gerichtsrechte wie des Freistuhls Nordkirchen und der Freigrafschaft Wesenfort bildete sich im Amt Werne nach und nach allmählich eine bedeutende Adelsherrschaft heraus, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts mit dem Zugewinn des Gerichts Davensberg eine neuerliche Stärkung erfuhr. Als die Familie von Büren nach dem Tod 41 Dazu auch Müller: Ascheberg (wie Anm. 35), 101f. 42 So behaupteten die Gerichtsherren in einer vor das Reichskamergericht getragenen Auseinandersetzung mit der Regierung zu Münster: Staatsarchiv Münster, RKG M 1437. Bd. 1, Bl. 32. 43 Staatsarchiv Münster, Landesarchiv Fach 338, Nr. 2, Bl. 20ff. 44 Zu den »Vorbauten« des Schlosses Nordkirchen Karl E. Mummenhoff: Schloß Nordkirchen, 12ff. 45 Die Herren von Morrien führten als Wappen »im silbernen Schild einen schwarzen Schrägbalken mit vier hängenden Zinnen und in der oberen Ecke einen sechseckigen Stern, halb gold, halb rot, als Helmschmuck den Rumpf eines Mohren zwischen zwei Straussenferdern«. Vgl. Georg Erler: Geschichte der Herrschaft und des Schlosses Nordkirchen, in: Nordkirchen. Festschrift zur Prinz-Heinrich-Fahrt 1911, 5 - 72, hier: 7. 46 Ebd., 8. Konflikte, Krisen, Provokationen 433 der münsterschen Domherren Melchior und Balthasar keine männlichen Nachkommen mehr hatte, wurde das Gericht zu Davensberg im Jahre 1589 47 den beiden Töchtern Agnes und Johanna (geb. von Büren) übertragen, deren Ehemänner Bernhard Wolf zu Füchtelen bzw. Gerhard von Morrien das Davensberger Erbe von nun an verwalteten. 48 Die Erben sahen der neuen Aufgabe mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits besaß der uralt adelich Sitz zwar sämtliche pertinentien und stuck, die bey einem ansehnlichen adelichen sitze und herligkeit zu wünschen waren, und das in einem Maße, daß das Haus Davensberg den Vergleich mit den allerbesten und furnembsten adelichen häusern des Stifts Münster und benachbarten landen keineswegs zu scheuen brauchte. Andererseits sprachen durchaus gewichtige Gründe dafür, sich diesbezügliche Schritte reiflich zu überlegen: Denn bei all seiner Vornehmheit lasteten nicht allein hohe Schulden auf dem Haus Davensberg, sondern kam erschwerend hinzu, daß die von Büren sich in der Vergangenheit in vielfeltige und hochwichtige processe, mängell und streitt mit dem Landsfürsten, mit dem Domkapitel zu Münster und benachbarten Adelshäusern verstrickt hatten. 49 An dieser Konstellation sollte sich auch in den folgenden Jahren nicht viel ändern, da die von den Morriens dominierte »Dreiherrigkeit« des Gerichts nur eine weitere, noch unbeugsamer ausgefochtene Runde im Kampf um das Gericht Davensberg einläutete. Blicken wir noch einmal genauer zurück: Von Anfang an hatte das permanenten Belastungsproben unterworfene Verhältnis zwischen der Familie von Büren und dem wernischen Amtsdrosten als dem Vertreter des Landesherren Konflikte heraufbeschworen, als deren Verursacher man sich wechselseitig beschuldigte. Zu Zusammenstößen kam es bei jeder sich bietenden Gelegenheit, angefangen beim Verbot des Vogelschießens bis hin zur Einziehung der Brüchten. Einmal nahm der Amtsdroste den Davensbergischen Fronen gefangen, ein anderes Mal sorgte der Fall eines Eigenbehörigen, der unerlaubt Eichenholz abgehauen hatte, für Irritationen, dann wieder weckte der Droste den Zorn der Herren von Büren, als er das Gericht kurzerhand an einen ungewontlichen orth voir Werne verlegte. 50 In dieser spannungsgeladenen Nachbarschaft sollte ein im Jahre 1566 zwischen der Familie von Büren und dem wernischen Amtsdrosten geschlossener Vertrag einen erneuten Anlauf zur Klärung der unübersichtlichen Verhältnisse und Kompetenzüberschneidungen unternehmen. 51 Zur Vermeidung weiterer Reibereien wurden die gegenseitigen Pflichten mit einer Fülle von Regelungen darin klar umrissen, angefangen von der Vereidigung des Gerichtspersonals bis hin zur regelmäßigen Abhaltung des Gerichts. 52 Die Ernennung des Richters sollte laut Vertrag künftig dem Landesherren obliegen, der aber dafür Sorge zu tragen habe, daß es sich um eine duchtige qualificirte persohn handele, die im Namen der von Büren wie des Landesherren seine Tätigkeit aus- 47 Vgl. dazu auch Helmut Müller: Kurzer Abriß der Geschichte des Fleckens und der Burg Davensberg, Davensberg 1980, 8. 48 Dazu Helmut Müller: Die Davert. Historische Streifzüge durch ein münsterländisches Wald- und Jagdgebiet, Ascheberg 1973, 20ff. 49 Archiv Nordkirchen, Kasten 105, Nr. 1. 50 Staatsarchiv Münster, RKG M 1437, Bl. 35ff.; vgl. auch Staatsarchiv Münster, Landesarchiv 338, Nr. 2, Bl. 27. 51 Vgl. dazu auch Archiv Nordkirchen, Kasten 90c. 52 Archiv Nordkirchen 11733, Abschrift des Vertrags aus dem 17. Jahrhundert. Gudrun Gersmann 434 übe. Das Recht, einen Übeltäter zu ergreifen, schrieb der Vertrag beiden Parteien gleichermaßen zu, mit der Einschränkung allerdings, daß der andere sofort benachrichtigt und sein Einverständnis eingeholt werden würde. 53 Mit dem Vertrag von 1566 rissen die Streitereien zwischen den adligen Gerichtsinhabern und dem Landesherren freilich keineswegs ab. Wie fragil der erzielte Friede tatsächlich war und mit welcher Empfindlichkeit die Kontrahenten jeweils auf - echte oder auch nur vermeintliche - Verstöße der Gegenpartei reagierten, sollte in den folgenden Jahrzehnten auf vielfache Art und Weise deutlich werden. Grund, gegen Drost und Rentmeister des Amtes Werne wegen der Übertretung des Vertrages Beschwerde zu führen, fanden die Herren zu Davensberg genug: Im Jahre 1632 war es das Verhalten der landesherrlichen Beamten gegenüber einem Totschläger, das die amtierenden Gerichtsinhaber zur Abfassung einer Protestschrift bewegte. Im Dezember des Vorjahres hatte ein Mann namens Johann Herting dem Bürger Anton Stuten aus dem benachbarten domkapitularischen Amt Lüdinghausen die gorgel abgestochen und war nach der Tat aus dem domkapitularischen Amt in das Amt Werne entwichen. Dort hatte ihn der wernische Amtsbediente Henrich Hane gefangengenommen und ohne Wissen der Davensberger wieder nach Lüdinghausen ausgeliefert. Als diese von dem Vorfall Kenntnis erlangten, zögerten sie nicht, sogleich bei den Beamten zu intervenieren und auf die Bestimmungen von 1566 zu pochen. 54 Streitereien zwischen dem adligen Gerichtsherren und den landesherrlichen Beamten entzündeten sich an vielerlei Punkten. Hatten die von Büren 1566 dem Drosten des Amtes Werne noch vorgeworfen, viel zu selten das Gericht abzuhalten, war 16 Jahre später offenbar das Gegenteil der Fall. Im November 1582 unterrichtete der fürstbischöfliche Richter Johann Horstorff die heimgelassenen Räte von Unstimmigkeiten, die zwischen ihm und Melchior von Büren in Hinsicht auf den Vollzug des Gerichts zu Ascheberg existierten. Der von Büren habe geklagt, daß das Gericht zu oft stattfinde und hohe Kosten verursache, die aus den gerichtsverfellen nicht bezahlt werden könnten. Er, der Richter, habe ihm daraufhin noch einmal die Landgerichtsordnung in Erinnerung rufen müssen. 55 Die Teilung des Gerichts barg auch für das Gerichtspersonal gewisse Risiken, denn wer allzu gehorsam dem einen Herren diente, forderte den Zorn des anderen heraus. Dies erfuhr der Richter Engelbert Langenhorst am eigenen Leib im Jahre 1622, nachdem er es in einer criminall-Angelegenheit gegen einen gewissen Johann Loebusch versäumt hatte, entsprechend den Bestimmungen des Vertrages von 1566 das Haus Davensberg über den in Werne geführten Prozeß zu informieren. Die Lage entwickelte sich für Langenhorst um so dramatischer, als beide Seiten nun erheblichen Druck auf ihn ausübten. Während die Herren zum Davensberg lautstark gegen eine solche Verfahrensweise protestierten und ein Aussetzen des Prozesses verlangten, drang der Rentmeister des Amtes Werne in seiner Eigenschaft als landesherrlicher Beamter um so massiver darauf, daß in der sachen weyter verfahren werde. Zum guten Schluß blieb Langenhorst nichts anderes übrig, als den Davensbergern gegenüber schriftlich einzuräumen, zu viell gethan zu haben und Besserung zu geloben. 56 53 Vgl. dazu auch Staatsarchiv Münster, RKG 1437, Bl. 32ff. 54 Archiv Nordkirchen 7220. 55 Staatsarchiv Münster, Hofkammer V, Nr. a, Gericht zu Ascheberg, Bl. 2, Schreiben vom 7. November 1582. Konflikte, Krisen, Provokationen 435 Weitere Auseinandersetzungen kreisten um das Recht der Begnadigung. Hatte der Drost Johann von der Recke noch unter der Herrschaft der Familie von Büren den adligen Gerichtsmitinhaber mit der Nachricht aufgeschreckt, daß die Herren von der Regierung einen armen, zum theil schwachsinnige(n) dieb begnadigt hätten, ohne dies vorab mit ihnen abzusprechen, gelangte die Frage im Jahre 1615 unter neuen Vorzeichen noch einmal aufs Tapet. Diesmal war es jedoch das Gericht Davensberg, das sich seinerseits zu einem die wernischen Beamten ausgrenzenden Procedere entschloß, als es zwei überführte Kindsmörderinnen auf eigene Faust und ohne Absprache mit dem Bischof begnadigte. Die eine Täterin, von der nur der Vorname Margarete bekannt ist, wurde mit dem Schwert hingerichtet, obwohl sie ursprünglich zum Rad verdammt worden war. Auf die gleiche ›milde‹ Art starb auch die Kindsmörderin Gertrud Postes, statt, wie eigentlich vorgesehen, in einem Sack ertränkt zu werden. Die skizzierten Fälle boten dem adligen Gerichtsherren willkommenen Anlaß, demonstrativ seine Position zu behaupten, reklamierte er doch für sich das Recht, über alle Begnadigungen grundsätzlich selbst zu entscheiden. 57 Der Kampf um den Beifang Capelle Solche Kämpfe waren allerdings nur Geplänkel im Vergleich zu der rücksichtslosen Politik, mit der die Herren von Morrien ihre Stellung in dem zum Gericht Nordkirchen gehörenden Beifang Capelle zu verteidigen oder sogar auszubauen versuchten. Der Beifang selbst schloß im 17. Jahrhundert zwar nur ein paar Bauernhöfe ein, lag aber wegen seiner Nähe zu den großen Straßen, die Münster mit den drei Lippebrücken zu Lünen, Werne und Hamm verband, an einer strategisch so günstigen Stelle, daß er für die benachbarten Adelsfamilien zu einem stets eifersüchtig beäugten Objekt ihrer Begehrlichkeit avancierte. Der fast ein Jahrhundert dauernde Machtkampf um den Beifang Capelle, der erst das Münsterische Hofgericht beschäftigte, ehe er vor dem Reichskammergericht ausgetragen wurde, läßt den mühevollen, keineswegs linear verlaufenden Prozeß der Herausbildung landesherrlicher Macht gegen adlige Widerstände nahezu paradigmatisch hervortreten und einmal mehr wie in einer Nahaufnahme beleuchten. Von alters her übten die Herren von Nordkirchen in Capelle eine Art von Landeshoheit aus, indem sie u.a. die Steuern für den Landesherrn einzogen, die Aushebung von Mannschaften für den Militärdienst überwachten und die Capeller Eingesessenen zu Wachdiensten auf Schloß Nordkirchen zitierten. Die Legitimation dazu bezogen die Morriens aus alten Gewohnheitsrechten, die sie immer wieder ins Feld führten, um ihre Ansprüche auf den Beifang zu untermauern. Das Gericht sei ohnehin aus einem Freigericht hervorgegangen, das ihre Vorfahren von jeher besessen hätten. Der Beifang befinde sich seit zehen, zwanzig, drießig, viertzig, fünfzig, sechzig, siebentzig, und mehr jaren, dann sich menschen gedechtniß erstreckt, im Besitz des Hauses Nordkirchen, seit eben dieser Zeit sei die Familie in possessione vel quasi des gerichts zwangs hoher und nieder jurisdiction, halß und leib straf correction gewesen. 58 56 Archiv Nordkirchen, Kasten 183, Nr. 11, Bl. 21, 5. November 1622, 57 Archiv Nordkirchen, Kasten 183, Nr. 16: Nachricht, daß die Begnadigung der aufm Davensberg Inhaftierten bei den Herrn zu Davensberg stehe. Gudrun Gersmann 436 Da die Herren von Morrien nicht zögerten, ihre Behauptungen durch ein entsprechend arrogantes Verhalten gegenüber den landesherrlichen Beamten zu untermauern, nimmt es kaum wunder, daß sich das Verhältnis der beiden um den Beifang kämpfenden Parteien zunehmend verschlechterte. Als das Hofgericht zu Münster im Jahre 1602 den Morriens zugestand, in der possession ihrer Gerichtsbarkeit zu Unrecht turbirt worden zu sein, änderte das gar nichts. In den 1620er Jahren strebte der Streit vielmehr seinem Höhepunkt zu. Anfang Oktober 1622 fühlte sich der Wernische Amtsdroste nach einer Reihe von Vorfällen wieder einmal veranlaßt, die münsterischen Räte von den Vergehen des Johann von Morrien in Kenntnis zu setzen. Trotz der noch ungeklärten Rechtslage und des schwebenden Verfahrens hatte Morrien in den Vormonaten kräftig die Zügel an sich gerissen, eigenmächtig die Hinrichtung eines Missetäters befohlen, und sich, damit nicht genug, gleich darauf einer weiteren Provokation schuldig gemacht. Im Juli desselben Jahres hatte er mit seinen Männern einige zum Regiment Herzog Christian von Braunschweigs gehörende Reiter im Dorf Südkirchen angehalten und ins Gefängnis auf Haus Nordkirchen gebracht. Dies bedeutete in den Augen der landesherrlichen Beamten einen um so stärkeren Affront gegenüber dißes Stifts landtfürstlicher Obrigkeit, weil Morrien die Gefangenen schließlich ohne ihre Zustimmung oder auch nur vorherige Unterrichtung entlassen, mithin die Bestimmungen des Vertrages von 1566 klar übertreten hatte. 59 Die Fronten waren zu diesem Zeitpunkt offenbar schon so verhärtet, daß Kleinigkeiten bereits für Zornesausbrüche sorgten und der Amtsdrost, der nicht mehr aus noch ein wußte, zuletzt im Tone höchster Dringlichkeit an die Räte zu Münster appellierte, ihm doch Ratschläge für sein künftiges Verhalten als ein fürstlicher diener zu erteilen. Seinen Klagen zufolge hatte sich der Erbmarschall Morrien sogar geweigert, ein aus Werne geschicktes Schreiben mit dem gewonlichen titul Woledler Gestrenger zu akzeptieren. Diese Anrede sei nicht gnugsamb und könne folglich nicht akzeptiert werden, war aus Nordkirchen so lapidar wie verächtlich mitgeteilt worden. 60 Zwei Jahre später eskalierte die Auseinandersetzung zwischen Morrien und Franz von Ascheberg in einem bis dahin nicht gekannten Maße: Den aus Münster gesandten Kanzleiboten, der ihm ein Schreiben mit ernsten Emahnungen der Räte überreichen wollte, verjagte er unter lautstarken Verhöhnungen und forderte den Amtsdrosten nach groben Injurien schließlich am 28. Juli 1624 zum Duell. Er möge sich entweder zu Pferd mit ein paar Pistolen oder aber mit seinem Degen bewaffnet auf dem Sudtfeld einstellen, damit er sehen könne, daß meine Ehr mir lieber ist als mein leben, hatte Morrien dem Gegner bestellen lassen, der indessen wenig Bereitschaft zum Kampf zeigte. Auf Aschebergs Antwort, er wolle der Aufforderung nachkommen, müsse aber zunächst die Erlaubnis des Kurfürsten und der Räte einholen, reagierte Morrien mit noch heftigeren Invektiven: Hundsvoett, dweill ir dan es nicht anders haben willet, so habet erster gelegenheit eine bastonade zu gewertigen, kündigte er in einem an den hundsvoett Frantz von Ascheberg adressierten Brief vollmundig an. Als Mann von offenbar cholerischem 58 Archiv Nordkirchen Kasten 171, Nr. 2, Bl. 10ff. Das Hofgericht zu Münster hatte im Jahre 1602 eine Entscheidung zugunsten der Familie von Morrien gefällt, damit war der Streit aber noch keineswegs beendet. 59 Staatsarchiv Münster, Landesarchiv 338, Nr. 23, Deduction des Erbmarschalls Morrien in betreff seiner jurisdiction zum Davensberg und über andere Irrungen mit dem Stifte Münster nebst einem Einband, worin die Eingriffe des von Morrien enthalten sind, de 1622 bis 1627 etc., Bl. 46. 60 Ebd., Bl. 48b. Konflikte, Krisen, Provokationen 437 Temperament ließ sich Morrien in seinen Duellwünschen auch durch eine eilends aus Münster gesandte Strafandrohung von 5.000 Goldgulden nicht beirren. 61 Provokationen: Hexenverfolgung und Machtpolitik Daß die Ausübung der Kriminalgerichtsbarkeit dem adeligen Gerichtsinhaber häufig als Mittel zum Zweck diente, um seine eigenen machtpolitischen Interessen gegen die gefürchtete Umklammerung durch den Landesherren durchzusetzen, ließe sich anhand der Überlieferung des Gerichts Davensberg-Nordkirchen mit einer ganzen Reihe von schlagkräftigen Fällen belegen. Besonders kraß tritt dieses Motiv allerdings im Umgang des Gerichts mit dem Problem der Hexenverfolgung hervor. Dahinter steckte gewiß nicht Zufall, sondern System: Tatsächlich war Hexerei das einzige Verbrechen, das aufgrund der Vagheit der Indizien einerseits und des in der Bevölkerung verbreiteten Hexenglaubens andererseits jederzeit nach Belieben konstruiert werden konnte. Geht man von den im Archiv Nordkirchen überlieferten Quellen aus, dann begann das Thema Hexerei ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in steigendem Maße das Gericht ebenso wie die Phantasie der Untertanen zu beschäftigen. In den Brüchtenregistern des Amtes Werne, in denen die über kleinere Vergehen wie Beschimpfungen oder Übertretungen der Feiergebote verhängten Geldstrafen (»Brüchten«) Jahr für Jahr aufgelistet wurden, 62 tauchten seit dieser Zeit jedenfalls gehäuft Beleidigungen und Ehrenkränkungen auf, die um den Vorwurf der Zauberei kreisten. Scheltworte wie Teubell, 63 Zeuffel, Tovener, Zeubener, molckentovener oder werwulf gehörten demnach zum Standardvokabular der bäuerlichen Bevölkerung, wenn natürlich auch zu klären wäre, ob der Gebrauch eines solchen Begriffs stets mit dessen genauer Kenntnis verbunden war. Nach dem Beginn der Hexenverfolgung in den frühen 1590er Jahren wurde der erste große Hexenprozeß am Gericht Davensberg im Jahre 1596 gegen die aus der Osterbauerschaft stammende Margarete Bunigmann angestrengt. Angesichts der Tatsache, daß dieses Verfahren für großes Aufsehen sorgte und in den umliegenden Dörfern eine Menge Staub aufwirbelte, erstaunt es kaum, daß der Fall Bunigmann dem Gedächtnis der Zeitgenossen über Jahrzehnte hinweg außerordentlich präsent blieb. Als Drost und Rentmeister des Amtes Werne im Sommer 1611 auf Geheiß der münsterischen Räte im Zusammenhang mit einem schwelenden Streit um Gerichtsrechte bei den ältesten wernischen Amtsdienern Erkundigungen wegen der von den davenspergische(n) Erbgenahmen eingezogenen zeuber(ern) und zeuberinnen einzogen, da war es Margareta Bunigmann, deren Name immer wieder fiel. Man habe anno 96 ein weib, die zum Davensberg wohnende Buninckmansche Zauberei halber angeklagt und nach der Konsultation der Universität Marburg der Tortur unterzogen, dieselbe aber schließlich leddigh und loß erkennen müssen, antworteten Engelbert Langenhorst, Gerhart Wichartz und Walter Ossenbecke, ihres Zeichens Richter, fiskalischer Anwalt und Gerichtsschreiber am Ge- 61 Staatsarchiv Münster, Landesarchiv 328, Nr. 23, Bl. 63ff. 62 Vgl. dazu auch Gudrun Gersmann: Gehe hin und verthedige dich! Injurienklagen als Mittel der Abwehr von Hexereiverdächtigungen - ein Fallbeispiel aus dem Fürstbistum Münster, in: Sibylle Backmann/ Hans-Jörg Künast/ Sabine Ullmann/ B. Ann Tlusty: Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Augsburg 1998, 237 - 270. 63 Archiv Nordkirchen 5404. Brüchtenregister für 1615 - 1617, fol. 002. Gudrun Gersmann 438 richt Davensberg, den wernischen Beamten auf deren Anfrage und rekapitulierten damit in Kurzform den Prozeßverlauf. 64 Auf den Prozeß gegen die Bunickmansche folgten zunächst nur vereinzelte Hexereiverfahren zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die scheinbar in aller Stille, allein im Namen des adligen Gerichtsbesitzers, mithin unter eklatanter Verletzung des Vertrages von 1566 und überdies ohne Einholung auswärtiger Rechtsgutachten, durchgeführt wurden. 65 Fünfzehn Jahre lang gelang es den Herren von Morrien, am Gericht Davensberg ihre Hexenangelegenheiten in eigener Regie zu regeln, ungestört von den landesherrlichen Beamten, die das Verhalten der Morriens tatenlos zur Kenntnis nahmen. Im Sommer 1611 brach der alte Konflikt um die Ausübung der Gerichtsbarkeit unter neuen Vorzeichen jedoch unvermittelt wieder auf, und diesmal entzündete er sich nur an der Hexenfrage. Als die Nachricht von der im Monat Juli erfolgten Gefangennahme und Hinrichtung mehrerer männlicher und weiblicher Zaubereiverdächtiger nach Münster durchsickerte, zögerten die Räte nicht lange, sondern leiteten umgehend intensive Nachforschungen ein. Ein in besorgtem Ton gehaltenes Schreiben erreichte die wernischen Beamten am 6. August 1611. Man habe, hieß es darin, durch das gemein geschrei vom Verhalten der Erbgenahmen zu Davensberg erfahren. Da man zur Zeit nicht mehr so genau wisse, ob die Davensbergischen die Justiz denn überhaupt ohne Einverständnis des Landesherren ausüben dürften, sollten sie, die Beamten, diesbezügliche Erkundigungen einziehen und bei der Gelegenheit vor allem bei den alten Amtsdienern nachhören, ob bei den Davensberger Prozessen auch die Wasserprobe angewendet worden sei. 66 Zum ersten Mal wurde hier jene Verknüpfung von Hexenverfolgung, Auseinandersetzung um Gerichtsrechte und Machtpolitik vorgenommen, die schließlich in den Ereignissen der späten 1620er Jahre gipfeln sollte. Bis zum Jahre 1618 entwickelten sich die Hexenverfolgungen am Gericht Davensberg zunächst aber nur zögerlich und verhalten fort. Im Jahre 1618 wurden zwar mehrere Personen wegen angeblicher Schadenszaubereien festgenommen und in den als Gefängnis dienenden Davensberger Turm gesteckt. Sieben dieser »Zauberschen«, zwei Männer und fünf Frauen, endeten unter der Hand des Scharfrichters, eine weitere Verdächtige starb im Gefängnis, nachdem der Teufel ihr, wie es in der offiziellen Version hieß, den halß zerbrochen hatte, 67 doch folgte auf die Hexenverbrennungen von 1618 erst einmal eine Phase relativer Ruhe mit wenigen Einzelprozessen, ehe ein Jahrzehnt später eine regelrechte Verfolgungshysterie ausbrach. Mitten in die Welle von Prozessen, die das Amt Werne ab dem Spätsommer 1629 erschütterte, fiel der Fall der alten Anna Walboem, der nun ausführlicher betrachtet sei, weil er die den Hexenprozessen des Jahres 1629 zugrundeliegenden Emotionen und Interessen in ihrer krassesten und reinsten Form hervortreten läßt. Gerade weil dieser Prozeß in klassischer Weise die zwischen Adel und Landesregierung bestehenden Konflikte illustriert, verdient er nähere Beachtung. 64 Staatsarchiv Münster, Fürstentum Münster, Hofkammer, V Nr. 1, Patrimonialgericht Haus Davensberg, Bl. 124ff. 65 Die Bestände des Archivs Nordkirchen sind in Hinsicht auf die Hexenverfolgung bisher noch nicht untersucht. Dazu bereite ich derzeit eine größere Untersuchung vor. 66 Staatsarchiv Münster, Fürstentum Münster, Hofkammer, V Nr. 1, Patrimonialgericht Haus Davensberg, Bl. 120ff. 67 Staatsarchiv Münster, Fürstentum Münster, Amt Werne Nr. 80, fol. 49. Konflikte, Krisen, Provokationen 439 Der Prozeß Walboem war, wie gesagt, nur einer von vielen, die das Gericht Davensberg im Herbst 1629 und Frühjahr 1630 beschäftigten. Tatsächlich wurde hier innerhalb weniger Monate eine Hetzjagd auf vermeintliche Hexen und Zauberer veranstaltet, die im Münsterland - von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen 68 - ihresgleichen suchte. Worin wurzelte die so plötzlich ausbrechende Hexenhysterie? Angesichts der Zeitläufte drängt sich als erstes das klassische Krisen-Modell als Erklärung für die Eskalation der Verfolgungen auf: Der Krieg hatte in den 1620er Jahren auch das Amt Werne nicht unberührt gelassen. 1624 hatten fremde Regimenter direkt vor Lüdinghausen gestanden und die Bewohner der Bauerschaften in Angst und Schrecken versetzt. Im Gefolge neuerer sozialhistorischer Untersuchungen, die schlüssig belegt haben, daß sich krisenhafte Erfahrungen und daraus resultiernden Spannungen oft in einem immer lauter angestimmten Ruf nach Hexenverfolgungen zu entladen pflegten, 69 liegt es nahe, für die Davensberger Prozesse von 1629 einen ähnlichen Nexus zu konstatieren. Zudem wird man einen gewissen »Lerneffekt« annehmen dürfen, hatten doch 1624 im benachbarten domkapitularischen Amt Lüdinghausen bereits etliche Prozesse stattgefunden, in deren Zuge Morriensche Untertanen als Kumpanen bei nächtlichen Hexensabbaten genannt worden waren. 70 Zu guter letzt wird man die Welle von 1629 auch als Vernichtungsfeldzug und Ausdruck einer elementaren Hexenfurcht werten können, denn die Erbmarschallin Anna Sophia machte selten einen Hehl daraus, welche wenig freundliche Haltung sie dem ungezieffer der Hexen gegenüber hegte. 71 Reicht der Rekurs auf Katastrophen und entsprechende Bewältigungsstrategien aber wirklich aus, um das plötzliche Aufflammen des Verfolgungseifers im Amt Werne zu begründen? Müssen die Gründe nicht vielmehr woanders gesucht werden? Kommen hier nicht wieder einmal, wenn auch in gewandelter Form, die alten Konflikte zwischen adligem Gerichtsinhaber und Landesherrn zum Vorschein, die sich zuvor schon so oft bereits im Umgang mit anderen Delikten und Rechtsproblemen herauskristallisiert hatten? Schreibt sich der Davensberger Ausbruch des »Hexenwahns« von 1629 nicht ein in eine Reihe von Hexenverfolgungen in anderen Territorien, die ihre Dynamik aus machtpolitischen Auseinandersetzungen und Jurisdiktionsfehden bezogen? 72 Die oben benannten Ungereimtheiten und Widersprüche lösen sich schnell auf, wenn das zuerst genannte Erklärungsmuster verabschiedet und stattdessen durch ein Szenario ersetzt wird, das den strategischen Charakter der Davensberger Prozesse in den Mittelpunkt rückt. Wichtig zur Erhellung der Motivstruktur wäre zunächst der Hinweis auf die desolate Situation der Familie von Morrien, die sich in diesem Sommer 1629 buchstäblich dem Abgrund gegenüber sah. Im November 1628 war Erbmarschall 68 Zur Coesfelder Verfolgungswelle vgl. demnächst Gudrun Gersmann: »In Criminal Sachen Fisci zu Coesfelt«. Hexenverfolgung und Machtpolitik einer münsterländischen Stadt, in: Norbert Damberg/ Friedrich Bernward Fahlbusch (Hg.), Coesfeld 1197 - 1997. Beiträge zu 800 Jahren städtischer Geschichte, Coesfeld 1999; zu Lüdinghausen existiert bisher nur ein kleinerer Aufsatz von Ilona Tobüren- Bots: Wie der Teufel dem Henker ins Handwerk pfuschte. Hexenwahn im Kirchspiel Lüdinghausen anno 1624, in: Lüdinghauser Geschichtshefte 10 (1994), 25 - 30. 69 Eine kritische Diskussion dieses Konzepts findet sich u.a bei Rainer Walz: Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, Paderborn 1993, insbesondere 28ff. 70 Vgl. dazu ein im Staatsarchiv Münster unter dem Titel »Hexenverfolgung im Emsland« (sic) aufbewahrtes Quellenkonvolut, Staatsarchiv Münster, Msc. VI, 264b. 71 Vgl. etwa Staatsarchiv Münster, Landesarchiv 338, Nr. 26, 3. 72 Auf diese Thematik geht kurz ein Peter Oestmann: Hexenprozesse am Reichskammergericht, Köln 1997, 41f. Gudrun Gersmann 440 Johann von Morrien nach einem Sturz vom Pferd gestorben, und in den Monaten und Jahren darauf wurde die Familie so gehäuft mit existentiellen Problemen konfrontiert, daß jeder Gedanke an eine Hexenjagd, die auch von seiten des Gerichtsherren beträchtliche Energien erforderte, eigentlich hätte am Horizont verschwinden müssen. Der mit der Gräfin Anna Sophia von Limburg-Styrum verheiratete Johann von Morrien, Vater von vier kleinen Kindern, hatte sich schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts dem protestantischen Glauben zugeneigt. Als der dänische König Christian IV. 1625 in Deutschland erschien und als Retter des Protestantismus auftrat, 73 knüpfte er rasch enge Kontakte zu ihm und ergriff offen dessen Partei. Spätestens dann, als er für Christian IV. ein Regiment zu Pferde und eines zu Fuß zu werben begann, geriet der Herr zu Nordkirchen aber ins Visier des Fürstbischofs, der nach ihm fahnden ließ und ihn schließlich in Osnabrück entdeckte, wo Johann von Morrien eine kurze Zeit lang gefangengehalten wurde. 74 Damit nicht genug, drohten dem Adligen noch gravierendere Konsequenzen. Kaiser Ferdinand II. hatte ebenfalls zu Sanktionen gegriffen und die Güter des Mordian dem Reichshofratspräsidenten Graf Vratislaus zu Fürstenberg übertragen, ein entsprechender Vollzugsauftrag war dem kaiserliche Kommissar Johann von der Reck bereits erteilt worden. 75 Zu diesem entscheidenen Schritt kam es letztlich dann zwar nicht, doch hatte das Verhalten des Erbmarschalls die Familie gegen Ende der 1620er Jahre in eine äußerst prekäre Lage katapultiert. Einerseits schwebte der Konfiskationsbefehl wie ein Damoklesschwert über Anna Sophia, andererseits mußte sie den desaströsen Konsequenzen des Kriegsintermezzos nun hilflos ins Auge sehen. Denn der Dänenkönig lehnte es trotz ihrer dringlichen Schreiben kategorisch ab, der hoch verschuldeten Witwe die von Johann in der Gewißheit einer späteren Rückzahlung für Soldatenwerbungen ausgegebenen beträchtlichen Geldsummen zurückzuerstatten. Der daraus erwachsene Schuldenberg bedeutete für das Haus Nordkirchen noch ein Unglück mehr, war das Amt Werne doch, wie bereits angedeutet, durch die Kriegsdrangsale ohnehin schon ausgeblutet worden; die Bevölkerung litt schwer unter den Kriegsabgaben, den Einquartierungen fremder Truppen und den Raubzügen marodierender Soldaten. Warum das Gericht Davensberg ausgerechnet in jenen Monaten, als das Überleben des Hauses Nordkirchen auf dem Spiel stand, eine Verfolgungswelle sondergleichen anzettelte, die die Zahl der Untertanen noch stärker dezimierte, kann angesichts der skizzierten Umstände nur als Trotzreaktion mit starkem symbolischem Gehalt gedeutet werden. Es drängt sich in hohem Maße die Vermutung auf, daß die Witwe dem drohenden Verlust mit einem usurpatorischen Akt zu begegnen versuchte, der die ganze althergebrachte Gerichtsherrlichkeit wider jeden Zugriff von seiten des Landesherren zu verteidigen versuchte. Der Blick auf den Prozeß der Anna Walboem läßt erste Annahmen, wenn nicht Antworten, in dieser Richtung formulieren. Der reichen Quellenüberlieferung nach 76 ging ihr Prozeß, wie so oft, aus anderen Hexereiverfahren hervor. Im Oktober und Novem- 73 Dazu neuerdings Gunnar Teske: Bürger, Bauern, Söldner und Gesandte. Der Dreissigjährige Krieg und der Westfälische Frieden in Westfalen, Münster 1997, 70ff. 74 Schwieters: Geschichtliche Nachrichten (wie Anm. 24) 112f. 75 Vgl. dazu die Notiz von Georg Tumbült: Zur Geschichte der Herren von Morrian, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde 56 (1898), 109 - 112. Wichtige Quellen zur Erhellung dieses Kapitels der Familiengeschichte befinden sich im Archiv Fürstenberg zu Donaueschingen, O A 3, Bd. VII: Mordianische confihcirte Güther im Münsterl. betr. de anno 1629. Konflikte, Krisen, Provokationen 441 ber 1629 war die alte, aus Ottmarsbocholt stammende, damals schon über achtzigjährige Frau von mehreren später hingerichteten Hexen und Zauberern als Komplizin beim Hexentanz denunziert 77 und kurz darauf, im Monat November, 78 gefangengenommen worden. Der als Ersatz für seinen kranken Schwiegervater Engelbert Langenhorst amtierende »substituierte« Richter Johann Ascheberg hatte ziemlich bald danach die Tortur über sie verhängt, ohne indessen das von ihr gewünschte Geständnis zu erlangen. Während die Familien anderer Verfolgungsopfer tatenlos blieben, setzten die Angehörigen der Anna Walboem sofort alle Hebel zur Rettung ihrer Mutter - respektive Schwiegermutter - in Bewegung. Schon wenige Tage nach deren Gefangennahme konsultierten sie einen Anwalt, der sich in ihrem Auftrag mit einer Supplik an die heimgelassenen Räte wandte. Das auf den 14. Dezember 1629 datierte Schreiben wirft ein bezeichnendes Licht auf die Art und Weise, wie man damals Hexenprozesse am Gericht Davensberg zu führen pflegte. Die im Kirchspiel Ottmarsbocholt als ehrlich und fromm bekannte Greisin sei lediglich aufgrund der Denuziationen und Diffamationen etzlicher verbrannter Hexen eingezogen und peinlich befragt worden, hieß es im Text des Schreibens, das Rentmeister und Richter zu Davensberg, Johann Freusberg und Johann von Ascheberg, mit heftigen Vorwürfen attackierte. Wider die Ratschläge erfahrerer Rechtsgelehrter habe Ascheberg die alte persohn ohne erhebliche inditia so schrecklich foltern lassen, daß sie wie tot auf dem Platz liegen geblieben sei. Der der Walboem feindlich gesonnene, gefehrliche notar Freusberg habe seinerseits die Akten in manipulativer Absicht an fremde Rechtsgelehrte und eben nicht nach Münster geschickt. Ihre Bitte, die kranke und schwache Frau aus dem Gefängnis zu entlassen und vor allem erst einmal den Rat unparteiischer Rechtsgelehrter aus Münster abzuwarten, bekräftigten die Walboemischen Kinderen mit einem von den Rechtsgelehrten Melchior Knippenberg, Theodor Kerkhoff, Johann Block, Johann Bischoping und Johann Steffens unterzeichneten Gutachten, in dem sich die fünf in lateinischer Sprache gegen die Folterung der Mutter Walboem aussprachen. Als die Supplik vier Tage später, am 18. Dezember 1629, vor die münsterischen Räte gelangte, entschieden sich die Herren von der Regierung zunächst für ein behutsames Vorgehen. 79 Man müsse darauf achten, daß im Einklang mit den gemeinen Rechten und der peinlichen Gerichtsordnung procediert werde, unterrichteten sie am gleichen Tag ihre Beamten zu Werne. Der »substituirte« Richter Ascheberg solle erst einmal mit dem Verfahren einhalten. Da aufgrund der kalten Witterung der Tod der Frau im Gefängnis zu befürchten sei, solle sie so bald wie möglich in ein besseres Gemach transportiert werden. 80 Ein landesherrliches Gericht hätte die Anordnungen der Räte mit hoher Wahrscheinlichkeit befolgt und dem Opfer zumindest eine Ruhepause verschafft, nicht so hingegen das Gericht Davensberg. Ascheberg und Langenhorst fühlten sich keineswegs an die Direktiven aus Münster gebunden, sondern, ganz im Gegenteil, den Instruktionen der Gerichtsherrin verpflichtet, die sie auf ihre Linie eingeschworen hatte. Der alte und der neue Richter stritten deshalb gegenüber den landesherrlichen Beamten 76 Allein mit den im Archiv Nordkirchen erhaltenen Prozeßfragmenten (10720) können die Vorgänge nur teilweise erhellt werden. Aufschlußreiches ergänzendes Material liegt im Staatsarchiv Münster, Bestand Altertumsverein (Msc. 317b). 77 Archiv Nordkirchen 12219, Protocollum criminale, Bl. 86b, 89b, 92 und 95. 78 Archiv Nordkirchen 10720. 79 Staatsarchiv Münster, Fürstentum Münster, Regierungsprotokolle 1629, Bl. 219b. 80 Staatsarchiv Münster, Altertumsverein 317b, Bl. 37b, Schreiben vom 18. Dezember 1629. Gudrun Gersmann 442 jede Verantwortlichkeit ab und beharrten darauf, daß die Milderung der Kerkerhaft außerhalb ihrer Gewalt stünde, das sei allein die Sache der Frau Marschallin zu Nordkirchen. Für den Anwalt der Kläger gestatteten diese Ausflüchte nur eine einzige Interpretation, zeigten sie ihm doch, daß der alte und der neue Richter lediglich als Marionetten des Gerichtsinhabers agierten, ja, daß sich hinter der Oberfläche tiefere Gründe verbargen. In der Auseinandersetzung um das Schicksal der alten Walboem ging es, wie er klar erkannt hatte, weniger um den Übereifer des jungen Richters Johann Ascheberg oder die Ressentiments des Davensbergischen Rentmeisters Freusberg als letztlich nur um das eine große Leitmotiv, - um die Anmaßung und das Machtstreben der Gerichtsherrin selbst. Der alte Richter Langenhorst war wieder einmal zwischen die Fronten geraten und von daher sehr erpicht darauf, ›seine Hände in Unschuld zu waschen‹. Er habe wegen der mitigatio carceris und der gewünschten Akteneinsicht gleich nach Erhalt der Botschaft aus Münster an den Davensbergischen Rentmeister geschrieben und um rasche Erledigung gebeten, rechtfertigte er sich am 6. Januar in einem geschickt komponierten Brief an die münsterischen Räte, der seine lauteren Absichten ebenso wie seine Loyalität gegenüber der Landesregierung herausstreichen sollte. Getreu seiner Zielvorgabe vermied Langenhorst alles, was in Münster als Affront hätte aufgefaßt werden können, und betonte insbesondere, während seiner Amtszeit nie vom Gebot der Aktenversendung an unparteiische Gelehrte abgewichen zu sein. Selbst die eigenmächtige Amtseinsetzung Aschebergs spielte er zu einer rein pragmatischen Maßnahme herunter; nach dem krankheitsbedingten Ausfall etlicher Gerichtstermine habe er seinen Schwiegersohn als Vertreter genommen, um weitere Verzögerungen der Justiz zu vermeiden. 81 Zu diesem Zeitpunkt lag die Frau, wegen der so fieberhaft Briefe zwischen Münster und Davensberg gewechselt worden waren, bereits auf dem Sterbebett. Ihr Tod irgendwann in den ersten beiden Wochen des Januar 1630 bedeutete jedoch nicht das Ende, sondern lediglich den Beginn einer weiteren Runde im Kampf der Familie Walboem gegen das Gericht Davensberg. Nun konnte zwar niemand mehr die alte Frau vor den Qualen der Kerkerhaft schützen, dafür stand jetzt das Schicksal des Leichnams zur Diskussion, mit dem das Gericht offenbar nichts Rechtes anzufangen wußte, außer daß man sich von Experten - von eigens zur Inspektion des Körpers herbeigerufenen Scharfrichtern - die Bestätigung holte, daß der Teufel der alten Walboem den Hals zerbrochen habe. Die Meinung der Leichenbeschauer, die sie selbst als Blutsverwandte einer Hexe gebrandmarkt und unter Umständen in Gefahr gebracht hätte, konnte und wollte die Familie Walboem so allerdings nicht akzeptieren. Sie betraute ihren Anwalt daraufhin mit der Anstrengung einer Injurienklage gegen Langenhorst, Ascheberg und Freusberg, in deren Kontext die am Gericht vorgefallenen Rechtsbrüche und insbesondere Aschebergs Verfehlungen noch einmal in aller Deutlichkeit aufgelistet wurden. Der Version der Familie zufolge hatte sich Ascheberg demonstrativ vom Urteil der als Gutachter hinzugezogenen fünf Rechtsgelehrten distanziert und den Fall der alten Walboem jen- 81 Ebd., Schreiben vom 6. Januar 1630, Bl. 43f. Der einmal eingeschlagenen Linie blieben Langenhorst und seine Mitbeklagten treu. Die Schrift ihres Anwalts betonte später erneut, daß sie in dieser sachen fur sich selbsten nicht gehandlet hätten, sondern die acta so woll bei der verstrickten walbomischen leben alß nach deren todt jederzeit an unpartheische rechtsgelehrten umb rechtmessige urtheil fassungh außgestalt haben. Konflikte, Krisen, Provokationen 443 seits aller sonst geltenden Verfahrensweisen, gestützt auf ein buglein, ein ihm als Leitfaden dienendes Büchlein also, behandelt. Vor allem aber, insistierten die Kläger, habe sich Ascheberg gegen das von der Carolina geforderte Institut der Aktenversendung gesträubt und sämtliche Befehle aus Münster in den windt geschlagen. 82 Je mehr sich der Fall zuspitzte, desto weniger konnten die Räte in Münster ihre Augen vor der Tragweite des Geschehenen verschließen, schon allein deswegen nicht, weil auch Anna Sophia, die Witwe des Johann Morrien, unmißverständlich ihren Standpunkt in die Debatte einbrachte. Mit der Anforderung der Akten und dem Befehl, mit fernerm procediren einzuhalten, hätten die Räte zu viell getan und die Bestimmungen des der jurisdiction halber ufgerichteten vertragh(s) von 1566 verletzt, ließ sie den Räten empört mitteilen. 83 Als die Räte am 14. Januar 1630 erneut über die Ereignisse in Nordkirchen und Umgebung nachdachten, stand deshalb vor allem die Frage im Raum, wie den Davensbergischen Anmaßungen am besten begegnet werden könne. 84 Am Ende entschied man sich, der Frau zu Nordkirchen gegenüber Stärke zu demonstrieren. Da der Kölner Kurfürst als Bischof zu Münster in Davensberg concurrentem jurisdictionem besitze und ohne seinen Konsens keine Richterbestellung erfolgen dürfe, müsse der substituierte Richter vorläufig mit seinem Werk aufhören. 85 Es liege aber in den Händen der Räte, auf Parteienklagen von den Richtern die Akten einzufordern, um ufsicht zu haben uf daß rechtliger weise und nicht nichtiglich verfahen werde, unterstrichen sie ausdrücklich in einem noch am gleichen 14. Januar von Münster aus ans wernische Amtshaus gesandten Schreiben. 86 Ungeachtet aller verbalen Absichtsbekundungen konnten die Räte die reklamierte ufsicht über die Prozeßführung am Gericht Davensberg de facto jedoch nie übernehmen. Offenbar wurde weder der Körper der toten Frau von zwei unparteiischen Experten besichtigt, wie sie es angeordnet hatten, noch das Urteil unpassionirter Referenten eingeholt. Die von den Räten als Gutachter empfohlenen Licentiaten Mum und Sickman - beide Referenten bei der Regierung - erhielten keine entsprechende Anfrage aus Nordkirchen. Stattdessen wandte sich Johann von Ascheberg jedoch um Rat an einen von ihm ausgewählten Doktor der Rechte, der in den Quellen als Heinrich Schultheis aus Arnsberg figuriert. Dieser Name hat für den Hexenhistoriker einen vertrauten Klang, denn niemand anderer war damit gemeint als der berüchtigte Hexenrichter Heinrich von Schultheiß, der nach Studien an den Universitäten Köln und Würzburg und einem Aufenthalt im Dienst des Mainzer Erzbischofs Johann Schweikhard seit dem Jahre 1614 in Arnsberg, der Hauptstadt des Herzogtums Westfalens, als kurfürstlicher Rat und »Advocatus Fisci« wirkte. Als er in Sachen Walboem um Rat gefragt wurde, besaß Schultheiß bereits reichliche Erfahrung im Umgang mit Hexenprozessen, denn er hatte seit 1616 solche Verfahren geleitet und stand jetzt, nahezu 1½ Jahrzehnte später, im Ruf eines versierten Hexenjägers. 82 Archiv Nordkirchen 10720. 83 Staatsarchiv Münster, Altertumsverein 317b, Bl. 55b. 84 Staatsarchiv Münster, Fürstentum Münster, Regierungsprotokolle 37 (1630), Bl. 9b, 14. Januar 1630. 85 Staatarchiv Münster, Altertumsverein 317b, Bl. 55b, 14. Januar 1630. 86 Ebd., Bl. 56b. Gudrun Gersmann 444 In den 1630er Jahren krönte Schultheiß seine Tätigkeit als Hexenkommissar mit der Niederschrift eines »wissenschaftlichen Werkes« zur Hexenverfolgung, das mehr als 500 Seiten im Quartformat umfaßte. Die zum überwiegenden Teil in deutscher Sprache verfaßte Instruction, wie in Inquisitionssachen des greulichen Lasters der Zauberei gegen die Zauberer, der göttlichen Majestät und der Christenheit Feind, ohne Gefahr der Unschuldigen zu prozedieren, richtete sich an eben die Klientel, die auch im fernen Münsterland ein Interesse an der Führung von Hexenprozessen bekundete, - die adeligen Inhaber der ländlichen Gerichte. 87 Welche Gründe bewegten Johann Ascheberg dazu, im Prozeß gegen Anna Walboem ausgerechnet den Hexenkommissar Schultheiß zu konsultieren? Verglichen mit ähnlich gelagerten Fällen wird man mit einigem Recht auch bei dem neuen Richter taktisches Kalkül vermuten dürfen. Angesichts der Vorgeschichte konnte Ascheberg bei Schultheiß auf Unterstützung für seinen eigenen Kurs rechnen, darauf, daß er im Sinne der Davensberger argumentieren, mithin das gegenüber der alten Frau angewandte Vorgehen billigen würde, was er wiederum von den bei der Regierung beschäftigten Rechtsgelehrten kaum erwarten konnte. Mit der Einschaltung des Juristen Heinrich Schultheiß brachten die Davensberger einmal mehr ihre Unnachgiebigkeit und das Beharren auf ihrer Art der Prozeßführung zum Ausdruck, während sie zugleich die Landesregierung in ihre Schranken verwiesen. In der Tat zeigte der Fall der alten Walboem sehr deutlich, wo der Einfluß der Landesregierung endete: Den Räten war es trotz aller Anstrengungen in keinem Punkt gelungen, ihre Vorstellungen gegenüber dem adeligen Gericht Davensberg durchzusetzen. Die oben beschriebenen Mechanismen lassen sich nicht nur bei der Familie von Morrien entdecken, sondern durchaus auf andere münsterländische Adelsfamilien übertragen. Ähnliche Verhaltensweisen und eine ungebrochene Bereitschaft, die Hexenfrage für seine eigenen machtpolitischen Belange zu verwenden, legte beispielsweise Johann Adolf von Merveldt, Herr der Herrlichkeit Merfeld, an den Tag, als er sich nicht scheute, noch während eines schwebenden Streites am Reichskammergericht auf eigene Faust das Recht an sich zu reißen und mit Hexen, Zauberinnen und andere(n) Delinquenten im wahrsten Sinne des Wortes kurzen Prozeß zu veranstalten. 88 Den gleichen Impetus ließ zeitweise auch der Herr von der Recke zu Heessen spüren, der sich anläßlich des Hexereiverfahrens gegen Elsa Linnemanns im Sommer 1603 den berechtigten Vorwurf gefallen lassen mußte, daß ehr seinen gefaßten gerichtszwanck gehrne sterken wollte. 89 Adeliger Gerichtsherr vs. Landesherr - eine Chance für die Untertanen? So häufig sie unter der Hexenpolitik ihres zuständigen Gerichtsherren zu leiden hatten, so konnten die Untertanen von dessen Eifersucht auf den Landesherren und umge- 87 Zu Schultheiß bereitet Rainer Decker gerade eine Biographie vor. Erste Ergebnisse präsentiert Decker in seinem Beitrag: Der Hexenrichter Dr. Heinrich v. Schultheiß (ca. 1580 - 1646) aus Scharmede, in: Stadt Salzkotten/ Detlef Grothmann (Hg.): 750 Jahre Salzkotten, Bd. 2, Paderborn 1996, 11045-11060. 88 Glasmeier: Das Geschlecht von Merveldt zu Merfeld (wie Anm. 30), 52. 89 Archiv Boeselager-Höllinghofen, Nr. 17: Prozeßakten des Heessener Prozesses Fiscus gegen Else Lindeman (Linnemann) wegen Zauberei nebst Protokoll des Zeugenverhörs durch Arnold Langemann, Richter zu Hamm und Rhynern 1603. Konflikte, Krisen, Provokationen 445 kehrt andererseits manchmal durchaus profitieren, wie u.a. der Fall des Kötters Henrich Jaspers aus Buldern dokumentiert. Jaspers figuriert in den Quellen als Eigenbehöriger der Herren von Diepenbrock, die seit etwa der Mitte des 15. Jahrhunderts auf dem Haus Buldern ansässig waren und das Dorf Buldern als Beifang besaßen, während der Rest des Kirchspiels der landesherrlichen Jurisdiktion im Amt Dülmen unterstand. 90 Am Gericht Buldern fanden Gerichtsverhandlungen in unregelmäßigen Abständen unter der Leitung eines vom Haus Buldern bestellten Richters und zweier Freischöffen im Beisein des Gerichtsherren an dem gewonttlichem Gerichtzuplattz unter der Linde statt. 91 Angesichts der Tatsache, daß der Beifang Buldern wie eine kleine Insel vom münsterischen Amt Dülmen umschlungen lag, verwundert es nicht, daß hier - nach inzwischen altvertrautem Muster - immer wieder Auseinandersetzungen in Hinsicht auf die Zuständigkeiten der Zivil- und Kriminaljurisdiktion losbrachen, die im Jahre 1619 einen vorläufigen Endpunkt erreichten. Ein damals getroffener Vergleich zwischen den münsterischen Räten und dem Freiherren Georg Henrich von Diepenbrock zu Buldern sprach letzterem für den Bezirk seines Beifangs ausdrücklich probe, vroge, accise zu und bestätigte dessen Recht auf die alleinige Ausübung der Ziviljurisdiktion, setzte jedoch klare Grenzen in Hinsicht auf das Verfahren in Criminalsach(en): Diepenbrock, hieß es im Text des Vergleichs, solle die Missetäter nach beschehenem angriff so bald wie möglich an die landesherrlichen Beamten ausliefern. 92 In der spannungsgeladenen Atmosphäre vor dem Vertrag von 1619 sorgte Henrich Jaspers für einen Eklat, als er sich unter dem Druck familiärer Hexereibelastungen und wiederholter Bezichtigungen aus der Nachbarschaft zu einem verzweifelten Schritt entschloß und als einer von vielen münsterländischen Zaubereiverdächtigungen zur Wasserprobe in die Herrlichkeit Lembeck reiste. 93 Unter dem Datum des 6. Juli 1615 wird in den Einnahme- und Ausgaberechnungen des Hauses Lembeck ein Mann dieses Namens erwähnt, der zusammen mit seiner Schwester Grete zur Probe hergekommen und dabei geschwommen sei. 94 Jaspers befand sich nach dem Scheitern der Probe in einer doppelt verzweifelten Situation, weil er durch das Schwimmen an der Wasseroberfläche nicht allein die ohnehin kursierenden Zaubereigerüchte noch zusätzlich genährt, sondern sich zudem den Zorn des Diepenbrock zugezogen hatte, der ihm den Gang nach Lembeck strikt verboten und ihn zugleich gewarnt hatte, daß er bei Zuwiderhandlung totum suum jus an seinem Kotten verlieren werde. Daß die Lembecker Probe für ihn und seine Schwester Greite mit einem Fiasko endete, konnte sich Jaspers nachher im übrigen nur damit erklären, daß er von eben der Schwester Greite in seiner Kinderzeit, als man noch gemeinsam das Bett teilte, ein geringes gebett gelernt habe, eine andere Bezeichnung vielleicht für volkstümliche Segnungsformeln. Er habe aber niemals gedacht, versicherte Jaspers später glaubhaft, wie es für die von ihrem Versagen überraschten Kandidaten typisch war, daß er sich damit des waßers verunwürdiget und schwemmen mußen. 95 90 Olfers: Beiträge zur Geschichte der Verfassung (wie Anm. 18), 83. 91 Peter Ilisch: Die Burg im Dorf Buldern, in: Geschichtsblätter des Kreises Coesfeld 1995, 49 - 62, hier insbes. 52f. 92 Staatsarchiv Münster, Dep. von Romberg, Haus Buldern, Akten Nr. 494. 93 Zur Funktion der Wasserprobe im Münsterland vgl. Gudrun Gersmann: Wasserproben und Hexenprozesse. Ansichten der Hexenverfolgung im Fürstbistum Münster, in: Westfälische Forschungen 1998. 94 Merveldtsches Archiv Lembeck, Bestand Lembeck 238. Gudrun Gersmann 446 Nach dem unglücklichen Verlauf des Wasserwerfens zögerte Diepenbrock nicht, seine Ankündigungen in die Tat umzusetzen. Schon einen Tag nach dem Lembecker Hexenbad schickte er den Notar Gerhard Kettler zu Jaspers Frau, um die Angelegenheit gründlich zu erforschen und auch die Schwester Ennike in Gegenwart u.a. des Pastors zu den Ereignissen in Lembeck zu vernehmen. 96 Zu diesem Zeitpunkt hatte Henrich Jaspers selbst schon gezwungermaßen sein Dorf verlassen - und seine gleichfalls in Lembeck gescheiterte Schwester Greite aus Furcht vor einem eventuellen Hexenprozeß den Freitod gewählt. Sie ertränkte sich offenbar schon am frühen Morgen des 7. Juli 1615, nur einen Tag nach ihrem Schwimmen, in einem Teich vor der Stadt Dülmen. 97 Mit Vertreibung und Selbstmord der Betroffenen war die Sache allerdings keineswegs abgeschlossen, sondern vielmehr in ein neues Stadium eingetreten. Denn ebenso, wie sich Georg Henrich zu Diepenbrock plötzlich mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, Überlegungen zu tätigen, wie er in ähnlichen Fällen künftig mit Wasserprobenkandidaten aus dem Dorf verfahren wolle, waren auch die - ja eigentlich für die Ausübung der Kriminaljustiz zuständigen - landesherrlichen Beamten durch die Nachrichten aus Buldern aufgeschreckt worden. Der Drost zu Sythen übersandte den Räten am 8. Juli 1615 eine Schilderung der Ereignisse, in der er dringend um Anweisungen aus Münster bat, da er nicht wisse, wie er sich zu verhalten habe. 98 Daß die münsterischen Räte in der betreffenden Frage in der Folge jedoch einen harten Kurs einschlugen, ihre eigenen Verbote der Wasserbote mit drastischen Worten in Erinnerung riefen und wegen deren Nichtachtung Jaspers zur Zahlung einer hohen Geldstrafe verdammten, rief allerdings Diepenbrocks Widerstand auf den Plan, sah er doch darin eine unzulässige Einmischung in seine höchstpersönlichen Angelegenheiten als Gerichts- und Grundherr. So legte er - in paradoxer Abkehr von seiner eigenen, ursprünglich ähnlich unnachgiebigen und wasserprobenfeindlichen Haltung - in einem auf den 10. August 1615 datierten Schreiben gegen den Beschluß der Räte Einspruch ein, über Jaspers eine hohe Brüchtenstrafe zu verhängen. Die beiden Dorfbewohner hätten von den münsterischen Befehlen keine wissenschaft gehabt und seien ferner derart unvermögend, daß man sie in der iegenwirtigen arm zeit nicht noch weiter beschweren solle, schrieb er an die Adresse der Landesregierung und hatte damit wohl Erfolg, denn die Zahlung der Brüchten blieb Jaspers offenbar erspart. Wie sich in der Folgezeit herausstellte, war Diepenbrocks Engagement für die beiden Zaubereiverdächtigungen allerdings weniger eine Geste des Mitleids als vielmehr der Versuch, einen von ihm eben als unzulässig empfundenen Zugriff der Räte auf seinen Gerichtsbezirk und seine Eigenbehörigen abzuwehren. Kein Zweifel, auch hier waren die »Hexen« wieder einmal zum Objekt adeligen Strategiedenkens und adeliger Selbstbehauptung geworden - und in der Tat erinnert die an den adligen Gerichten betriebene Hexenpolitik letztlich doch ein wenig an das Bild, das der Kritiker der »westphälischen Feder« einst in seinen »Berichtigungen« entworfen hatte. 95 Staatsarchiv Münster, Dep. von Romberg-Buldern 583, 7. Juli 1615. 96 Ebd. 97 Staatsarchiv Münster, Altertumsverein 317a, Bl. 258, 8. Juli 1615. 98 Die Antwort der Räte ist auf den 9. Juli 1615 datiert und lautete, daß der Leichnam der Frau verbrannt werden solle. Ebd., Bl. 259. 447 Jens Chr. V. Johansen Das nahe Gericht Über Kriminalität und das Rechtsbewußtsein dänischer Bauern in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Im November 1621 wurde Hans Nielsen von der Insel Lolland durch das Bezirksgericht von Sokkelund zum Tod durch den Strang verurteilt, weil er einen Topf und Bettwäsche aus dem Haus von Jep Hansen in Valby gestohlen hatte. 1 Sieben Jahre später, im Juni 1628, verurteilte das Gericht in Sokkelund Mogens Mogensen vom Bezirk Gönge (heute in Schweden gelegen) zum Erhängen, weil er 62 Ellen Leinwand gestohlen hatte. 2 Hans Rasmussen, der einige Zeit in Vridsløse gewohnt hatte, wurde im November 1633 durch das Gericht des Gutes Herlufsholm wegen des Diebstahls zweier Ochsen verurteilt. 3 Neben dem Delikt des Diebstahls ist den erwähnten Fällen gemeinsam, daß alle drei Täter Fremde waren. Zunächst mag diese Tatsache banal erscheinen. Gerade deshalb haben solche einfachen Grundzüge der Kriminalität früherer Zeiten die Forschung kaum in höherem Maße interessiert. Die dort erörterten Fragen waren weitaus ambitionierter 4 - was dabei auf der Strecke blieb, war die Verbindung zum Alltag der Menschen in der Vergangenheit. Über Theoriebildung in der Kriminalitätsgeschichte Viele Jahre lang erfreuten sich Untersuchungen serieller Massenquellen über einen längeren Zeitraum hinweg besonderer Beliebtheit, die allgemeine Aussagen über die Entwicklung der Kriminalität vom späten 16. bis zum Anfang des 19.Jahrhunderts zu liefern versprachen. Vielfach wurde der Nachweis versucht, es habe eine Entwicklung von einer gewaltsamen hin zu einer von Eigentumsverbrechen geprägten Gesellschaft gegeben. Oft wurde behauptet, daß diese Entwicklung den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus repräsentiere. Derartige Studien gingen von der Voraussetzung aus, daß durch eine Analyse der in den Gerichtsprotokollen erhaltenen Fälle eindeutige Erkenntnisse über das Ausmaß der Kriminalität in der Vergangenheit zu gewinnen wären. 5 Inzwischen sind diese Versuche einer grundlegenden und z. T. auch zutreffenden Kritik unterzogen worden. 6 Als Ausgangspunkt dient dieser Kritik das, was die moder- 1 Ole Karup Pederse/ Poul Erik Olsen (Hg): Sokkelund herreds tingbog, Kopenhagen 1957 - 1980. (Im folgenden verkürzt Stb) 14. und 21. November 1621. 2 Stb 12. Juni und 3. Juli 1628. 3 Karen Marie Olsen (Hg): Herlufsholm birks tingbog, Kopenhagen 1954 - 1957. (Im folgenden verkürzt Htb), 28. Oktober, 4. und 11. November 1633. 4 Vgl. für eine sehr gute skandinavische Forschungsübersicht Dag Lindström: Oärliga mästare och kivande maker. Ett och annet om rättskipning, kriminalitet och normsystem i 1500-talets Norden, in: (Svensk) Historisk tidskrift 1994: 1, 517 - 532. 5 Jens Chr. V. Johansen/ Henrik Stevnsborg: Hasard ou myopie. Réflexions autour de deux théories de l'historie du droit in Annales E.S.C. 41 (1986), 601 - 624. Jens Chr. V. Johansen 448 nen Kriminologen als Dunkelziffer bezeichnen. In eine Kriminalstatistik können nur diejenigen Verbrechen eingehen, die der Polizei zur Kenntnis gebracht worden sind. Diejenigen Schlägereien und Diebstähle, die nicht angezeigt wurden, machen die Dunkelziffer aus, deren Ausmaß wir nicht kennen. In früheren Zeiten, so das Argument, sei diese Dunkelziffer noch größer gewesen, teils, weil viele dieser Verbrechen den Behörden gar nicht zur Kenntnis gebracht wurden 7 , teils, weil es alternative Möglichkeiten gab, gütliche Lösungen außerhalb der Gerichte zu erreichen. Andere Richtungen der Kriminalitätsgeschichte schlossen sich mit ihren Interessen und Thesen an die sog. Zivilisationstheorie von Norbert Elias an. Die Idee ist einfach, und die Forscher, die sie gebraucht (oder auch mißbraucht) haben, benötigten nicht unbedingt eine genauere Kenntnis über das Quellenmaterial, auf denen das Studium der Kriminalität in der Vergangenheit beruht. Schon eine kursorische Lektüre der Gerichtsprotokolle des 16. und 17. Jahrhunderts zeigt, daß die Menschen hier leicht in Schlägereien verwickelt wurden; 200 Jahre später hat sich dieses Verhaltensmuster weitgehend verflüchtigt. Was, so die entscheidende Frage, ist während dieser 200 Jahre geschehen? Die Vertreter der Zivilisationstheorie behaupten, daß die Menschen in irgendeiner Form diszipliniert worden seien; hätten sie ursprünglich ihre Gefühle nicht genügend in der Gewalt gehabt, um Schlägereien und Totschläge zu vermeiden, so sei es ihnen nun durch den Eingriff des Staates oder durch Selbstdisziplinierung gelungen, diese Affekte zu unterdrücken. In den letzten Jahren nun hat sich die Aufmerksamkeit der Forschung einigen Phänomenen zugewandt, die auch das Leben der Menschen in der Vergangenheit konkret in Betracht ziehen. Kurz gesagt wird hervorgehoben, welch bedeutender Faktor die Ehre für die Leute der frühen Neuzeit war und daß diese Ehre um jeden Preis geschützt werden mußte. Natürlich ist es ein Problem zu erklären, warum der Ehre besonders in diesem Zeitraum eine solch große Rolle zukam. Eng mit dieser Auffassung verbunden ist eine Theorie, die davon ausgeht, daß das alltägliche Rechtssystem auf Scham und Reintegration basierte. 8 Neben der Erörterung dieser großen Theorien beanspruchten die ganz einfachen Fragen wie z. B. diejenige, wer die Opfer der Diebstähle waren oder wer die Schlägereien begangen hatte, sehr viel geringeres Interesse. Einige dieser Fragen sollen im folgenden erörtert werden. Quellengrundlage bilden die Fälle von Totschlag, Körperverletzung und Beleidigung in zwei seeländischen Gerichtsgemeinden: in den zum Herrenhof Herlufsholm gehörenden Dörfern für die Jahre 1616 - 1619 bzw.1630 - 1633 und im königlichen Gerichtsbezirk von Sokkelund, der rund um Kopenhagen lag, für den Zeitraum 1621 - 1630. 6 Siehe z.B. die Forschungsübersicht von Xavier Rousseaux: Existe-t-il une criminalité d'Ancien Régime? Réflexions sur l'histoire de la criminalité en Europe (XIVe -XVIIIe siècle), in Benoît Garnot (Hg.): Histoire et criminalité de l'Antiquité au XXe siècle. Nouvelles approches, Dijon 1992, 1 2 3 -148. 7 Bruce Lenman/ Geoffrey Parker: The State, the Community and the Criminal Law in Early Modern Europe, in: V.A.C. Gatrell [et al.] (Hg.): Crime and the Law: The Social History of Crime in Western Europe since 1500, London 1980, 11 - 48: 18. 8 Eva Österberg: Brott och social kontroll i Sverige från medeltid till stormaktstid. Godtycke och grymhet - eller sunt förnuft och statkontroll ? in: (Norsk) Historisk tidsskrift 1991: 2, 150 - 165: 162f. Das nahe Gericht 449 Quantitative Studien Die Etablierung langer Datenserien, aufgrund derer eine Beurteilung der Entwicklung von Kriminalität über eine lange Dauer hinweg möglich wäre, ist verwickelter, als es möglicherweise zunächst erscheint. Tatsächlich könnte eine solche Rekonstruktion der Kriminalitätsentwicklung nur gelingen, wenn das Blickfeld hinreichend groß wäre. Falls man im Jahr 1618 durch Studien in bestimmten Orten oder Regionen ein Übergewicht von Gewaltkriminalität dokumentieren könnte und sich durch eine Untersuchung in denselben Orten und Regionen im Jahr 1807 eine Dominanz von Eigentumskriminalität feststellen ließe, so wäre der Schluß möglich, daß eine Entwicklung von Gewaltverbrechen zu Diebstählen stattgefunden hätte. 9 Das Problem ist nur, daß europäische Gerichtsprotokolle in der Regel gar nicht die Möglichkeit bieten, derartige Studien zu erstellen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Domkapitel von Lyon, das über mehrere Dörfer in der Umgebung die Gerichtsbarkeit innehatte, schickte nur einmal im Jahr einen Richter hinaus, um die aufgekommenen Konflikte abzuurteilen. 10 Stellen wir uns nun vor, daß zwei Personen wenige Tage, nachdem der Richter das Dorf verlassen hatte, in eine Schlägerei gerieten; wollten sie den Konflikt mit gerichtlichen Mitteln lösen, so hätten sie fast ein ganzes Jahr warten müssen. Das aber war undenkbar. Folgerichtig ist zu erkennen, daß der örtliche Gutsherr oder der Pfarrer als Mittler tätig wurden, um eine Schlichtung zwischen den Parteien zu erreichen. Wenn diese Schiedsleute keine Einigung erreichen konnten, blieb nur das rabiateste aller Mittel - die Blutrache. In Dänemark waren die Verhältnisse anders organisiert, und deswegen sind die quantitativen Auswertungsmöglichkeiten von Rechtsprotokollen wesentlich besser als in vielen anderen Regionen. Dänemark war schon im 17. Jahrhundert eine Rechtsgesellschaft. 11 Das Gericht wurde jede Woche an einem festen Tag gehalten, lediglich während der Erntezeit begnügte man sich mit zwei Gerichtstagen im Monat. Hatte ein Bauer einen anderen geschlagen oder hatte eine Frau eine Kontrahentin beschimpft, so brauchten sie nicht sehr lange Zeit zu warten, um den Konflikt vor Gericht zu bringen. 12 Dementsprechend sind Schlägereien und Beleidigungen sehr häufig in dänischen Gerichtsprotokollen zu finden. Trotzdem stoßen wir auf einige ernsthafte Schwierigkeiten bei dem Versuch, eine Kriminalstatistik zu etablieren. 9 Siehe auch Eva Österberg: Kontroll och kriminalitet i Sverige från medeltid till nutid. Tendenser och tolkninger, in: Scandia. Tidskrift för historisk forskning 57 (1991), 65 - 87: 79. 10 Jens Chr. V. Johansen: Ved vejs ende (...)? Betragtninger ved afslutningen af Landbohistorisk Selskabs udgivelse af ældre danske tingbøger, in: Fortid og Nutid 33 (1986), 285 - 291. 11 Jens Chr. V. Johansen: Retssamfundet, retsstaten og retssikkerheden i 16. - 18. århundrede, in: Fortid og Nutid 2(1995), 111 - 127. 12 In Dänemark finden wir auch sehr selten das Phänomen, daß alte Anklagen vorgebracht werden, wenn der Täter endlich gefangengenommen wird, siehe z.B. D. Ulrich: La répression en Bourgogne au XVIIIe siècle, in: Revue historique de droit francais et étranger 50 (1972), 398- 437: 405; J.P. Surrault: Les ›errants‹ en Touraine à la fin du XVIIIe siècle. Délinquance et criminalité, in: Annales de Bretagne et des Pays de l'ouest 88 (1981), 265- 281: 278 und Christiane Plessix-Buisset: Criminalité et société rurale en Bretagne au XVIIIe siècle: l'exemple de la paroisse de Bothoa, in: Mémoires de la société historique de Bretagne 59 (1982), 5 - 51: 40. Jens Chr. V. Johansen 450 Das nahe Gericht Mit dem Problem des »nahen Gerichts« ist hier keine zeitliche Dimension gemeint 13 , sondern es geht um räumliche Distanzen. Das Gericht von Sokkelund wurde in dem Ort Buddinge gehalten. Eine einfache Aufzählung der rund 50 Fälle von Totschlag und Körperverletzung in den Jahren 1621 - 1630 zeigt, daß nicht weniger als 14 davon geradewegs aus Buddinge stammten; aus den Dörfern Holte, Tårbæk und Valby, die fast im selben Abstand von der Gerichtsstelle in Buddinge lagen, wurden in derselben Zeit dagegen nur drei Fälle vorgebracht. Allein aus den vier Dörfern, die der Gerichtsstelle am nächsten lagen, nämlich Buddinge, Gentofte, Gladsaxe und Vangede, kamen mehr als die Hälfte aller Fälle. Zwar handelt es sich bei diesen vier Ansiedlungen im Verhältnis zu anderen Dörfern des Bezirks um größere Dörfer; vergleichen wir diese vier aber mit anderen Dörfern im südwestlichen Teil des Bezirks (mit den Dörfern Hvidovre, Rødovre, Valby und Vigerslev), so sehen wir, daß sich dort insgesamt mehr Höfe und Häuser konzentrierten. 14 Die größere gerichtliche Aktivität in den vier Dörfern der Zentrumsregion beruht also nicht auf einer größeren Bevölkerungskonzentration. 15 Noch sinnfälliger wird die Lage, wenn wir die Beleidigungsfälle betrachten. Wiederum kamen fast die Hälfte aus den Dörfern Buddinge, Gentofte, Gladsaxe und Vangede, während in den Dörfern Holte, Husum, Valby, Vanløse, Vedbæk und Vigerslev keine Verfahren wegen Injurien angestrengt wurden. Aus den zwei Dörfern Lundtofte und Skovshoved, die im größten Abstand von Buddinge situiert waren, kamen nur zwei Fälle. Nun ist es unwahrscheinlich anzunehmen, daß in Valby im Gegensatz zu Buddinge keine Schimpfwörter geäußert wurden, die vor Gericht zu einer Beschuldigung hätten führen können. Vor dem Hintergrund unseres Wissens über die Gewaltanwendung im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts ist es kaum plausibel anzunehmen, daß die Anzahl der Schlägereien in Hvidovre und Valby so viel geringer gewesen sein soll als in Buddinge und Gladsaxe. Also müssen wir von einer räumlich unterschiedlichen Ökonomie bei der Bemühung der Gerichte ausgehen. Zeichnen wir konzentrische Kreise um den Mittelpunkt Buddinge herum, so können wir sehen, daß die Zahl der vor Gericht kommenden Fälle zunahm, je näher das Dorf am Gerichtsort lag. Offensichtlich erschien es den betreffenden Bauern zu aufwendig, von Hvidovre nach Buddinge zu fahren, um dort die Beschuldigung vorzubringen, daß eine Person einer anderen mit einem Krug Bier auf den Mund geschlagen hatte, nachdem sie in Streit über die Pacht einer Wiese geraten waren. 16 Schließlich mündeten viele der vor Gericht geäußerten Klagen nie in einen eigentlichen Prozeß, wie weiter unten zu zeigen sein wird. 13 Vgl. Jens Chr. V. Johansen: Judicial Behaviour in Early Modern Denmark, in: Jens Chr. V. Johansen [et al.] (Hg.): Clashes of Culture. Essays in Honour of Niels Steensgaard, Odense 1992, 94- 106: 99. 14 Die Auskünfte stammen aus Henrik Pedersen: De danske landbrug fremstillet paa Grundlag af Forarbejderne til Christian Vs matrikel 1688, København 1928. Dozent Karl-Erik Frandsen hat mir erklärt, daß ein großer Unterschied in der Anzahl der Höfe und Häuser zwischen dem ersten und dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts kaum zu erwarten ist. 15 Vgl. Cynthia B. Heerup: The Common Peace. Participation and the Criminal Law in Seventeenth-Century England, Cambridge 1987, 58; Peter King: Newspaper reporting, prosecution practice and perceptions of urban crime: the Colchester crime wave of 1765, Continuity and Change 2 (1987), 423 - 454: 425 und Robert B. Shoemaker: Prosecution and Punishment. Petty Crime and the Law in London and Rural Middlesex, c.1660- 1725, Cambridge 1991, 277- 282 (mit Vorbehalt). 16 Stb, 20. Juli 1626. Das nahe Gericht 451 Im Bezirk von Herlufsholm waren die Verhältnisse ganz anders. Die Höfe, die zum Gut gehörten, waren nicht über so große Distanzen verstreut wie in Sokkelund. Es überrascht deshalb auch nicht weiter, daß mehr als die Hälfte der Schlägereien aus den vier Dörfern Holsted, Ladby, Ll. Næstved und Vriedsløse kamen, die nahe dem Gerichtsort lagen. Als z. B. Mourids Smed in Karrebæk sein Zeugnis abgelegt hatte, daß er und Dines Lauridsen sich mit Peitschen traktiert hätten, als sie sich in Ll. Næstved begegneten, äußerte er, er wolle nichts mehr mit dem Verfahren zu tun haben. 17 Karrebæk lag weiter von der Gerichtsstelle entfernt als Ll. Næstved. Was die Fälle von Beleidigung anbelangt, so ist ihre Zahl wahrscheinlich zu gering, um eine Statistik zu erstellen; es waren zwischen 1621 und 1633 nur neun Verfahren. Aber auch hier entspricht die räumliche Schwerpunktbildung ziemlich genau dem Bild im Bezirk von Sokkelund. Die ›verschwundenen‹ Schlägereien Der dänische Historiker Hans Henrik Appel hat darauf hingewiesen, daß viele Fälle von Schlägereien in den Gerichtsprotokollen des Bezirkes Skast in Südwestjütland weder mit einem Urteil noch mit einer Schlichtung enden; über die Hälfte der Fälle verschwindet einfach aus den Gerichtsprotokollen, ohne zu einem formalen Ende zu gelangen. 18 Auf denselben Befund stoßen wir in den Gerichtsprotokollen von Herlufsholm und Sokkelund. 19 In Herlufsholm geht es dabei um rund zwei Drittel aller Fälle von Totschlag und Körperverletzung; in Sokkelund ist die Anzahl der nicht zu Ende gebrachten Fälle etwas geringer, knapp die Hälfte der Fälle besteht lediglich in einer Beschuldigung. Dabei können die Auskünfte in den Gerichtsprotokollen sehr sparsam sein. So beschuldigte Poul Villadsen aus Vridsløse vor dem Gericht zu Herlufsholm Niels Jensen aus demselben Dorf, daß er ihn im Gildehaus bei einem Streit über einen Sack Mehl geschlagen und als Poul »Mehlsack« beschimpft habe. Jens Tygesen aus Kalby beschwerte sich darüber, daß der ebenfalls in Kalby ansässige Hans Lund seine Frau geschlagen hätte, als sie auf dem Grundstück des leeren Hofes Heu zusammenharkte. 20 Rasmus Lauersen aus Bagsværd wurde von seinem Dorfgenossen Mads Mortensen beschuldigt, ein Loch in den Kopf von dessen Frau gehauen zu haben, eine Beschuldigung, die Rasmus energisch bestritt. 21 Angesichts derartig karger Auskünfte sind wir zur Erklärung der Tatsache, warum die Hälfte der Fälle aus den Gerichtsprotokollen einfach verschwand, auf Vermutungen angewiesen. Appel ist der Auffassung, daß sich die Parteien wahrscheinlich außerhalb des Gerichtes einigten und dieses Gericht nur in dem Ausmaß benutzten, das nötig war, um die Gegenseite zu einem befriedigenden Ende zu drängen. 22 Das mag zutreffen, und 17 Htb, 9. September 1633. 18 Hans Henrik Appel: Forbrydelse og straf ? Slagsmål og sædelighedssager i Skast herred 1635 - 70, in: Bol og by. Landbohistorisk tidsskrift 1995: 1, 52 - 69: 58. 19 Vgl. auch Plessix-Buisset: Criminalité (wie Anm. 12), 45; Jim A. Sharpe: ›Such Disagreement betwyx Neighbours‹: Litigation and Human Relations in Early Modern England, in: John Bossy (Hg.): Disputes and Settlements. Law and Human Relations in the West, Cambridge 1983, 167- 187: 173f. und Hugues Lecharny: L'injure à Paris au XVIIIe siècle: un aspect de la violence au quotidien, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 36 (1989), 559- 585: 566. 20 Htb, 31. August 1618 und 13. September 1630. 21 Stb, 20. Juli 1626. 22 Appel: Forbrydelse (wie Anm. 18), 57. Jens Chr. V. Johansen 452 wir können z.B. versuchen, die Konzepte von »Scham« und »Reintegration« hier anzuwenden. Die verletzte Partei mochte der Meinung sein, die Angelegenheit sei zu wichtig, um sie bei einem Krug Bier im Wirtshaus zu begraben. Durch das Beharren auf das eigene Recht und durch das Bezeichnen des Gegners als schuldige Partei vor Gericht mochte sie die Bedeutung der Angelegenheit öffentlich machen. Konnte die Gegenpartei zu ihrer Verteidigung vor Gericht keine stichhaltigen Gründe vorweisen, war sie vor der lokalen Gemeinde als diejenige Partei stigmatisiert, die den Übergriff begangen hatte 23 - der betreffende Mensch hatte sich zu schämen, konnte aber andererseits auch ohne weiteres in die Gemeinschaft reintegriert werden. Zu bedenken ist aber auch, daß beide Streitparteien oft aus demselben Dorf kamen, im Bezirk Herlufsholm bei etwa der Hälfte aller Fälle, in Sokkelund zu einem etwas geringeren Prozentsatz. Im Jahr 1617 wurden Søren Bødker und sein Frau in Ladby von Søren Brøgger beschuldigt, ihre Magd geschlagen, sie als Hure beschimpft und aus ihrem Dienst gewiesen zu haben. 24 1629 beklagte Peder Lauridsen in Buddinge Oluf Andersen, ihn geschlagen zu haben. 25 Hatte die eine Partei den Fall - oft ging es dabei nur um Kleinigkeiten - vor Gericht gebracht und damit öffentlich gemacht, gab es vielfach keinen Grund mehr, den Streit fortzusetzen. Langdauernde Streitereien konnten im Dorf ernsthafte Zwietracht säen und damit den nötigen Zusammenhalt der Gemeinde gefährden. Nur selten mag den Zeitgenossen ein so gravierender Schritt berechtigt erschienen sein; die verletzte Partei aber hatte mit der einmaligen Beschuldigung vor Gericht ihre Stellung öffentlich markiert. Seltsamer jedoch ist es, daß auch Totschläger aus den Gerichsprotokollen verschwinden konnten. Im Jahr 1618 wurde Peder Hansen aus Bøgesø, der im Kerker von Herlufsholm inhaftiert war, von Peder Simensen aus Skælskør beschuldigt, Anders Offersen getötet zu haben. 26 Im Jahr 1626 erfahren wir lediglich, daß Hans Skotte in Utterslev im Streit über gestohlene Wolle Ole Smed getötet hatte. 27 Die wahrscheinliche Erklärung für ein fehlendes weiteres Gerichtsverfahren ist die, daß der Totschläger geflohen ist. Im Jahr 1631 beschuldigte man Christen Knudsen aus Gunderup, Peder Jensen aus Nørup getötet zu haben. In diesem Verfahren legten nicht weniger als sieben Personen Zeugnis ab. So sagt z. B. Peder Jyde aus Ll. Næstved aus, daß er den Wagen von Christen Knudsen an einem Bach stehen gesehen habe, während er mit einer Düngerfuhre durch Ll. Næstved fuhr. Kurze Zeit später kam Peder Jensen zusammen mit Peder Skåning herangefahren; als Peder Skåning im Wagen von Christen Knudsen ein kleines Beil liegen sah, nahm er es an sich und fragte, ob es Christen Knudsen gehöre. Dieser bejahte die Frage. Peder Skåning legte das Beil trotzdem in seinen Wagen, worauf Christen Knudsen zum Wagen sprang, das Beil ergriff, Peder Skåning fragte: »Ist das dein Beil? « und schließlich zuerst Peder Jensen in den Kopf und danach auch Peder Skåning schlug. Christen Knudsen ist nach diesem Totschlag geflohen, was wir aber erst erfahren, wenn wir die Rechnungsbücher des Herlufsholmer Bezirks durchsehen. 28 Im Prinzip war Totschlag ein Verbrechen, das hart und konsequent bestraft wurde, wie etwa im Fall des David Hansen aus Ordrup. Ane Peder Bagers aus Skovshoved verklag- 23 Vgl. auch Bradley Chapin: Criminal Justice in Colonial America, 1606- 1660, Athens, Go. 1983, 88. 24 Htb, 1. Dezember 1617. 25 Stb, 7. Mai 1629. 26 Htb, 23. Februar und 2. März 1618. 27 Stb, 6. und 13. Juli 1626; siehe auch Stb 1., 8. und 15. Oktober 1629. 28 Htb, 7. Februar 1631. Das nahe Gericht 453 te ihn, in ihr Haus eingedrungen zu sein und dort ihren Mann so stark geschlagen zu haben, daß er nach zwei Tagen starb. Obwohl zwei Personen bezeugen konnten, daß sich Peder Bager und David Hansen vor Peders Tod versöhnt hatten, wurde David zum Verlust seines Lebens verurteilt. 29 Auch Simon Lauridsen aus Holsted wurde aufgrund seines Geständnisses, Hans Jörgensen, einen Knecht aus Holsted, getötet zu haben, sofort zur Enthauptung verurteilt. 30 Rund ein Viertel aller Fälle wurde im Bezirk Sokkelund mit einem Urteil abgeschlossen und damit mehr, als es im Bezirk Herlufsholm der Fall war; dort wurde nur rund ein Sechstel aller Fälle zu einem abschließenden Urteil geführt. Dabei waren die Urteile in Herlufsholm in der Regel milder als im Bezirk Sokkelund. Im Nachhinein ist es oft schwierig nachzuvollziehen, warum einige Fälle bis zum Urteil geführt wurden und andere nicht. Niels Christensen aus Holsted wurde dazu verurteilt, seinem Dienstherrn zu Recht zu stehen, weil er während einer Schlägerei Troels Pedersen ein blaues Auge geschlagen hatte. 31 Oluf Inguordsen aus Næsby dagegen wurde die weitere Verantwortung vor Gericht erspart, obwohl er die Frau von Peder Graverson mit einem Stein und mit einem Lattenzaun geschlagen hatte. 32 Im Bezirk Sokkelund wurde der Schuldige oftmals dazu verurteilt, sowohl eine Geldbuße als auch eine Entschädigung an das Opfer zu zahlen. Diese Praxis existierte seit dem Ende der 1620er Jahre; bis dahin war man in Sokkelund ebenso milde vorgegangen wie im Bezirk Herlufsholm. Ob die Verschärfung durch den Einfluß der Behörden in Kopenhagen initiiert wurde, ist nicht zu sagen. Karen Saxis aus Gentofte beschuldigte Niels Pedersen aus demselben Dorf, er habe sie mit einem Flugstab geschlagen, als sie eine Kanne Bier gefordert hatte; zusammen mit einigen anderen Frauen hatte sie im Auftrag von Niels Pedersen auf dem Schloß Ibstrup das Getreide gereinigt. Mehrere Leute bezeugten den Vorfall. Niels Pedersen wurde dazu verurteilt, den Lohn des Wundarztes zu bezahlen, dazu ein Schmerzensgeld, nämlich 3 Mark für die Fausthiebe, und 8 Mark, weil Blut geflossen war. Wahrscheinlich wurde es jedoch für Niels Pedersen nicht so teuer, weil er sich mit dem Ehemann von Karen Saxis darauf einigte, daß mit einem Pauschalbetrag von 8 Talern alle weiteren Ansprüche abgegolten sein sollten und er von weiterer Anklage verschont bliebe. 33 Das ›settlement-out-of-court‹ ist eines der weiteren zentralen Probleme der historischen Kriminologie. 34 In den Gerichtsprotokollen des Bezirkes Herlufsholm lesen wir, daß Peder Knudsen aus Ll. Næstved vorgeladen wurde, weil er nicht die mit Peder Hansen aus Ladby im Namen des Königs vereinbarte Geldbuße wegen einer vorangegangenen Schlägerei bezahlt hatte. 35 Das ist aber auch alles, was wir über diese Schlägerei erfahren. In den Rechnungsbüchern des Kopenhagener Lehens wird erklärt, daß mit Jens Holst aus Gentofte vereinbart wurde, er solle 1½ Taler und 16 Groschen bezahlen, 29 Stb, 20. und 27. September 1621. 30 Htb, 21. April. 31 Htb, 8. November 1630. 32 Htb, 14. Oktober 1616. 33 Stb, 23. und 30. April, 7. und 21. Mai, 4. und 9. Juli und 10. September 1629. Es könnte aber sein, daß Niels Pedersen noch glimpflicher davongekommen ist; denn im Bußenverzeichnis des Kopenhagener Lehens wird mitgeteilt, daß eine Person namens Peder mit der Frau Saxes wegen einer Schlägerei die Zahlung von vier Talern vereinbarte (Rigsarkivet (RA) Kopenhagen: Regnskab for Københavns len. Sagefaldsregister 1629). 34 Vgl. auch Johansen: (wie Anm. 13), 100f. und Appel: (wie Anm. 18), 55. 35 Htb, 29. April 1633. Jens Chr. V. Johansen 454 weil er die Frau des Thomas Pedersen verprügelt hatte. 36 In den Gerichtsprotokollen ist dieser Fall nicht zu finden. Auch durch derartige Entdeckungen in den Rechnungsbüchern werden unsere Illusionen darüber, welche Möglichkeiten der systematischen Analyse von Gewaltverbrechen die Gerichtsprotokolle bieten, dramatisch beschnitten. Die Beleidigungen Auch bei den im Bezirk Sokkelund verhandelten Beleidigungsfällen herrschten einfache Beschuldigungen vor; fast zwei Drittel aller Fälle bestanden lediglich in einer simplen Beschwerde vor Gericht, knapp ein Drittel dieser Fälle endete mit einem Vergleich. 1627 beschuldigte Hans Lauridsen in Buddinge seinen Nachbarn Rasmus Nielsen, er habe ihn als einen Landstreicher beschimpft. Rasmus Nielsen bestritt den Tatbestand, und so ist es zu verstehen, daß diese Beschuldigung nie zu einem Urteil führte. 37 Weniger nachzuvollziehen die Tatsache, daß die Beschuldigung von Peder Smed aus Gentofte weder in einen Vergleich noch in ein Urteil mündete; er hatte Jakob Skolemester mitten in der Nacht einige Fenster eingeschlagen und ihn mit ehrenrührigen Worten beschimpft. 38 Wie schon erwähnt, sind die Zahlen über die Fälle aus dem Bezirk Herlufsholm zu gering, um eine Statistik zu erstellen; jedenfalls dominierte auch hier der Vergleich ohne abschließendes Urteil. Im Bezirk Sokkelund führte nur ein Beleidungsfall zu einem Urteil - eine verständlichliche Tatsache, wenn wir berücksichtigen, daß fast 80% der Kontrahenten vor Gericht denselben Dörfern entstammten. Wir wissen leider nicht, worum es bei diesem einzigen abgeurteilten Fall konkret ging. Im Jahre 1627 beschuldigte Rasmus Boesen aus Lundtofte nicht weniger als dreimal Maren Peder Nielsen aus demselben Dorf der Lüge; im Gerichtsprotokoll ist leider der genaue Inhalt der Beschuldigung nicht festgehalten. Er muß sehr belastend gewesen sein, weil Maren zu einer Buße von drei Mark verurteilt wurde. 39 Anderseits konnte Hans Pedersen aus Emdrup mit gezogenem Degen den Hof Hans Bendsens betreten, die Waffe in die Tür rammen und den Hausherrn beleidigen, ohne daß es zu einer anderen Reaktion gekommen wäre als zu einer einfachen Beschuldigung vor Gericht. Generell geben die Gerichtsprotokolle nur selten näheren Aufschluß über den Wortlaut der verwendeten Schimpfworte. 40 Sowohl Hans Madsen und Oluf Andersen aus Buddinge als auch Hans Nielsen und Søren Jensen aus Lundtofte konnten einen Vergleich schließen, ohne daß wir erfahren, welche Worte sie benutzt hatten. 41 Wir werden aber kaum mit der Vermutung fehlgehen, daß die zwei Worte »Schelm« und »Dieb« im Verlauf der Injurien gefallen sein werden. Diese beiden Schimpfworte scheinen fast universell gewesen zu sein. 42 Auch im Bezirk Herlufsholm wurde nur ein Fall mit einem Urteil abgeschlossen, nämlich die Beschuldigung Hans Seiermagers aus Ll. Næstved gegen Peder Skomager. Dieser hatte gedroht, den Sohn des Klägers in die Stirn zu schlagen, und überdies seine 36 RA, Regnskab for Københavns len. Sagefaldsregister 1627. 37 Stb, 15. März 1627. 38 Stb, 13. Dezember 1627. 39 Stb, 18. Oktober 1627. 40 Stb, 23. September 1630. 41 Stb, 20. September 1627 und 24. Juli 1628. Das nahe Gericht 455 Frau als Hure beschimpft. Peder Skomager entschuldigte sich damit, daß er betrunken gewesen sei und sich deswegen nicht an seine Worte erinnern konnte. Daß der Fall mit einem Urteil abschloß, kann daran liegen, daß Peder Skomager beharrlich leugnete. Einige Monate später wurde er erneut von Hans Seiermager vorgeladen, der ihn diesmal aufforderte, daß er die Worte wiederholen sollte, die er zu seinem Dienstboten gesprochen hatte. Peder Skomager bestritt, etwas Nachteiliges über Hans und seine Frau geäußert zu haben. Hans Seiermager beharrte seinerseits auf einer gerichtlichen Klärung des Falles, die schließlich zu einem Freispruch des Beklagten führte, der seine Worte leugnete. 43 Obwohl es also hier dem Kläger nicht gelang, eine gerichtliche Verurteilung zu erreichen, mag sein Vorgehen auch als ein Versuch gewertet werden, um zeigen zu können, daß sich wenigstens ein einziger in Ll. Næstved den Unverschämtheiten Peder Skomagers nicht beugte und versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. Für Peder Skomager war es nämlich nicht ungewöhnlich, andere Leute zu beleidigen. Im November 1616 hatte er deswegen einen Vergleich mit Laurids Skomager und dessen Frau schließen müssen, weil er sie beleidigt hatte. 44 Peder Skomager war der einzige Rückfalltäter unter den wegen Beleidigung vor Gericht Gezogenen. Alle andere Fälle waren einmalige Erscheinungen. Ebenso verhält es sich mit den in Sokkelund nachweisbaren Fällen; zwar treffen wir die Parteien manchmal in anderen Zusammenhängen an, wie z.B. bei Körperverletzung, oder bei gesetzeswidrigem Holzschlagen, aber was die Beleidigungen anging, so handelte es sich dabei nicht um Rückfalltäter. Nur in besonders schweren Fällen, wie es offenbar die Injurie Maren Peder Nielsens gegen Rasmus Boesen aus Lundtofte war, führten derartige einmalige Injurienfälle zu hartnäckiger gerichtlicher Verfolgung. Schwerwiegend war auch die Injurie, die Peder Smed aus Ll. Næstved gegen die Frau von Rasmus Lauridsen vorbrachte. Rasmus Lauridsen aus Ladby hatte mit einigen anderen in der Stube von Peder Smed gesessen und getrunken, als seine Frau eintraf, um ihn nach Hause zu holen. Der Hausherr soll daraufhin die Frau eine Hündin genannt haben, die gepeitscht werden müsse. Peder konnte sich angeblich an seine Worte nicht mehr erinnern, weil er der Trunkenheit wegen weder gehen noch stehen konnte. Er wisse nichts Unehrliches gegen die Frau von Rasmus Lauridsen vorzubringen. Einige Monate später hatten Peder Smed und die Frau von Rasmus Lauridsen sich versöhnt. 45 Einige Zeit nach seiner Versöhnung mit der Frau von Rasmus Lauridsen begann ein längeres Verfahren, in das neben dem Ehepaar aus Ladby noch Søren Andersen Jyde verwickelt war, und das die Berechtigung von Peders Anschuldigung in neuem Licht erscheinen läßt. Am Beginn des Verfahrens stand die Beschuldigung von Søren, Maren 42 Klaus-J. Lorenzen-Schmidt: Beleidigungen in Schleswig-Holsteinischen Städten im 16. Jahrhundert. Soziale Norm und Soziale Kontrolle in Städtegesellschaften, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 10 (1978), 5 - 27: 13; Jens Chr. V. Johansen: Falster und Elsinore, 1680 - 1705: a Comparative Study of Rural and Urban Crime, in: Social History 15 (1990), 97 - 109, 104; Erling Sandmo: Tingets tenkemåter: Kriminalitet og rettssaker i Rendalen 1763 - 97, Oslo 1992, 61ff.; Walter Rummel: Verletzung von Körper, Ehre und Eigentum. Varianten im Umgang mit Gewalt in Dörfern des 17. Jahrhunderts, in: Andreas Blauert und Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1993, 86 - 114: 110; Björn Furuhagen, Berusade bönder och bråkiga båtsmän. Social kontroll vid sockenstämmor och ting under 1700-talet. Stockholm 1996, 156. 43 Htb, 16. Dezember 1616, 10. Februar und 7. April 1617. 44 Htb, 11. November 1616. 45 Htb, 3. und 17. Dezember 1632, 7. Januar und 18. März 1633. Jens Chr. V. Johansen 456 Rasmusis geschlagen zu haben, weil sie seine unzüchtigen Zudringlichkeiten ablehnte; am Ende des Verfahrens stand das Geständnis von Søren und Maren, Ehebrecher zu sein; Søren Andersen wurde zu einer Geldbuße von 16 Talern verurteilt. 46 Rasmus Lauridsen hatte zuvor versucht, sich sowohl seiner Frau als auch des Kindes, einer Frucht des Verhältnisses zwischen Maren und Søren, zu entledigen, indem er Søren sowohl die Frau als auch das Kind anbot. Søren aber hatte nur das Kind zu sich nehmen wollen. Die Anzahl von Frauen in Beleidungsfällen in den Gerichtsbezirken Herlufsholm und Sokkelund war um einiges kleiner als z.B. in der Stadt Helsingør im Zeitraum von 1612 bis 1629; möglicherweise gründet diese Tatsache im ländlichen Charakter der angesprochenen Bezirke. In Herlufsholm finden wir nur zwei Verfahren. Eins davon ist das angesprochene zwischen Peder Smed und Maren Rasmusis, das in der Hinsicht etwas untypisch war, daß es einerseits Rasmus Lauridsen war, der das gerichtliche Verfahren gegen Peder Smed anstrengte, während es andererseits Maren Rasmusis war, die den Vergleich mit Smed einging. Auch das andere Verfahren endete mit einem Vergleich; es handelte sich um einen Streit zwischen Laurids Rasmussen und der Frau Jens Christensens aus Tyvelse über einige Schimpfworte, die im Verlauf eines Streits über eine Gans gefallen waren. Im Bezirk Sokkelund ging es um fünf Verfahren. Der Prozeß aus Lundtofte, der mit einem Urteil abgeschlossen wurde, wurde bereits erwähnt. Bei drei Beschuldigungen und einem Verfahren kam es zu einer Einigung zwischen den Parteien. So beschuldigte 1626 Mads Jensen in Fuglevads Mølle Karen Davids aus Lyngby, daß sie ihn als Schelm und Dieb bezeichnet habe; Karen Davids leugnete und brachte seinerseits vor, daß Mads Jensen ihren Knecht einen furzenden Schotten genannt hatte. Eine Woche später, nachdem drei Zeugen die Äußerungen Karens bestätigt hatten, wurde ein Vergleich geschlossen. 47 Schließlich bleibt zu erwähnen, daß in den untersuchten ländlichen Gebieten keine Fälle zu finden sind, bei denen sowohl Klägerinnen als auch Beklagte weiblichen Geschlechts waren. In der Stadt Helsingør dagegen machen die Fälle, in denen zwei Frauen vor Gericht aufeinandertreffen, immerhin ein Fünftel der Injurienfälle aus. Beleidigungsklagen wurden also in der Stadt weitaus öfter als auf dem Land vor Gericht gebracht, und Frauen waren dort auch häufiger darin verwickelt. 48 Schlußbemerkungen Je nach Gusto können entweder negative oder positive Schlußfolgerungen aus der Analyse der Gerichtsprotokolle der Bezirke Herlufsholm und Sokkelund gezogen werden. Eine mögliche negative Schlußfolgerung wäre, daß wir den Versuch, eine Entwicklungstendenz der Kriminalität in der Vergangenheit zu konstruieren, aufgeben sollten, weil unsere Untersuchung die Unmöglichkeit erwiesen hat, das Ausmaß der verübten 46 Htb, 3. und 17. Juni, 1. und 8. Juli und 2. September 1633. Ein Verbrechen, das heute in höchstem Grad zum Bereich der Dunkelziffer gerechnet wird, ist die Gewalt gegen die Ehefrau; nicht anders war es im 17. Jahrhundert. Maren Rasmusis bezeugte, daß »falls ihr Mann sie schlägt, geht es niemand anders an als sie selbst«. Vgl.Susan Dwyer Amussen: ›Being stirred to much unquitness‹: Violence and Domestic Violence in Early Modern England, in: Journal of Women's History 6 (1994), 70 - 89. 47 Stb, 14. und 21. September 1626. 48 Jens Chr. V. Johansen: Women and the Courts of Law in Elsinore 1550 - 1700. Vortrag bei Sixteenth Century Studies Conference, Toronto, 28. Oktober 1994. Das nahe Gericht 457 Kriminalität quantitativ genau zu fassen. Die positive Schlußfolgerung basiert selbstverständlich auf einem gewissen Maß an Intuition und allgemeinem Wissen. Wenn es Schlägereien und Beleidigungen in Buddinge gegeben hat, dann läßt sich nur schwer in Abrede stellen, daß sie auch in Valby vorgekommen sein werden. Erklärungsbedürftig ist die Frage, wie diejenigen Konflikte in den Dörfern gelöst wurden, die nicht vor Gericht kamen. Spielten etwa in denjenigen Dörfern, die weit von der Gerichtsstelle entfernt lagen, die Dorfversammlungen eine größere Rolle als in den gerichtsnahen Gemeinden? Falls diese Vermutung zutrifft, könnte man weiter spekulieren, daß die Geldbußen und die Entschädigungen, die von diesen innerdörflichen Versammlungen verhängt wurden, auf gleicher Ebene mit denen der Gerichte lagen; sonst müßten wir in den Quellen eine Abwanderungstendenz in Richtung der Dorfgemeindeversammlungen feststellen. Mehrfach forderten die Behörden im 17. Jahrhundert, daß derartige Konfliktfälle nicht innerhalb des Dorfes, sondern vor Gericht ausgetragen werden müßten. 49 Sollte diese Anordnung ein zeitgenössischer Reflex derjenigen Probleme gewesen sein, mit denen sich dieser Artikel beschäftigt hat? Unsere Ergebnisse zeigen, daß die Erforschung von Kriminalität in der Vergangenheit möglich ist. Sie erfordert aber eine gute Kenntnis der internationalen Forschung, damit die Resultate der lokalen Fallstudien nicht frei in der Luft schweben. Die Unterschiede zwischen den jeweiligen Institutionen und den Rechtsverfahren in Europa sind von entscheidender Bedeutung beim Versuch, Ausschläge und Differenzen im Kriminalitätsmuster zu verstehen. Es sind aber die möglichen Ähnlichkeiten, die für die Beurteilung der langfristigen Entwicklungslinien den Ausschlag geben. Was die Frage nach dem Rechtsbewußtsein der Bauern angeht, so fällt die Antwort ebenfalls ambivalent aus. Auf der Basis der Gerichtsprotokolle gelingt der Nachweis, daß die Menschen ihre Konflikte vor Gericht brachten, wenn die Gerichtsstelle nicht allzu weit von ihrem Wohnort entfernt lag. War deswegen aber das Rechtsbewußtsein der anderen Bauern kleiner? Das ist unwahrscheinlich. Es müssen alternative Foren existiert haben, von denen wir keine Kenntnis besitzen, vor denen sich aber das Rechtsbewußtsein dieser Bauern manifestieren konnte. 49 Poul Meyer: Danske bylag. En fremstilling af det danske landsbystyre paa baggrund af retshistoriske studier over jordfællesskabets hovedproblemer, København 1949, 351. 459 Karl Härter Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation Systematische Analysen frühneuzeitlicher Strafverfahren als »Waffen der Justiz« sind noch immer selten. 1 Die Strafrechtsgeschichte hat sich auf die Entstehung und Durchsetzung des Inquisitionsprozesses im Spätmittelalter, auf die normativen Grundlagen (vor allem die Carolina) und die gemeinrechtliche Literatur zum Inquisitionsprozeß konzentriert, die Verfahrenspraxis jedoch kaum untersucht. Dagegen thematisiert zwar die neuere historische Kriminalitätsforschung das tatsächlich sanktionierte abweichende Verhalten; der Schwerpunkt der meisten Studien und der programmatisch formulierte Anspruch liegt jedoch auf einer sozialhistorisch orientierten Analyse von Delinquenten, Delikten und Strafen. Im Ergebnis wird häufig eine erhebliche Differenz zwischen dem »peinlichen« Strafrecht und einer »milderen«, selektiven Rechtsprechung festgestellt 2 und die Strafpraxis relativ dichotom den Polen »Sanktionsverzicht« oder »exemplarisch harte Bestrafung« zugeordnet. 3 Die im Strafverfahren stattfindenden Zuordnungs- (oder Etikettierungs-) und Entscheidungsprozesse, die zur »abweichenden« Strafpraxis führten, bleiben allerdings meist undeutlich, was überwiegend auf die Quellenlage zurückzuführen ist. 4 Viele Studien fußen auf seriellen Quellen, die lediglich die »Endurteile« wiedergeben. Nur selten gelingt es, alle Akten eines Strafverfahrens (Schriftwechsel der beteiligten Behörden, Verhör- und Inquisitionsprotokolle, Relationen und Gutachten der Spruchkörper, Urteile, Urfehden, Zuchthausakten, Berichte über Hinrichtungen und die Supplikationen der Delinquenten) auszuwerten und daraus eine systematische Analyse der frühneuzeitlichen Verfahrenspraxis zu entwickeln. 5 Dabei wird die zentrale »Scharnierfunktion« des Verfahrens durchaus betont: Hier wurde über die »Tat« und den Umgang mit dem »Täter« entschieden und die Verbindung zwischen Normen und konkretem »Delikt« hergestellt; hier fanden wesentliche Etikettierungsprozesse statt, wurden die Strafzwecke manifest und wurde über Strafe und Disziplinierung verhan- 1 Neuere Überblicke bieten: Wolfgang Schild: Geschichte des Verfahrens, in: Justiz in alter Zeit, Rothenburg o.d. Tauber 1989, 129 - 207; Bernd Roeck: Criminal Procedure in the Holy Roman Empire in Early Modern Times, in: IAHCCJ Bulletin 18 (1993), 21 - 40. 2 Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1993,Vorbemerkung, 8. 3 Besonders bei Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, 3. Aufl. München 1988. 4 Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn u.a. 1991, 121f. 5 Zu Quellenproblematik und einzelnen Quellengruppen: Helfried Valentinitsch: Fahndungs-, Gerichts- und Strafvollzugsakten als Quelle zur Alltagsgeschichte des Barockzeitalters, in: Othmar Pickl/ Helmuth Feigl (Hg.): Methoden und Probleme der Alltagsforschung im Zeitalter des Barock, Wien 1992, 69 - 82; Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: HZ 263 (1996), 681 - 715, hier: 709 - 711. Karl Härter 460 delt. 6 Auch das frühneuzeitliche Strafverfahren kann folglich als ein mit Entscheidungsprozessen synchronisiertes Interaktionssystem 7 gedeutet werden, das sich als Kommunikationsprozeß in rechtlich geordneten Bahnen zwischen einer Vielzahl von Beteiligten (bzw. Rollen) innerhalb des institutionellen Rahmens der Strafjustiz vollzog. Daraus ergeben sich für die folgende Skizze frühneuzeitlicher Strafverfahren als leitende Gesichtspunkte: - es wird ein weiter Verfahrensbegriff zugrundegelegt, der sich nicht allein auf den Inquisitionsprozeß (obwohl dieser im Mittelpunkt stehen wird) beschränkt, sondern zumindest versucht, die historische Entwicklung und Etablierung unterschiedlicher Formen und Typen frühneuzeitlicher Strafverfahren herauszuarbeiten; - eine Einbettung in das - vor allem institutionell zu beschreibende - System der Strafjustiz halte ich für wesentlich, um sowohl die urteilenden und sanktionierenden Akteure bzw. Institutionen als auch die Funktionen des Verfahrens und der Entscheidungen präziser bestimmen zu können; eine zentrale Perspektive liegt damit auf »Staat«; - den Entscheidungsprozessen und den einfließenden rechtlichen und »außerrechtlichen« Kriterien wird im Hinblick auf die Durchsetzung »staatlicher« Strafzwecke und die Ausübung sozialer Kontrolle besonderes Augenmerk gewidmet. Dabei rekurriere ich auf ein Devianzmodell sozialer Kontrolle, das auf organisierte Kontrollformen begrenzt ist, die deviantes Verhalten erzeugen, auf dieses reagieren oder es präventiv verhindern wollen; Formen informeller horizontaler Sozialkontrolle sollen damit nicht a priori ausgeschlossen, aber auf ihre Funktionen in der Strafjustiz als System formeller Sozialkontrolle begrenzt werden; 8 - insofern bildete das Strafverfahren durchaus ein Verbindungsglied zwischen sanktionierender Obrigkeit, Bevölkerung und »Abweichenden«, zwischen vertikaler und horizontaler Sozialkontrolle. Es soll daher zumindest gefragt werden, wie sich die Bevölkerung in das Strafverfahren einbringen konnte und über welche Möglichkeiten die Angeklagten/ Delinquenten verfügten, Entscheidungen und Sanktionen zu beeinflussen. Der folgende Abriß muß sich aufgrund der Vielgestaltigkeit der Strafjustiz im Alten Reich allerdings erheblich beschränken: Dargestellt - und zwar durchaus idealtypisch - werden lediglich territoriale Strafverfahren (wobei ich mich besonders auf eigene, quellengestützte Forschungen zu Kurmainz und Kursachsen stütze). 9 Die Reichsstädte (die allerdings teilweise übereinstimmende Strukturen aufweisen) werden nicht berücksich- 6 Schwerhoff: Köln (Anm. 4), 121f.; Helga Schnabel-Schüle: Institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Strafgerichtsbarkeit in Territorien des Reichs, in: Heinz Mohnhaupt/ Dieter Simon (Hg.): Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1993, 147 - 173. 7 Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl., Darmstadt u.a. 1978. 8 Stanley Cohen: Visions of Social Control. Crime, Punishment and Classification, Cambridge 1985, 2f.; Ulfrid Neumann/ Ulrich Schroth (Hg.): Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, Darmstadt 1980, 94. 9 Für Kurmainz die Inquisitionsakten und Kriminalrelationen in: BStA Würzburg, MRA Cent und Aschaffenburger Archivreste, 175 - 195; sowie Karl Härter: Regionale Strukturen und Entwicklungslinien frühneuzeitlicher Strafjustiz in einem geistlichen Territorium: die Kurmainzer Cent Starkenburg, in: Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde 54 (1996), 111 - 163; Karl Härter: Zum Verhältnis von Policey und Strafrecht bei Carpzov, in: Benedict Carpzov, hg. von Walter Gropp/ Günter Jerouschek/ Wolfgang Schild [im Druck]; Karl Härter: Kontinuität und Reform der Strafjustiz zwischen Reichsverfassung und Rheinbund, in: Heinz Duchhardt/ Andreas Kunz (Hg.): Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780 - 1815, Mainz 1998, 219 - 278. Im folgenden muß aus Platzgründen auf Einzelnachweise verzichtet werden. Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 461 tigt. Bestimmte Verfahrenstypen wie das Frevel- und Rügeverfahren der genossenschaftlichen Niedergerichte und die summarischen Strafverfahren der Lokalverwaltung können mangels neuerer Untersuchungen nur kursorisch angesprochen werden. Wichtige Prozeßelemente (z.B. Geständnis und Folter oder der Endliche Rechtstag), die in der Forschung große Aufmerksamkeit gefunden haben, kann ich ebenso wie die Tätigkeit der Juristenfakultäten nur streifen. Im Mittelpunkt stehen die Etablierung und Ausdifferenzierung inquisitorischer Strafverfahren in den frühneuzeitlichen Territorialstaaten des Alten Reiches. Verfahrenstypen - Entwicklung und Durchsetzung des Inquisitionsprozesses Die frühneuzeitlichen Strafverfahren können systematisch nach den höheren und niederen Gerichtsbarkeiten sowie den akkusatorischen und inquisitorischen Verfahrenstypen unterschieden werden. In der Literatur wird häufig nur das peinliche Akkusationsverfahren vor den Hochgerichten (Malefiz-, Cent-, Fraisgerichte) als eigentlicher oder ordentlicher Strafprozeß bezeichnet, in dem die »klassischen« schweren Delikte (Mord, Totschlag, Raub, Diebstahl, Brandstiftung und eventuell Ehebruch) sanktioniert wurden. Bis zum Spätmittelalter waren Hoch- und Niedergerichte jedoch häufig institutionell und personell eng miteinander verwoben, und die hoch- und niedergerichtlichen Verfahren wiesen durchaus übereinstimmende Merkmale auf. Auch in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft war die Abgrenzung zwischen höherer und niederer Strafgerichtsbarkeit vor allem hinsichtlich der Zuordnung von Delikten und Strafen umstritten. Die Niedergerichtsbarkeit wurde von traditionellen städtischen, genossenschaftlichen oder patrimonialen Schöffengerichten (Frevel-, Rüge-, Go-, Brüchten-, Wald-, Haingerichte usw.) ausgeübt, wobei die Gerichtshoheit häufig nicht beim Landesherren, sondern unterschiedlichen intermediären Gewalten (Adel, Geistlichkeit, Städte, Zünfte, Gemeinden) lag. Das Verfahren (Brüchtenverfahren, Rügeverfahren) war durch Akkusations- und Rügeprinzip, Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit sowie eine summarische Verfahrensweise geprägt, bei der »leichtere« Delikte mit nichtinfamierenden und nichtpeinlichen »bürgerlichen« Geld- und Haftstrafen sanktioniert wurden. 10 Seit dem 16. Jahrhundert dehnten die für die Hochgerichtsbarkeit zuständigen höchsten landesherrlichen Verwaltungs- und Justizbehörden ihre Kompetenzen in den Bereich der Niedergerichtsbarkeit aus bzw. wurden Delikte aus der Niedergerichtsbarkeit in ihre Zuständigkeit verlagert. 11 Darüber hinaus wurden die juris- 10 Götz Landwehr: Gogericht und Rügegericht, in: ZRG GA 83 (1966), 127 - 143; Heike Linderkamp: Niedergerichtliche Strafformen und ihre Anwendung nach Quellen der Rechtspraxis. Ein Beitrag zur Rechtlichen Volkskunde in Schleswig-Holstein, Neumünster 1985; Michael Frank: Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650 - 1800, Paderborn 1995; Barbara Krug-Richter: Konfliktregulierung zwischen dörflicher Sozialkontrolle und patrimonialer Gerichtsbarkeit. Das Rügegericht in der Westfälischen Gerichtsherrschaft Canstein 1718/ 19, in: Historische Anthropologie 5 (1997), 212-228. 11 In Kursachsen mußten die Niedergerichte ihre Frevel- und Rügebücher dem Leipziger Schöffenstuhl, vorlegen: Ernst Boehm: Der Schöppenstuhl zu Leipzig und der sächsische Inquisitionsprozeß im Barockzeitalter. Wichtige rechtskundliche Quellen in der Leipziger Universitäts-Bibliothek, in: ZStW 59 (1940), 371-410 und 620-639, 60 (1941), 155-249, 61 (1942), 300-403, hier: 61, 398ff. In Bayern wurde der Bereich der Viztumshändel erheblich erweitert: Wolfgang Behringer: Mörder, Diebe, Ehebrecher. Verbrechen und Strafen in Kurbayern vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a.M. 1990, 85-132, hier: 88f. Karl Härter 462 diktionellen Kompetenzen der lokalen Verwaltungsorgane erweitert und langfristig die traditionellen Niedergerichte verdrängt, die ihre Strafkompetenzen verloren, aber häufig Funktionen als Verwaltungs- und »Policeyorgane« in der Lokalverwaltung behielten. Die auf diesem Weg in der Frühen Neuzeit langfristig etablierte Amts- oder Policeygerichtsbarkeit der landesherrlichen Lokalverwaltung bediente sich durchaus eines (mehr oder weniger) rechtsförmig geregelten Strafverfahrens, das allerdings durch inquisitorische Elemente geprägt war. 12 Im traditionellen akkusatorischen Verfahren leiteten private Ankläger, genossenschaftliche Rüger oder »staatliche« bzw. kirchliche Fiskale den Prozeß ein, der sich damit als ein Parteiverfahren in der Trias Kläger, Angeklagter und (Schöffen-)Gericht vollzog. Der Akkusationsprozeß war folglich idealtypisch gekennzeichnet durch: Anklage- und Parteienprinzip sowie ein weitgehend mündliches, öffentliches und unmittelbares Verfahren vor Schöffengerichten; die Funktionstrennung zwischen den Schöffen, die als Laien auf der Basis des traditionellen lokalen Gewohnheitsrechts die Entscheidung trafen (Recht schöpften), und dem vorsitzenden »Richter« als dem Vertreter des Gerichtsherren, der das Verfahren leitete; einer Situation mündlicher Kommunikation von Laie zu Laie, bei der Kläger und Angeklagter unmittelbar ihre Argumente vorbringen und ihr »Sozialkapital« (Status und Reputation) einbringen konnten sowie die Zugehörigkeit von Klägern, Angeklagten und Urteilern zu einer sozialen Gemeinschaft mit einem relativ hohen Grad an sozialem Wissen über alle Beteiligten. Ziele und Strafzwecke des Verfahrens waren: Kompensation im Sinne eines Täter-Opfer Ausgleichs (z.B. mittels Geldzahlungen bei Tötungsdelikten) und damit Konfliktregulierung, aber auch eine direkte Vergeltung der Tat mit einer diese möglichst spiegelnden Strafe und damit die Wiederherstellung der verletzten göttlichen Ordnung. 13 Insgesamt entsprachen Verfassung und Verfahren der territorialen spätmittelalterlichen Strafjustiz eher einer horizontalen, semiformellen Sozialkontrolle, die allerdings einen relativ geringen Grad an Formalisierung aufwies und der sozialen Gemeinschaft ein enormes Kontrollpotential verschaffte, das die Anwendung extremer Mittel ermöglichte und zum rigorosen Konfliktaustrag gegen einzelne oder bestimmte soziale Gruppen - ein herausragendes Beispiel sind die Hexenprozesse 14 - eingesetzt werden konnte. Die Hexenprozesse des 16. Jahrhunderts bildeten allerdings auch den »Schlußstein« in der langfristigen, im Spätmittelalter einsetzenden Entwicklung einer weitgehenden Verstaatlichung der Strafgerichtsbarkeit, die mit einem fundamentalen Wandel des Strafverfahrens einherging, der in nahezu allen europäischen Staaten (mit Ausnahme von England) im 15./ 16. Jahrhundert zur Verdrängung akkusatorischer und zur Dominanz inquisitorischer Verfahrenstypen führte. 15 12 Insofern teile ich nicht die scharfe Abgrenzung zwischen Policey- und Strafgerichtsbarkeit bei Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln u.a. 1997, 15, Anm. 55. 13 Dietmar Willoweit: Vertragen, Klagen, Rügen. Reaktionen auf Konflikt und Verbrechen in ländlichen Rechtsquellen Frankens, in: Dieter Rödel/ Joachim Schneider (Hg.): Strukturen der Gesellschaft im Mittelalter. Interdisziplinäre Mediävistik in Würzburg, Wiesbaden 1996, 196 - 224. 14 Zur Bedeutung akkusatorischer Verfahren und lokaler Schöffengerichte in Hexenprozessen: Karen Lambrecht: Hexenverfolgung und Zaubereiprozesse in den schlesischen Territorien, Köln u.a. 1995. 15 John H. Langbein: Prosecuting crime in the Renaissance. England, Germany, France, Cambridge 1974; Michael R. Weisser: Crime and punishment in early modern Europe, Bristol 1979; Denis Salas: Du procès pénal. Éléments pour une théorie interdisciplinaire du procès, Paris 1992. Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 463 Bereits im Spätmittelalter hatten sich innerhalb und neben dem traditionellen Akkusationsverfahren inquisitorische Elemente und Verfahren entwickelt: So tauchte mit dem Fiskal ein quasi-staatlicher und/ oder kirchlicher Ankläger auf, der nicht mehr die Interessen eines privaten Klägers vertrat. Auch in der niedergerichtlichen Rüge (bzw. der Funktion des Rügers) begegnet ein Ankläger, der unabhängig von einem privaten Geschädigten Interessen der sozialen Gemeinschaft - aber nicht »staatliche« oder kirchliche! - geltend machte. Neben dem Anklageprozeß begannen die Städte und Territorialstaaten »inquisitorische« Sonderverfahren (Leumundsbzw. Übersiebnungsverfahren) gegen Friedensbrecher, auf frischer Tat ertappte Straftäter und »landschädliche Leute« (vorwiegend Angehörige mobiler Randgruppen) zu etablieren, wobei bereits policeylich-inquisitorische Ermittlungsverfahren und »polizeiliche« Verfolgungsmaßnahmen installiert wurden, die Organe der Obrigkeit durchführten. Auch die Folter als Beweismittel zur Erzwingung des Geständnisses gewann im 14. und 15. Jahrhundert eine zentrale Stellung im Strafverfahren. 16 Insofern finden sich im spätmittelalterlichen Reich durchaus autochthone Wurzeln und Wesensmerkmale des Inquisitionsprozesses (wie Offizial- und Instruktionsmaxime), der darüber hinaus durch »Sonderverfahren« gegen soziale Randgruppen und die Etablierung formloser Ermittlungsverfahren langfristig prägende, policeyliche Züge erhielt. 17 Entscheidende Impulse zur allgemeinen Durchsetzung und verfahrensrechtlichen Fixierung des Inquisitionsprozesses im 16. Jahrhundert gingen jedoch auch von der Rezeption des kanonischen und des römischrechtlichen Verfahrens der Oberitalienischen Städte aus, in dem die Folter bereits im 14./ 15. Jahrhundert integraler Prozeßbestandteil war. 18 Neben den Reichsstädten fanden kanonisch-römischrechtliche Verfahren vor allem in den geistlichen Territorien (über die geistliche Gerichtsbarkeit) Eingang, wobei sich in dem stärker entformalisierten inquisitorischen Sonderverfahren gegen Ketzer schon im 13. Jahrhundert eine engere Verbindung von kirchlichem und weltlichem Strafverfahren herausbildete. 19 Beide Entwicklungsstränge mündeten in die Peinliche Gerichtsordnung des Reiches von 1532 (Carolina) ein, die dann auch beide Verfahrenstypen erstmals reichseinheitlich normativ fixierte, allerdings den Akkusationsprozeß wesentlich ausführlicher regelte. 20 16 Wolfgang Schünke: Die Folter im deutschen Strafverfahren des 13. bis 16. Jahrhunderts, Diss., Münster 1952. 17 So die - allerdings monokausale - Deutung von: Eberhard Schmidt: Inquisitionsprozeß und Rezeption. Studien zur Geschichte des Strafverfahrens in Deutschland vom 13. bis 16. Jahrhundert, Leipzig 1940; Eberhard Schmidt: Zur Entwicklung des Inquisitionsprozesses in Baiern, in: ZStW 85 (1973), 857 - 866. 18 So besonders gegen Eberhard Schmidt, ohne diesen jedoch völlig entkräften zu können: Winfried Trusen: Strafprozeß und Rezeption. Zu den Entwicklungen im Spätmittelalter und den Grundlagen der Carolina, in: Peter Landau/ Friedrich-Christian Schroeder (Hg.): Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, Frankfurt a.M. 1984, 29-118; Winfried Trusen: Der Inquisitionsprozeß. Seine historischen Grundlagen und frühen Formen, in: ZRG KA 74 (1988), 168-230; Winfried Trusen: Das Verbot der Gottesurteile und der Inquisitionsprozeß. Zum Wandel des Strafverfahrens unter dem Einfluß des gelehrten Rechts im Spätmittelalter, in: Jürgen Miethke/ Klaus Schreiner (Hg.): Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, 235-247; Günter Jerouschek: Die Herausbildung des peinlichen Inquisitionsprozesses im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: ZStW 104 (1992), 328-360. 19 Jerouschek: Herausbildung (Anm. 18), 347f.; die zentrale Rolle der geistlichen Territorien bei der Durchsetzung des Inquisitionsprozesses hat bereits hervorgehoben: Friedrich August Biener: Beiträge zu der Geschichte des Inquisitionsprozesses und der Geschworenengerichte, Leipzig 1827, 145. 20 Gustav Radbruch (Hg.): Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), Stuttgart 1975. Karl Härter 464 Dies zeigt einerseits, daß dem traditionellen Verfahren in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch eine große praktische Bedeutung zukam, weist aber andererseits auf den Übergangscharakter der Carolina und ihre spezifischen Funktionen als Reichsgesetz hin, das lediglich Grundprinzipien des Inquisitionsverfahrens etablierte: die Pflicht zu »staatlicher« Strafverfolgung (Offizialprinzip), die von den Parteien unabhängige Ermittlung der materiellen Wahrheit (Instruktionsgrundsatz), die durchgängige Schriftlichkeit des Verfahrens, die Folter als Möglichkeit der Geständniserzwingung und die Rateinholung bzw. Aktenversendung an die »Rechtsverständigen«. Unter letzteren verstand die Carolina nicht nur die Oberhöfe und Juristenfakultäten, sondern vor allem die Obrigkeiten selbst: die Landesherren als die obersten territorialen Gerichtsherren und deren Rechtsverständige, d. h. die professionellen Juristen, die in den obersten Justiz- und Regierungsbehörden tätig waren. 21 Der Carolina kam damit eine entscheidende Bedeutung und Modellfunktion als ein kompromißhaftes Reichsgesetz zu, das gemeinsame Vorstellungen der deutschen Reichsstände von professionalisierter, staatlicher Strafjustiz zu einem einheitlichen Rahmengesetz bündelte, das den Territorialstaaten sowohl eine reichsrechtliche Basis als auch genügend Handlungsspielraum bereitstellte, um inquisitorische Strafverfahren - nach policeylichen Ordnungszielen und staatlichen Strafzwecken - flexibel auszugestalten und den Prozeß der Verstaatlichung genossenschaftlicher, städtischer und patrimonialer Gerichtsbarkeiten weiter voranzutreiben: Die Salvatorische Klausel begründete eine vom Reich und dem traditionellen Recht unabhängige Strafgesetzgebungskompetenz der Landesherren; Rateinholung und Aktenversendung ermöglichten eine Zentralisierung und Monopolisierung der Rechtsprechung bei den höchsten territorialen Regierungs- und Justizbehörden, und die rigiden Haftungsvorschriften für private Kläger führten zur Ablösung des Akkusationsprozesses durch inquisitorische Verfahren. Die Verdrängung des mit einem weitaus höheren Prozeßrisiko verbundenen Akkusationsverfahrens durch den Inquisitionsprozeß, der mittels Denunziation und Anzeige initiiert werden konnte, zeigte sich deutlich bei den Hexenprozessen im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. So wurden beispielsweise in Kurmainz die meisten Verfahren durch Anzeigen und Denunziationen - und zwar auf dem Weg von Suppliken und Eingaben der Bevölkerung - in Gang gebracht und unter Mitwirkung eines Fiskals, der die Stelle des Klägers vertrat, inquisitorisch durchgeführt. Insofern stellen die Hexenprozesse keineswegs ein Art »Sonderverfahren« dar, sondern umgekehrt: Die Hexenverfahren wurden schließlich überwiegend in der Form des Inquisitionsprozesses durchgeführt. 22 Diese Nutzung der Offizialmaxime durch die Bevölkerung erleichterte es den Territorialstaaten aber auch, über ihr Kontrollrecht und die Rateinholung den lokalen Schöffengerichten die jurisdiktionellen Kompetenzen und die Durchführung des Untersuchungsverfahrens zu entziehen und den dualen Inquisitionsprozeß durchzusetzen, bei dem Organe der Lokalverwaltung die Untersuchung 21 Vgl. Carolina (Anm. 20), Art. 7 und 219. Im ersten Entwurf der Carolina durften die Gerichte nur bei den Obrigkeiten Rat suchen; dies verhinderte allerdings der Kaiser, der den Landesherren keine uneingeschränkte Jurisdiktion einräumen wollte, so daß schließlich auch die Oberhöfe und Juristenfakultäten aufgenommen wurden: vgl. Rudolf Blankenhorn: Die Gerichtsverfassung der Carolina, Diss., Tübingen 1939, 50f. 22 Ulrich Falk: »Der Endzweck der Justiz«. Zur Entwicklung des Gemeinrechtlichen Strafverfahrens in der Spätphase der Hexenverfolgung, in: Paul Néve/ Chris Coppens (Hg.): Vorträge gehalten auf dem 28. Deutschen Rechtshistorikertag Nimwegen 23. bis 27. September 1990, Nijmegen 1992, 127 - 144. Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 465 und die zentralen Regierungs- und Justizbehörden die Entscheidungsfindung übernahmen. 23 In die Funktion der »entscheidenden« Gerichte (Spruchkammern, Dikasterien) konnten über das Institut der Rateinholung und Aktenversendung laut Carolina drei »Instanzen« einrücken: die Oberhöfe, die Juristenfakultäten und die territorialen Obrigkeiten. Eine Beteiligung auswärtiger Oberhöfe und Universitäten über die Aktenversendung wurde in den größeren und mittleren Territorien allerdings weitgehend unterbunden. Die Juristenfakultäten gewannen als »unabhängige« Spruchkörper nur für patrimoniale Gerichte und kleinere Territorien Bedeutung, die über keine ausgebaute »staatliche« Verwaltungsorganisation verfügten. 24 Die größeren und mittleren Territorien wandten sich lediglich bei besonders schwierigen Fällen oder generellen Rechtsproblemen auch einmal an eine auswärtige Juristenfakultät. 25 Falls landeseigene Juristenfakultäten an der Entscheidungsfindung beteiligt waren (was in vielen Territorien jedoch unterbunden wurde), dann lediglich als gutachtende, weisungsgebunde und hierarchisch in die Landesverwaltung eingegliederte Justizorgane, deren Urteilsvorschläge von den Regierungsbehörden und Landesherren kontrolliert und gegebenenfalls abgeändert wurden. Die Gutachten der Fakultäten hatten - auch wenn sie einen Urteilsvorschlag enthielten - in der Regel keine bindende Wirkung und durften nicht direkt den lokalen »Gerichten« (bzw. Untersuchungsbehörden) zugestellt werden. 26 Auch Schöffenstühle und Oberhöfe wurden im 16. Jahrhundert zu staatlichen Justizbehörden umfunktioniert, in denen landesherrliche Beamte - die durchaus universitär geschulte Juristen waren - die Entscheidungen in Strafsachen trafen. 27 Nicht die Juristenfakultäten, sondern die territorialen Obrigkeiten übernahmen die Funktion des entscheidenden und das Verfahren kontrollierenden »Gerichts«. Die Aktenversendung war folglich wesentliches Element der Zentralisierung und Monopolisierung der jurisdiktionellen Kompetenzen bei den Regierungsinstitutionen des frühmodernen Territorialstaats. Dies führte allerdings nicht zu einer völligen institutionellen Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Gerichte und des »Richteramts«. Nur selten kam es zur Bildung institutionell unabhängiger, ständiger und nur mit Juristen besetzter »Strafgerichte«, die sich ausschließlich mit Justiz beschäftigten. Vielmehr delegierten die Landesherren die Kompetenzen in der Strafjustiz an unterschiedliche zentrale 23 Jerouschek: Herausbildung (Anm. 18), 360; vgl. z.B. Herbert Pohl: Hexenglaube und Hexenverfolgung im Kurfürstentum Mainz. Ein Beitrag zur Hexenfrage im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, Stuttgart 1988; Horst Gebhard: Hexenprozesse im Kurfürstentum Mainz des 17. Jahrhunderts, Aschaffenburg 1989. 24 Peter Michael Hahn: Die Gerichtspraxis der altständischen Gesellschaft im Zeitalter des Absolutismus. Die Gutachtertätigkeit der Helmstedter Juristenfakultät für die brandenburgisch-preußischen Territorien 1675 - 1710, Berlin 1989; mit den »Territorien« meint Hahn dann auch Patrimonialgerichte des preußischen Adels; die landesherrlichen Gerichte versandten keine Akten an Juristenfakultäten. 25 Insofern wird ihre Bedeutung für das Strafverfahren in der rechtsthistorischen Forschung überschätzt: August Hegler: Die praktische Thätigkeit der Juristenfakultäten des 17. und 18. Jahrhunderts in ihrem Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Strafrechts von Carpzow ab, Freiburg i. B. 1899. 26 Vgl. z.B. die Stellung der Tübinger Fakultät in Württemberg: Schnabel-Schüle: Überwachen (Anm. 12), 54ff. 27 Vgl. z.B. die Stellung des Leipziger Schöffenstuhls: Boehm: Schöppenstuhl (Anm. 11); Heiner Lück: Die landesherrliche Gerichtsorganisation Kursachsens in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Heinz Mohnhaupt (Hg.): Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988 - 1990). Beispiele, Parallelen, Positionen, Frankfurt a.M. 1991, 287 - 322; oder zu den Trierer »Oberhöfen«: Heinz Schaefgen: Die Strafrechtspflege im Niedererzstift des Kurfürstentum [sic! ] Trier, Diss. jur., Mainz 1957 [MS]. Karl Härter 466 Staatsorgane, die entweder mit den höchsten Regierungsbehörden identisch (Hofrat, Regierung, Geheimer Rat) 28 , diesen direkt angegliedert (Justizsenate, Justizkommissionen, Justizkanzleien) 29 oder allgemein in die territoriale Zentralverwaltung integriert waren (Schöffenstühle und Oberhöfe). Das Richteramt wurde zwar professionalisiert und als spezifische Funktionsrolle im System der Strafjustiz ausgestaltet (d. h. nicht mehr von Laien ausgeübt), blieb jedoch häufig eine »Nebentätigkeit« von Verwaltungsbeamten, die nicht in jedem Fall über eine juristische Ausbildung verfügten. Monopolisierung und Zentralisierung von jurisdiktionellen Entscheidungs- und Strafkompetenzen bei den im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert entstehenden Zentralbehörden der frühneuzeitlichen Territorialstaaten sowie die damit einhergehende funktionale Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Rechtsprechung waren wesentliche Momente des im 16. Jahrhundert vorangetriebenen Prozesses der Verstaatlichung der traditionellen, städtischen, genossenschaftlichen und patrimonialen Gerichtsbarkeiten, die intermediäre Gewalten inne hatten. Die lokalen (Schöffen-) Gerichte verloren zwar ihre jurisdiktionellen Kompetenzen in der höheren (und teilweise auch in der niederen) Strafjustiz, bewahrten jedoch spezifisch policeyliche Funktionen in der Strafverfolgung, der Finanzierung der Strafgerichtsbarkeit oder der Durchführung des Endlichen Rechtstags. Diese langfristige Etablierung einer weitgehend staatlichen Strafjustiz steht im engen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungssprozessen des 15. und 16. Jahrhunderts (Stichworte: Bevölkerungswachstum, Preissteigerung, Anwachsen von sozialen Randgruppen und Unterschichten, religiöse und politische Krise), die von den Herrschafts- und Funktionseliten als Krise und Zerfall der alten Ordnung wahrgenommen wurden. Der Formierungsprozeß der frühneuzeitlichen Gesellschaft, die Stabilisierung frühmoderner Territorialherrschaft und die Perzeption der sozioökonomischen Entwicklungsprozesse als Krisenerscheinungen bildeten den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund der Verstaatlichung der Strafjustiz und der Durchsetzung des Policeygedankens, der diese Entwicklung prägen sollte. Policey als frühneuzeitliches Leitbild der guten Ordnung des Gemeinwesens und zentrales Betätigungsfeld staatlichen Verwaltungshandelns beeinflußte maßgeblich den Strukturwandel der Strafjustiz und die Praxis des Strafverfahrens: Als umfassende und materiell kaum abgrenzbare Ordnungsgesetzgebung fixierten (oder etikettierten) Policeygesetze eine Vielzahl devianter Verhaltensweisen, die die gute Ordnung störten und daher verhindert oder bestraft werden sollten. Policeynormen erweiterten folglich über das klassische Strafrecht der Carolina hinaus ganz erheblich den Katalog der strafbaren Handlungen und trugen dazu bei, daß neben den »ordentlichen« peinlichen Strafen (Leibes- und Todesstrafen) außerordentliche, arbiträre Strafformen stärker in die Strafjustiz integriert und auch in der Strafpraxis zunehmend angewandt wurden. In den Policeyordnungen wurden besonders Freiheits- und Arbeitsstrafen wie Festungsbau, Zuchthaus, Galeere und Militärdienst sowie die Landesverweisung ausgebaut. Einer- 28 So in Kurmainz, Fulda, Hanau, Baden und Bayern: Wolfgang Leiser: Strafgerichtsbarkeit in Süddeutschland. Formen und Entwicklungen, Köln/ Wien 1971; Behringer: Mörder (Anm. 11), 88ff.; Henning Drecoll: Schwedische Kriminalpolitik im Herzogtum Bremen-Verden in 1648 - 1712, Marburg 1975. 29 Thomas Krause: Die Strafrechtspflege im Kurfürstentum und Königreich Hannover. Vom Ende des 17. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, Aalen 1991, 95ff.; Gerhard Schormann: Strafrechtspflege in Braunschweig-Wolfenbüttel 1569 - 1633, in: Braunschweigisches Jahrbuch 55 (1974), 90 - 112; Bernd D. Plaum: Strafrecht, Kriminalpolitik und Kriminalität im Fürstentum Siegen 1750 - 1810, St. Katharinen 1990. Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 467 seits bedeutete diese Entwicklung teilweise eine Milderung der schweren peinlichen Strafen, wie sie die Carolina vorschrieb, verschob aber andererseits leichtere Vergehen aus der lokalen Straf- und Rügegerichtsbarkeit in die Entscheidungskompetenz der staatlichen Organe. Denn Verstöße gegen Policeygesetze wurden kaum in akkusatorischen Verfahren von traditionellen Niedergerichten, sondern vor allem von den staatlichen Verwaltungsbehörden in summarisch-inquisitorischen Strafverfahren mit arbiträren, »außerordentlichen« Strafen sanktioniert. Gegenüber dem peinlichen Strafrecht besaßen die mit arbiträrer Strafandrohung versehenen Policeynormen eine insgesamt wesentlich höhere Flexibilität und erleichterten es dem frühmodernen Territorialstaat, die Bindung an traditionales, durch Herkommen legitimiertes (Straf-)Recht abzuschwächen und deviantes Verhalten nach policeylichen Zielvorgaben zu sanktionieren. Zentrale Intentionen von Policey - Erhaltung des gemeinen Nutzens, soziale Kontrolle und soziale Disziplinierung im Sinne der Verhinderung und Sanktionierung devianten Sozialverhaltens - prägten damit auch die sich wandelnden Strafzwecke. 30 Autochthone »deutschrechtliche« Wurzeln im Spätmittelalter, rezipierter römischkanonischer Strafprozeß, reichsrechtliche Vereinheitlichung des Straf- und Strafprozeßrechts durch die Carolina, Verstaatlichung der traditionellen Strafgerichtsbarkeiten und Policeygesetzgebung schufen folglich die Basis für die Durchsetzung des staatlichen, durch Offizial- und Instruktionsmaxime, Schriftlichkeit und Mittelbarkeit gekennzeichneten Inquisitionsprozesses gegen Ende des 16. Jahrhunderts und die weitere Ausdifferenzierung spezifischer Verfahrensformen, die im folgenden für den dualen Inquisitionsprozeß und das summarisch-inquisitorische Verwaltungs- und Policeystrafverfahren näher beobachtet werden sollen. Der duale Inquisitionsprozeß Seit dem 17. Jahrhundert dominierte der Inquisitionsprozeß als Verfahrensart bei allen »schweren« Delikten, kam aber auch bei leichten Delikten (delicta levia, crimina extraordinaria) bzw. Policeyvergehen (z.B. Fornikation, Schwängerung, Schlägereien, Schatzgräberei, devianter Lebenswandel) zur Anwendung. Von grundsätzlicher Bedeutung wurde die strukturelle Zweiteilung des Verfahrens - das ich daher als dualen Inquisitionsprozeß bezeichnen möchte - in ein lokales Untersuchungs- und ein zentrales Entscheidungsverfahren, dem eine Trennung zwischen lokalen Untersuchungsorganen und zentralen Entscheidungsinstanzen entsprach. Diese prinzipielle Zweiteilung hatte weitreichende Konsequenzen für die Durchführung der einzelnen Verfahrensabschnitte und die unterschiedlichen Kommunikationsformen zwischen den Beteiligten. In der älteren Literatur wird häufig der Eindruck vermittelt, der Inquisitionsprozeß habe sich nur zwischen zwei Beteiligten abgespielt: dem untersuchenden und entscheidenden Richter und dem Angeklagten (Inquisiten) - letzterer lediglich Objekt des Verfahrens und dem Inquirenten völlig ausgeliefert. Tatsächlich waren am frühneuzeitli- 30 Karl Härter: Disciplinamento sociale e ordinanze di polizia nella prima età moderna, in: Disciplina dell'anima, disciplina del corpo e disciplina della società tra medioevo ed età moderna, a cura die Paolo Prodi con la collaborazioni di Carla Penutti, Bologna 1994, 635 - 658; Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, hg. von Karl Härter und Michael Stolleis, Bd. 1: Deutsches Reich und geistliche Kurfürsten (Kurmainz, Kurtrier, Kurköln), hg. von Karl Härter, Frankfurt a.M. 1996. Karl Härter 468 chen Inquisitionsprozeß weitaus mehr Institutionen, »Rollen« und Personen beteiligt: der »Beschuldigte« (als Angeklagter, Inquisit und/ oder Delinquent); Familienangehörige und sonstige Personen aus dem sozialen Umfeld des Beschuldigten, die als Zeugen oder Supplikanten auftreten konnten; Verteidiger und Advokaten, die die Interessen des Beschuldigten vertraten, soweit dies zugelassen war; Kläger, Rüger, Anzeigende und/ oder Denunzianten, die den staatlichen Institutionen ein Delikt zur Kenntnis brachten; Zeugen, Mittäter und Verwaltungsorgane anderer Territorien, die zwecks Informationsgewinnung und zur Bestätigung von Angaben befragt wurden; »Sachverständige« wie Hebammen, Amtschirurgen, Ärzte, medizinische Fakultäten und Scharfrichter, um Tatumstände und/ oder den Beschuldigten zu »begutachten« oder an der Geständniserzwingung mitzuwirken; die lokalen »Untersuchungsorgane«, die das Ermittlungs- oder Untersuchungsverfahren durchführten (Verwaltungsbeamte wie Amtmänner, Vögte, Amtskeller, die als Inquirenten fungierten sowie die Schöffen des »Gerichts«); die entscheidenden und/ oder das Verfahren kontrollierenden Regierungs- und Justizorgane sowie der Landesherr und eventuell Juristenfakultäten anderer Territorien. Schon diese Auflistung der beteiligten »Rollen« unterstreicht die Verschränkung formeller und informeller Kontrollmechanismen, und zwar sowohl im lokalen Untersuchungsals auch im zentralen Entscheidungsverfahren. Untersuchungsverfahren Das inquisitorische Untersuchungsverfahren wurde von der Anzeige bis zur Schließung und Versendung der Inquisitionsakten in der Regel von den lokalen Verwaltungsinstitutionen (meist dem Amt) unter Beteiligung traditioneller genossenschaftlicher Gerichte und Organe durchgeführt. Zentrale Verfahrensbestandteile und Elemente waren die »amtliche« Einleitung des Verfahrens, die allerdings meist auf der Basis von Denunziationen, Anzeigen und »Gerüchten« oder pauschal gegen Angehörige mobiler sozialer Randgruppen erfolgte, die bei Streifen und Visitationen festgenommen wurden. In einem ersten Verfahrensabschnitt (Generalinquisition) wurde die strafbare Handlung festgestellt (corpus delicti), der Täter ermittelt bzw. festgenommen, Verdächtige und Zeugen vorgeladen und summarisch verhört und gegebenenfalls ein Tatverdächtiger, gegen den »starke« Verdachtsgründe vorlagen, in Haft genommen. Der Verdächtige wurde damit zum »Inquisiten« und auf diesen ersten, kaum durch Verfahrensrecht geregelten Abschnitt, die sogenannte Generalinquisition, konnte die Spezialinquisition folgen. In der Praxis griffen die rechtlichen Sicherungen der Carolina oder des territorialen Strafrechts gegen »übereilte« Verhaftungen nur bedingt, und es konnten »Verdächtige« sogar aufgrund ihres sozialen Status oder bloßer Gerüchte zur »Untersuchungshaft« gezogen werden. Denn allein durch Festnahme und anschließende Haft konnte das zentrale Beweismittel - der Verdächtige selbst, dessen Geständnis man erlangen wollte - sichergestellt werden. Moderne Haftgründe, wie z.B. die Verdunklungsgefahr, spielten dagegen kaum eine Rolle. 31 Vor allem Angehörige von Randgruppen und Unterschichten wurden verhaftet und verhört, ohne daß überhaupt ein »Verbrechen« bekannt war. Erst im summarischen Verhör wurde versucht, das corpus delicti zu ermitteln und dann nachzuweisen. Ein entscheidendes Kriterium für die inquisitorische Prozeßeinleitung war folglich der soziale Status eines »Verdächtigen«. Verdächtige Einheimische lud Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 469 man dagegen erst zu einem formlosen Verhör vor, und bei leichteren Delikten kam es selten zur Untersuchungshaft, da diese die Bevölkerung oder die »Staatskasse« erheblich belasten konnte. Die meisten Verfahren wurden allerdings nicht »ex officio« in Gang gebracht, sondern beruhten auf Anzeigen, Denunziationen, Gerüchten und sonstigen Informationen, mit denen die Bevölkerung die Lokalverwaltung mehr oder weniger gezielt versorgte. Gelegentlich wandten sich Familien auch direkt mit Supplikationen an den Landesherren, um ein Verfahren in Gang zu bringen oder die Einweisung devianter Verwandter ins Zuchthaus zu erwirken. Auch Frauen nutzten Offizialmaxime und Anzeige, um gegen trinkende, »verschwendungssüchtige« und die Familie vernachlässigende Ehemänner oder Väter vorzugehen, die den Unterhalt für ihre nichtehelichen Kinder verweigerten. In dieser Hinsicht ersetzten Anzeige und Supplikation die ältere Form der »privaten« Klage im Akkusationsprozeß und ergänzten sich mit der Denunziationspflicht der Policeygesetzgebung. Ziel und Zweck der Spezialinquisition war die Erlangung des zentralen Beweismittels, des glaubwürdigen Geständnisses, vom Inquisiten selbst durch das artikulierte Verhör (nach vorher festgelegten Fragen), die Konfrontation oder - als letztes Mittel - die Folter. 32 Das andere Beweismittel, mindestens zwei glaubwürdige Tatzeugen, besaß gegenüber dem Geständnis eine wesentlich geringere Bedeutung. In der Mehrzahl der Strafverfahren konnte das Geständnis durch Verhör, Zeugenaussagen und Konfrontation erlangt werden, und die Folter wurde im 18. Jahrhundert immer seltener angewandt. Dagegen wurde die Fragetechnik im Verhör ausgefeilter und detaillierter: Man ging von den vorformulierten Artikeln ab und nutzte unmittelbar gewonnene Informationen, um die Inquisiten während der oft langen Verhördauer stärker unter Druck zu setzen. Besonderes Gewicht gewannen neben den unmittelbaren Tatumständen auch allgemeine Informationen über sozialen Status und Lebenswandel eines Verdächtigen, frühere Strafen bzw. Verfahren und weitere »Verbrechen«, von denen die Untersuchungsbehörden noch keine Kenntis hatten. Denn während des gesamten Inquisitionsprozesses konnten dem Inquisiten - der davon nicht informiert werden mußte - über die ursprüngliche »Anklage« hinaus neue Delikte angelastet werden. Die Ausdifferenzierung und Bedeutungszunahme des Verhörs ermöglichten es andererseits den Inquisiten, »Verteidigungsstrategien« zu entwickeln, mit den Inquirenten zu argumentieren und verstärkt entlastende Umstände oder ihre soziale Reputation einzubringen, die im Verhörprotokoll festgehalten wurden und damit auch den urteilenden Spruchkörper günstig beeinflussen konnten. 33 Die gemäß dem Schriftlichkeitsprinzip der Carolina angefertigten Verhör- oder Inquisitionsprotokolle nahmen daher einen immer größeren 31 Marita Thissen: Das Verhaftungsrecht unter dem Einfluß von Inquisitions- und Akkusationsprinzip in der Geschichte des deutschen Strafprozeßrechts, Köln 1969; Thomas Hermes: Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr im deutschen Strafverfahren - Eine Untersuchung über die geschichtliche Entwicklung vom germanischen Rechtsgang bis zum heutigen Rechtszustand mit Vorschlägen für eine Neufassung der StPO -, Bochum 1992. 32 Gerd Kleinheyer: Zur Rolle des Geständnisses im Strafverfahren des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Gerd Kleinheyer/ Paul Mikat (Hg.): Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, Paderborn u.a. 1979, 367 - 384. 33 Beispielhaft: Otto Ulbricht: Kindsmörderinnen vor Gericht. Verteidigungsstrategien von Frauen in Norddeutschland 1680 - 1810, in: Blauert/ Schwerhoff: Justiz (Anm. 2), 54 - 85; vgl. auch Silvin Bruns: Zur Geschichte des Inquisitionsprozesses: Der Beschuldigte im Verhör nach Abschaffung der Folter, Bonn 1994. Karl Härter 470 Umfang an. Diese Entwicklung ist auch auf die duale Struktur des Verfahrens und die Notwendigkeit zurückzuführen, dem entscheidenden Spruchkörper - der in der Praxis keine Möglichkeit der direkten Nachfrage hatte - detaillierte Informationen zu verschaffen und alle Aspekte bzw. Fragestellungen bereits beim Verhör zu berücksichtigen, um Nachfragen und Prozeßverzögerungen (die erhebliche Kosten verursachen konnten) zu vermeiden. Zudem gaben Praxishandbücher und juristische Literatur seit dem 18. Jahrhundert Verhör- und Frageschemata vor und versuchten, die Inquirenten in »psychologischen« Verhörtechniken zu schulen. Die im Verhör gewonnenen Angaben wurden bei »auswärtigen« Inquisiten mittels Nachfragen und Requisitionsschreiben an Ämter oder andere Territorien verifiziert, und es entwickelte sich vor allem zwischen den südwestdeutschen kleineren und mittleren Territorien eine rege Kommunikation mit Austausch von Inquisitionsprotokollen, Requisitionsschreiben, Fahndungslisten und Steckbriefen, die im 18. Jahrhundert auch gedruckt wurden. Dabei ging es nicht nur um die Feststellung weiterer Straftaten, die der Inquisit eventuell im Verhör zugegeben hatte, sondern auch um »Vorstrafen« und allgemeine Angaben zur Person. Waren doch sozialer Status und Reputation, Lebenswandel, Angaben über Konfession, Familie und Beruf wichtige Faktoren für die Entscheidungsfindung und die Strafzumessung. Die Verhörprotokolle bzw. Inquisitionsakten im engeren Sinn geben folglich einen detaillierten Einblick in das Untersuchungsgeschehen und können sozialhistorisch durchaus als »Ego-Dokumente« analysiert werden. 34 Ein wichtiger und wirkungsvoller Bestandteil des Verhörs war die Konfrontation, bei der Inquisit und Zeuge oder mehrere Tatverdächtige gegenübergestellt wurden und ihre Aussagen wiederholen mußten. 35 Durch die unmittelbare Rede und Gegenrede im Beisein des fragenden Inquirenten entstand ein hoher psychologischer Druck, der häufig zu einem Geständnis führte. Nicht zu unterschätzen sind auch die Auswirkungen auf die soziale Reputation eines »einheimischen« Inquisiten durch die direkte Gegenüberstellung mit einem ebenfalls »einheimischen« Zeugen, der damit unmittelbar am Inquisitionsverfahren und dem - eventuell infamierenden - Verhör des Tatverdächtigen teilhatte. Auch die (allerdings im 17. und 18. Jahrhundert stark abnehmende) Beteiligung von Schöffen an Verhör, Konfrontation und Folter konnte den sozialen und psychologischen Druck auf Inquisiten erhöhten, die häufig bereits durch ein Geständnis im summarischen Verhör im Rahmen der Generalinquisition einer langen und infamierenden Spezialinquisition entgingen und darauf hoffen konnten, nach einem Urteilsspruch eine Strafmilderung per Supplikation zu erreichen. Erbrachten Verhör, Zeugen und Konfrontation nicht das Geständnis, so wurde bei »schweren« Delikten und ausreichenden »Indizien« zur Folter geschritten. 36 Die Carolina hatte lediglich die Voraussetzungen, nicht aber den Ablauf der Tortur eingehend geregelt, so daß in der Praxis unterschiedliche und von den klassischen drei Graden abweichende Formen etabliert wurden. Grundsätzlich nahm die Folter der Scharfrichter vor, der als »freier« Gewerbetreibender nicht dem staatlichen Justizsystem angehörte, 34 Helga Schnabel-Schüle: Ego-Dokumente im frühneuzeitlichen Strafprozeß, in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 295 - 317; Wolfgang Behringer: Gegenreformation als Generationenkonflikt oder: Verhörsprotokolle und andere administrative Quellen zur Mentalitätsgeschichte, in: ebd., 275 - 293. 35 So auch Schwerhoff: Köln (Anm. 4), 108. 36 John H. Langbein: Torture and the Law of Proof. Europe and England in the Ancien Régime, Chicago 1976; Edward Peters: Torture, New York 1985. Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 471 allerdings im 18. Jahrhundert zunehmend in dieses integriert wurde. 37 Die Wirkung der Tortur beruhte nicht allein auf den zugefügten körperlichen Schmerzen, sondern auch auf ihrem infamierenden, sozial stigmatisierenden Effekt, so daß bei vielen Delikten die Drohung (Territion) genügte, um zumindest bei einheimischen Inquisiten ein Geständnis zu erhalten. Wer erst einmal gefoltert worden war, hatte selbst bei einer »milderen« Strafe kaum eine Chance auf Reintegration: ein Gefolterter war mit dem Stigma des Unehrlichen und Unreinen versehen und damit aus der sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen. Legte ein Inquisit dagegen ein Geständnis ab, bestand immerhin die Möglichkeit, auch bei peinlichen Strafen mittels Supplikationen eine Strafmilderung zu bewirken und nach Verbüßung der Strafe wieder in die soziale Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Anders dagegen bei Randgruppen- und Unterschichtangehörigen: vor allem fremde, heimat- und herrenlose Vaganten konnte der stigmatisierende Effekt der Folter kaum abschrecken. Insofern ging die Anwendung der Folter zwar bei einheimischen Inquisiten zurück, traf aber im 18. Jahrhundert verstärkt Angehörige mobiler Randgruppen. Bereits im 17. Jahrhundert mehrten sich allerdings die Stimmen unter den Obrigkeiten, die eine »neue« Resistenz der »Gauner-, Diebs- und Mörderbanden« gegen die Folter festzustellen glaubten, was wohl weniger auf eine höhere körperliche Widerstandsfähigkeit, sondern auf den fehlenden infamierenden Effekt zurückzuführen ist. Diese - aus der Perspektive der Obrigkeiten - abnehmende Wirkung der »klassischen« Folter und das wachsende »policeyliche« Interesse an der Verfolgung mobiler Randgruppen führte zu einem Formen- und Funktionswandel im 18. Jahrhundert. Vor allem mittels harter und nicht durch Verfahrensvorschriften begrenzte Prügel (Peitsche, Ruten) versuchten die Untersuchungsbehörden (die daher zunehmend auf den Scharfrichter verzichten konnten), den Inquisiten über ein Tatgeständnis hinaus auch Informationen über weitere »Täter«, Verdächtige und »Bandenmitglieder« abzuzwingen, die Ermittlungs- und Fahndungszwecken dienen sollten und die Basis für sogenannte Gauner- und Zigeunerlisten bildeten. 38 Insofern war die »Abschaffung« der Folter in einigen (jedoch keineswegs allen! ) Territorien gegen Ende des 18. Jahrhunderts ambivalent: man verzichtete bei »einheimischen« Inquisiten auf die klassische, durch den Scharfrichter ausgeübte Folter in den drei Graden, wandte jedoch Prügel, Nahrungsentzug und sonstige physische und psychische Druckmittel an, um insbesondere von Vaganten und Unterschichtangehörigen Geständnisse und Informationen zu erpressen. 39 Geständniszwang und Geständnis behielten bis zur Abschaffung des Inquisitionsprozesses im 19. Jahrhundert ihre Funktion als zentrales Beweismittel. 40 Neben Verhör und Folter wirkte auch die menschenunwürdige Unterbringung in den »Untersuchungsgefängnissen« als ein Zwangsmittel. Fehlende Heizungsmöglichkeiten und eine schlechte Nahrungsmittelversorgung konnten die teilweise mehrere Monate dauernden Untersuchungsverfahren für die Inquisiten zur Qual machen und ihre Geständnisbereitschaft beträchtlich erhöhen. Da die Gefängnisse selten vom Staat, son- 37 Jutta Nowosadtko: Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier »unehrlicher Berufe« in der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1994. 38 Auf Einzelnachweise muß hier verzichtet werden; eine bibliographische Übersicht wird jedoch von Andreas Blauert für den Druck vorbereitet. 39 Besonders aufschlußreich sind mehrere »Umfragen« der Kurmainzer Regierung bei Nachbarterritorien, die dieses Bild bestätigen: BStA Würzburg, MRA Cent 13 und Stadtarchiv Mainz, 4/ 10. 40 Vgl. zur Praxis im frühen 19. Jahrhundert: Friedrich Hartl: Das Wiener Kriminalgericht. Strafrechtspflege vom Zeitalter der Aufklärung bis zur österreichischen Revolution, Wien u.a. 1973. Karl Härter 472 dern von Städten und Gerichtsgemeinden (z.B. den Centen) unterhalten werden mußten, befanden sie sich häufig in einem schlechten baulichen Zustand, und die Inquisiten mußten von städtischen Amtsträgern (Türmer, Büttel usw.) oder Mitgliedern der Land- und Bürgermiliz bewacht werden, die sich dagegen vielfach sträubten. Diese aus der kommunalen Zuständigkeit resultierenden »Mißstände« im Gefängniswesen erleichterten den Inquisiten häufig die Flucht oder erlaubten zumindest die Kommunikation mit Verwandten und Freunden. Besonders einheimische Inquisiten waren daher nicht völlig von der Außenwelt abgeschnitten, sondern konnten soziale Beziehungen mobilisieren, um z.B. eine Supplikation auf den Weg zu bringen. Insofern folgten die aufklärerischen Forderungen und Reformen im Bereich des Gefängniswesens nicht nur humanitären Intentionen, sondern zielten auf eine Verstaatlichung und Rationalisierung von Untersuchungsgefängnissen und Untersuchungshaft. Staatliche (Untersuchungs-)Gefängnisse wurden allerdings erst seit dem späten 18. Jahrhundert eingerichtet. Auch in dieser Hinsicht blieb der frühneuzeitliche Territorialstaat auf die Mithilfe traditioneller kommunaler Organe bzw. der Bevölkerung angewiesen. Im Zusammenhang mit dem Rückgang der Folter, der aufklärerischen Debatte um den Kindsmord und der zunehmenden Berücksichtigung von »Milderungsgründen« gewannen im 18. Jahrhundert der »Sachverständigenbeweis« und die Mitwirkung »medizinischer Gutachter« an Gewicht. Als nichtjuristische und »nicht-staatliche« Spezialisten und »freie« Gewerbetreibende hatten Ärzte, Chirurgen und Apotheker vor allem bei der Totenschau mitzuwirken, Wunden zu begutachten und eventuell auch die Durchführung der Folter zu begleiten. Auch die Hebammen wurden herangezogen, um die Schwangerschaft einer Delinquentin festzustellen oder Gutachten bei Verdacht auf Abtreibung oder bei Sexualdelikten (Schwängerung, Ehebruch) abzugeben. Da eine staatliche »Gerichtsmedizin« fehlte, konnten Hebammen, Mediziner oder auch Scharfrichter zumindest bei bestimmten Delikten das Verfahren nicht unerheblich beeinflussen. Von daher bemühte sich der frühmoderne Territorialstaat darum, medizinische Berufsfelder und die Scharfrichter stärker in die staatliche Strafjustiz zu integrieren oder zumindest mittels Policeygesetzgebung zu kontrollieren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden Hebammen, Chirurgen, Ärzte oder medizinische Fakultäten stärker institutionell in das Strafverfahren bzw. die staatliche Strafjustiz integriert, ihre »Gutachtertätigkeit« formalisiert und standardisiert und erste Ansätze zur Etablierung einer staatlichen Gerichtsmedizin sichtbar. 41 Die schriftlichen Gutachten erlaubten eine differenziertere Entscheidungsfindung und erleichterten letztlich eine mildere, dem »Verbrechen« angemessenere Strafpraxis, die nicht schematisch dem peinlichen Recht folgte. Langfristig ging im Untersuchungsverfahren die Bedeutung der Spezialinquisition zurück bzw. der Unterschied zwischen General- und Spezialinquisition löste sich weitgehend auf. Diese Zweiteilung war bereits in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Li- 41 Grundsätzlich zur frühneuzeitlichen »Gerichtsmedizin«: Esther Fischer-Homberger: Medizin vor Gericht. Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung, Bern u. a. 1983; Enno Poppen: Die Geschichte des Sachverständigenbeweises im Strafprozeß des deutschsprachigen Raumes, Göttingen 1984; Catherine Crawford: Legalizing medicine: early modern legal systems and the growth of medico-legal knowledge, in: Michael Clark/ Catherine Crawford (Hg.): Legal medicine in history, Cambridge 1994, 89 - 116; völlig unbefriedigend: Karen Budewig: Die Kriminalakten der freien Reichsstadt Frankfurt am Main der Jahre 1600 bis 1632. Betrachtet unter gerichtsmedizinischen und soziologischen Gesichtspunkten, Aachen 1995. Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 473 teratur umstritten, und in der Praxis des 17. und 18. Jahrhunderts war eine scharfe Trennung kaum mehr üblich: Die Generalinquisition wurde bis zum ersten summarischen Verhör und der Konfrontation ausgedehnt. Feststellung und Festnahme des Täters, erstes Verhör und erste Zeugenvernahme gewannen eine zunehmende Bedeutung, und bei leichten Delikten, die sofort gestanden oder »bewiesen« wurden, konnte das Verfahren summarisch im Rahmen der Generalinquisition mit einem »Urteil« des Untersuchungsbeamten oder der zentralen Regierungs- und Justizbehörde abgeschlossen werden. Aus dieser Praxis entwickelte sich ein summarisch-inquisitorisches Verwaltungs- und Policeystrafverfahren, das bereits Benedikt Carpzov für Sachsen beschrieben hatte und das sich in vielen deutschen Territorien (in unterschiedlichen Varianten) durchsetzte. 42 Es kam vor allem bei Verstößen gegen Policeygesetze und bei leichten Delikten zur Anwendung, die nicht mit Leibes- und Todesstrafen, sondern typischen Policeysanktionen (Geld-, Arbeits- und Haftstrafen, Landesverweisung) geahndet wurden. Besonders häufig wurde es gegen Angehörige von mobilen Randgruppen und Unterschichten angewandt. Strafart und sozialer Status waren folglich zentrale Kriterien, und nur selten waren das Verfahren und der Deliktbereich genauer normativ geregelt. Das Verfahren wurde von der Lokalverwaltung und im späten 18. Jahrhundert auch von spezifischen Polizeiorganen durchgeführt. Zulässig waren allerdings nur Vorladung, summarisches Verhör, Zeugenvernahme, Konfrontation und eventuell eine kurze Erzwingungshaft. Die strengen Beweisregeln des »ordentlichen« Inquisitionsprozesses wurden nicht angewandt, eine besondere Verteidigung war nicht möglich und Rechtsmittel konnten nicht eingelegt werden. Die Sanktionen wurden je nach Kompetenzzuweisung von der Untersuchungsbehörde, der Lokalverwaltung oder einer Regierungsbehörde (häufig die Institutionen, die auch als höchste Strafgerichte fungierten) verhängt. Langfristig erfuhr damit die Amtsgerichtsbarkeit eine erhebliche Ausweitung, da mit der Auflösung der genossenschaftlichen und städtischen Niedergerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert viele Delikte in die Zuständigkeit der Lokalverwaltung verlagert wurden. Darüber hinaus gaben im Zuge der Verwaltungsreformen des Aufgeklärten Absolutismus häufig auch zentrale Strafgerichte Strafkompetenzen bei »leichteren« Delikten an lokale Instanzen ab. Dieses summarische Verfahren besaß zwar nicht die infamierende Wirkung des Inquisitionsprozesses, aber es entsprach weitgehend der Generalinquisition, und wenn es sich um ein eher geringfügiges Delikt handelte oder der Täter sofort ein Geständnis ablegte, waren beide Verfahrensformen praktisch nicht zu unterscheiden. Gerade die in der Praxis fließenden Übergänge zum Inquisitionsprozeß - mit der daraus resultierenden Flexibilität hinsichtlich der Entscheidungsprozesse und der Sanktionen - machten das summarisch-inquisitorische Verwaltungs- und Policeystrafverfahren zu einem wichtigen Instrument der staatlichen Strafjustiz. Das Abschreckungs- und Disziplinierungspotential des Untersuchungsverfahrens war insgesamt erheblich: Es degradierte den Inquisiten zum Untersuchungsobjekt, konnte ihn aufgrund des infamierenden Charakters der Spezialinquisition zumindest zeitweilig aus der sozialen Gemeinschaft ausschließen und verschaffte den Untersuchungsbeamten eine herausragende Funktion als Kontroll- und Selektionsinstanz. Auf 42 Benedict Carpzov: Peinlicher Sächsischer Inquisition- und Achts-Prozeß (...), Leipzig 1638; Hans Hilger: Begriff und Verfahren des summarischen Kriminalprozesses im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des »abgekürzten Verfahrens für geringe gemeine Vergehen« in Preussen, Bonn 1963. Karl Härter 474 der Ebene der untersuchungsführenden Organe fiel der Grad der Ausdifferenzierung spezifischer juristischer Funktionsrollen allerdings relativ gering aus: Nicht »Gerichte« und »Richter« - im Sinne der Funktion -, sondern weisungsgebundene landesherrliche Organe der Lokalverwaltung (Amtmänner, Amtsvögte, Amtskeller, Amtsschreiber usw.), die nur in Ausnahmefällen über eine juristische Ausbildung verfügten, führten als Inquirenten das inquisitorische Untersuchungsverfahren durch. Neben den allgemeinen Verwaltungsaufgaben waren diese Verwaltungsbeamten in ihrem Amtsbereich auch für die Umsetzung von Policeygesetzen und die Zivilgerichtsbarkeit zuständig. 43 Die für die Durchführung von Strafverfahren notwendigen juristischen und »kriminalistischen« Kenntnisse bezogen sie überwiegend aus der Praxis oder speziellen Anleitungs- und Verwaltungshandbüchern. 44 In einigen Territorien blieben die Funktionen des Untersuchungsbeamten und des Anklägers voneinander getrennt, soweit mit dem Amt eines Fiskals oder staatlichen Anklägers Elemente des akkusatorischen Verfahrens erhalten geblieben waren. Auch wenn sich im 18. Jahrhundert ansatzweise spezifische Institutionen der Ermittlung und Untersuchung (modern gesprochen: Polizei, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter) herausbildeten, so ist diese Entwicklung lediglich im Sinne einer stärkeren Spezialisierung und Professionalisierung zu deuten, d.h. die jeweiligen Beamten übten keine anderen Verwaltungstätigkeiten mehr aus. Von der Verwaltung und den Weisungen der Regierungsbehörden unabhängige Justizorgane wurden jedoch nicht geschaffen. 45 Die Inquirenten konnten das Untersuchungsverfahren in keinem Fall völlig autonom durchführen, sondern sie hatten an die vorgesetzten Regierungs- und Justizbehörden zu berichten, die über wichtige Verfahrensabschnitte (Spezialinquisition, Folter) entschieden und so die Untersuchung zumindest teilweise steuerten. Auch blieb das traditionelle Gericht häufig durch zwei Schöffen an bestimmten Prozeßabschnitten beteiligt. Die Schöffen fungierten allerdings nicht mehr als Urteiler, sondern nahmen nur noch als Gerichtszeugen am Untersuchungsverfahren (z.B. an der Durchführung der Folter) teil. Insofern konnten traditionelle Gerichtsorgane bzw. die lokale Gemeinschaft durchaus Einblicke in die Untersuchungstätigkeit der Beamten gewinnen. Darüber hinaus kamen den Schöffen und der Gerichtsgemeinde bei der Abhaltung des Endlichen Rechtstags wichtige symbolische und repräsentative Aufgaben zu, die generalpräventive wie integrative Funktionen des Strafvollzugs als eines öffentlichen und gesellschaftlichen (und nicht bloß staatlichen) Aktes gewährleisteten. Da die Mitwirkungsrechte der Schöffen am Verfahren in der Carolina verankert waren, gelang es vielen Territorialstaaten nicht, die traditionellen Schöffengerichte, die genossenschaftliche Gerichtsorganisation (z.B. die Centen) oder den Endlichen Rechtstag als »überflüssigen Aufwand« zu beseitigen. Weiterhin blieben die »Gerichtsgemeinden« und die Mitglieder der Schöffengerichte vielfach in die Strafverfolgung eingebunden, 43 Zusammenfassend (allerdings lediglich auf zeitgenössische Literatur gestützt): Carl-August Agena: Der Amtmann im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des Richter- und Beamtentums, Göttingen 1972. 44 Diese Gattung der Handbücher ist noch nicht erforscht, obwohl sie die Praxis des Inquisitionsverfahrens wahrscheinlich stärker geprägt haben dürfte als bekannte zeitgenössische Kriminalisten wie Carpzov. 45 Peter Nitschke: Verbrechensbekämpfung und Verwaltung. Die Entstehung der Polizei in der Grafschaft Lippe, 1700 - 1814, Münster u.a. 1990; Wolfgang Wohlers: Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft. Ein Beitrag zu den rechtshistorischen und strukturellen Grundlagen des reformierten Strafverfahrens, Berlin 1994. Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 475 hatten im Rahmen ihrer Dienst- oder Milizpflichten bei Visitationen, Streifen und Festnahmen mitzuwirken, Inquisiten zu bewachen und zu verpflegen, Delinquenten zu überführen oder bei der Strafvollstreckung mitzuwirken. Folglich waren der staatliche und nichtöffentliche Charakter des Inquisitionsprozesses und die von der Aufklärung beklagte »schrankenlose Gewalt des Inquirenten« durchaus begrenzt, und agierten die Untersuchungsinstanzen nicht losgelöst von der sozialen Gemeinschaft, sondern waren auf deren Mitwirkung angewiesen. 46 Allerdings waren Rechtsvertreter des Inquisiten im Untersuchungsverfahren kaum zugelassen. Bezüglich der Verhaftung, der ersten Befragung und des gleitenden Übergangs von der Generalzur Spezialinquisition war der Inquisit ohne Verteidigungsmöglichkeit und damit dem Inquirenten ausgeliefert, der auch entlastendes Material zusammentragen sollte. Falls überhaupt eine Verteidigung gestattet war, konnte sie nur zur Abwendung der Folter oder nach Schließung der Inquisitionsprotokolle erfolgen. In vielen Territorien war die Verteidigung mittels einer Verteidigungsschrift erst während bzw. nach Abschluß des Entscheidungsverfahrens zulässig. Vielfach sollten die Referenten bei der Abfassung der Relation bzw. eines Urteilsvorschlags auch als »Verteidiger« fungieren und alle für den Inquisiten sprechenden Umstände berücksichtigen, was jedoch faktisch einer Abschaffung der Verteidigung gleichkam. Die ungenügenden Verteidigungsmöglichkeiten und der Mangel an rechtlichem Gehör bildeten dann auch einen der zentralen Punkte der aufklärerischen Kritik am Inquisitionsprozeß. 47 Allerdings konnten die Inquisiten bereits im Untersuchungsverfahren - vor allem im Verhör - Verteidigungsstrategien entwickeln, entlastende Umstände vorbringen und ihre soziale Reputation einbringen. Insgesamt blieb die Autonomie des frühneuzeitlichen Justizsystems und damit des Strafverfahrens deutlich begrenzt. Keineswegs bestimmten lediglich im Verfahren selbst erarbeitete »juristische« Gesichtspunkte Ablauf und Ergebnis. Vielmehr war es gegenüber sozialen Einflußfaktoren und Formen informeller Sozialkontrolle vielfach offen, aber auch seitens des Staates durch policeylich-utilitaristische Momente geprägt, die den Prozeß der Entscheidungsfindung beeinflußten und wesentlich die Differenz zwischen Norm und Strafpraxis prägten. Dieser Entscheidungsprozeß bis zur »endgültigen« Strafe vollzog sich sowohl innerhalb der »urteilenden« Regierungs- und Justizbehörden als auch - über Supplikationen - zwischen Obrigkeit und Delinquenten (oder deren Angehörigen). 46 Analysen zur Tätigkeit der »Untersuchungsbeamten« liegen noch nicht vor; die rechtshistorischen Darstellungen stützen sich vorwiegend auf die zeitgenössische Literatur und geben häufig ein verzerrtes Bild von der Situation der Inquisiten; vgl. z.B. Klaus Bollmann: Die Stellung des Inquisiten bei Carpzov. Eine Untersuchung über den Gemeinen Deutschen Strafprozeß des 17. Jahrhunderts, Marburg 1963. 47 Eine Darstellung der Praxis der Verteidigung bzw. der Tätigkeit von Verteidigern fehlt, lediglich auf normativer Quellenbasis argumentieren: Johann Friedrich Henschel: Die Strafverteidigung im Inquisitionsprozeß des 18. und im Anklageprozeß des 19. Jahrhunderts, Freiburg 1972; Klaus Armbrüster: Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen. Ein rechtsgeschichtlicher Beitrag von den Anfängen einer Verteidigertätigkeit in Deutschland bis zum Ende der Weimarer Zeit, Berlin 1980. Karl Härter 476 Entscheidungsverfahren Wie erwähnt, hatten die Untersuchungsbehörden die Akten an einen Spruchkörper zu versenden, bei dem es sich meist um eine zentrale Regierungs- und Justizbehörde handelte, die (gegebenenfalls unter Einbeziehung einer landeseigenen Juristenfakultät) nach dem Kollegialprinzip eine Entscheidung traf. Die einzelnen Fälle wurden einem Referenten zugewiesen, der auf der Basis der Inquisitionsakten eine schriftliche Relation mit Urteilsvorschlag anfertigte und dem Spruchkörper vorlegte (bzw. in Auszügen vorlas). Die Anfertigung solcher Relationen folgte bestimmten technischen Stilregeln, die in ganz Europa zur universitären Ausbildung der Juristen gehörten (und auch in Praxishandbüchern erläutert wurden) und deren Kernpunkt die Abfassung eines gelehrten Votums war. 48 Bis zum 18. Jahrhundert hatten die Relationen einen weitgehend identischen formalen Aufbau entwickelt: Zu Beginn stand eine Sachverhaltsdarstellung (narratio facti, Geschichtserzählung) mit teilweise ausführlichen Angaben zur Person des Inquisiten; darauf folgten Aktenauszüge aus den Inquisitionsprotokollen mit den Fragen und den Antworten des Inquisiten oder Zeugenaussagen sowie Auszüge aus sonstigen Aktenstücken (z.B. aus den Berichten der Untersuchungsbehörde oder das Gutachten eines Amtschirurgen); an die Wiedergabe und Bewertung der Aktenauszüge schloß sich eine rechtliche Erörterung des Tatbestands/ Delikts an, bei der Rechtsnormen, Lehrbücher, Vergleichsfälle bzw. exemplarische Konsilien zugrundegelegt und unter Einbeziehung der konkreten Tatumstände sowie der sozialen Merkmale des Täters (Religion, Stand, fremd/ einheimisch, Familie/ Kinder, Alter, Lebenswandel, Beruf/ Lebensunterhalt) ein Votum mit Schuldspruch und Strafe abgegeben wurde. Relation und Votum wurden in einer mündlichen Umfrage kurz »diskutiert«, d. h. die anderen Räte gaben - meist ohne Begründung - ihre Voten ab und beschlossen ein »Urteil«. In den meisten Territorien mußte dieses Urteil (besonders wenn es um schwere Delikte bzw. peinliche Strafen ging) dem Landesherren als dem obersten Richter und Inhaber der Gerichtsbarkeit zur Bestätigung vorgelegt werden, der durch dieses Bestätigungsrecht wesentlichen Einfluß auf die Rechtsprechung nehmen und Urteile ändern konnte. Auch die Gutachten und Urteilsvorschläge der Juristenfakultäten bedurften in der Regel der Bestätigung des Landesherren und seiner Zentralbehörden. Das landesherrliche Bestätigungsrecht hatte sich seit dem späten 16. Jahrhundert zu einem integralen Bestandteil des dualen Inquisitionsprozesses und zu einem regelrechten Bestätigungsverfahren entwickelt, das für Interlokute (z.B. bei Anwendung der Folter), Entscheidungen über »schwere« Verbrechen und bei adligen Straftätern regelmäßig zur Anwendung kam, jedoch nur sehr selten durch Verfahrensrecht näher geregelt war. Insofern ist das Bestätigungsrecht vor allem Ergebnis der Monopolisierung und Zentralisierung der Strafjustiz seit dem 16. Jahrhundert und stellt kein willkürliches Eingreifen des Landesherren in die Strafjustiz dar (die Bezeichnung »Kabinettsjustiz« ist daher mißverständlich und unzutreffend). Die Bestätigung der Urteilsvorschläge der jeweiligen Spruchkörper fand in einem »geordneten« Verfahren statt, in dem sich der Landes- 48 Filippo Ranieri: Stilus Curiae. Zum historischen Hintergrund der Relationstechnik, in: Rechtshistorisches Journal 4 (1985), 75 - 88; Wolfgang Schild: Relationen und Referierkunst. Zur Juristenausbildung und zum Strafverfahren um 1790, in: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, 159 - 176. Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 477 herr die Entscheidungen mit Gründen und Fakten auf der Basis der Relationen und der Umfrage referieren ließ und vor allem das Strafmaß »überprüfte« (eventuell auch im Kreis des Geheimen Rates). Erst durch das Votum des Landesherren wurde die Entscheidung des Spruchkörpers zum rechtsgültigen Urteil. Die Überprüfung der rechtlichen Entscheidung und der Strafe durch den Landesherren folgte jedoch keineswegs immer rein rechtlichen Kriterien. Im Bestätigungsverfahren konnten vielmehr unmittelbare Herrschaftsinteressen und sonstige »außerrechtliche« Gründe in den Entscheidungsprozeß einfließen und die »Urteile« der Spruchkörper erheblich modifiziert bzw. die Strafen gemildert oder verschärft werden (und insofern können Kriminalitätsanalysen, die sich nur auf die Entscheidungen der Regierungs- und Justizbehörden oder der Juristenfakultäten stützen, eine erhebliche Schieflage aufweisen). Darüber hinaus entschieden die Landesherren ebenfalls über Supplikationen in Strafsachen, so daß auch auf diesem Weg ein direkter Einfluß des Herrschers auf die Strafpraxis gegeben war. 49 Folgende Rechtsquellen, Kriterien und Muster lassen sich in dem skizzierten Entscheidungsverfahren ausmachen: Normativer Maßstab war im 17. und 18. Jahrhundert häufig nicht mehr allein die Carolina (die allerdings bei Eigentumsdelikten prägend blieb) oder eine daran ausgerichtete territoriale Kodifikation, sondern einbezogen wurden auch Policeygesetze (z.B. bei Sexualdelikten) sowie rechtswissenschaftliche Kommentare, Lehrbücher und Urteilssammlungen. Insofern bildete keineswegs allein das peinliche Strafrecht die normative Grundlage der Entscheidungsfindung, und die Vielzahl der Rechtsquellen erklärt zumindest teilweise die Differenz zwischen Strafpraxis und Strafrecht. Darüber hinaus waren sozialer Status und Reputation eines Delinquenten von hoher Relevanz: Grob vereinfacht können zwei Gruppen - die »einheimischen seßhaften Untertanen« und Angehörige von Randgruppen und Unterschichten (vor allem die fremden Vaganten) - unterschieden werden, für die jeweils unterschiedliche Sanktionssysteme zur Anwendung kamen. Delinquenten, die in die letzte Gruppe eingestuft wurden, konnten kaum auf Milde hoffen: Sie waren bereits in den entsprechenden Normen (besonders Policeygesetzen) als verdächtig und kriminell etikettiert und ihnen fehlte (aus der Perspektive der Obrigkeit) ein System informeller Kontrolle, das Disziplinierung und Integration hätte mitübernehmen können. Folglich wurde auf ausgrenzende Sanktionen oder das peinliche Strafensystem zurückgegriffen: als »Zigeuner« und »Vaganten« etikettierte Delinquenten, aber auch »fremde« Mägde, Knechte oder Tagelöhner wurden häufig hingerichtet, wenn es gelang, ihnen durch Folter und Geständnis eine »Straftat« »nachzuweisen«, oder aus dem Land ausgewiesen bzw. zu Militärdienst und Galeere verurteilt. Die öffentlich vollzogenen exemplarischen »peinlichen« Strafen sollten durch Abschreckung Verhalten und Attitüde der einheimischen Bevölkerung disziplinieren. Eine weitere Option bildete die Arbeitsstrafe beim Festungsbau oder in den Zuchthäusern. Dabei stand jedoch das Ziel der Ausbeutung der Arbeitskraft sowie der generellen Abschreckung und weniger eine auf Integration ausgerichtete soziale Disziplinierung im Vordergrund. In der Regel wurden Vaganten und Randgruppenangehörige nach Verbüßung solcher Strafen ebenfalls ausgewiesen. Die Entscheidungsfindung war folglich grundsätzlich durch Etikettierungsprozesse und Intentionen der Policeygesetzgebung geprägt, die im Falle der als »kriminell« einge- 49 Jürgen Regge: Kabinettsjustiz in Brandenburg-Preußen. Eine Studie zur Geschichte des landesherrlichen Bestätigungsrechts in der Strafrechtspflege des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1977; Schnabel-Schüle: Strafgerichtsbarkeit (Anm. 6), 162 - 164. Karl Härter 478 stuften mobilen Randgruppen und Unterschichtangehörigen zur Exklusion durch exemplarische Todesstrafen oder Landesverweisung führten. Bezüglich der devianten einheimischen Untertanen flossen dagegen stärker fiskalische, soziale und utilitaristische Kriterien ein. Die »Nützlichkeit« eines Delinquenten, sein »Lebenswandel« und seine soziale Integration, seine Bereitschaft zu diszipliniertem Verhalten und die - über Supplikationen - signalisierte informelle Sozialkontrolle (durch Verwandte, Nachbarschaft, lokale Eliten) konnten erhebliche Bedeutung für die Strafzumessung gewinnen und mildere Strafen nach sich ziehen. Für die Entscheidungsfindung über Höhe und Art der Sanktion bzw. eine nachträgliche Strafmilderung kam dem Sozialkapital der Delinquenten, dem Vorhandensein bzw. dem Angebot informeller Sozialkontrolle und der Perspektive eines künftig disziplinierten Verhaltens eine zentrale Bedeutung zu und wurde eine mildere Strafpraxis begründetet, die jedoch keineswegs einen völligen »Sanktionsverzicht« bedeutete. 50 In dieser Hinsicht entsprachen Entscheidungsfindung und Strafpraxis eher den Zielen der guten Policey, und die einheimischen Delinquenten brachten in ihren Supplikationen, mit denen sie versuchten, Strafen auszuhandeln, häufig »policeyliche« und fiskalische Argumente vor. Aushandeln der Strafen - Rechtsmittel - Supplikationen Denn die ausgesprochenen Urteile waren keineswegs endgültig. Vielmehr hatten die »einheimischen seßhaften Untertanen« (kaum jedoch Angehörige von mobilen Randgruppen) prinzipiell das Recht, bei den Zentralbehörden und dem Landesherren zu supplizieren, um eine Strafmilderung auszuhandeln. Dieses Verhandeln über Sanktionen mittels Supplikationen entwickelte sich zu einem wichtigen Bestandteil des Strafverfahrens, der weder in der Carolina erwähnt noch mittels des territorialen Strafprozeßrechts geregelt war. 51 Allerdings wurden das Supplikenwesen und das Supplikationsverfahren insgesamt durch Policeygesetze detailliert normiert, standardisiert und formalisiert. 52 Es ersetzte sowohl die ursprünglich mündliche und direkte Kommunikation des traditionellen Akkusationsverfahrens zwischen Delinquent und Gericht als auch die fehlenden Rechtsmittel beim Inquisitionsprozeß. Diese Unterbindung der Appellation im Inquisitionsprozeß war durch die Reichsgesetzgebung begünstigt worden: Das Appellationsverbot in »peinlichen Sachen« (Reichsabschiede von 1530 und 1555) verhinderte wirksam die Ausbildung eines Instanzenzuges zu den Reichsgerichten und damit von Rechtsmitteln im Strafverfahren überhaupt. Bestenfalls über eine Nullitätenklage konnte eine gewisse Kontrolle territorialer Strafverfahren bei Verfahrensfehlern durch die Reichsgerichte stattfinden. 50 Vgl. auch Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: ZHF 19 (1992), 385 - 414, hier: 391. 51 Die Funktionen der Supplikation in der Strafjustiz sind bislang noch nicht systematisch untersucht worden; das Folgende stützt sich daher vorwiegend auf Kurmainzer Quellen, die allerdings bezüglich der Grundlinien Übereinstimmung zeigen mit den Ergebnissen von Otto Ulbricht: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990, 376ff.; Otto Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Schulze: Ego- Dokumente (Anm. 34), 149 - 174. 52 Vgl. z.B. Härter/ Stolleis: Repertorium, Bd. 1 (Anm. 30), unter dem Schlagwort Supplikationen. Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat 479 Das Supplizieren läßt sich folglich nur unzureichend mit den Begriffen Gnade bzw. Begnadigungsrecht des Landesherren beschreiben, denn es unterschied sich erheblich vom mittelalterlichen Gnadenrecht, das ursprünglich jedem Gerichtsherren zugestanden hatte. 53 In den Supplikationen baten die Delinquenten bzw. ihre Angehörigen nicht lediglich um christliche Gnade, sondern sie argumentierten auf einer rationalen Ebene und im Kontext der »guten Policey«. Ebenso waren die Entscheidungen der Landesherren bzw. der zuständigen Regierungs- und Justizbehörden kaum von christlicher Milde und humanitären Erwägungen geleitet. Zwar wurden in den Supplikationen häufig »klassische« mildernde Umstände wie verminderte Zurechnungsfähigkeit (durch Alkoholkonsum, provozierte Wut, Jugend usw.) angeführt, doch waren diese Argumente weniger wirksam, da sie - zumindest nach dem Verständnis der Regierungsbehörden - bereits bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt worden waren. Entscheidend waren fiskalische (denn der Strafvollzug belastete die Staatskassen) und »policeyliche« Erwägungen. Selten wurde das Delikt völlig bestritten, vielmehr argumentierten die Delinquenten mit ihrem Sozialkapital, ihrem ökonomischen und sozialen Status und ihrer »Nützlichkeit«, um einen Strafnachlaß zu erreichen. Besonders häufig wurde darauf verwiesen, daß Freiheitsstrafen gegen arbeitsfähige männliche Delinquenten negative ökonomische Folgen für deren Familie nach sich zögen und langfristig den Staat schädigten (Kosten der Sozialfürsorge, Verlust von Arbeitskraft, Steuerminderung). Vielfach wurden Geldbeträge für eine Umwandlung infamierender peinlicher in nicht-entehrende Strafen geboten. Supplikationen wurden meist von Familienmitgliedern, Verwandten oder Angehörigen der lokalen Elite (z.B. dem Pfarrer oder Mitglieder des Gemeinderates) unterstützt oder sogar verfaßt, die damit auch die Einbindung des Delinquenten in das System informeller Sozialkontrolle signalisierten, was die Erfolgsaussichten beträchtlich erhöhte. Die Angaben wurden von den zuständigen Lokalbehörden überprüft, und auch die Untersuchungsprotokolle enthielten bereits häufig detaillierte Informationen zu Vermögen, Status und »Nützlichkeit« der Inquisiten. Über die Erlassung oder die Milderung der Strafe entschieden die zuständigen Regierungs- und Justizbehörden und vor allem der Landesherr im Rahmen seines Bestätigungs- und Begnadigungsrechts. Das Supplikationswesen entwickelte sich zwar zu einem festen Bestandteil des Strafverfahrens, es war jedoch nicht normativ durch Verfahrensrecht geregelt und folgte nicht immer rechtlichen Kriterien: Dieses Aushandeln der Sanktionen zwischen Landesherr und Untertanen bedeutete vielmehr auch eine Verschränkung von formellen und informellen Kontrollformen. Gerade für die historische Perspektivierung der Strafjustiz als einem formalisierten Mechanismus sozialer Kontrolle ist daher die (auch aktuell diskutierte) Problematik der Frage, »wieweit strafrechtliche Sanktionen durch Akte informeller Kontrolle ersetzbar, d.h.: wieweit sie verzichtbar sind« von großer Bedeutung. 54 Die Entwicklung des Strafverfahrens in der Frühneuzeit war folglich durch sehr unterschiedliche Faktoren geprägt: Der Prozeß der Monopolisierung und Zentralisierung der Strafjustiz hatte zur Etablierung inquisitorischer Verfahren geführt, die in hohem Maße einer selektiven Strafverfolgung dienten: verschiedene Deliktarten bzw. soziale 53 Andreas Bauer: Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16. Jahrhunderts. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung von Quellen der Vorarlberger Gerichtsbezirke Feldkirch und des Hinteren Bregenzerwaldes, Frankfurt a.M. 1996. 54 Neumann/ Schroth: Theorien (Anm. 8), 95. Karl Härter 480 Gruppen wurden mit unterschiedlicher Intensität verfolgt und bestraft, wobei besonders mobile Randgruppen und Unterschichten als deviant etikettiert und mit peinlichen Strafen oder Exklusion bedroht wurden. Grundsätzlich waren das »privatrechtliche« Ziel der Kompensation und das theokratische Strafmodell der Vergeltung bei der Entscheidungsfindung in den Hintergrund getreten, und es dominierten im 18. Jahrhundert ordnungspolitisch-policeyliche, utilitaristische und fiskalische Strafzwecke des Staates. Strafen und Strafzwecke waren jedoch kaum »absolut« durch ein geschlossenes, kodifiziertes Strafrecht vorgegeben, sondern konnten auch zwischen Obrigkeit und Delinquenten ausgehandelt werden. Insofern blieben auch die inquisitorischen Strafverfahren der Territorialstaaten des Alten Reiches auf Mechanismen informeller Sozialkontrolle und traditionale kommunale bzw. genossenschaftliche Organe angewiesen. Effektivität und Wirkung von Strafverfolgung, Strafverfahren und Sanktionen hingen damit auch im frühneuzeitlichen Territorialstaat von der Mitwirkung der Bevölkerung ab. 55 55 Vgl. Helmut Thome: Gesellschaftliche Modernisierung und Kriminalität. Zum Stand der sozialhistorischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für Soziologie 21 (1992), 212 - 228. 481 Gerhard Sälter Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung Die Praxis der Inhaftierung durch die Polizei in Paris am Beispiel des Zaubereidelikts (1697 - 1715) 1 1 Im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne wandelte sich die Praxis strafrechtlicher Sanktion. An die Stelle vormoderner Körper-, Ehren- und Todesstrafen, die häufig mit öffentlichen Buß- und Strafritualen verbunden waren, trat die einheitliche, diskret und differenziert anwendbare Strafhaft. Vor allem in den Arbeiten Foucaults ist dieser Wandel als radikaler Bruch der Moderne mit der frühneuzeitlichen Tradition unter dem Aspekt einer Tendenz zur Disziplinierung und das Gefängnis vornehmlich als Disziplinaranstalt aufgefaßt worden. Die neuere Forschung hat demgegenüber herausarbeiten können, daß Inhaftierung bereits in der vormodernen Gesellschaft als strafrechtliche Sanktion häufige Anwendung fand und somit nicht als genuines Kind der Moderne gelten kann. Daran anknüpfend wird der Beitrag die Praxis der Inhaftierung anhand der Repression des Zaubereidelikts untersuchen, wie sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts von der Pariser Polizei realisiert wurde. Die Frage nach einem disziplinierenden Moment soll beantwortet werden, indem die Logik der Polizei mit derjenigen frühneuzeitlicher Justizpraxis kontrastiert wird, um eine eventuelle Verschiebung von Intention und Funktionslogik gegenüber justizieller Sanktion festzustellen. 1. Die Geburt des Gefängnisses Seit dem Erscheinen der Arbeit Foucaults über die Geburt des Gefängnisses ist die Diskussion über die Veränderung des Strafens vom vormodernen zum modernen Europa nicht mehr abgebrochen. 2 Die Thesen Foucaults haben die Diskussion über den Wandel strafrechtlicher Repression, Disziplinierung und soziale Kontrolle wesentlich beeinflußt. 3 Die von Foucault postulierte grundlegende Änderung gerichtlicher Strafpraxis gegen Ende des 18. Jahrhunderts (ca. 1760 - 1810) von einem auf Körper- und Todesstrafe und den für das Ancien Régime charakteristischen öffentlichen Strafritualen ba- 1 Der Beitrag ist entstanden aus einem Dissertationsprojekt zur Pariser Polizei im frühen 18. Jahrhundert. Ich danke Dietlind Hüchtker, Christof Jeggle und Martin Dinges, der eine frühe Version gelesen hat, für kritische Anmerkungen. 2 Michel Foucault: Surveiller et punir, Paris 1975, dt.: Überwachen und Strafen, Franfurt 1977. 3 Zur Rezeption Foucaults Gérard Noiriel: Foucault and History: The Lessons of a Disillusion, in: Journal of Modern History 66 (1994), 547 - 568, Teil I; Martin Dinges: The Reception of Michel Foucault’s Ideas on Social Discipline, Mental Asylums, Hospitals and the Medical Profession in German Historiography, in: Colin Jones/ Roy Porter (Hg.): Reassessing Foucault: power, medecine and the body, London 1994, 181 - 212; Randall McGowen: Power and Humanity, or Foucault among the Historians, in: Reassessing Foucault, 91 - 112. Noiriels Vorschlag, Foucault sei nicht als Historiker, sondern als Philosoph zu lesen, ist nur unter Einschränkungen zu folgen, da Foucaults Arbeiten sich als historische Argumentation gerieren und die Diskussion unter Historikern nachhaltig beeinflußt haben. Gerhard Sälter 482 sierenden System hin zu einer allgemein und differenziert angewandten nichtöffentlichen Bestrafung im Gefängnis hat vielfache Korrekturen durch die Forschung erfahren. 4 Kritisiert wurde zunächst, daß der Wandel nicht so plötzlich eingetreten sei, wie von Foucault angenommen, da Körper- und Todesstrafe noch weit bis ins 19. Jahrhundert eine wesentliche Rolle spielten. 5 In seiner Interpretation des Gefängnisses als marginale Erscheinung innerhalb der Strafpraxis des Ancien Régime stimmte Foucault mit der älteren Forschung zu diesem Thema überein. 6 Die von der mittelalterlichen Inquisition in Südfrankreich gegen Ketzer verhängten Haftstrafen und die Inhaftierung von Bettlern und Vagabunden in Arbeitshäusern seit dem 16. Jahrhundert wurden als Ausnahmen gesehen und von Foucault als Vorwegnahme der späteren Entwicklung interpretiert. Dagegen hat Spierenburg in seiner Synthese der Forschungen zu den Zucht- und Arbeitshäusern festgestellt: »confinement played an important role in the penal system and among methods of repression and discipline generally since the late sixteenth century.« 7 Am Beispiel von Paris im 18. Jahrhundert argumentiert Andrews, daß das Strafsystem weniger auf Körperstrafen als auf einer Mischung aus Ehrenstrafen und Inhaftierung beruhte. 8 Für Venedig, England und Paris sind gerichtlich verhängte Haftstrafen bereits aus dem Mittelalter belegt und sie waren seit dem 16. Jahrhundert in italienischen Städten verbreitet. 9 Schwerhoff hat in seiner Untersuchung über Köln gezeigt, daß Haftstrafen eine konventionelle Sanktion frühneuzeitlicher Gerichte waren. 10 Von 1.993 im Zeitraum 1568 - 1612 im Auftrag Kölner Gerichte verhafteten Personen wurden nicht nur 130 (6,5%) explizit zu einer Haftstrafe verurteilt, sondern weitere 840 (42,1%) ohne weitere Strafe aus der Haft entlassen. Der relativ große Anteil der zweiten Gruppe an der 4 Foucault: Überwachen und Strafen (wie Anm. 2), 146 - 55. Vgl. Dirk Blasius: Kriminalität und Geschichtswissenschaft. Perspektiven der neueren Forschung, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), 615 - 627, hier 619. Foucault präzisiert, daß die »substitution hâtive (...) dans les toutes dernières années du XVIII e siècle« stattgefunden habe; Foucault: La poussière et le nuage, in: Michelle Perrot (Hg.): L’impossible prison. Recherches sur le système pénitentiaire au XIX e siècle, Paris 1980, 29 - 39, hier: 30. 5 Jacques Léonard: L’historien et le philosophe, in: L’impossible prison, 9 - 29, hier: 11 - 3; Noch die Dritte Republik in Frankreich griff gelegentlich auf öffentliche demonstrative Exekutionen zurück; Alain Corbin: Das Dorf der Kannibalen, Stuttgart 1992, 136. 6 Foucault: Überwachen und Strafen (wie Anm. 2), 152. Die ältere Forschung wird von van Dülmen so zusammengefaßt: »Gefängnisse (...) dienten in der Regel nur zur Verwahrung eines Verhafteten bis zur Urteilsvollstreckung. Zwar gab es auch Gefängnisstrafen, (...) sie spielten in der frühneuzeitlichen Strafpraxis nur eine geringe Rolle.« Richard van Dülmen: Theater des Schreckens, Frankfurt 1985, 20. Diese Einschätzung ist jetzt bei Frank wiederholt worden; Michael Frank: Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650 - 1800, Paderborn 1995, 200. Ebenso Nicole Castan: La préhistoire de la prison, in: Jacques-Guy Petit (Hg.): Histoire des galères, bagnes et prisons, XIII e -XX e siècles, Toulouse 1991, 19 - 44. 7 Pieter Spierenburg: The Prison Experience. Disciplinary Institutions and Their Inmates in Early Modern Europe, New Brunswick (New Jersey) 1991, 3. 8 Richard M. Andrews: Law, magistracy and crime in Old Regime Paris, 1735 - 1789. I: The system of criminal justice, Cambridge 1994, 283. Andrews, ibid., bezeichnet das Bild des öffentlichen Strafens im Ancien Régime, »whereby the state publicly inscribed its sovereign power, its despotism of law, on the flesh of the malefactors« als Mythos der Revolutionszeit, der modernen Kommentatoren die Möglichkeit gegeben habe, die Tradition der Körperstrafen mit der humanen Modernität der Inhaftierung zu kontrastieren. 9 Spierenburg: Prison Experience (wie Anm. 7), 16. Spierenburg weist darauf hin, daß Haftstrafen üblicherweise sehr kurz bemessen waren. Zu Paris A. Poteau-Bither: L’imprisonnement dans le droit laïque du moyen-âge, Revue historique du droit (1968), 211 - 45, 389 - 428. Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung 483 Gesamtzahl der Verhafteten legt angesichts der hohen Schwelle, die in der frühen Neuzeit für eine Verhaftung gesetzt war, den Schluß nahe, daß nicht alle von ihnen wegen erwiesener Unschuld freigelassen wurden. Bei einem Teil muß davon ausgegangen werden, daß das Gericht die Untersuchungshaft als ausreichende Strafe angerechnet hatte. 11 In der gerichtlichen Urteilspraxis sind jedoch bedeutende regionale Unterschiede festzustellen. In Neuchâtel stand im 18. Jahrhundert einer geringen Quote an Haftstrafen (3%) eine größere Gruppe an Delinquenten gegenüber, denen die Untersuchungshaft im Urteil als Strafe angerechnet wurde (10%). 12 Frank kommt für die Grafschaft Lippe im Zeitraum 1680 - 1795 auf eine Quote von 1,3 - 1,6% von Haftstrafen an den Urteilen des Gogerichts. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, daß der Bau und Unterhalt von Gefängnissen für eine relativ kleine Herrschaft wie Lippe einen bedeutenden finanziellen Aufwand darstellte. 13 In den Niederlanden dagegen spielte Inhaftierung eine wesentliche Rolle in der gerichtlichen Sanktion. Je nach Gericht war die Quote der Haftstrafen unterschiedlich: in Amsterdam stieg sie von 4 - 5% am Beginn des 17. Jahrhunderts auf 20% um 1650 und auf 50% um 1750; in Leiden von unter 1% vor 1650 auf 7,5% um 1700 und in Groningen auf 30 - 40% um 1700. 14 In Paris wurden von 8.700 vom Parlement 1775 - 1785 verurteilten Delinquenten 26,3% zu Haftstrafen im Bagne oder Hôpital verurteilt. 15 Desweiteren wurden im 18. Jahrhundert Delinquenten, die von den ordentlichen Gerichten nicht überführt werden konnten oder deren Strafe zu leicht ausgefallen war, durch die Polizei oder einen Minister ersatzweise ohne Urteil inhaftiert. 16 Das Parlement verfolgte daneben die Praxis, Freisprüche aus Mangel an Beweisen mit einer zusätzlichen Gefängnishaft zu erschweren. Bereits 1736 verbanden 13,9% aller Urteile des Parlement ein Jugement plus amplement informé mit einer Haft. 17 10 Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991, 127. Haft als Ersatz für Todesstrafe und Geldbuße auch bei Frank: Dörfliche Gesellschaft (wie Anm. 6), 200. Erwähnung kurzer Haft als leichtere Ordnungsstrafe auch bei Sabine Alfing/ Christine Schedensack: Frauenalltag im frühneuzeitlichen Münster, Bielefeld 1994, pass., und Barbara Krug-Richter: Konfliktregulierung zwischen dörflicher Sozialkontrolle und patrimonialer Gerichtsbarkeit. Das Rügegericht im Westfälischen Canstein 1718/ 19, in: Historische Anthropologie 5 (1997), 212 - 228, hier: 226, Fn. 54. 11 Schwerhoff: Köln (wie Anm. 10), 126 und 131; zum Untersuchungszeitraum ibid. 34. 12 Philippe Henry: Crime, justice et société dans la Principauté de Neufchâtel au XVIII e siècle (1707 - 1806), Neuchâtel 1984, 429 - 31. Die 3% Freiheitsstrafen umfassen Verurteilungen zu Galeere, Gefängnis und Hausarrest. Die Praxis, Untersuchungshaft als Strafe zuzumessen, nahm im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts deutlich zu. Angewendet wurde diese Strafe auf leichte Gewaltdelikte (Wirtshausschlägereien), leichten Diebstahl und einfache Formen politischer Devianz (herabsetzende Reden über den König und die Regierung). 13 Frank: Dörfliche Gesellschaft, (wie Anm. 6), 201 - 3, vgl. die Graphiken 213, 385. Er bezieht weder die Umwandlung von Geldbußen in Haftstrafen noch die Anrechnung der Untersuchungshaft mit ein. 14 Spierenburg: Prison Experience (wie Anm. 7),157 - 8, 160 - 1. Spierenburg spezifiziert weder die Delikte noch die Gerichte. 15 Andrews: Law (wie Anm. 8), 490. Das bagne war an die Stelle der 1749 abgeschafften Galeerenstrafe getreten. 16 Andrews: Law (wie Anm. 8), 369. Zur Inhaftierung von Prostituierten in Paris Erica-Marie Benabou: La prostitution et la police des moeurs au XVIII e siècle, Paris 1987, 84 - 5. 17 Andrews: Law (wie Anm. 8), Tabelle 15.1, 482 - 3. 1787 waren es 16,4%; Tabelle 15.2, 484 - 5. Ein Urteil plus amplement informé wurde in Fällen verhängt, in denen der Delinquent trotz vieler Indizien nicht überführt werden konnte und ordnete die Verlängerung der Beweisaufnahme an. Es war infamierend, zog jedoch nur sehr selten wirklich weitere prozessuale Schritte nach sich. Gerhard Sälter 484 Die Foucaultsche Konstruktion basiert auf der Annahme, die Internierungspraxis folge einer der frühneuzeitlichen Justizpraxis konträren Logik. 18 Das Gefängnis war jedoch neben dem »Schauspiel des Todes« (van Dülmen) bereits in der frühen Neuzeit ein relevantes Instrument gerichtlicher Sanktion. Die Korrekturen geben Anlaß, einen zweiten Aspekt im Ansatz Foucaults neu zu untersuchen. Foucault hat den engen Zusammenhang von Inhaftierung und einer Tendenz der Disziplinierung hervorgehoben, die er als Arbeitsdisziplin begreift. Die Internierung im Zucht- und Arbeitshaus diente demnach zur »Formierung eines Gehorsamssubjektes, das den allgemeinen und ausgeklügelten Prozeduren irgendeiner Macht unterworfen ist.« Die Internierung war eine Technik der Disziplinierung, die Delinquenten einem Zwang zur Arbeit unterwarf, die im bürgerlichen Diskurs als soziales Allheilmittel gepredigt wurde. Mittels eines ausgelkügelten Systems der Besserung konnte je nach dem erzielten disziplinierenden Erfolg die Internierung verkürzt oder verlängert werden. 19 Ein enger Zusammenhang von Haftstrafen und Disziplinierung durch Arbeit wird wie bei Foucault trotz der Hervorhebung praktischer Widrigkeiten auch bei Spierenburg formuliert. 20 Die symbiotische Beziehung, die Haftanstalt und Justiz bereits im Ancien Régime eingegangen sind, legt es nahe, die angenommene Kohärenz zwischen Inhaftierung und Disziplinierung neu zu überdenken. Deshalb soll in der vorliegenden Arbeit die Hypothese geprüft werden, ob die Logik der Internierung der justiziellen Logik nicht näher stand als dem Gedanken einer Disziplinierung durch Arbeit. Am Beispiel der polizeilichen Repression des Zaubereidelikts in Paris im frühen 18. Jahrhundert soll die inhärente Logik rekonstruiert werden, der die Polizei bei der Inhaftierung folgte. Die Untersuchung wird in drei Schritten vorgehen. Zuerst soll die Funktionweise polizeilicher Sanktion anhand zweier Fallbeispiele dargestellt werden, die sich wegen ihrer guten Quellenbasis zur genauen Dokumentation der Untersuchungs- und Sanktionspraxis eignen. Dann wird die Sanktion von Zaubereidelikten durch die Polizei untersucht, da dieses Delikt in Paris ausschließlich durch die Polizei und hauptsächlich durch Haftstrafen verfolgt wurde. Im letzten Schritt werden die Mechanismen polizeilicher und gerichtlicher Sanktion verglichen. 2. Polizeiliche Sanktion: Haft und Exil durch lettres de cachet Am Ende des 17. Jahrhunderts existierten in Paris wesentlich drei Methoden der Inhaftierung. Einmal konnte der Polizeirichter bei bestimmten Delikten Haftstrafen im Hôpital Général verhängen, der französischen Variante des Zucht- und Arbeitshauses. 21 Die zweite Möglichkeit der Inhaftierung bestand in einer Einweisung in das seit Mitte 18 Der Unterschied zwischen altem und neuem Strafsystem wurde auch so formuliert, daß die ältere Form auf »äußerlicher Abschreckung und Unschädlichmachung« beruhte, Haftstrafen dagegen auf dem Gedanken der Resozialisierung und Besserung; Frank, Dörfliche Gesellschaft, (wie Anm. 6), 200. 19 Foucault: Überwachen und Strafen (wie Anm. 2), 155 - 70, Zitat 167. Die Beschreibung der Disziplinartechniken in Gefängnis, Schule, Militär etc. nimmt den größten Teil des Buches ein. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt 1973, 80. 20 Obwohl Spierenburg die disziplinierende Wirkung der Internierung einschränkt, da weder immer ein faktischer Arbeitszwang etabliert werden konnte, noch die Wirkung auf die Insassen eindeutig war, betont er den Zusammenhang von Haft, Arbeit und Disziplin; Spierenburg: Prison Experience (wie Anm. 7), Kap. 6. Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung 485 des 17. Jahrhunderts in Paris bestehende Hospital. Bettler und Vagabunden konnten durch Gerichtsurteil oder durch Anordnung der Leitung des Hospitals eingewiesen werden. 22 Familien konnten eine Inhaftierung dort zur Sanktion von Angehörigen nutzen. 23 Das wichtigste Instrument waren jedoch die lettres de cachet, nominell vom König und einem Secrétaire d’Etat gezeichnete Deklarationen des königlichen Willens, die seit der Zeit Mazarins und Richelieus auch als außergerichtliche, von der zentralen Administration emittierte Haft- und Exilierungsbefehle verwendet wurden. 24 Sie eigneten sich in besonderer Weise für eine politische und polizeiliche Repression, da sie ohne ein gerichtliches Beweisverfahren auskamen und deshalb bei Delikten eingesetzt werden konnten, die juristisch nicht genau definiert waren. Die Ausführung der lettres de cachet war in Paris dem Lieutenant Général de police übertragen. Dessen Amt verband die Funktionen eines Polizeirichters am königlichen Gericht (Châtelet) mit der eines Kommissars der Krone für Paris, wie sie von den Intendanten in der Provinz verkörpert wurden. In der Amtszeit des Lieutenant Général D’Argenson (1697 - 1718) entwickelten sich die lettres de cachet zu einem wichtigen Instrument polizeilicher Sanktion, »la source ordinaire de [sa] faiblesse«. 25 Der Versailler Polizeikommissar Narbonne interpretiert ihre Verwendung als polizeiliches Ordnungsmittel geradezu als Charakteristikum der Pariser Polizei unter D’Argenson: »Sa police étoit dure. Comme il avoit la confiance de Louis XIV, on lui délivroit des lettres de cachet avec lesquelles il faisait enfermer à la Bastille, dans les autres prisons, ou dans les hôpitaux, qui bon lui semblait.« 26 D’Argenson stimmt ihm hierin zu, wenn er die lettres de cachet als ideales polizeiliches Instrument beschreibt: »(...) j’ose dire qu’il n’y a point d’abus qu’on ne puisse abolir à Paris, lorsque le Roi voudra bien y employer son authorité.« 27 21 Benabou: Prostitution (wie Anm. 16), 62 - 72; Alan Williams: The Police of Paris 1718 - 1789, Baton Rouge 1979, 29 - 35; André Chassaigne: Des lettres de cachet sous l’ancien régime, Paris 1903, 133 - 5. Zum Hospital Nicole Castan: Du grand renfermement à la Révolution, in: Jacques-Guy Petit (Hg.): Histoire des galères, bagnes et prisons, XIII e -XX e siècles, Toulouse 1991, 45 - 77, hier: 60 - 76; Claude Quétel: De par le Roy. Essai sur les lettres de cachet, Toulouse 1981, 181 - 8; Andrews, Law (wie Anm. 8), 343 - 74; Benabou, 79 - 84. 22 Zur Internierung von Bettlern in Paris Christian Romon: Mendiants et policiers à Paris au XVIII e siècle, in: Histoire-Economie-Société 1 (1982), 259 - 295; ders.: Le monde des pauvres à Paris au XVIII e siècle, in: Annales ESC 37 (1982). 23 Zur Inhaftierung von Angehörigen allgemein Spierenburg: Prison Experience (wie Anm. 7), Kap. 9 u. 10; zur Praxis in der französischen Provinz, Quétel: De par le Roy (wie Anm. 21), 123 - 69, und François-Xavier Emmanuelli: »Ordres du roi« et »Lettres de cachet« en Provence à la fin de l’Ancien Régime. Contribution à l’histoire du climat social et politique, Revue historique 252.1974, 357 - 392; Arlette Farge/ Michel Foucault: Familiäre Konflikte: Die Lettres de cachet. Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt 1989; zu den Habsburger Niederlanden jetzt Catharina Lis/ Hugo Soly: Disordered Lives. Eighteenth-Century Families and their Unruly Relatives, Oxford 1996. 24 Zu den Lettres de cachet Chassaigne; Quétel: De par le Roy (wie Anm. 20); Emmanuelli: Ordres du roi (wie Anm. 23); Castan: Grand renfermement (wie Anm. 21), 46 - 9. In ihnen waren die verschiedenen Praktiken miteinander verknüpft, da mit ihnen auch Haft im Hospital und die Internierung von Angehörigen verfügt werden konnte. 25 D’Argenson an Pontchartrain, 24.8.1702, Bibliothèque Nationale (BN), Manuscrits françaises (Ms. fr.), 8123, f. 270. Quétel: De par le Roy (wie Anm. 21), 98, bestätigt diesen Eindruck. Lettres de cachet mußten durch einen Secrétaire d’Etat gegengezeichnet werden. Für Paris war der zuständige Minister in den meisten Fällen Pontchartrain. 26 Pierre Narbonne: Journal des règnes de Louis XIV et de Louis XV, de l’année 1701 à l’année 1744, hg. J.A. Le Roi, Paris/ Versailles 1866, 55. Gerhard Sälter 486 Die autorité immédiate du roy fand im Untersuchungszeitraum bei politischer und religiöser Devianz wie zur Kontrolle des Buchwesens und der Zeitungen Anwendung. 28 Daneben diente sie zur Internierung von Spionen, bei denen der bloße Verdacht ausreichte, um sie bis zum Friedensschluß in einem der zahlreichen Gefängnisse zu inhaftieren. 29 Zunehmend wurde sie bei summarisch als débauche, mauvais commerce oder libertinage bezeichneten Verstößen gegen die soziale und moralische Ordnung eingesetzt, weshalb von einer Kriminalisierung sittlicher Devianz gesprochen werden kann. 30 In größerem Umfang wurde sie auch gegen illegales Glücksspiel eingesetzt, insofern es ein Delikt sozialer Eliten war. 31 Gelegentlich nutzte D’Argenson sie auch, um Delikte zu ahnden, die den Tätern gerichtlich nicht nachgewiesen werden konnten oder die von der Strafjustiz in Paris seiner Ansicht nach nicht ausreichend geahndet worden waren. 32 Aufgrund ihrer Flexibilität wurden die lettres de cachet in Paris von der Polizei vor allem bei sozial heiklen Delikten in den Lücken der regulären Justiz verwendet. Diese Praxis hat in der Provinz in der Tat keine Entsprechung gefunden. In Paris mit Beginn des 18. Jahrhunderts fest etabliert, wurde ihre breite Verwendung als außergerichtliches Sanktionsinstrument in der Provinz erst mit dem zweiten Viertel und in einigen Regionen erst mit der Mitte des Jahrhunderts üblich. Sie wurden außerdem nur in Paris intensiv für polizeiliche Zwecke genutzt. Nach den Untersuchungen von Quétel und Emmanuelli ging in der Provinz jeweils nur in 3,5% bzw. 13% der Fälle die Initiative für eine lettre de cachet auf die königliche Administration zurück, während 85,9 bzw. 81,7% der Inhaftierungen von den Familien beantragt wurden. In Paris wurden dagegen über die Hälfte auf Initiative der königlichen Administration oder der Polizei ausgestellt. 33 Anhand von zwei Fallbeispielen soll nun die polizeiliche Praxis der Untersuchung und Festlegung der Strafen im Detail dargestellt werden, bevor sich der nächtste Abschnitt einer quantitativen Analyse eines Samples von Zaubereifällen zuwendet. Der Schriftsteller Mailly wurde von der Buchhändlerin Auroy im April 1702 beim für Paris und die Polizei zuständigen Minister Pontchartrain angezeigt. Sie hatte Mailly beauftragt, für sie Andekdoten über eine historische Person zu verfassen und ihm deren Memoiren und 50 Écus Vorschuß übergeben. Da sie das Buch wegen einiger pornographischer Stellen jedoch nicht zu drucken wagte, forderte sie Vorschuß und Memoiren zu- 27 D’Argenson an Pontchartrain, 14.5.1704, Notes de [Marc] René d’Argenson, hg. von L. Larchey/ E. Mabille, Paris 1866, 116. Der Terminus autorité du roi dient D’Argenson häufig als Synonym für die königlichen Haftbefehle. 28 Hierzu die in den edierten Polizeiakten aus der Zeit 1697 - 1715 zahlreich überlieferten Fälle in: Notes de d’Argenson (wie Anm. 27); Rapports inédits du Lieutenant de Police [Marc] René d’Argenson (1697 - 1715), Paul Cottin (Hg.), Paris 1891, und Archives de la Bastille. Documents inédits, François Ravaisson (Hg.), 19 Bde., Paris 1866, X-XIII. 29 Beispielsweise die Fälle in Archives de la Bastille XI (wie Anm. 28), 323 - 437. 30 Benabou: Prostitution (wie Anm. 16), 74 - 9. 31 Notes de d’Argenson (wie Anm. 27), 22, 26, 83, 93, 94 - 5, 96. Zum Glückspiel und seiner polizeilichen Verfolgung Pierre Clément: La Police sous Louis XIV, Paris 1866, 80 - 5. 32 Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 61, 108, 151 - 2, 189; Notes de d’Argenson (wie Anm. 27), 110 - 1. Diese Praxis bestand noch im späten 18. Jahrhundert; Andrews: Law (wie Anm. 8), 369. 33 Quétel: De par le Roy (wie Anm. 21), 132; Emmanuelli: Ordres du roi (wie Anm. 23), 358. Einbegriffen in die Gesamtzahl obrigkeitlich initiierter lettres sind auch solche ohne sanktionierende Funktion: Besetzung städtischer Ämter und Regulierung städtischer Angelegenheiten. Frantz Funck-Brentano: Les lettres de cachet à Paris, Paris 1903, xix -xx. Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung 487 rück. Um ihrer Forderung größeres Gewicht zu verleihen, denunzierte die Buchhändlerin Mailly als Produzent und Verbreiter illegaler Literatur. 34 Pontchartrain leitete die Beschwerde an D’Argenson weiter, da die Polizei üblicherweise die in einem Gesuch an den Minister oder den Lieutenant Général vorgebrachten Vorwürfe prüfte. Die ermittelten Tatbestände wurden von D’Argenson in einem Bericht an den Minister Pontchartrain zusammengefaßt. Zwischen Pontchartrain und D’Argenson wurde dann die Schuld desVerdächtigen erörtert und die Sanktion festgelegt, wobei der Minister zumeist dem Vorschlag D’Argensons folgte. In diesem Fall führte D’Argenson keine Untersuchung des Mailly angelasteten Delikts durch, informierte sich aber über seine Biographie und formulierte einige Vermutungen über seinen kriminellen Werdegang. Mailly war der Sohn einer Bediensteten des Hôtel de Mailly. Diese hatte bei seiner Geburt erklärt, »que c’étoit d’un des enfants de la maison«. Deshalb ließ die Marquise de Mailly ihn erziehen. In Paris sei er später durch stolzes und gewalttätiges Auftreten aufgefallen. Er wurde von der Polizei schon länger des illegalen Handels mit Büchern und Zeitungen und der Autorschaft mehrerer verbotener und illegal publizierter Bücher verdächtigt. Nach Ansicht von D’Argenson sollte Mailly entweder auf 40 oder 50 Meilen von Paris relegiert oder solange im Fort-l’Évêque inhaftiert werden, bis er der Auroy das Geld erstattet habe. 35 Die Beweisaufnahme und der Beschluß über eine Strafe in solchen Verfahren waren insofern justizförmig, als sie stark formalisiert waren. Anders als in einem Gerichtsverfahren konnte der Beschuldigte sich zu den Vorwürfen aber nicht äußern, häufig wußte er bis zur Sanktion nicht einmal von ihnen. Der ambivalente Charakter des Verfahrens wird im Fall Mailly sichtbar. Die Denunziantin verband mit ihrer Anzeige ein dezidiert privates Interesse, arbeitete aber gleichzeitig als Polizeispitzel 36 und hatte ihr Vorgehen mit D’Argenson abgesprochen. Mailly war das Opfer eines Handels zwischen dem Lieutenant Général und seinem Spitzel geworden. Dies wird deutlich, als D’Argenson in späteren Berichten von seiner ersten Beurteilung des Falles abwich und die Denunziantin bezichtigte, sie habe ihre Anzeige sans aucunes preuves vorgebracht. 37 Darüber hinaus zeigt der Fall Mailly, daß neben der Prüfung des Tatbestands die Beurteilung der Lebensführung und des Leumunds eine wichtige Rolle spielte. Nach Ansicht D’Argensons sprach gegen Mailly, daß er seine gute Erziehung, die ihn über seinen Stand erhob, durch seinen zweifelhaften Lebensunterhalt und sein öffentliches Auftreten entehrte: Er hatte die soziale Rollenerwartung enttäuscht und war zu einem Objekt polizeilicher Sozialkontrolle geworden. Auf den Bericht D’Argensons hin wurde Mailly im Mai 1702 aus Paris exiliert. Er versuchte seitdem wiederholt, eine Aufhebung des Exils zu erreichen, da er nur in Paris die Grundlage zu seinem Lebensunterhalt fand. 38 Eine Rückkehr konnte nur durch eine 34 D’Argenson an Pontchartrain, 30.4.1702, Notes de d’Argenson (wie Anm. 27), 71 - 72. 35 D’Argenson an Pontchartrain, 30.4.1702, Notes de d’Argenson (wie Anm. 27), 72 - 4. 36 Denunziation der Buchhändlerin Auroy aus dem Jahr 1701, in dem sie zahlreiche Schriftsteller, Drucker und Buchhändler bezichtigt, Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 404 - 18. 37 D’Argenson an Pontchartrain, 15.9.1711, Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 277. 38 Exilierung 7.5.1702, Archives Nationales (AN), O 1 . 46, f. 60. D’Argenson bemerkte in seinem letzten Bericht über Mailly: »Je m’attendois bien que le chevalier de Mailly ne se rendroit pas à Rouen où il est exilé, parce qu’il ne peut trouver de pain ailleurs qu’à Paris: si néanmois on peut l’y joindre, il sera conduit en prison, comme il le mérite.« D’Argenson an Pontchartrain, 21.5.1713, Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 328. Gerhard Sälter 488 zweite lettre de cachet erlaubt werden, der eine neue Überprüfung des Falls vorausging. Maillys Gesuche wurden abschlägig beschieden. 39 Erst 1711, immerhin über neun Jahre nach der ursprünglichen Sanktion, nahm D’Argenson etwas positiver Stellung. Gegen Mailly sprach, daß er einige Monate zuvor unerlaubt nach Paris zurückgekehrt war, wofür er einen Monat im Châtelet inhaftiert wurde und »une nouvelle soumission d’observer plus exactement la loy de son exil« abgeben mußte. Trotz seines Ungehorsams fiel die Beurteilung Maillys günstig aus. D’Argenson relativierte den anfänglichen Tatvorwurf und machte geltend, er habe sich während der Zeit seines Exils in Rouen keine weiteren Vorwürfe zugezogen. Mailly solle aber zuerst seinen Gehorsam und »la manière dont il s’est conduit« nachweisen, dann könne er für drei Monate auf Probe nach Paris kommen. 40 Obwohl Mailly letztlich die Rückkehr nicht gestattet wurde, war seine tadellose Aufführung in Rouen positiv vermerkt worden. Wie für das Verhängen einer Sanktion war auch für ihre Aufhebung der Leumund relevant. Anderen Exilierten wurde die Fortsetzung illegaler Aktivitäten am Ort der Verbannung zum Verhängnis. Nach Bekanntwerden in Paris empfahl D’Argenson die Verlängerung des Exils oder die Inhaftierung. 41 Dasselbe Schema wie bei Mailly wird auch im zweiten Fall sichtbar. Auf Mme. de Murat war die Polizei 1698 aufmerksam geworden, weil sie in ihrem Salon illegales Glücksspiel organisierte. Sie wurde deswegen im Juli und September 1698 verwarnt. Eine zweite Warnung war mit der Drohung verknüpft, sie aus Paris auszuweisen. 42 Eine Warnung war bei leichteren Delikten eine geläufige Praxis der Polizei. 43 Die Murat signalisierte daraufhin zwar Bereitschaft, das Glücksspiel aufzugeben, setzte aber die allabendlichen Versammlungen fort. 44 Doch erst ein Jahr später entschloß sich der Minister zu weiteren Schritten. Ein umfassendes Protokoll über ihre Verfehlungen sollte ihre Familie entweder zu eigenen Sanktionen oder zur Zustimmung zur polizeilichen Sanktion nötigen. 45 Diese verweigerte ihre Zustimmung, worauf Minister und Polizei mit einer Ausweitung der Untersuchung reagierten. 46 Die Polizei folgte derselben Logik wie bei Mailly, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die gesamte Lebensführung des Opfers ausdehnte. Das Ergebnis der Untersuchung beschuldigte die Murat weiterer Verfehlungen, die allgemein mit »désordres de sa conduitte« und »déréglement honteux et déclaré« umschrieben werden. 47 Ihre abendlichen Empfänge werden als Orgien beschrieben, bei denen schlimme Flüche, wilde Reden gegen 39 Die Gesuche Maillys aus Rouen vom 7.10., zwei vom 20.11.1703, ein undatiertes aus dem Jahr 1711 oder 1712, BN. Ms. fr. 8124, f. 37, 28 - 9, 30 - 1, 36. 40 D’Argenson an Pontchartrain, 15.9.1711, Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 278. Zum Widerruf auf Probe die Fälle Reghat und Cateuil; ibid., 256, 272, 363. Pontchartrain forderte einen Bericht aus Rouen über Mailly an. 41 Pézery, Yvernet; Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 276, 390. 42 Pontchartrain an D’Argenson, 17.7.und 15.9.1698, AN. O 1 . 42, f. 152, 194 - 5. D’Argenson äußerte die Hoffnung, daß die Warnung sie »plus circonspecte et plus soumise« werden lasse. 43 Fälle Guvonnes, AN. O 1 . 41, f. 48; Salberge, nach einer kurzen Haft in der Bastille, Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 326. 44 D’Argenson an Pontchartrain, 19.9.1698, Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 3. 45 Pontchartrain an D’Argenson, 11.11.1699, AN. O 1 . 43, f. 364 - 6. Die Rücksichtnahme auf ihre Verwandten ging über das übliche Maß hinaus, da ihre Familie zum Hof- und Militäradel zählte. 46 Pontchartrain an D’Argenson, 16.12.1699, AN. O 1 . 43, f. 428. Die Anweisung lautete, eine justizförmige Beweisaufnahme (information) durchzuführen, ohne einen Skandal zu verursachen. 47 D’Argenson an Pontchartrain, 6. und 24.12.1699, Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 10, 10 - 3. Das Protokoll selbst ist im Fonds der BN nicht erhalten. Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung 489 die Kirche und sexuelle Ausschweifungen üblich wären. Außerdem wurden ihr Homosexualität und Verachtung der Religion (impiétez domestique) vorgeworfen. 48 Trotz des Unvermögens, für diese Beschuldigungen Zeugen beizubringen, fand sich die Familie aufgrund des ihr vorgelegten Protokolls bereit, eine polizeiliche Sanktion zu akzeptieren. Vermutlich hat sie ministeriellem Druck und der Befürchtung nachgegeben, die Ermittlungen würden durch einen Skandal die Familie schädigen. Mme. de Murat wurde im März 1700 aus Paris exiliert und reiste nach einigen Verhandlungen zwei Monate später auch wirklich ab. 49 Im folgenden Jahr kehrte sie gemeinsam mit ihrer Freundin Nantiat unerlaubt nach Paris zurück. Als die Polizei dessen gewahr wurde und nachdem sie erfahren hatte, daß sie ihre gewohnte Lebensweise wieder aufgenommen hatte, wurden beide wiederum ausgewiesen. Zwar folgten sie diesem Befehl, kehrten aber nach einem einwöchigen Landaufenthalt wieder zurück, was Polizei und Minister als gezielte Provokation auffaßten. 50 Nun wurde der Druck auf die Familie der Murat verstärkt, um härtere Sanktionen durchzusetzen, denen die Verwandten durch ihr Oberhaupt Boufflers letztlich zustimmten. Beide Frauen sollten in Haft genommen werden. Nantiat entzog sich der Inhaftierung, indem sie spät noch der Exilierung Folge leistete, Murat wurde unter drakonischen Haftbedingungen in der Festung Loches inhaftiert. 51 Sie unternahm verschiedene Versuche, sich aus ihrer Lage zu befreien: sie fälschte Briefe, unternahm Flucht- und Bestechungsversuche und aktivierte den ihr wohlgesonnenen Teil der Familie. Bei der letzten sie betreffenden Notiz aus dem Jahr 1709 war sie 42 Jahre alt und acht Jahre in Haft. 52 Die Polizei integrierte beim Abwägen des Strafmaßes eine Prüfung des Leumunds und des Lebenswandels. Dadurch urteilte sie auch über die Lebensweise einer Person und errichtete eine obrigkeitliche Kontrolle sozialen Verhaltens. Bei Mailly folgte daraus ein Zwang zu sozialer Anpassung. Eine Erlaubnis zur Rückkehr erhielt er nur, wenn er ein unauffälliges Leben ohne weiteren Tadel vorweisen konnte. Murat dagegen hatte die Gelegenheit zur Reue mehrfach verstreichen lassen und wurde deshalb in schrittweiser Verstärkung der Sanktion als nicht besserungsfähig dauerhaft interniert. Ziel der Sanktion war es, die Delinquenten zur Aufgabe eines bestimmten Verhaltens zu nötigen oder sie aus der städtischen Gemeinschaft zu entfernen. Insofern steht vor allem die Exilierung in der Tradition des Stadt- und Landesverweises, wie er von frühneuzeitlichen Gerichten verhängt werden konnte. 53 48 D’Argenson an Pontchartrain, 24.2.1700, Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 10 - 3. 49 Pontchartrain an D’Argenson, 3.3. und 22.4.1700, AN. O 1 . 44, f. 90 - 3, 183; Exilierungsbefehl, 3.3.1700, ibid., f. 93; Argenson an Pontchartrain, 20.4.1700, Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 17 - 8. 50 Exilierung vom 18.9.1701, AN. O 1 . 45, f. 174. D’Argenson an Pontchartrain, 1.12.1701, Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28), 87 - 8. 51 Brief des Maréchal de Boufflers vom 10.12.1701, BN. Ms. fr. 8123, f. 219; Haftbefehl vom 1.3.1702, AN. O 1 . 46, f. 28. 52 Brief ihres Ehemannes, 27.10.1705, Brief Boufflers, 9.11.1705, Verhör der Murat in der Festung Loches, 14.3.1706, BN. Ms. fr. 8122, f. 523, 520, 525 - 6. Verlegung in ein anderes Gefängnis 1709, AN. O 1 . 53, f. 52, 225. 53 Zur Praxis des Stadtverweises Alfing/ Schedensack: Frauenalltag (wie Anm. 10), 134 - 8, 257 - 67. Zum Landesverweis Frank: Dörfliche Gesellschaft, (wie Anm. 6), 206 - 7; Heike Bernhardt: Das Problem der Bettler, Gauner und Vaganten im Spiegel der obrigkeitlichen Edikte des Herzogtums Magdeburg um 1700, unveröffentlichte Magister-Hausarbeit, FU Berlin 1990, 69 - 77. Zum banissement in Frankreich Andrews: Law (wie Anm. 8), 310 - 2. Gerhard Sälter 490 3. Die Logik der Repression: Sanktion des Zaubereidelikts Die Bekämpfung der Zauberei war einer der Bereiche, in denen Inhaftierung und Exilierung als polizeiliche Sanktionen regelmäßig Anwendung fanden. Seit dem späten 16. Jahrhundert zeichnet sich in der Rechtsprechung des Parlement de Paris eine Tendenz zur Entkriminalisierung der Hexerei ab, die ihren Abschluß 1682 anläßlich der affaire de poison fand. 54 In diesem Zaubereiprozeß wurden zahlreiche Personen des Hofadels der Teilnahme an magischen Praktiken beschuldigt. Deshalb ordnete der König nach den ersten Urteilen und Hinrichtungen an, das Verfahren niederzuschlagen. Obwohl der Gegenstand des Verfahrens ein Giftattentat auf den König, Schwarze Messen und mehrere ungeklärte Todesfälle waren, zog der König es vor, einen weitergehenden Skandal zu vermeiden. Einige der Beschuldigten wurden aufgefordert, Frankreich zu verlassen, andere wurden für lange Zeit in Kloster- und Festungshaft genommen. 55 Der Tatbestand der Hexerei wurde nunmehr auch gesetzlich aufgehoben. In einem Edikt wurden Produktion, Verteilung und Anwendung giftiger Materien und medizinischer Drogen reguliert und eine stärkere Kontrolle angeordnet. Giftmord und sein Versuch wurde unter rigide Strafandrohung gestellt. Die aus magischen Praktiken entstehenden Delikte wurden in den ersten drei Artikeln des Edikts im Wesentlichen als Betrugsdelikte definiert. In bezug auf Zauberer ist nur noch von »personnes se mêlant de deviner ou se disant devins ou devineresses« die Rede, die bei Androhung von Körperstrafen das Land zu verlassen hätten. Magische Praktiken sollten künftig »punis exemplairement et suivant l’exigence des cas«. Nur für solche Personen, »assez méchantes pour ajouter et joindre à la superstition l’impiété et le sacrilège«, war die Todesstrafe angedroht. Von Teufelspakt und Schadenzauber war nicht mehr die Rede. 56 Die Repression der Zauberei wurde in Paris vollständig von den Gerichten auf die Polizei übertragen, die in der Lage war, Untersuchung und Bestrafung geheim durchzuführen, falls der involvierte Personenkreis dies nötig machte. Verfolgt wurden die summarisch als Charlatans bezeichneten Personen wegen Betrugs, wenn nicht die Verwendung von geweihten Hostien oder die Beteiligung von Priestern ein Sakrileg damit verband. 57 Die Verfolgung beschränkte sich weitgehend auf Personen, die Zauberei gewerblich betrieben. Die sich mit Liebszauber, Wunderheilung, Herstellung unorthodoxer Heilmittel oder Alchimie beschäftigenden prétendus sorciers unterlagen weiterhin dem allgemeinen Verdacht, Gifte herzustellen oder Abtreibungen vorzunehmen. 58 54 Zur Entkrininalisierung von Hexerei Robert Mandrou: Magistrats et sorciers en France au XVII e siècle. Une analyse de psychologie historique, Paris 1968, 466 - 72; Roland Villeneuve: Les procès de sorcellerie, Paris 1979, 206 - 9; Alfred Soman: La décriminalisation de la sorcellerie en France, in: Histoire-Economie-Société 4 (1985), 179 - 203. 55 Zur Giftmordaffaire Villeneuve: Procès de sorcellerie (wie Anm. 54), 206 - 9; Mémoire des Lieutenant Général La Reynie, BN. Ms. fr. 8119, f. 155 - 69. 56 Edit pour la punition des empoisonneurs, devins et autres, August 1682, in: Villeneuve: Procès de sorcellerie (wie Anm. 54), 239 - 42. Anstatt von sorcier wird im Edikt von devins, magiciens et enchanteurs gesprochen, die zusammenfassend als imposteurs, Betrüger, bezeichnet werden. Zur Bewertung des Edikts Mandrou: Magistrats et sorciers (wie Anm. 54), 478 - 86. 57 Mandrou: Magistrats et sorciers (wie Anm. 54), 512 - 23; Quétel: De par le Roy (wie Anm. 21), 99. 58 Zu Abtreibungen Larissa Leibrock-Plehn: Frühe Neuzeit. Hebammen, Kräutermedizin und weltliche Justiz, in: Robert Jütte (Hg.): Geschichte der Abtreibung, München 1993, 68 - 90, zur Beteiligung von Zauberern besonders 80, 84. Der häufig zu findende Begriff poudre de succession für Gift deutet auf seine vermutete Anwendung hin. Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung 491 Die Methode zur Aufdeckung dieses Delikts war einfach und folgte einem konstanten Muster. Nachdem eine Denunziation eingegangen war oder die Polizei bei anderen Ermittlungen auf einen Fall gewerblicher Zauberei stieß, wurde durch agents provocateurs ausgeforscht, welche Leistungen genau eine verdächtige Person anbot. 59 Bei einem Gespräch am Ladentisch konnten auch Informationen darüber eingeholt werden, wer diese Mittel gekauft hatte. 60 Und es konnte der Erfolg polizeilicher Warnungen überprüft werden. 61 Da Zauberer durch die Polizei verfolgt und nicht vor Gericht gestellt wurden, reichte ein Spitzelbericht, der von den Gerichten nicht als ausreichendes Beweismittel anerkannt worden wäre, meistens für eine Sanktion aus. Die polizeiliche Repression des Zaubereidelikts wurde anhand eines Samples von 121 Fällen (67 Frauen, 57 Männer) aus dem Zeitraum 1697 - 1715 untersucht, das aus den Akten der Polizei, der Korrespondenz zwischen dem Lieutenant Général D’Argenson und dem Minister Pontchartrain, der Gefangenenliste der Bastille und edierten Beständen des Bastille-Archivs erstellt wurde. 62 In keinem der 121 Fälle von alchimistischer Beschäftigung oder magischen Praktiken wurde ein Gerichtsverfahren eingeleitet; alle wurden durch die Polizei verfolgt. 63 Dabei hatte das Delikt der Zauberei einen bedeutenden Anteil an polizeilicher Repression. Von 726 im Zeitraum 1697 - 1715 in der Bastille inhaftierten Personen waren 115 (15,8%) wegen Zauberei, Alchimie oder ähnlicher Delikte dort gefangen. 64 Alle überführten Zauberer wurden entweder mit Haftstrafen belegt oder aus Paris ausgewiesen. Die meisten Fälle (55%) wurden als simpler Betrug behandelt und mit relativ kurzen Haftstrafen oder Ausweisung geahndet. Typisch für diese Gruppe ist der folgende Fall. Das Ehepaar Siriaque verhalf Mercier zu mehr Glück in der Liebe, indem der mit schwarzer Farbe bestrichene Porteur de chaise Saint-Vidal als Teufel auftrat und den gewünschten Pakt besiegelte. Alle Beteiligten wurden zur Untersuchung in die Bastille gebracht, wo sie zwischen drei und vier Monaten blieben. Siriaque als der Hauptschuldige und Saint-Vidal als Teufelsdarsteller wurden anschließend für jeweils sechs Monate im Bicêtre inhaftiert und dann ohne Auflagen entlassen. Die Frau von Siriaque wurde anscheinend als unschuldig oder nur gering belastet direkt nach der Untersuchungshaft entlassen. Mercier als Anstifter der Komödie wurde aus der Bastille in seine Heimatstadt Caen exiliert. Weil herausgekommen war, daß er auch respektlos über den König und die Regierung gesprochen hatte, ließ ihn der Minister dort überwachen. 65 59 Archives de la Bastille XI (wie Anm. 28), 450 - 1. Zum Spitzelwesen Gerhard Sälter: Gerüchte als subersives Medium: Das Gespenst der öffentlichen Meinung und die Pariser Polizei am Anfang des 18. Jahrhunderts, Werkstatt Geschichte N° 15 (1996), 11 - 19. 60 Der verdächtige D’Apremont beschwerte sich bei den Spitzeln, daß einige Mönche und Priester mit der Bezahlung von Abtreibungsmitteln im Verzug waren; Notes de d’Argenson (wie Anm. 27), 90. 61 Villeclerc, der schon länger unter Beobachtung stand und gewarnt worden war, verkaufte immer noch magische Talismane; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 327 - 8. 62 BN. Ms. fr. 8199 - 8125 (Rapports et pièces divers de police); daraus die Teileditionen Notes de d’Argenson (wie Anm. 27) und Rapports de d’Argenson (wie Anm. 28). Die Berichte D’Argensons an Pontchartrain ibid. und die Anweisungen Pontchartrains in AN. O 1 . 41 - 44, 362 - 367. Die Gefangenenliste der Bastille bei Funck-Brentano: Lettres de cachet (wie Anm. 33), und zahlreiche Fallsammlungen in Archives de la Bastille (wie Anm. 28). 63 Fünf Personen wurden an die reguläre Justiz überstellt, allerdings vermutlich wegen anderer Delikte oder weil sie besonderen Jurisdiktionen unterlagen. 64 Diese Berechnung beruht auf der Gefangenenliste der Bastille bei Funck-Brentano: Lettres de cachet (wie Anm. 33), N os 1589 - 2324, sowie der bei ihm angegebenen Haftgründe. Gerhard Sälter 492 Gravierender wurden die Fälle beurteilt, bei denen zur Zauberei andere Delikte hinzukamen. 1703 wurde eine Gruppe von vierzehn Personen verhaftet, die als berufsmäßige Zauberer galten und von Wahrsagen bis zu Schwarzen Messen die meisten magischen Praktiken sowie gewerbsmäßige Abtreibungen anboten. Bei ihnen fielen die Strafen deutlich schwerer aus. Die Chamois wurde nach zehn Monaten Bastille für vier Jahre in der Salpêtrière inhaftiert und danach für drei Monate auf Probe entlassen. 66 Mabille dagegen konnte offensichtlich keine Beteiligung an den schwereren Delikten nachgewiesen werden, daher galt sie innerhalb dieser Gruppe als minder schwerer Fall. Sie wurde nach 10 Monaten Haft in der Bastille für ein Jahr in der Salpêtrière inhaftiert und anschließend nach Tournay exiliert. 67 Eine Vielzahl an Delikten wurde den Eheleuten Barot, mit offiziellem Beruf Chirurg und Hebamme, angelastet. Neben der Vermittlung von Teufelspakten und anderer magischer Praktiken wurden sie beschuldigt, Leichtgläubige mittels magischer Schatzsuche um größere Geldsummen gebracht zu haben. Der Mann galt außerdem als Fälscher und die Frau wurde bezichtigt, in großer Zahl Abtreibungen vorgenommen zu haben. Beide waren 18½ Monate in der Bastille in Haft und wurden dann ins Hospital transferiert. Der Mann erkaufte sich nach einigen Monaten die Freiheit, indem er sich zur Armee zu meldete. Er wurde unter der Bedingung entlassen, niemals nach Paris zurückzukehren. Seine Frau und ihre zwölfjährigen Tochter wurden im Hospital inhaftiert, wo die Tochter nach zwei Jahren verstarb. Die Frau sollte nach sechs Jahren Haft entlassen werden, als bekannt wurde, daß ihr Ehemann desertiert sei. Dadurch galt sie als rückfallgefährdet und ihre Entlassung wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. 68 Tabelle 1: Untersuchungs- und Strafhaft in der Bastille Zaubereifälle 121 100,0% Haft unter 3 Monaten 59 48,8% Haft zwischen 3 und 9 Monaten 22 18,2% Haft zwischen 10 und 24 Monaten 24 19,8% Haft über zwei Jahre 3 2,5% In der Haft verstorben oder geisteskrank geworden 4 3,3% Die Sanktion erfolgte in einzelnen Etappen. Fast alle Verdächtigen (95%) wurden zuerst in der Bastille inhaftiert, die dabei als eine Art Untersuchungsgefängnis fungierte. Die Haft dort war relativ kurz, zumeist weniger als drei Monate. Während dieser Zeit wurden Verhöre durchgeführt und das Beweisverfahren abgeschlossen. 65 Archives de la Bastille XI (wie Anm. 28), 300 - 3. Überwachung im Exil auch im Fall Thomassin, ibid., 168 - 9. 66 Funck-Brentano: Lettres de cachet (wie Anm. 33), N° 1707; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 382 - 99. Eine weitere Verhaftung ist nicht bekannt. 67 Funck-Brentano: Lettres de cachet (wie Anm. 33), N° 1782; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 401. 68 Funck-Brentano: Lettres de cachet (wie Anm. 33), N° 1697 - 1698; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 336 - 401. Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung 493 Tabelle 2: Sanktion nach der Untersuchungshaft Zaubereifälle insgesamt 121 100,0% Ohne weitere Sanktion entlassen 8 6,6% An andere Jurisdiktionen überstellt 5 4,1% Entlassung unter Bedingungen 2 1,7% Exilierung nach Entlassung 19 15,7 Überstellt zur Haft im Hospital 70 57,9 Als mögliche Sanktionen standen eine längere Haftstrafe entweder in der Bastille selbst oder im Hospital (zusammen 80%) und die Ausweisung aus Paris (27%) zur Verfügung, die in einzelnen Fällen auch beide nacheinander verhängt wurden. Nur ein geringer Teil ist als unschuldig oder ausreichend bestraft entlassen worden. Tabelle 3: Haftdauer von Zauberern im Hôpital Général Wegen Zauberei im Hospital inhaftiert 70 100,0% Haftdauer bis zu einem Jahr 16 22,9% Haftdauer zwischen einem und vier Jahren 16 22,9% Haftdauer über vier Jahre 9 12,9% Haftdauer unbekannt 29 41,4% Die Haft im Hospital dauerte, da sie als Strafhaft angelegt war, deutlich länger als in der Bastille. Legt man die ermittelte Haftdauer zugrunde, betrug sie für Zaubereidelikte durchschnittlich 33 Monate bei individuellen Haftzeiten zwischen sechs Monaten und lebenslänglich. Es sind jedoch nicht alle Entlassungsdaten erhalten, weshalb in einigen Fällen die Haftdauer deutlich länger gewesen sein dürfte, als festzustellen war. 69 Tabelle 4: Sanktion nach der Haftentlassung Wegen Zauberei im Hospital inhaftiert 70 100,0% Dort verstorben oder lebenslange Haft 5 7,1% Als geisteskrank nicht mehr entlassen 2 2,9% Unter Bedingungen entlassen 3 4,3% Exilierung nach Entlassung 14 20% Keine weitere Sanktion nachweisbar 46 65,7% Viele der Entlassenen wurden weiteren Restriktionen unterworfen: Exilierung, Überwachung oder Entlassung auf Probe. Auch ihr Schicksal war nicht immer festzustellen, weshalb zu vermuten ist, daß der Anteil der mit weiteren Sanktionen belegten deutlich höher war. Die Polizei stand in der Kombination von unterschiedlicher Haftdauer und -bedingungen mit verschiedenen Formen von Exilierung und Auflagen eine breite Skala in sich abgestufter Sanktionen zur Verfügung. Das individuelle Strafmaß war provisorisch 69 In 29 Fällen konnte die Haftdauer gar nicht festgestellt werden. In weiteren 9 Fällen war nur eine Mindesthaftzeit nachweisbar, nach der die weitere Überlieferung abbricht, in 5 Fällen ist eine Entlassung sehr unwahrscheinlich. In 4 weiteren Fällen konnte die Dauer der Haft nur annähernd bestimmt werden. Gerhard Sälter 494 und konnte stets modifiziert werden. Es war durch kein Gesetz geregelt, sondern wurde von Fall zu Fall von D’Argenson festgelegt und von Pontchartrain bestätigt. Die Kriterien der Bestrafung bleiben unklar, da D’Argenson einzelne Sanktionen selten begründete. 70 Seine Berichte sind summarisch und erschöpfen sich in der Darstellung des Tatbestandes. Daran schließt sich, wie bei Dubuisson, eine lakonische Bemerkung zur Strafe an: »il me paroîtroit plus juste et plus convenable de la renfermer quelque temps à l’Hôpital«. 71 Das Fehlen von expliziten Kriterien für das Strafmaß deutet auf einen impliziten Konsens zwischen D’Argenson und Pontchartrain hin. Da die Sanktionierung in Etappen vor sich ging, konnte bei der Einweisung in die Bastille, bei der Entlassung aus ihr, bei der Entlassung aus dem Hospital und bei Gesuchen um Aufhebung eines Exils immer wieder neu über den Fall entschieden werden. Das machte sie fexibel für Interventionen und für eine stets erneuerte Beurteilung des Delinquenten, seines Charakters, der Umstände der Tat und äußerer Bedingungen. Das gestaffelte System der Sanktion mit wiederholter Überprüfung setzte sich fort bei der Inhaftierung im Hospital, wo Dauer und Bedingungen der Haft bei jährlich stattfindenden Haftprüfungen neu definiert wurden. 72 Zumeist sind die Berichte der Haftprüfung ebenso lakonisch wie jene, die zur Inhaftierung führten. Einige jedoch resümieren explizit die Gründe für eine Milderung oder Verschärfung des anfänglichen Urteils: »M. Moreau, dite Gaudron ou Créancier, mise à la Salpêtrière le 18 septembre 1701. 1702. Elle est âgée de 48 ans, paroisse de Saint-Eustache. C’est une devineresse des plus insolentes et des plus impies se disait femme d’un moine apostat [...] et il ne serait pas à propos de la laisser libre. 1705. Je pense qu’il ne serait pas encore à propos d’ordonner sa sortie; ce qui me porte d’autant plus à être de cet avis, c’est que cette malheureuse femme n’a certainement aucune ressource, et que personne la réclame. D’ailleurs, j’apprends qu’elle n’a donné aucune marque de repentir, et qu’on ne l’a pas jugée digne d’approcher des sacrements. 1706. L’évasion de son mari prétendu, qui ne manquera pas de la joindre, est encore un nouveau motif pour continuer sa détention. 1707. Telle était sa disposition l’année 1706, j’apprends que depuis elle a parus plus docile, et qu’elle a même fréquenté les sacrements, et si elle n’était pas de Paris, ou si je lui connaissais quelque ressource pour subsister, je proposerais volontiers sa sortie, mais elle n’a certainement aucun bien et personne ne la réclame.« 73 70 D’Argenson schreibt zum Exil: »Ce n’est qu’après un long examen, que je prends la liberté de vous proposer ce remède«; D’Argenson an Pontchartrain, 14.10.1702, Notes de d’Argenson (wie Anm. 27), 84. 71 Notes de d’Argenson (wie Anm. 27), 6. Das endgültige Urteil findet sich in Fällen, in denen kein Strafmaß vorgeschlagen worden war, in Randbemerkungen zu den Berichten D’Argensons: »Bon, pour un ans, voir alors«; Rapports de D’Argenson (wie Anm. 28), 273. 72 Auch im Amsterdamer Arbeitshaus wurden die Haftzeiten je nach Führung verkürzt oder verlängert; Spierenburg: Prison Experience (wie Anm. 7), 144 - 7. 73 Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 272 - 3. Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung 495 Für die Beurteilung waren vier Aspekte ausschlaggebend. Zuerst wurde die Schwere des Delikts in Betracht gezogen. Die Charakterisierung als »intrigante des plus dépravées et des plus infâmes, qui ne subsitait que par son mauvais commerce« oder »insolent jusqu’à excès« leitete meistens eine Verlängerung der Haft ein. 74 Einige wurden wegen des Delikts oder erschwerender Umstände gar nicht mehr in die Haftprüfung einbezogen, sondern mit der Formel »on doit l’oublier à l’hôpital« bezeichnet. 75 Andererseits konnte ein Inhaftierter auch als »beaucoup moins coupable« als seine Komplizen beurteilt werden, was zu einer relativ schnellen Freilassung führte. 76 Ebenso spielte der Herkunftsort eine wesentliche Rolle. Waren die Häftlinge aus Paris, konnten sie nach der Entlassung nicht exiliert werden und blieben somit eine potentielle Gefahr für die Sicherheit der Stadt. Tendenziell bedeutete dies eine Verlängerung der Haft gegenüber solchen, die bequem in die Provinz exiliert werden konnten. Trotz schwerer Vorwürfe wurde Bailly schnell aus der Haft entlassen, da sie aus dem Languedoc war, das Ehepaar Saugeon dagegen nicht, denn »étant originaires de Paris, il faudrait bien les y souffrir«. 77 Einbezogen wurde auch, ob sich die Familie des Inhaftierten um ihn kümmern würde und ob sie sich um eine Freilasung bemüht hatte. So wurde die Freilassung Tirmonts erwogen, weil seine Mutter sich sehr dafür eingesetzt hatte, auch wenn sie ihn nicht ernähren konnte. 78 In einem Fall wurde eine der Beteiligten ohne Sanktion zu ihrer Familie zurückgeschickt, da sie Kinder und »un mari d’une honnête familie« hatte, zwei andere Beteiligte kamen dagegen für einige Monate ins Hospital. 79 Im Zusammenhang damit wurden die Vermögensverhältnisse des Delinquenten berücksichtigt: War jemand in der Lage, sich ohne weitere kriminellen Aktivitäten eine Subsistenz zu verschaffen oder war er auf die Aktivitäten angewiesen, die ihn ins Hospital gebracht hatten? So wird über Parmesan gesagt: »n’ayant d’autres moyens pour subsister que ses secrets criminels, et Paris étant le lieu de son origine, je n’ose vous proposer sa sortie, pour ne pas me rendre complice des crimes qu’elle ne manquerait pas d’y commetre«. 80 Häufig findet sich die Bemerkung, ein Häftling habe ni bien ni ressource und bei Bourdeaux reichte die Bemerkung, er habe aucuns biens. 81 Wie im Fall der Créancier wurde die Flucht von Komplizen aus der Haft ebenfalls als erschwerendes Moment interpretiert, da die Vermutung bestand, daß gemeinsam begangene Delikte wiederholt würden. 82 Charakterliche Veränderungen im Sinne einer Besserung wurden ebenfalls berücksichtigt und durch die Leitung des Hospitals bewertet. Die Kriterien für eine solche Bewertung waren bei Créancier, ob sie etwa eine marque de repentir gezeigt hatte und zu den Sakramenten zugelassen worden war. Die Kommentare zeigen, daß die Bewertung des Hospitals vom Lieutenant Général übernommen wurden: »On m’assurait qu’il 74 Viennot, Davon, Protain; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 274, 310. 75 Rouillon, Delaville; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 402, 402 - 3. 76 Mabille; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 401. 77 Bailly, Saugeon; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 398 - 9, 399 - 401. 78 Tirmont, Chamois, Rousseau; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 273 - 4, 399; XI 168. Dagegen das Fehlen einer aufnahmebereiten Familie als Grund für Verlängerung der Haft bei Lamy, ibid. X 168. 79 Protain, Fénouillet, d’Estrade; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 335 - 7. 80 Parmesan, Mariette; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 340 - 1, 401 - 2. 81 Chamois, Bourdeaux, Protain, Ehepaar Saugeon; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 399, 273, 340 - 1, 310, 399 - 401. 82 Parmesan; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 340 - 1. Gerhard Sälter 496 n’était pas à propos de compter sur sa correction.« 83 Häufig findet sich die Bezeichnung, daß eine Person plus docile oder assez tranquile geworden sei, was als Unterwerfung unter die Bedingungen der Haft und das Haftregime im Hospital interpretiert werden kann. 84 Außerdem beurteilte das Personal des Hospitals bei Zauberern, ob sie weiterhin ihren als abergläubisch bezeichneten Vorstellungen anhingen, was als fehlende Reue interpretiert wurde. 85 Eine erfolgreiche Verschleierung der dispositions und sentiments war nicht unbedingt ratsam, da es ebenfalls zu einem negativen Verdikt führen konnte. 86 Zur Bewertung des Charakters gehörte auch die Frage, ob es sich um Rückfalltäter handelte, die bereits im Hospital eingesessen hatten und bei denen die expérience du passé auf keine Besserung hoffen ließ. 87 Für die Bewertung der Fälle durch die Polizei stellen sich zwei Kategorien als relevant heraus. Eine davon war der Schutz der städtischen Gemeinschaft vor Devianz. Die Berücksichtigung der Familie und ökonomischer Ressourcen zielte darauf, ihre materielle und soziale Reintegrationsfähigkeit zu beurteilen. 88 Diese wurde relativ gesehen in Beziehung zum Verbrechen, wobei ein sakraler Moment einfließt, wenn als gravierend empfundene Sakrilegien aus einem Betrug ein crime atroce werden ließen. Der Schutz der Pariser Gesellschaft stand D’Argenson offensichtlich näher als die Sicherheit entfernter Orte, welche die aus Paris entfernten Delinquenten aufzunehmen hatten. Vielleicht war das Pariser Kalkül auch, daß in den überschaubaren Provinzstädten den Autoritäten eine Kontrolle leichter fiele. Unter dem Aspekt des Schutzes läßt sich auch die zweite Kategorie interpretieren, die zur Bewertung diente. Die correction als Veränderung der mentalen Disposition, sich zu fügen, einzufügen und unterzuordnen, wurde als Bereitschaft gedeutet, von kriminellen Handlungen abzustehen. Auch hier schleicht sich, gerade bei der als Aberglaube verstandenen Zauberei, eine sakrale Konnotation ein. Docilité als Fügsankeit oder friedliebender Charakterzug wurde eher als Zeichen der Läuterung aufgefaßt als die Bereitschaft zur Arbeit, die überhaupt nur einmal erwähnt ist. Obwohl ›Besserung‹ in der Auffassung der Polizei Kennzeichen der Unterwerfung aufweist, scheint die bedeutende Komponente auch hier die Chance auf Reintegration in das soziale Gefüge zu sein. 83 Parmesan; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 341. 84 Parmesan, Damour, Ehepaar Saugeon; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 341, 402, 399 - 401. Bailly »paraît fort disciplinable et fort docile«, ibid. 398 - 9. Chamois »est assez docile, mais sa correction paraît douteuse«; ibid. 399. Ravet: »comme les soeurs paraissent maintenant assez contentes de ses dispositions et de sa docilité, je crois qu’on pourrait la rendre libre.« ibid., XI 303. 85 Vaux »paraît toujours fort impertinente et fort entêtée de ses visions et encore plus indocile«; ähnlich zu Aubert de Saint-Etienne, Archives de la Bastille XI (wie Anm. 28), 303; X 341 - 2. Nachdem »sa docilité est encore augmentée« wurde Vaux freigelassen. 86 Pigeon; Archives de la Bastille XI (wie Anm. 28), 302 - 3. 87 Viennot, Anguenet; Archives de la Bastille X (wie Anm. 28), 274; XI 169. 88 In den Niederlanden wurde nach Spierenburg: Prison Experience (wie Anm. 7), 155, in Anträgen auf Haftentlassung von den Antragstellern häufig auf die Bereitschaft verwiesen, die Verantwortung für den Entlassenen zu übernehmen und ihn gegebenfalls bei sich aufzunehmen. Diejenigen, die ihre Haftzeiten voll abbüßen mußten oder sogar länger, konnten zumeist keine derartigen Garantien geben und besaßen im schlechtesten Fall keine Verwandten mehr. Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung 497 4. Polizeiliche Sanktion, Disziplinierung und soziale Kontrolle Die Kriterien der Strafzumessung durch die Polizei richteten sich an den Chancen der Reintegration in das korporative Sozialgefüge aus. Rückfälle sollten verhindert werden und die Delinquenten sich innerhalb der sozialen Ordnung bewegen. Deshalb wurde der Leumund und das soziale Umfeld bereits zu Beginn der Untersuchung berücksichtigt, wie das anhand der Fälle Murat und Mailly dargestellt wurde. Um die Funktionslogik polizeilicher Repression und ihres Instruments der Inhaftierung besser in den historischen Kontext einordnen zu können, soll sie mit den Mechanismen gerichtlicher Sanktion im Ancien Régime kontrastiert werden. Schwerhoff siedelt die Funktionslogik frühneuzeitlicher Justiz im Spannungsfeld zwischen überzogener Sanktionsdrohung und gewohnheitsmäßigem selektiven Sanktionsverzicht an, wobei Sanktionsverzicht Straffreiheit oder Milderung verhängter Strafen bedeuten kann. 89 Diese Logik wurde manchmal bereits bei der Formulierung neuer Rechtsnormen bedacht. Der französische Chancelier Pontchartrain wies einen Richter darauf hin, daß die in der letzten Déclaration gegen Bettler und Vagabunden vorgesehenen Strafen nur zur Einschüchterung gedacht seien: »Il n’y a point d’exemple qu’on ait prononcé contr’eux la peine des galères portée par les déclarations, dont la rigeur dégénéroit en injustice si elle n’estoit pas modérée par la prudence des juges.« 90 Unterstützt wurde diese Funktionslogik durch das Einbeziehen des sozialen Kontextes des Delinquenten in der Urteilsfindung und in der Beurteilung von Gnadengesuchen. »Pädagogisch« ausgerichtet auf Abschreckung durch Exempel, konnte die Justiz zwischen staatlicher Normsetzung und öffentlicher Meinung durch die Einbeziehung der lokalen community vermitteln. 91 Diese bezeugte durch die Bescheinigung eines guten oder schlechten Leumunds, wie stark sie das inkriminierte Verhalten als deviant auffaßte und ob sie bereit war, den Delinquenten wieder zu integrieren. Fanden sich ausreichend unbescholtene Personen, die sich für ihn einsetzten, stieg die Chance auf Milderung von Strafen: »Die Obrigkeit (...) berücksichtigte sehr wohl in besonderem Maße die informellen Kontrollmechanismen der städtischen Gesellschaft (...)« 92 Ein guter Leumund konnte vor Gericht auf unterschiedliche Weise konstituiert werden. Einerseits waren es die lokalen Autoritäten, die durch ihre Fürsprache von der respectability eines Delinquenten zeugen konnten. 93 Eine gute Reputation konnte auch von sozial nicht privilegierten Angehörigen der Gemeinschaft bezeugt werden, in der der Delinquent lebte. Vor allem Verwandte und Angehörige der Korporationen waren 89 Schwerhoff: Köln (wie Anm. 10), 166 - 70. Auch Frank: Dörfliche Gesellschaft (wie Anm. 6), 209, weist auf häufigen Sanktionsverzicht hin. 90 Pontchartrain an das Présidial zu Bourg en Bresse, 12.2.1700, Correspondance administrative sous le regne de Louis XIV (...), hg. Georges B. Depping, IV Paris 1850 - 1855, II 289. 91 Benoît Garnot: Le législation et la répression des crimes dans la France moderne (XVI e -XVIII e siècle), in: Revue historique 293 (1996), 75 - 90, hier: 86 - 90. 92 Schwerhoff: Köln (wie Anm. 10), 172. 93 Die Rolle sozialer Eliten in der Konstituierung eines gerichtlichen Leumunds ist in der englischen Forschung hervorgehoben worden; Douglas Hay: Property, Authority and the Criminal Law, in: Albion’s Fatal Tree: Crime and Society in Eighteenth-Century England, London 1975, 17 - 63, hier: 42 - 5. Hay interpretiert das Leumundszeugnis als Verlängerung der sozialen Macht ländlicher Eliten in die Justiz hinein. Auch Gleixner hebt die Bedeutung lokaler Autoritäten hervor; Ulrike Gleixner: »Das Mensch« und »der Kerl«: die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren in der Frühen Neuzeit (1700 - 1760), Frankfurt 1994, 195 - 201. Gerhard Sälter 498 relevant als Zeugen einer Lebensführung innerhalb der Ordnung. Reputation konstituierte sich in einem langwierigen Prozeß, in den die Erfahrung, das Gerede und die Gerüchte langer Jahre einflossen, aus der Realität gegenseitiger sozialer Kontrolle in dörflichen oder städtischen Gemeinschaften. 94 Der Leumund beinhaltete auch, wie vor allem Soman hervorgehoben hat, einen Reflex auf ein eventuell deviantes Vorleben. Häufig waren harte Urteile durch Vergehen begründet, die sich nicht als Vorstrafen niedergeschlagen hatten, sondern als Beeinträchtigung der Reputation. 95 Die Einbeziehung von lokalen Autoritäten und Gemeinschaften in die Urteilsfindung ließ die Justiz ihrer sozialen Rolle gerecht werden, den innergemeinschaftlichen Frieden zu wahren. 96 Durch die Strafzumessung traf sie eine Vorentscheidung darüber, ob ein Delinquent in seine community reintegriert wurde oder ob aufgrund des Urteils ein juristischer (Infamierung) oder faktischer (Verbannung, Todesstrafe) Ausschluß die Konsequenz der gerichtlichen Sanktion war. 97 Die Polizei ersetzte die Beteiligung von Autoritäten und community in ihren unter Ausschluß der Öffentlichkeit durchgeführten Verfahren durch eine eigene schematisierte Beurteilung der Reputation, die sich aber an Kriterien orientierte, wie sie in der Gerichtspraxis Anwendung fanden. Sie blieb weiterhin in gewissem Maße auch offen für Interventionen vor allem seitens lokaler Autoritäten und Verwandter. In ihrer Funktionslogik entsprach polizeiliche Repression am Anfang des 18. Jahrhunderts derjenigen der frühneuzeitlichen Justiz: Schutz der Gemeinschaft, innergemeinschaftliche Friedenswahrung und Reintegration des Delinquenten. 98 Erklärungsbedürftig bleibt aber, wieso in Paris an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert überhaupt ein Übergang von gerichtlicher zu polizeilicher Repression stattfand. In bezug auf Zauberer ist die Antwort einfach: polizeiliche Verfolgung erlaubte eine größere Diskretion. Sie hatte weder öffentliche Verhandlungen noch öffentliche Bestrafungen zur Folge. Häufungen solcher Fälle und die Beteiligung von Personen der Eliten konnten gegenüber der Öffentlichkeit verschleiert und Skandale wie anläßlich der Giftmordaffaire dadurch vermieden werden. Jedoch wurden auch andere Formen von Devianz verstärkt durch die Polizei verfolgt. Die allgemeine Tendenz zu polizeilicher Überwachung und Repression kann mit dem Aufbrechen von Kontrollmechanismen in der städtischen Gesellschaft von Paris erklärt werden. 94 Gleixner: Das Mensch (wie Anm. 92), 177 - 86; Krug-Richter: Konfliktregulierung (wie Anm. 10), 220 - 4, Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts, Oberbayern 1848 - 1910, Reinbek 1989, 166 - 76. Sie betont das Gerede und die Gerüchte in der Konstituierung der Reputation; dazu jetzt Dietlind Hüchtker: ›Da hier zu vernehmen gekommen ...‹ Gerüchte und Anzeigen am badischen Oberrhein im Ancien Régime, Sozialwissenschaftliche Informationen 27.1998, 93 - 99. 95 Alfred Soman: Deviance and Criminal Justice in Western Europe, 1300 - 1800: An Essay in Structure, in: Criminal Justice History 1 (1980), 1 - 28, hier: 11. 96 Friedenswahrung durch die Gerichte und als Interesse der Gemeinschaften betonen Gleixner: Das Mensch (wie Anm. 93), 188 - 93; Krug-Richter: Konfliktregulierung (wie Anm. 10), 227; Nicole Castan: Justice et répression en Languedoc à l’époque des Lumières, Paris 1980, 1 5 -6. 97 Zu den sozialen Konsequenzen infamierender Urteile Gerd Schwerhoff: Verordnete Schande? Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Ehrenstrafen zwischen Rechtsakt und sozialer Sanktion, in: Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Frankfurt 1993, 1 5 8 -188. 98 »Die Intensivierung von Gefängnisstrafen im 18. Jahrhundert markierte nicht den Übergang von abschreckenden Exempelstrafen zu Strafen, die eine Besserung beabsichtigten, sondern zu einer stärkeren Überwachung der Besserungsprozesse innerhalb der Gefängnismauern.« Ulinka Rublack: Magd, Metz’ oder Mörderin. Frauen vor der frühneuzeitlichen Justiz, Frankfurt 1998, 111 und 113. Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung 499 Gerichtliche Repression innerhalb einer korporativen Gesellschaft hatte sich weitgehend darauf beschränkt, Orte, Personen und Gruppen zu überwachen, die weder in gemeinschaftliche noch herrschaftliche Kontrollmechanismen eingebunden waren, oder diese Mechanismen mit ihrer Sanktionsgewalt zu unterstützen. 99 Der bereits angesprochene Einfluß dörflicher und städtischer Gemeinschaften und ihrer sozial dominanten Schichten auf die Urteilsfindung machte sich bereits im Vorfeld der Prozesse bemerkbar. Gemeinschaften und soziale Eliten entschieden wesentlich darüber, ob Devianz überhaupt von einem Gericht abgeurteilt wurde. 100 Häufig zogen sie interne Konfliktregulierung und informelle Sanktion vor. Zahlreiche Fälle wurden bereits im Vorfeld außergerichtlich beigelegt und somit der Zuständigkeit der Justiz entzogen. 101 Rublack verweist am Beispiel Württembergs im 17. Jahrhundert auf die Neigung, Konflikte eher innerhalb der dörflichen Gemeinschaft zu beenden und die Gerichtsbarkeit erst anzurufen, wenn abweichendes Verhalten durch Dauerhaftigkeit nicht mehr hinnehmbar geworden war. Bei Rügegerichten wurden deshalb »meist nur ungeschlichtete Raufhändel, unverbesserliche Delinquenten oder Leute von außerhalb angezeigt.« 102 Neben innergemeinschaftlichen Mechanismen der Konfliktregulierung und Sanktion dienten auch Strukturen sozialer Dominanz dazu, Devianz zu sanktionieren. Angehörige der Eliten überwachten die von ihnen Abhängigen in ihrem alltäglichen Leben. Diese traditionelle Form herrschaftlicher Kontrolle ermöglichte ebenfalls informelle Sanktion: Entlassung oder Bestrafung durch den Brotherrn; Ermahnung oder Auferlegung einer Buße durch den Pfarrer; Ordnungsstrafen oder Verpflichtung, Frieden zu halten. 103 Es scheint, als könne man das Diktum Sharpes über soziale Kontrolle und gerichtliche Repression im England der Stuarts verallgemeinern: »In fact, it appears, that when dealing with the local, resident malefactor, court action was conceived of as fairly remote sanction, normally one to be resorted to only when other means of control had failed.« 104 99 Dies arbeitet Brennan am Beispiel der Kneipen heraus; Thomas E. Brennan: Public Drinking and Popular Culture in Eighteenth-Century Paris, Princeton 1988, 292 - 8. 100 Rainer Walz: Dörfliche Hexereiverdächtigung und Obrigkeit, in: Günter Jerouschek/ Inge Marßolek/ Hedwig Röckelein (Hg.): Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte, Tübingen 1997, 80 - 98; Gleixner: Das Mensch (wie Anm. 93), 186 - 91. 101 Krug-Richter: Konfliktregulierung (wie Anm. 10); Castan: Justice (wie Anm. 96), 13 - 51. Lenman und Parker interpretieren die Gerichte gar nur als Vollzugshelfer bei innergemeinschaftlich nicht zu regulierenden Fällen; Bruce Lenman/ Geoffrey Parker: The State, the Community and the Criminal Law in Early Modern Europe, in: Gatrell/ Lenman/ Parker (Hg.): Crime and the Law, 11 - 48, hier: 20 - 3. Zur außergerichtlichen Einigung die Beiträge in Benoît Garnot (Hg.): L’infrajudiciaire du Moyen Age à l’époque contemporaine, Dijon 1996 102 Ulinka Rublack: Frühneuzeitliche Staatlichkeit und lokale Herrschaftspraxis in Württemberg, in: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), 345 - 376, hier: 355. Ähnlich Sharpe, der auf die relativ lange Geduld selbst gegenüber Diebstahl hinweist. Solche Fälle wurden häufig erst vor Gericht gebracht, wenn ein Täter aufgrund von mehrfacher Wiederholung eine Reputation als notorischer Übeltäter erlangt hatte; J.A. Sharpe: Enforcing the Law in Seventeenth-Century English Village, in: V.A.C. Gatrell/ Bruce Lenman/ Geoffrey Parker (Hg.): Crime and the Law. The Social History in Western Europe since 1500, London 1980, 97 - 119, hier: 109 - 10. 103 Sharpe: Enforcing the Law (wie Anm. 102), 107 - 17. Ähnlich Hay: Property (wie Anm. 93), 41 - 2; Castan: Justice (wie Anm. 96), 61 - 6; Heinrich R. Schmidt: Pazifizierung des Dorfes - Struktur und Wandel von Nachbarschaftskonflikten vor Berner Sittengerichten 1570 - 1800; in: Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, hg. von Heinz Schilling, Berlin 1994, 91 - 128, hier: 105 - 10; David W. Sabean: Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Berlin 1987, Kap. 1. 104 Sharpe: Enforcing the Law (wie Anm. 102), 107; Gleixner: Das Mensch (wie Anm. 93), 192 - 3. Gerhard Sälter 500 In Paris verloren diese informellen Mechanismen, auf die sich gerichtliche Sanktion stützte und als deren formalisiertes Pendant sie zu begreifen ist, gerade durch das Entstehen einer Polizei an Effizienz. Die Etablierung der Polizeiorganisation Mitte des 17. Jahrhunderts war erfolgt, um die politisch diskreditierten sozialen Eliten aus der Stadtherrschaft zugunsten eines direkt von der Krone abhängigen Kommissars zu verdrängen. 105 Mit der Entmachtung der Notabeln als politische Machtfaktoren und der Reduktion der auf die Stadtteile bezogenen munizipalen Ämter zu Ehrenämtern setzte die Krone einen Prozeß in Gang, in dessen Verlauf sie auch ihre stabilisierende Funktion als Ordnungsfaktoren und einen Teil ihrer sozialen Autorität verloren. Piasenza spricht in dieser Beziehung von einer »dissolution certaine (...) des liens verticaux de la société parisienne«. 106 In der Schwächung ihrer Herrschaftsfunktion verloren die Eliten auch ihre Möglichkeiten, Gruppen innerhalb der Bevölkerung zu kontrollieren und Devianz zu sanktionieren. Die Gesellschaft büßte damit auf Dauer einen Garanten ihrer Ordnung, und die Justiz eine Stütze ihrer Kontrollfunktion ein. Dieser Prozeß vollzog sich schleichend und seine Wirkung wurde erst später erkannt. Die Netze horizontaler sozialer Kontrolle innerhalb der städtischen communities, die sich vor allem in den Stadtvierteln gebildet hatten, blieben bis weit ins 18. Jahrhundert bestehen. 107 Jedoch wurde das Fehlen ihres vertikalen Moments von den Eliten und den Ordnungskräften seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zunehmend als Defizit empfunden. Die Polizei versuchte die sich vermindernde Kontrolle durch die sozialen Eliten zu ersetzen, indem sie eine Sozialkontrolle in eigener Regie zu etablieren suchte. Sie orientierte sich dabei an den traditionellen Kriterien der sozialen Eliten, die sie in der polizeilichen Repression zu imitieren versuchte. 108 Die durch sie eingeführte Praxis der Inhaftierung reagierte nicht auf demographische und ökonomische Prozesse, wie von Foucault vermutet. 109 Sie folgte keiner an Disziplinierung im Foucaultschen Sinn orientierten Logik, insofern Disziplinierung als durch Arbeit vermittelte Reproduktion abstrakten Gehorsams verstanden wird. Dagegen versuchte sie ein Defizit sozialer Kontrolle auszugleichen, das durch eine politische Machtverschiebung entstanden war, indem sie ein neues System von Repression installierte, das sich gleichermaßen an den Kriterien gerichtlicher Sanktion im Ancien Régime wie an den Mechanismen informeller Sanktion durch soziale Eliten orientierte. 105 David Garrioch: The People of Paris and their Police in the Eighteenth Century: Reflections on the Introduction of a ›Modern‹ Police Force, in: European History Quarterly 24 (1994), 511 - 535, hier: 528 - 30; Paolo Piasenza: Juges, lieutenants de police et bourgeois à Paris aux XVII e et XVIII e siècles, in: Annales ESC 45 (1991), 1189 - 1215, hier: 1194 - 6. 106 Paolo Piasenza: Opinion publique, identité des institutions, »absolutisme«. Le problème de la légalité à Paris entre le XVII e et le XVIII e siècle, Revue historique 299 (1993), 97 - 142, hier: 138. 107 Zum Fortbestehen gemeinschaftlicher Kontrollmechanismen Martin Dinges: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. 108 »The new police, even as they displaced the local notables, were thus as much servants of the Paris bourgeois and their ideology as they were of the monarchy itself.« Garrioch: People of Paris (wie Anm. 105), 529; ähnlich Piasenza: Opinion pubique (wie Anm. 105), 112. 109 Foucault: Überwachen und Strafen (wie Anm. 2), 280 - 1. V. Formen der Aneignung und Umgehung von Justiz 503 Martin Dinges Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit 1. Einleitung In Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Kriminaljustiz fällt die große Zahl von Anzeigen auf, die nicht weiter vor Gericht verfolgt wurden. 1 Sind die tatsächlich eingegangenen Klagen selbst oder in Registern überliefert, wird eine Quantifizierung der nicht weiter verfolgten Beschwerden möglich. Dann erweist sich regelmäßig, daß ihre Zahl viel höher als die durch eine richterliche Entscheidung formgerecht - mit einem Urteil oder Einstellungsbeschluß - abgeschlossenen Verfahren ist. 2 Es gab offenbar eine erhebliche Differenz zwischen der Anzahl der Probleme, die als »Fälle« in das Justizsystem eingebracht, und solchen, die dort auch tatsächlich entschieden wurden. Als Erklärung für das Verhalten der Justiz bietet sich an, daß sie viele in den Klagen vorgetragene Sachverhalte für unerheblich hielt und sich von - aus ihrer Sicht bedeutungslosen - Streitereien »kleiner Leute« entlasten wollte. Ein solches institutionelles Ausfiltern unerwünschter Angelegenheiten wird als Ausdruck erfolgreich umgesetzter »Justizpolitik« gedeutet. Demnach hätten die Institutionen selbst entsprechend den »justizpolitischen« Vorgaben nur solche Fälle weiterverfolgt, die den Obrigkeiten, die die Justizinstitutionen angeblich steuerten, wichtig und deshalb auch bearbeitenswert erschienen. Als klassisches Beispiel wird das Umschalten in der französischen Justizpolitik der 1760er Jahre angeführt. Damals »entdeckte« die Obrigkeit, die nunmehr die Diebstahlskriminalität als schnell wachsend wahrnahm, daß diese die angeblich erst zu diesem Zeitpunkt zentral werdende bürgerliche Eigentumsordnung gefährdete. Daraufhin hätten sich die Justizpolitiker ab diesem Jahrzehnt wesentlich weniger für die Gewaltkriminalität interessiert und statt dessen auf die systematische Verfolgung der Eigentumskriminalität gesetzt. Solche Schübe, die faktisch als Kriminalisierung und Entkriminalisierung bestimmter Delikte wirkten, wurden häufiger be- 1 Vgl. z.B. J.A. Sharpe: Such Disagreement between Neighbours, in: John Bossy (Hg.): Disputes and Settlements, Law and Human Relations in the West, Cambridge 1983, 169 - 187, 173; Robert B. Shoemaker: Prosecution and Punishment. Petty Crime and the Law in London and Rural Middlesex, c. 1660 - 1725, Cambridge 1991, 134ff.; Bruce Lenman/ Geoffrey Parker: The State, the Community and the Criminal Law in Early Modern Europe, in: V.A.C. Gatrell/ Bruce Lenman/ Geoffrey Parker (Hg.): Crime and the Law: The Social History of Crime in Western Europe since 1500, London 1980, 11 - 48, 21 mit nur 4% Urteilen bei der Star Chamber in den 1630er Jahren; Christelle Clement: Les délits ordinaires dans le Baillage de Châtillon-sur-Seine au XVIIIe siècle: L’exemple des litiges de voisinage, in: Benoît Garnot (Hg.): La petite délinquance du Moyen Age à l’époque contemporaine, Dijon 1998, 145 - 152, 148: Dort werden nur 7,7% der Anzeigen durch Urteile abgeschlossen. Ich danke für Anregungen zu einer ersten Fassung dieses Papiers Francisca Loetz, Michael Frank, Gerd Schwerhoff und Renate Dürr. 2 Dazu zuletzt Benoît Garnot: Pour une histoire nouvelle de la criminalité au XVIIIe siècle, in: Revue historique 584 (1993), 289 - 303, 293. Martin Dinges 504 obachtet. 3 Justizinstitutionen erscheinen in diesen Interpretationen als durch Obrigkeiten gut steuerbare Instrumente sozialer Kontrolle »von oben nach unten«, die ansonsten allenfalls noch ihre eigenen institutionellen Interessen verfolgen. Die hohe Zahl von durch eine Klage eingeleiteten, aber nicht formgerecht abgeschlossenen Verfahren läßt sich aber auch anders deuten, indem man die Perspektive der Anzeigenden in den Vordergrund rückt. Die nicht weiter verfolgten Klagen könnten darauf hinweisen, daß die Inanspruchnahme von Justizinstitutionen keineswegs nur dazu diente, Prozesse zu eröffnen und diese auch zu Ende zu führen. Es kann nämlich nicht durchgehend davon ausgegangen werden, daß die Kläger von Anfang an sämtliche rechtlichen Möglichkeiten des Justizsystems nutzen wollten. Vielmehr läßt sich eine Klage bei der Polizei oder bei einem Gericht als lediglich eine der vielfältigen Formen deuten, in denen man einem Gegner, mit dem man sich außergerichtlich stritt, den eigenen Standpunkt nachdrücklich klarmachen wollte. 4 Die Einschaltung eines Gerichtes diente demnach als Mittel zu dem Zweck, die Lösung privater Konflikte durch Höherstufung auf die Ebene einer - meist obrigkeitlichen - Institution voranzubringen. 5 Die vielen nicht weiter verfolgten Klagen wären dann als Indiz dafür zu deuten, daß die Bevölkerung die Justizinstitutionen lediglich als ein zusätzliches Mittel der alltäglichen sozialen Kontrolle, wie z.B. der Ermahnung oder der (gewalttätigen) Selbsthilfe, nutzte. Die Besonderheit der Klagen bei einem Strafgericht bestünde nur darin, daß dabei justizielle, rechtsförmige Vorgehensweisen, die zu einer strafrechtlichen Sanktion des abweichenden Verhaltens führen können, in den Vordergrund rückten. 6 Die Wahl dieser Verfahrensweise unterläge aber in hohem Maße der Logik sozialer Konflikte, in denen es für die Konfliktbeteiligten belanglos war oder werden konnte, ob das Verfahren zu einem justizförmigen Abschluß kam. Bei einer solchen Bewertung der Klageintentionen rücken die »justizpolitischen« und justizimmanenten Determinanten für die Betrachtung der Gerichte in den Hintergrund. Demgegenüber wird die Nachfrage nach Justiz, also die artikulierten Bedürfnisse und die Interessenlagen der Bevölkerung, bevorzugter Forschungsgegenstand. 7 Zunächst wäre die Frage nach der Rolle der Gerichtsbarkeit in Staatsbildungsprozessen, die bisher vorwiegend unter institutionellen 3 Dazu das Themenheft von IAHCCJ Bulletin 17 (1992/ 93) mit dem Titel »Processus de criminalisation et de décriminalisation/ Processes of Criminalization and Decrminalization«. Geschlechtsspezifische Wellen bei Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität« in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln 1995, 39 - 61, 48f. 4 Zur angestrebten Schaffung einer Öffentlichkeit für das eigene Anliegen zuletzt Barbara Krug-Richter: Konfliktregulierung zwischen dörflicher Sozialkontrolle und patrimonialer Gerichtsbarkeit. Das Rügegericht in der Westfälischen Gerichtsherrschaft Canstein 1718/ 1719, in: Historische Anthropologie 5 (1997), 212 - 228, 225ff.; dazu bereits Martin Dinges: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Geld, Ehre und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, 177; s.a. Elisabeth Claverie/ Pierre Lamaison: L’impossible mariage, Paris 1982. 5 Zu den Dorfgerichten und ihrem Funktionswandel in der Frühen Neuzeit vgl. Heide Wunder: Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986, 93f.; Ulrike Gleixner: Das Gesamtgericht der Herrschaft Schulenburg im 18. Jahrhundert. Funktionsweise und Zugang von Frauen und Männern, in: Jan Peters (Hg.): Gutsherrschaft als soziales Modell, München 1995, 3 0 1 -326. 6 Definitionen und die Definitionsmöglichkeit von Recht und Strafrecht sind umstritten; vgl. dazu Rüdiger Schott: Rechtsethnologie, in: Hans Fischer (Hg.): Ethnologie. Einführung und Überblick, Berlin 1992, 185 - 211, 198ff. Entscheidend ist nach Simon Roberts: Order and Dispute - An Introduction to Legal Anthropology, Harmondsworth 1979, mit welchen - auch rechtlichen - Mitteln man auf Konflikte reagiert und wie dadurch Ordnung erhalten wird. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 505 und Herrschaftsbildungsgesichtspunkten sowie hinsichtlich der Rechtsrezeption und der Rolle der (Kanzlei-)Juristen behandelt wurde, dahingehend zu modifizieren, ob und inwieweit die Justiznachfrage von unten ein wesentlicher Faktor für diese Entwicklung war. Als »Justiznutzung« bezeichne ich den Umgang der Zeitgenossen mit den Gerichten. Mit dem Konzept der »Justiznutzung« ist sowohl die Inanspruchnahme von Justiz als auch deren Form gemeint. Die Gerichte werden im Sinn dieses Zugriffs lediglich als ein obrigkeitliches institutionelles Angebot betrachtet, dessen Inhalt nur zum Teil durch die Gerichtsherren determiniert wurde. Die Rolle der Gerichte wurde nämlich von der Bevölkerung, die sich diese Institutionen durch Nutzung aneignete, durchaus mitdefiniert. 8 Erst beide Vorgänge, Angebot und Annahme, bestimmen gemeinsam den Charakter der Institution Gericht. Solche Aneignungsprozesse können im Laufe der Zeit den Charakter der Institution ebenso verändern wie deren eigener, bisher stärker beachteter Wandel, der sich z.B. in Verfahrens- oder Gerichtsverfassungsreformen zeigen kann. 9 Auf jeden Fall sind Justiznutzungen aussagekräftig zur Charakterisierung der Funktion von Strafgerichten für frühneuzeitliche Bevölkerungen aus deren eigener Sicht. Diese Problemstellung eröffnet eine Reihe systematischer und empirischer Perspektiven. Das betrifft zunächst die bisher in der Forschung weit verbreitete Annahme, daß der obrigkeitliche Anbieter von Justiz auch die Nachfrage konditioniert, was am Beispiel von Spanien im Goldenen Zeitalter erläutert werden kann. Dort stieg zunächst die Anzahl der Prozesse vor königlichen Gerichten im 15. und 16. Jahrhundert erheblich an. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bauten die Städte, die nunmehr die Gerichtsbarkeit auch als politische Einflußchance entdeckt hatten, das Netz ihrer Gerichte aus. 10 Trotzdem führte die Gesamtentwicklung zu einer Überlastung der Gerichte mit Fällen. Kagan erklärt diese Zunahme der Klagen neben der Angebotsausweitung mit dem gestiegenen sozioökonomischen Druck in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft mit expandierender Geldwirtschaft und gleichzeitig rapide zunehmender Verarmung. 11 Nach 1620 hätten steigende, geradezu abschreckende Gerichtsgebühren und die Zunahme professioneller Beratung bei Gericht den Zugang zu den königlichen Obergerichten erschwert. Dadurch sei dort die Rechtskultur bis zum Jahr 1700 sozial 7 Vgl. dazu auch Wolfgang Schmale: Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein französisch-deutsches Paradigma, München 1997, 112 »Rechtsbedarf«, 184ff, 239ff. 8 Das methodische Modell ist auch hier die Nutzung von Büchern; inspiriert wurde auch Roger Chartier: Volkskultur und Gelehrtenkultur. Überprüfung einer Zweiteilung und einer Periodisierung, in: Hans-Ulrich Gumbrecht/ Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt 1985, 376 - 388; von der älteren empirischen Studie zum Medienkonsum in englischen Unterschichthaushalten von Richard Hoggart: The Uses of literacy, 15. Auflage, Harmondsworth 1981; vgl. zuletzt zur »appropriation« Willem Frijhoff: Foucault Reformed by Certeau. Historical Stretegies of Discipline and Everyday Tactics of Appropriation, in: Arcadia. Zeitschrift für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 33 (1998), 92 - 108. Selbst für Strafen gilt, daß die Rezeption bei den angezielten Publika wesentlich für ihre soziale Wirkung ist; vgl. mit ausführlicher Darlegung der Rezeptionsweisen David Garland: Punishment and Modern Society. A Study in Social Theory, Oxford 1990, 260ff. 9 Wie sich die Strafgesetzauslegung auch schleichend auf dem Wege zur Kodifizierung ändern kann, hat Michel Porret: Circonstances, Genf 1995 meisterhaft gezeigt. 10 Richard L. Kagan: Lawsuits and Litigants in Castile. 1500 - 1700, Chapel Hill 1981, 223, 227. 11 Richard L. Kagan: A Golden Age of Litigation: Castille 1500 - 1700, in: Bossy: Disputes (wie Anm. 1), 145 - 166, bes. 160ff. Martin Dinges 506 exklusiver und professioneller geworden, während in den Städten das Angebot teilweise konkurrierender Niedergerichte, die ihre Kompetenzen seit 1590 entschieden ausweiten konnten, stieg. Außerdem nahm die Anzahl außergerichtlicher Vergleiche zu. Kagan beschreibt also einen relativ langen Entwicklungszeitraum der kastilischen Justiz, in dem nach einer Phase verstärkter Justiznutzung und institutionellen Ausbaus durch eine gezielte Erhöhung der Zugangsschwellen die Distanz zwischen Bevölkerung und königlicher Justiz erhöht wurde. 12 Treibender Faktor waren die politischen Interessen der Monarchie und später der Städte. Das Verhalten der Kläger wird demgegenüber als abhängige Variable gedacht. Dementsprechend bleibt auch offen, ob die Prozesse durch eine Klage, eine Denunziation oder als Offizialverfahren eingeleitet wurden und wie sich die Anteile dieser Verfahren verändert haben. Auch in der zweiten hier zu beachtenden Konzeptualisierung, dem hoch interessanten Vergleich zwischen der frühneuzeitlichen sächsischen und der burgundischen Rechtskultur von Schmale sind ähnliche Blickverengungen zu konstatieren. 13 Zwar ist sein Ausgangspunkt der Rechtsbedarf der Bevölkerung, also die Nachfrageseite, aber der Maßstab für Bewertungen ist eine modernisierungstheoretisch inspirierte Vorstellung von historischem Fortschritt, die diesen in Schritten funktionaler Ausdifferenzierung zur modernen Gewaltenteilung zwischen Justiz und Exekutive sieht. So können die häufigeren Auseinandersetzungen um das Gerichtswesen in Sachsen im Vergleich zu Burgund nur als »Systemdefizite« thematisiert werden. Daß sie der Bevölkerung erlaubten, mit häufigeren Prozessen gegen die Funktionsweise der Gerichte auch über deren Verfassung mitzuverhandeln und in diesen Auseinandersetzungen Zeit gegen herrschaftliche Zumutungen zu gewinnen, kommt gar nicht in den Blick. Es ist aber wohl sehr fraglich, ob es den Zeitgenossen um eine »Professionalisierung« der Justiz um der Modernität willen ging oder ob ihnen nicht eine Gerichtsverfassung im Sinn der eigenen Rechtsinteressen vorschwebte. Dazu erweckt auch das von Schmale vorgelegte Material keineswegs den Eindruck, daß die weniger professionellen (bäuerlich mitbestimmten) oder die »unzureichend ausdifferenzierten« herrschaftlichen Gerichte unbeliebter gewesen wären. Deshalb bleibt für die Durchsetzung der Rechtsinteressen der Bevölkerung zumindest offen, ob die Perspektive der rechtlichen Akkulturation der Bevölkerung und des »Professionalisierungsprozesses« der Justiz überhaupt eine hinreichende Konzeptualisierung für den Rechtsbedarf und die Entwicklung der Gerichtsbarkeit sein kann. Mag der Ausgangspunkt »Rechtsbedarf« weiterführend sein, die Justiznutzungen der Bevölkerung nimmt er letzlich nicht ernst. Drittens wurden bereits für eine Reihe von Problemen kollektive Nutzungen der Justiz rekonstruiert, indem man Häufungen von Klagen mit den spezifischen Interessen der jeweiligen Gruppen in Verbindung brachte: So scheint es einen gewissen Konsens zwischen Basler Bürgern im 16. Jahrhundert sowie wohlhabenden württembergischen und hohenlohischen Bauern im 18. Jahrhundert mit ihren Obrigkeiten gegeben zu haben, traditionelle Eheanbahnungsriten der Jugend - z. B. in Spinnstuben auf dem Land - strenger zu kontrollieren und den väterlichen Ehekonsens durchzusetzen, statt sich von den jungen Leuten durch Eheversprechen, fingierten Brautraub oder mit ähnlichen Mitteln unter Entscheidungsdruck setzen zu lassen. 14 Dieser Konsens, der aus der Nut- 12 Vgl. zur Institutionengeschichte Jose Luis de las Heras Santos: La justicia penal de los Austrias en la Corona de Castilla, Salamanca 1991. 13 Schmale: Archäologie (wie Anm. 7), 189f. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 507 zung der Ehegerichte geschlossen wurde, soll aber nur dann zustande gekommen sein, wenn sozioökonomische Probleme die strengere Regelung der Heiratsanbahnung und die Kontrolle über entsprechend legitimierten Nachwuchs für die betroffenen wohlhabenderen Personengruppen attraktiv machten. 15 Und selbst davon kann keineswegs selbstverständlich ausgegangen werden, denn viele württembergische Schultheißen zeigten sich in den ökonomisch krisenhaften Jahren zwischen 1580 und 1620 sehr zurückhaltend, die Spinnstuben zurückzudrängen. 16 Der beschriebene Konsens blieb außerdem auf die Ehegerichte mit ihrer weniger strengen Sanktionspraxis beschränkt. Auch das Ziel der wohlhabenderen englischen Bauern, mit Hilfe der örtlichen Gerichte die Armenquote gering zu halten, führte zwar durchaus zu entsprechenden Klagen gegen Untervermietung an unerwünschte ortsfremde Wanderarbeiter über die Erntezeit hinaus oder zu Verboten von Armenheiraten. 17 Diese Instrumentalisierung der Justiz für die Erhaltung des Nahrungsspielraums der eigenen Gemeinde und zur Senkung der Abgabenlast für die Besserverdienenden ging aber bald wieder zurück, als sich die Agrarkonjunktur erholt hatte. 18 Eine solche Konditionierung der Durchsetzungschancen der Obrigkeit durch die Interessen der Kläger sowie ihrer Sicht der Verhältnismäßigkeit der Mittel wurde noch deutlicher für allgemeinere Moralisierungskampagnen herausgearbeitet. Alles hängt dann davon ab, ob sich aktivierte Minderheiten - meist aus den oberen Mittelschichten der Städte oder unter den reicheren Bauern - finden, um den Moralisierungskampagnen zusammen mit besonders aktiven Richtern einen gewissen Schwung zu geben, der allerdings meist nur einige Jahre anhält. 19 Als Deutung für diese Art des Einsatzes der Justiz für die Zwecke bestimmter Gruppen hat Frank im Anschluß an englische Untersuchungen vorgeschlagen, das Konzept »gesellschaftlicher Ordnung« in den Mittelpunkt der Überlegungen zu rücken. 20 Er geht davon aus, daß die jeweiligen Obrigkeiten und die Interessenten Ordnungsvorstellungen hatten, die sich teilweise überschnitten und ergänzten, teilweise aber auch widersprachen. Die Justiz wurde in den Bereichen von den Klägern genutzt, wo sie ihren Interessen entsprach. Dementsprechend funktionierte die soziale Ordnung dort gut, wo sie auf weitgehendem Konsens über ihre Inhalte zwischen möglichst vielen Betroffenen beruhte, denn dort setzten sich viele Beteiligte für sie ein. 21 Dieser funktiona- 14 Dazu zuletzt Frank Konersmann: Kirchenregiment und Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Kleinstaat. Studien zu den herrschaftlichen Grundlagen des Kirchenregiments der Herzöge von Pfalz-Zweibrükken 1410 - 1793, Köln 1996, 312ff., 317 mit Verweis auf die Untersuchungen von Safley, Burghartz, Robisheaux; s.a. Heinrich R. Schmidt: Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1995, 174ff., mit Hinweis auf die Untersuchungen von Becker, Simon, Maisch und Breit. 15 Martin Ingram: Church Courts. Sex and Marriage in England, 1570 - 1640, Cambridge 1987, 166f. 16 Bruce Tolley: Pastors and Parishioners in Württemberg During the Late Reformation 1581 - 1621, Stanford 1995, 107. 17 Keith Wrightson: English Society 1580 - 1680, 6. Auflage, London 1993, 166f. 18 Keith Wrightson/ David Levine: Poverty and Piety in an English Village, Terling 1525-1700, New York 1979, 182; S.a. Keith Wrightson: Two Concepts of Order: Justices, Constables, and Jurymen in Seventeenth Century England, in: John Brewer/ J. Styles (Hg.): An Ungouvernable People, London 1980, 21-46, 45. 19 Siehe dazu unten Absatz 4. 20 Michael Frank: Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650-1800, Paderborn 1995, 356, mit Verweis auf Wrightson/ Levine, Poverty (wie Anm. 18), 176f. 21 Vgl. dazu die aktuelle Debatte um die Beteiligung der Bevölkerung bzw. bestimmter lokaler Interessenten an der Herstellung von »Sicherheit« in den Städten. Zur historischen Perspektivierung vgl. Martin Dinges/ Fritz Sack (Hg.): Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz, 2000. Martin Dinges 508 listischen Erklärung für Justiznutzungen ist insoweit zuzustimmen, als sie ausgehend von einem »Konzept zweier Ordnungen« die Justiznutzung aus den sozialökonomischen bzw. konfessionellen Interessen bestimmter - meist der einflußreichen - Gruppen erklärt. Dieses Modell impliziert, daß Obrigkeiten dann geringe Chancen haben, mit Hilfe der Justiz ihre Vorstellungen durchzusetzen, wenn keine Interessenübereinstimmung mit einflußreichen Bevölkerungsgruppen bestand bzw. andere Gruppen ihre Interessen erfolgreicher einbrachten. 22 Offen bleiben allerdings die gesellschaftlichen Wirkungen von Justiznutzungen, die nicht dem »Mainstream« einer jeweiligen Phase entsprechen. Auch reduziert der Blick auf die Funktionalität von Justiznutzungen für gesellschaftliche Ordnung den Umgang der Bevölkerung mit den Gerichten vorzeitig auf die soziale Ordnung insgesamt und ihre langfristige Entwicklung. Beides sind hoch aggregierte, relativ abstrakte Phänomene, bei deren bervorzugter Thematisierung die Gefahr besteht, andere soziale und individuelle Strategien zur Konfliktlösung außerhalb der Gerichte aus dem Blick zu verlieren. Damit würde der große Teil der Aktivitäten zur Herstellung von gesellschaftlicher Ordnung ausgeblendet, der sich ständig außerhalb der formellen Institutionen vollzieht. Die dargestellten Befunde, legen es nahe, die Justiz aus einem anderen Blickwinkel - nämlich dem ihrer Nutzer - genauer zu betrachten. Nicht nur auf seiten der Anbieter der Institutionen und in ihnen, sondern auch bei der Bevölkerung sind offenbar eine Fülle von Faktoren wirksam, die die Nutzung der Justiz beeinflussen. Sie sind historisch recht veränderlich, so daß man als Ausgangshypothese von einem dauerhaft variablen Verhältnis zwischen gerichtlicher und nicht gerichtlicher Konfliktlösung ausgehen muß. Dies dürfte insbesondere für die Frühe Neuzeit und frühere Epochen zutreffen, in denen ein in sich schlüssiges Justizsystem mit genau geregeltem Instanzenzug noch nicht existierte. 23 Die Bedeutung anderer, nicht justizförmiger Arten der Konfliktschlichtung müßte jedenfalls stärker als bisher bei der Analyse der Funktion der Justiz für die Herstellung sozialer Ordnung mitbedacht werden. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind also nicht die Justizinstitutionen, sondern die Alltagskonflikte, um so die Rolle der Justiz für die Alltagsbewältigung herauszuarbeiten. Dies könnte langfristig zu einer veränderten Bewertung der Rolle von Justizinstitutionen für den gesamten Bereich der sozialen Kontrolle führen. Zu dem hier zugrundegelegten Konzept der sozialen Kontrolle sei nur darauf verwiesen, daß dieses - schon von seiner Entstehungsgeschichte her - keineswegs die soziale Kontrolle von oben nach unten bevorzugt in den Blick nimmt. 24 Vielmehr beachtet es gleichwertig die horizontalen und die vertikalen Kontrollrichtungen: gegenseitige Selbstkontrollen der Kontrolleure und der Kontrollierten, sowie Kontrolle von unten nach oben und umgekehrt. 25 Insofern entspricht es einem sozialhistorisch sensibilisierten Geschichtsverständnis besser als das epochenmäßig eingeschränktere und deshalb für die Frühe Neuzeit scheinbar näherliegende Konzept der »Sozialdisziplinierung« (Oestreich), das aus systematischen und empirischen Gründen höchst problematisch ist. 26 22 So schon 1982 Keith Wrightson: English Society (wie Anm. 17), 156, 166 - 171. 23 Parallelen scheinen zur Entstehungsphase der USA zu bestehen. Vgl. dazu Allen Steinberg: Criminal Prosecution, Assault and the Decriminalization of Every Day Life in Nineteenth Century Philadelphia, in: IAHCCJ Bulletin 17 (1992/ 93), 66 - 80, 80. 24 Das arbeitet Fritz Sack: Strafrechtliche Kontrolle und Sozialdisziplinierung, in: Detlev Frehsee/ Gabi Löschper/ Karl F. Schumann (Hg.): Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung (Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 15), Opladen 1993, 16 - 45 schön heraus. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 509 Soziale Kontrolle wird hier in einem engeren Sinn verstanden als »alle Arten, in denen Personen abweichendes Verhalten definieren und darauf durch eine Maßnahme reagieren«. 27 Bewußte Definition und Sichtbarkeit der Maßnahme müssen beide gegeben sein. Der Bezug auf eine negative oder positive Sanktion vermeidet einen m. E. ausufernden Konzeptgebrauch, in dem jedes gesellschaftliche Normsystem bereits als soziale Kontrolle verstanden wird, ohne daß es überhaupt in sanktionierenden Handlungen aktiviert wird. 28 Der Hauptertrag des Konzeptes für die Überlegungen zur Justiznutzung ist ein Gesellschaftsverständnis, bei dem Gesellschaft stets als Prozeß gegenseitiger sozialer Kontrolle gedacht wird, in dem Normen miteinander konkurrieren. Da um diese ständig gestritten wird, reicht eine bevorzugte Untersuchung der Justiz oder nur der Strafjustiz nicht aus. Vielmehr ist immer die Vielfalt der Mittel sozialer Kontrolle und der Sanktionsmöglichkeiten zu beachten, um damit die institutionellen Angebote in das Kontinuum alltagsweltlicher (Über-)Lebensstrategien zu integrieren. 29 Die Umkehrbarkeit von Normbildungs- und Sanktionsprozessen ist damit impliziert. Selbstverständliche Voraussetzung des hier zugrundegelegten Gesellschaftsverständnisses ist die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Einflußchancen der Akteure sozialer Kontrolle, deren Wirkung jeweils empirisch nachvollziehbar zu machen ist. Von diesem Ansatzpunkt her dienen die folgenden Überlegungen dazu, den Stellenwert der Justiz als ein Mittel gegenseitiger, sozialer Kontrolle neben anderen herauszuarbeiten. Damit gehen sie über den Bereich des Konzepts der »two orders« hinaus. Inhaltlich können diese anderen Formen hier aber noch nicht vertieft werden. Eine genauere Betrachtung der Justiznutzungen dürfte auch Aufschlüsse für ein weiteres Phänomen erbringen, das vielfältig beobachtet, aber bisher nur unzureichend erklärt werden konnte, nämlich die Nutzungswellen der Justiz. Ein Beispiel kann das Phänomen illustrieren. Shoemaker untersuchte vergleichend städtisches und ländliches Klageverhalten in London und Middlesex zwischen ca. 1660 25 Die aktuellste Übersicht zur Diskussion um soziale Kontrolle bieten Sebastian Scheerer/ Henner Hess: Social Control: A Defence and Reformulation, in: Roberto Bergalli/ Colin Sumner (Hg.): Social Control and Political Order, London 1997, 96 - 130, die sich dort auch mit den Standardeinwänden auseinandersetzen; vgl. auch mit einem engeren Begriff Helge Peters: Devianz und soziale Kontrolle. Eine Einführung in die Soziologie abweichenden Verhaltens, Weinheim 1989 sowie die bei Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4) 174f. zusammengestellte Literatur. 26 Winfried Freitag: Historismus als moderne Sozialgeschichtsschreibung? Zu Gerhard Oestreichs »Fundamentalprozeß« der Sozialdisziplinierung, voraussichtlich in: ZHF XX (1999); zu den Geburtsfehlern des Konzeptes; zum letzten Stand der Diskussion vgl. Heiner R. Schmidt: Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), 639 - 682 und Martin Dinges: Normsetzung als Praxis? Oder: Warum werden die Normen der Sachkultur und zum Verhalten so häufig wiederholt und was bedeutet dies für den Prozeß der »Sozialdisziplinierung«? , in: Gerhard Jaritz (Hg.): Norm und Praxis im Alltag des Mittealters und der Frühen Neuzeit, Wien 1997, 39 - 53, bes. 40f.; vgl. dazu auch Peter Blickle: Gute Polizei oder Sozialdisziplinierung, in: Theo Stammen/ Heinrich Oberreuter/ Paul Mikat (Hg.): Politik - Bildung - Religion. Hans Maier zum 65. Geburtstag, Paderborn 1996, 97 - 107. 27 Zu dieser Definition und der Begründung diesesVerständnisses des Konzeptes vgl. Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 169ff., 174ff. 28 Ein solches sehr viel weitergehenderes Verständnis von sozialer Kontrolle als grundlegendes Konzept für die gesamte Analyse von Gesellschaften beinhaltet die Definition von Scheerer/ Hess: Control (wie Anm. 25), 103f. 29 Dazu sehr anschaulich Gerhard Hanak/ Johannes Stehr/ Heinz Steinert: Ärgernisse und Lebenskatastrophen. Über den alltäglichen Umgang mit Kriminalität, Bielefeld 1989. Martin Dinges 510 und 1725 in bezug auf Vergehen (»Misdemeanors«). 30 Shoemakers Ergebnisse sind besonders aufschlußreich, weil sie auf einem systematischen Stadt-Land-Vergleich beruhen und die Justiznutzung vorrangig für die Kleinkriminalität herausarbeiten, eine weitere wichtige empirische Perspektive im Zusammenhang mit der Frage nach den Justiznutzungen. Bisher einzigartig ist seine systematische Quantifizierung, die es ermöglicht, von Einschätzungen der Nutzungsstrukturen nun auch zu einer wesentlich genaueren Gewichtung voranzukommen. Das legt es auch nahe, seine Ergebnisse als heuristische Herausforderung aufzugreifen, obwohl sich die englischen Gerichtsverhältnisse von den kontinentalen durchaus unterschieden. Die Studie verläßt außerdem den früher bevorzugt untersuchten Bereich der schwereren Kriminalität, der relativ einfache Aussagen zum Zusammenhang von Strafjustiz und Staatsbildung eher begünstigt hat. Gleichzeitig verstellte die Focussierung auf diese Spitze des Eisbergs abweichenden Verhaltens den Blick auf die Gesamtheit der Mittel zur Herstellung sozialer Ordnung. In Shoemakers Untersuchungszeitraum sank die Zahl der Anklagen bei der Justiz im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße. Da die Verlagerung auf andere Institutionen auszuschließen ist, deutet Shoemaker dies als Ausdruck eines sinkenden Vertrauens der Bevölkerung in die Justizinstitutionen. 31 Demnach scheinen bei der Bevölkerung Phasen der Justizskepsis solche des Justizoptimismus abzulösen. Shoemaker zeigt also, daß Justiznutzungen sich auch in kürzeren Zeiträumen erheblich verändern konnten. 32 Ein aktuelles Beispiel legt nahe, auch die Vorstellung einer langfristigen völligen Angleichung der Justiznutzungen und -verhältnisse zu relativieren. 33 So zeigt sich im internationalen Vergleich zwischen den beiden sozioökonomisch und demographisch sehr ähnlichen Ländern Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden für die 1970er und 1980er Jahre, daß in dem deutschen Bundesland viel häufiger geklagt wird als im benachbarten Holland. 34 Dort besteht eine lange Tradition, Probleme zunächst in der jeweiligen kleinen sozialen Einheit (Nachbarschaft, Gemeinde, Kirchengemeinde) vorgerichtlich zu lösen, bevor man staatliche Institutionen bemüht. 35 Deshalb wird wohl niemand meinen, daß die öffentliche Ordnung in den Niederlanden weniger gut funk- 30 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 6; zum größeren Spielraum der Kläger in der englischen Strafjustiz vgl. Xavier Rousseaux: Initiative particulière et poursuite d’office. L’action pénale en Europe (XIIe -XVIIIe siècles), in: IAHCCJ Bulletin 18 (1993), 58 - 92. 31 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 317f. 32 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 62ff. 33 So für die Frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert auch allgemeiner René Levy/ Xavier Rousseaux: Etats, justice pénale et histoire: bilans et perspectives, in: Droits et société, 2 0 -21, 1992, 2 4 9 -279; heutige international vergleichende Befunde bei Christian Wollschläger: Die Arbeit der europäischen Zivilgerichte im historischen und internationalen Vergleich. Zeitreihen der europäischen Zivilprozeßstatistik seit dem 19. Jahrhundert, in: Erhard Blankenburg (Hg.): Prozeßflut? Indikatorenvergleich von Rechtskulturen auf dem europäischen Kontinent, Köln 1988, 21 - 114. 34 Erhard Blankenburg/ Jan R.A. Verwoerd: Prozeßhäufigkeiten in den Niederlanden und Nordrhein-Westfalen 1970 - 1984, in: Blankenburg: Prozeßflut (wie Anm. 33), 257 - 333, 260, 270, 273, 328f. 35 Diese Tradition wird weiterhin durch vorgerichtliche Beratungsangebote gefördert, vgl. Blankenburg/ Verwoerd: Prozeßhäufigkeiten (wie Anm. 34), 322; zur sozial kontrollierenden Funktion von Nachbarschaften in den Niederlanden vgl. zuletzt Marc Jacobs: Sociaal kapitaal van buren. Rechten, plichten en conflicten in Gentse gebuurten (zeventiende - achttiende eeuw), in: Volkskundig Bulletin 22 (1996), 149 - 177 mit weiterer Literatur; Herman Roodenburg: »Freundschaft«, »Brüderlichkeit« und »Einigkeit«: Städtische Nachbarschaften im Westen der Republik, in: Ton Dekker/ P. Höher u.a. (Hg.): Ausbreitung bürgerlicher Kultur in den Niederlanden und Nordwestdeutschland, Münster 1991, 10 - 24, bes. 17f. ebenfalls mit weiterer Literatur. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 511 tioniere als in Nordrhein-Westfalen. Andererseits wird man auch nicht unmittelbar annehmen können, daß der soziale Konfliktstoff in diesem Bundesland doppelt so hoch wie in den Niederlanden sei oder daß seine Bürger alle geborene Querulanten wären. Wachstum der Justiz muß also keineswegs identisch mit einem analogen Wachstum öffentlicher Ordnung sein. 36 Im historischen Rückblick überzeugen demnach Bewertungen nicht mehr, die von einer engen Parallelität zwischen diesen beiden Phänomenen ausgehen, indem sie die Zurückdrängung von anderen Formen sozialer Kontrolle und Selbsthilfe o.ä. automatisch als Zugewinn an »Ordnung« ausgeben. Auswahlentscheidungen der Bevölkerung - und ihrer Organisationen - hinsichtlich der Formen ihrer Konfliktlösung beeinflussen vielmehr auch heutzutage erheblich die Rolle der Justiz in unterschiedlichen Kontexten sozialer Kontrolle. 37 Aus den genannten systematischen und empirischen Gründen lohnt es sich also, die Justiznutzungen gezielter zu untersuchen. Derzeit kann es nur darum gehen, anhand der bereits vorliegenden Forschung die Aspekte von Justiznutzungen zusammenzustellen, die dringend einer weiteren Erforschung bedürfen. Dabei wird aus der Perspektive der Nutzer zunächst gefragt, was gegen (2), dann was überhaupt für eine Nutzung der Justiz spricht (3), bei welchen Formen abweichenden Verhaltens (4) wer die Justiz aktiv nutzt (5); gegen wen die Justiz vorwiegend (6), wie (7) und mit welchen Wirkungen für die Nutzer (8) in Anspruch genommen wird. Abschließend sollen diese Motive und Bedingungsfaktoren der Justiznutzung in den größeren Zusammenhang einer Neubewertung der Institutionennutzung durch die Bevölkerung und ihres Einflusses auf die Bewahrung und Gestaltung der öffentlichen Ordnung gestellt werden. 2. Sich selbst helfen oder die Justiz nutzen? Grundsätzlich ist es keineswegs selbstverständlich, für soziale Kontrolle überhaupt Justizinstitutionen in Anspruch zu nehmen. Die meisten Menschen versuchen - auch noch in der Gegenwart - auf abweichendes Verhalten zunächst direkt zu reagieren. 38 Unterschiedliche Verhaltensweisen wie Ignorieren, Ausweichen, Ermahnen oder auch direktes Ansprechen stehen ihnen dabei offen. 39 Dritte, z. B. Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn als Schlichter einzuschalten, ist ein weiterer Weg, Probleme aus dem Weg zu schaffen. Schließlich gab es immer und gibt es weiterhin - von der Realinjurie bis zum Mord -, die Möglichkeit gewalttätiger Selbsthilfe, die selbst eine stark ritualisierte und damit regelhafte Form der Reaktion auf abweichendes Verhalten sein kann. 40 Dieses Mittel sozialer Kontrolle wird nicht selten bis zu einem gewissen Grad 36 Wollschläger: Arbeit (wie Anm. 33), 100. 37 Blankenburg/ Verwoerd: Prozeßhäufigkeiten (wie Anm. 34), 273 weisen darauf hin, daß heutzutage die Anzeigeneigung großer Organisationen wie etwa der Straßenverkehrsbetriebe wg. Schwarzfahrens oder der Supermärkte bei Ladendiebstahl eine erhebliche Wirkung auf die Kriminalstatistik haben. 38 Gerhard Hanak/ Arno Pilgram: Der andere Sicherheitsbericht, in: Kriminalsoziologische Bibliographie 18 (1991), 1 - 277, 237ff., 261ff. 39 Jim Sharpe: Enforcing the Law in the Seventeenth-Century English Village, in: Gatrell/ Lenman/ Parker: Crime (wie Anm. 1), 112 - 117 und ders.: Crime in Early Modern England 1500 - 1750, 2. Aufl., London 1986, 78 zur Vielfalt informeller Sanktionen. 40 Vgl. etwa zur Rache Raymond Verdier: Le système vindicatoire. Esquisse théorique, in: Ders. (Hg.): La vengeance. Vengeance et pouvoir dans quelques sociétés extra-occidentales, Paris 1980, 11 - 42, 24ff. sowie die Fallstudien in dieser Publikation. Martin Dinges 512 von den Zeitgenossen toleriert. 41 Bei Überschreiten des ortsüblichen und geschlechtsspezifischen Maßes der Gewaltakzeptanz konnten Vermittler und Schlichter aus dem Freundes- oder Verwandtenkreis mobilisiert werden. 42 Diese schaltete man auch bei anderen Formen abweichenden Verhaltens wie dem Hexereiverdacht ein. 43 Daneben spielen örtliche Notabeln oder auch die niedere Geistlichkeit eine bedeutende Rolle als Schlichter. 44 Schlichtungsergebnisse - durchaus auch strafrechtlich relevanter Sachverhalte - konnten in Ländern mit verbreitetem Notariat bei den Notaren schriftlich fixiert werden. 45 Die große Bedeutung dieser Institution für außergerichtliche Regelungen ist bisher nur ansatzweise erforscht. Ist die wichtige Rolle der Schlichtung schon aus der Alltagserfahrung plausibel, so erlaubt die Studie von Shoemaker nun auch, die Bedeutung informeller Schlichtungen bei englischen Friedensrichtern quantitativ genauer zu situieren. Auf diesem Niveau, bei dem immerhin bereits eine für solche Verfahren besonders qualifizierte Person eingeschaltet wurde, zogen die Kläger je nach Verfahrensart in einem bis zwei Drittel der Konfliktfälle informelle Schlichtungen ohne ein Urteil und ohne weitere schriftliche Formalisierung vor. Das galt zwar insbesondere für Streitigkeiten aus den Bereichen Frieden und Eigentum. Viele bevorzugten diese Lösung aber sogar bei »felonies«, also den Verbrechen, die nach dem geltenden schriftlichen Recht nur Gerichte formell abstrafen durften. 46 Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, daß es selbst die englischen Opfer von Straftaten um 1700 keineswegs für selbstverständlich oder zwingend hielten, eine Strafanzeige zu erstatten. Vielmehr setzten sie auf - zumeist außergerichtliche - Verfahren, die ihnen eine Entschädigung einbrachten. 47 Demnach hatten die meisten Kläger ein instrumentelles Verhältnis zur Justiz, bei dem nicht Strafansprüche, sondern materieller Interessenausgleich im Vordergrund stand. 48 Deshalb kann von der Nutzung der Justizinstitutionen nicht automatisch auf eine Zustimmung zu den obrigkeitlichen Strafansprüchen geschlossen werden. Wegen dieser Klägerpräferenzen wurden die weniger 41 Zur Gewaltakzeptanz vgl. Martin Dinges: Formenwandel der Gewalt in der Neuzeit. Zur Kritik der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, in: Peter Sieferle (Hg.): Gewalt im interkulturellen Vergleich, Frankfurt M. 1998 (im Druck). 42 Nicole Castan: Justice et repression en Languedoc à l’époque des Lumières, Paris 1980; Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 297ff.; Krug-Richter: Konfliktregulierung (wie Anm. 4), 220. Zur fundamentalen Rolle der Schlichtung in der städtischen Strafjustiz vgl. Xavier Rousseaux: Entre accomodement local et contrôle étatique: Pratiques judiciaires et non-judiciaires dans le règlement des conflits en Europe médievale et moderne, in: Benoît Garnot (Hg.): L’infrajudiciaire du Moyen Âge à l’époque contemporaine, Dijon 1996, 87 - 197, 99. 43 Vgl. z.B. Rainer Walz: Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, Paderborn 1993, 314ff. 44 Vgl. dazu die Fallbeispiele Jean Quéniart: Recteurs et regulation sociale en Bretagne au XVIIIe siécle, in: Garnot: Infrajudiciaire (wie Anm. 42), 231 - 239, 235 und Eric Wenzel: Le Clergé diocésain d’Ancien Régime au cœur de l’infrajustice: l’exemple de la Bourgogne aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Garnot: Infrajudiciaire (wie Anm. 42), 241 - 249, 248; Cathérine Clémens-Denys: Entre justice subalterne et infrajustice, les apaiseurs des Flandres des origines au XVIIIe siècle ou la conciliation au service de la cité, in: Garnot: Infrajudiciaire (wie Anm. 42), 257 - 271. 45 Vgl. dazu Alfred Soman: L’infra-justice à Paris, d’après les archives notariales, in: Histoire économie et société 1 (1982), 369 - 375; ders.: Deviance and Criminal Justice in Western Europe, 1300 - 1800. An Essay in Structure, in: Criminal Justice History 1(1980), 3 - 28, 13ff. und ders.: Justice et infrajustice en France (XVIe -XVIIe siècle), in: Garnot: Infrajudiciaire (wie Anm. 42), 77-85, 82. 46 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 55. 47 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 316. 48 Vgl. dazu die Befunde zur heutigen Justiznutzung von Erhard Blankenburg: Mobilisierung des Rechts. Eine Einführung in die Rechtssoziologie, Berlin 1995, 27. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 513 formellen Verfahren zur sozialen Kontrolle vorgezogen. Somit erklärt sich auch ansatzweise die hohe Zahl von nicht weiter verfolgten Klagen: Die Gerichte wurden häufig nur eingeschaltet, um die eigenen, grundsätzlich bevorzugten außergerichtlichen Lösungsmöglichkeiten zu verbessern. Die Justiznutzung sollte die Selbsthilfekapazität stärken. 49 Auch wenn die informelle Schlichtung selbst in den Metropolen blüht, wie Befunde aus Paris, Köln oder London zeigen, gelten diese allgemeineren Beobachtungen besonders für das Land. 50 Außergerichtliche Schlichtungen oder informelle Verfahren im Umfeld der Gerichte werden dort noch häufiger als in der Stadt bevorzugt. 51 Dies gilt nicht nur generell, sondern auch für jede einzelne Verfahrensart. So werden dort relativ mehr Schlichtungsverfahren durchgeführt, mehr Schuldanerkenntnisse zur Umgehung eines Prozesses akzeptiert, weniger Prozesse angestrengt und innerhalb der Prozesse mehr summarische statt förmliche Urteile getroffen. Vier Gründe führt Shoemaker für diesen Befund an: Auf dem Land waren mit den Adeligen oder Notabeln mehr allgemein anerkannte Schlichter vorhanden als in der Stadt. Auf dem Land war zweitens die Mobilität geringer, so daß man sich eher auf das Wort eines Antragsgegners verlassen konnte, während man in der Stadt befürchten mußte, daß er sich den negativen - finanziellen - Folgen etwa eines Schiedsspruchs durch Wegzug entzog. 52 Drittens scheint der Druck höherer Justizinstitutionen, Verbrechen unbedingt bei der zuständigen Instanz - und nicht durch Schlichtung - zu verhandeln, in den Städten größer gewesen zu sein, da dort die professionellen Richter und Anwälte, gestützt auf das geltende geschriebene Recht, aktiv um ihren Marktanteil kämpften. 53 Schließlich scheint geringere Wohlhabenheit bzw. größere Armut sowohl auf dem Land als auch in der Stadt die Präferenz für außergerichtliche Lösungen oder die billigeren, vereinfachten Verfahren zu verstärken. 54 49 Eine radikalere Position vertritt Castan: Languedoc (wie Anm. 42), 70, der meint, die Funktion des Gesetzes sei es nicht gewesen Strafen zu ermöglichen, sondern durch schlichte Präsenz und Angsteinflößung die Einigungsbereitschaft zu befördern. 50 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 90: 38% der Kriminalfälle eines städtischen Friedensrichters aus den Jahren 1730 - 41 werden informell geschlichtet; vgl. Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 196; Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991, 87. 51 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 43, 49; vgl. die von François Billacois/ Hugues Neveux: Porter plainte: stratégies villageoises et institutions judiciaires en Ile - de France (XVIIe -XVIIIe siècles), in: Droit et Cultures, 19 (1990), 7 - 142 herausgegebenen Schülerarbeiten. 52 Allerdings scheint mir der von Jeremy Boulton: Neighbourhood and Society. A London Suburb in the Seventeenth Century, Cambridge 1987, 217 vorgelegte Befund einer im südlichen London nicht wesentlich höheren Mobilität als auf dem Land doch bedenkenswerter als Shoemaker, der - gut modernisierungstheoretisch - davon ausgeht, daß Boulton wahrscheinlich lediglich einen städtischen Sonderfall gefunden habe; vgl. Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 92. 53 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 90f.; Rousseaux: Accomodement (wie Anm. 42), 99f. betont die entsprechende generelle Tendenz der Justiz - allerdings nur in Bezug auf Gewaltdelikte - im 17. und 18. Jahrhundert, verweist aber gleichzeitig auf institutionelle Spaltungen wie etwa in Frankreich zwischen königlichen Gerichten und städtischer Polizei. Man wird weitere Forschung abwarten müssen, um die tatsächliche Bedeutung der unbestreitbaren Großtendenz für die Lösung der Fülle alltäglicher Konflikte zutreffend einzuschätzen. Für Tendenzen zur Zurückdrängung außergerichtlicher Vergleiche in einigen Regionen innerhalb des Reiches auf dem Land vgl. André Holenstein: Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg, München 1996, 23. Martin Dinges 514 Gegen solche generellen Tendenzen führt in London allerdings die bestehende Nachfrage der ärmeren Schichten nach informellen Lösungen wegen der städtischen Unsicherheit über die Zuverlässigkeit des Antragsgegners zu einem »neuen« Verfahren: Bei den Friedensrichtern werden »Schuldanerkenntnisse«, die bei Wohlverhalten des Gegners - im Gegensatz zu dem üblichen Weg - nicht veröffentlicht wurden, gegen eine dementsprechend geringfügigere Gebühr beantragt. Mit dieser kostengünstigen Drohung, sich ggf. doch zu »formalisieren«, erhoffte man, das Gleiche wie mit dem teureren formellen Schuldanerkenntnis zu erreichen. Insgesamt beförderte diese Nachfrage der Ärmeren nach einer billigereren Justiz auch die Professionalisierung in diesem Bereich. 55 Mit den Kosten ist bereits das wichtigste Mittel der Justizpraxis benannt, Justiznutzungen abzuweisen. Unter den Wechselwirkungen zwischen der Gerichtstätigkeit und den außergerichtlichen Verfahren ist darüber hinaus die institutionelle Förderung von außergerichtlichen Formen der Konfliktlösung beachtenswert. Eine erste Begünstigung dieses Weges war, daß die Friedensrichter und die Richter selbst die Schlichtertätigkeit als prestigefördernder einschätzten als die Wahrnehmung ihrer Richterrolle in einem Verfahren, das mit einem Richterspruch endete. Offenbar wurde ausgehandelter »Friede« höher bewertet als ein Urteil, das nur auf der Grundlage hierarchischer Beziehungen zwischen den Verfahrensbeteiligten zustandekommen kann. Nicht nur die Antragsteller, sondern auch die Friedensrichter und die Richter in den englischen Niedergerichten haben die Schlichtung vorgezogen. Sie nutzten dabei die teilweise unklaren Kompetenzen, um in bestimmten, selbstgesteckten Grenzen sogar Verbrechen durch Schlichtung beizulegen. 56 Dieses könnte dahingehend interpretiert werden, daß (Nieder-)Gerichte wesentlich länger, als man dies bisher angenommen hat, die Konfliktregelung mit dem Ziel der Friedenswahrung statt der »Disziplinierung« oder »Zivilisierung« für ihre Hauptaufgabe hielten. 57 Jedenfalls förderten die englischen Friedensrichter und die Richter an Niedergerichten vielfach durch sanften Druck die Einigungsbereitschaft der Kontrahenten. 58 Als letztes, nunmehr verfahrens- 54 Zu den Kosten der verschiedenen Verfahren s. Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 117ff. danach das Folgende. Bereits ein erster Verfahrensschritt, einen Gegner mit einer Bürgschaftsleistung vor den Friedensrichter zu zitieren, kostete ein Achtel bis ein Sechstel des Wochenlohnes eines Londoner Tagelöhners, ein Schuldanerkenntnis dann schnell mehr als das Äquivalent eines ganzen Arbeitstages. Hier zeigt sich erneut die abschreckende Wirkung einer teuren Justiz, die über die Kostenschwelle eine Reihe von Problemen und Sozialgruppen tendenziell von sich fernhält. Detailliert zu den verschiedenen Kosten, die im Lauf eines Verfahrens entstehen können, und zur abschreckenden Wirkung für Opfer von Diebstählen sowie zur anschließenden Justizreform von 1752 mit Kostenübernahme für Arme im Fall der Verurteilung des Angeklagten, allerdings nur bei »felonies«, John M. Beattie: Crime and the Courts in England 1660 - 1800, Oxford 1986, 41ff. 55 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 93. 56 Dies ist eine interessante Parallele zur Rolle der reformierten Gemeindefürsorge, die auch auf Stärkung von Selbsthilfepotentialen setzte, vgl. dazu Martin Dinges: Self-Help and Reciprocity in Parish Assistance, in: Peregrine Horden, Richard Smith (Hg.): The Locus of Care: Communities, Caring and Institutions in History, London 1997, 111 - 125, 120. 57 Vgl. zu dieser Aufgabenbeschreibung und unter Bezugnahme auf das 14. Jahrhundert Susanna Burghartz: Disziplinierung oder Konfliktregelung? Zur Funktion städtischer Gerichte im Spätmittelalter: Das Züricher Ratsgericht, in: ZHF 16 (1989), 385 -407. 406; s. umfassender Rousseaux: Accomodement (wie Anm. 42), 95f.; vgl. auch Christiane Audran-Delhez: »A la force« S’efforcer d’approcher les archives criminelles des justices seigneuriales en Bretagne (1515-1630), Garnot: Petite (wie Anm. 1), 19- 36, 30. 58 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 83ff.; darauf wiesen schon Lenman/ Parker: State hin (wie Anm. 1) 21. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 515 rechtlich auch vorgesehenes Mittel, einen bereits eingeleiteten Prozeß nicht weiterzuführen, ist die Klageabweisung zu nennen, die ein Gericht aus unterschiedlichen Gründen aussprechen kann. So kann es sich z.B. für unzuständig erklären oder aber den Streitgegenstand als unerheblich oder unentscheidbar abweisen. In diesem Fall ist wieder die Schlichtungsbereitschaft der Kontrahenten gefragt. Im Ergebnis förderten also auch die Justizinstitutionen selbst bei vielen Problemen, die an sie als Fälle herangetragen wurden, andere Formen sozialer Kontrolle jenseits der gerichtlichen Konfliktlösung. Dieser Befund wirft prinzipieller als bisher die Frage auf, inwieweit die strafrechtliche Sanktionierung grundsätzlich oder lediglich bei grob abweichendem Verhalten ein vorrangiges Interesse der Justiz war. Dementsprechend wäre also genauer zu bestimmen, ob für die Strafjustiz in ihrer massenhaften alltäglichen Praxis als »Justizmaschine« wirklich die Normdurchsetzung im Vordergrund stand oder ob sie nicht - generell oder zumindest in bestimmten Phasen ihrer Entwicklung - in weit höherem Maße als bisher beachtet ihre Aufgabe darin sah, den Druck auf die Bevölkerung zu erhöhen, eigenständig die Fähigkeit zur erfolgreichen gegenseitigen sozialen Kontrolle wieder zu aktivieren. 59 Dann hätte sie sich selbst, ebenso wie die Bevölkerung sie einschätzte, als eine letzte, aber möglichst selten und wenig zu nutzende Instanz betrachtet. Dies dürfte auch ein Ansatz für die Erklärung des teilweise schwer zu deutenden Anzeigeverhaltens bei Rügegerichten 60 und in Bußstrafverfahren sein. 61 3. Welches Gericht nutzen? Beim Anrufen eines Gerichtes wird immer eine gewisse Schwelle überschritten, deren Hauptcharakteristikum es ist, soziale Kontrolle auf ein formelleres Niveau hinaufzustufen. 62 59 Forschungsstrategisch läßt sich das nur verwirklichen, wenn man in Lokalstudien die Tätigkeit sämtlicher Gerichte und Institutionen zumindest ansatzweise formalisierter öffentlicher sozialer Kontrolle parallel untersucht; vgl. dazu Heiner R. Schmidt/ Thomas Brodbeck: Davos zwischen Sünde und Verbrechen. Eine Langzeitstudie über die Tätigkeit der geistlichen und weltlichen Gerichtsbarkeit (1644 - 1800), in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft von Graubünden XX (1998), im Druck. Inwieweit es Reflexionen in der juristischen Literatur darüber gibt, ob und wie man die ganze oder Teile der Bevölkerung auf ihre eigenen Fähigkeiten zur Schlichtung verweisen soll, wäre eine eigene Untersuchung. Allerdings gibt es eine breite Literatur, die das häufige Prozessieren für sehr problematisch hält, was implizit in die gleiche Richtung weist; vgl. z.B. mit vielen Belegen Kagan: Lawsuits (wie Anm.10), 17 - 20. 60 Vgl. für den Hintergrund Werner Troßbach: Bauern 1648 - 1806, München 1993, 23ff. Vgl. dazu Krug-Richter: Konfliktregulierung (wie Anm. 4), 215ff. Wahrscheinlich wird erst eine systematische quantitative Forschung, die das Anzeigeverhalten mit Daten zum Personenstand kombiniert, zu weiterführenden Ergebnisse führen. 61 Vgl. dazu Markus Keller: Zur Durchsetzung von Policeynormen im kurkölnischen Bußstrafverfahren, in: Michael Stolleis/ Heinz Duchhardt (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1999. 62 Ich schreibe bewußt nicht formales Niveau, denn die Unterscheidung zwischen formeller und informeller sozialer Kontrolle ist meist weniger scharf, als es dieser binäre Begriff suggeriert; vgl. dazu Scheerer/ Hess: Control (wie Anm. 25), 113f. Formell kann es auch schon vorgekommen sein, einen Dritten als Schlichter einzuschalten. Martin Dinges 516 Dies gilt in besonderem Maße für die Strafjustiz. Denn Justizinstitutionen für eigene Zwecke zu nutzen, ist bei den heutzutage der Ziviljustiz zugerechneten Materien ein normales Verfahren. 63 Ohne hier die diffizile Vermischung zivil- und strafrechtlicher Materien bei frühneuzeitlichen Gerichten weiter zu verfolgen, soll im folgenden nur die »Strafjustiz« betrachtet werden. 64 Damit bezeichne ich - bewußt untechnisch - solche Justizinstitutionen, die zumindest auch eine Kompetenz zu Strafsanktionen hatten. In diesem Verständnis würden dazu neben den niederen und hohen Strafgerichten - entgegen der modernen juristischen Unterscheidung - auch die Institutionen gehören, die zumindest auch Verstöße gegen »Policeyordnungen« ahnden. Wegen der teilweise quasistrafrechtlichen Funktion der Ehegerichte und der Sittenzuchtinstitutionen in den landeskirchlich geprägten Territorien des Reiches, bleiben auch diese Institutionen im Horizont der folgenden Betrachtung, selbst wenn es systematische Gründe für eine Unterscheidung beider Sanktionsinstanzen geben mag, die bei einer stärker institutionen- und dogmengeschichtlichen Betrachtungsweise Vorrang b eanspruchen mögen. 65 Für die Frage der Justiznutzungen ist hier vorrangig, daß es Überschneidungen im Regelungs- und Sanktionsangebot gab, die die zeitgenössische Bevölkerung sehr wohl zu nutzen verstand. So bevorzugte sie etwa in Pfalz-Zweibrükken in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die örtlichen und herzöglichen Ehegerichte gegenüber den Amtsgerichten bei durchaus vergleichbaren Fällen. 66 63 Zivilkläger möchten Ansprüche durchsetzen, die sie im direkten Kontakt mit dem Geschäftspartner als Käufer, Mieter o.ä. nicht mehr erfolgreich verfolgen können. Zivilgerichte werden nur auf Anträge der Parteien hin aktiv, so daß sie nur auf Initiative von Klägern tätig werden. Da Zivil- und Handelsgerichte immer so funktionierten, ist die Frage nach den Nutzern für die soziale Kontrolle hier weniger aufschlußreich Das schließt natürlich nicht aus, daß auch dort wichtige Konflikte ausgetragen werden; vgl dazu Schmale: Archäologie (wie Anm. 7). 64 Dazu zuletzt mit Hinweis auf dieses z. B. für die Patrimonialgerichtsbarkeit bereits seit 1832 bekannte Problem Gleixner: Gesamtgericht (wie Anm. 5), 309. Ein städtisches Beispiel bietet Schwerhoff: Köln (wie Anm.50), 33; zur faktischen Vermischung der Aufgaben sowie der »Umfrisierung« von Fällen s.a. Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 129ff. oder Nicole Arnaud-Duc: La recherche des débiteurs de l’entretien des enfants abandonnés pendant l’Ancien Régime à Aix-en-Provence, ou comment détourner un texte répressif à des fins civiles, in: Garnot: Infrajudiciaire (wie Anm. 42), 165 - 174. 65 Hier ist auf Heinz Schilling: »History of Crime« or »History of Sin«? - Some Reflections on the Social History of Early Modern Church Discipline, in: E. I. Kouri/ Tom Scott (Hg.): Politics and Society in Reformation Europe, London 1987, 289 - 310 zu verweisen. Allerdings zeigt z.B. Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 14), 189ff., 193ff., 308, 346ff., 599, 604, daß die Abgrenzungen zwischen den Instanzen offenbar sogar für die Akteure in den Institutionen selbst - etwa im Bereich der Ehegerichtsbarkeit und bei Überschneidungen mit der Policey - nicht immer so klar waren, wie es für nachträgliche Systematisierungsversuche wünschenswert wäre. Auch Ulinka Rublack: Magd, Metz’ oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt 1998, 61 berichtet Eigenmächtigkeiten der Gemeinden und Kirchenkonvente, Fälle an sich zu ziehen, die institutionell eigentlich anderswo geregelt werden sollten. Vgl. dazu auch Schmidt/ Brodbeck: Davos (wie Anm. 59). Ähnliche Phänomene wurden auch für das katholische Andalusien beobachtet, vgl. James Casey: Household Disputes and the Law in Early Modern Andalusia, in: Bossy: Disputes (wie Anm. 1), 189 - 217, 214; parallele Nutzung von Kirchen- und öffentlichem Gericht auch 1564 in Florenz Daniela Lombardi: Intervention by Church and State in Marriage Disputes in Sixteenthand Seventeenth-Century Florence, in: Trevor Dean/ K.J.P. Lowe: Crime, Society and the Law in Renaissance Italy, Cambridge 1994, 142 - 156, 154f. 66 Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 14), 333f. Allerdings standen bei beiden Institutionen zivilgerichtliche Funktionen im Vordergrund; vgl. Schwerhoff: Köln (wie Anm. 50), 367 zu den historischen Wurzeln solcher Überschneidungen. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 517 Man wird deshalb nicht »sin« unter »crime« subsumieren 67 , aber die Überschneidungen beider Normsysteme und auch ihrer theoretisch-dogmatischen Grundlegung - ein christlich geprägtes Verständnis von crimen; die Bedeutung des Geständnisses als Form des Bekennens wegen der auch in der Strafgerichtsbarkeit geltenden Orientierung am Seelenheil des Täters; der Versuch, den Täter durch entsprechende seelsorgerische Betreuung wieder in die Community zu integrieren, die dem Ziel der Konsistorien entspricht; Versöhnungsperspektive auch der Niedergerichte - stärker beachten müssen, um die funktional äquivalente Rolle von Strafgerichtsbarkeit und Kirchenzucht für soziale Kontrolle angemessen zu würdigen. An solchen Beispielen erweisen sich spezifische Stärken eines Ansatzes, der die Praktiken der Zeitgenossen für das Verständnis historischer Prozesse ernst nimmt. Wahlmöglichkeiten der Bevölkerung zwischen verschiedenen sanktionsbewehrten Institutionen zur sozialen Kontrolle des gleichen abweichenden Verhaltens bestanden immer dann, wenn mehrere institutionelle Anbieter wegen unklarer Zuständigkeiten um die gleichen Fälle konkurrierten. Dies war zwischen Kirchengerichten und »Strafgerichten« oder verschiedenen zuständigen Instanzen, z.B. den dörflichen einerseits, und übergeordneten, eher herrschaftlichen, Gerichten andererseits der Fall. 68 Dabei scheint es eine Präferenz für die schneller erreichbare Institution - wie z. B. das häufiger tagende Dorfgericht gegenüber dem nur zweimal jährlich tagenden herrschaftlichen Gericht oder umgekehrt - gegeben zu haben. 69 Auch spricht das brandenburgische Beispiel in Verbindung mit den kastilischen Erfahrungen dafür, daß solche Gerichte, die nicht mit Juristen besetzt oder von ihnen geleitet waren, bevorzugt wurden. 70 Die von mir systematisch aus der Strafsanktion hergeleitete Sonderrolle der - untechnisch so bezeichneten - »Strafjustiz« war der zeitgenössischen Bevölkerung selbst durchaus bewußt. So stellt Garnot anhand eines Überblicks über die französische Forschung fest, daß die Bevölkerung andere Gerichte sehr bereitwillig nutzte. 71 Als ersten Grund dafür führt er an, daß Recht von Zivilgerichten leichter zugänglich war, denn die - für den Gerichtsherrn einträglicheren - Zivilgerichte waren verbreiteter und dementsprechend - insbesondere auf dem Land - nicht so schwer erreichbar wie das dünnmaschigere Netz der Strafgerichte. Weiterhin hütete sich die Bevölkerung in Frankreich vor der Gefährlichkeit der Strafgerichte, denn sie fürchtete deren in Einzelfällen unkalkulierbare Brutalität. Generell war es wenig ratsam, sich in die schwer zu berechnende Maschinerie der Strafjustiz zu begeben, die nach eigenen Regeln funktionierte und den Klägern das Heft aus der Hand nehmen konnte. 72 Besonders abschreckend wirkte natürlich das Risiko der exemplarischen Strafen. 73 67 Das ist wohl Schillings Befürchtung um die Eigenständigkeit seines Forschungsgegenstandes in Schilling: History (wie Anm. 65), 306. 68 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 40f. Neben den oben genannten Beispielen sei hier auf die oft langfristig - in Brandenburg etwa bis in das 18. Jahrhundert - bestehende Konkurrenz zwischen Dorfgerichten und Patrimonialgerichten verwiesen, bei der das nahe Dorfgericht häufiger als das selten tagende Patrimonialgericht genutzt wurde; vgl. Gleixner: Gesamtgericht (wie Anm. 5), 309f. 69 Krug-Richter: Konfliktregulierung (wie Anm. 4), 219. 70 Kagan: Golden (wie Anm. 11), 162f. 71 Benoît Garnot: L’ampleur et les limites de l’infrajudiciaire dans la France d’Ancien Régime (XVIe -XVIIe -XVIIIe siècle), in: Ders.: Infrajudiciaire (wie Anm. 42), 70. Martin Dinges 518 Die Bevölkerung hatte durchaus ein Bewußtsein dieser schwer berechenbaren Folgen der Nutzung von Strafgerichten und versuchte offenbar, den möglichen Schaden für sich selbst und die Beklagten zu begrenzen. 74 Das läßt sich aus der Bevorzugung von solchen Instanzen schließen, die Angeklagte nicht in geschlossene Institutionen verbrachten, sondern weniger streng bestraften oder eine Bestrafung ganz umgingen. 75 Diese für England um 1700 quantitativ belegbare Präferenz zeigt, daß die Bevölkerung sehr genau die Institutionen auswählte, die ihren pragmatischen Zielen und Legitimitätsvorstellungen entsprachen. Bei bestehender Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Institutionen oder Verfahren ließ sie sich weniger auf solche obrigkeitlichen Angebote ein, die ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit krass widersprachen, sondern behielt die spätere Wiederherstellung des Friedens erkennbar im Hinterkopf, indem sie die Verhängung zu strenger Sanktionen von vornherein durch die Auswahl milderer Verfahren oder Gerichte umging. 76 Südwestfranzösische Beispiele zeigen, daß dort eine gewisse Bereitschaft, die Strafgerichte und die Lettres de Cachet für die Regelung von Eheanbahnungs- und Sittlichkeitskonflikten in Anspruch zu nehmen, sogar gerade in der Zeit starken Bevölkerungswachstums während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sinkt. 77 Schärfere Sanktionsandrohungen der Strafjustiz hätten zu einer Zunahme eigenständiger außergerichtlicher und vorgerichtlicher Regelungen geführt. 78 Insofern scheint zu gelten, daß selbst die weitgehende Übereinstimmung der Ordnungsvorstellungen von - meist wohlhabenderen - Bevölkerungsgruppen und Obrigkeiten über die Sicherung erwünschter Partnerschaften und legitimer Erbfolge unter dem Vorbehalt steht, daß nur von der Bevölkerung als verhältnismäßig empfundene Mittel von den eingeschalteten gerichtlichen Institutionen eingesetzt werden dürfen. Anders als in der Ziviljustiz besteht in der Strafjustiz ein starkes Machtgefälle. Das gilt besonders gegenüber den Angeklagten, die wenig Rechte hatten, aber auch gegenüber den Klägern. Deshalb ist Garnots Überlegung plausibel, daß gerade für den Bereich der strafrechtlich regelbaren Probleme grundsätzlich eine höhere Neigung der Bevölkerung anzunehmen ist, die Konflikte selbständig zu lösen. 79 Dementsprechend 72 Zu unerwarteten Prozeßfolgen vgl. Rebecca Habermas: Frauen und Männer im Kampf um Leib, Ökonomie und Recht. Zur Beziehung der Geschlechter Im Frankfurt der Frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hg.): Dynamik der Tradition, Frankfurt/ M. 1992, 109-136,128ff. Zur Distanz der Bevölkerung gegenüber der Justiz bietet anschauliches Material Winfried Helm: Obrigkeit und Volk. Herrschaft im frühneuzeitlichen Alltag Niederbayerns, untersucht anhand archivalischer Quellen, Passau 1993, 164, 170ff. 73 Auch wenn zum exemplarischen Strafen die von Schwerhoff: Köln (wie Anm. 50), 443 herausgearbeitete Dialektik frühneuzeitlicher Justiz gehört, zwischen massiver Strafandrohnung und lediglich exmplarischer Strafe zu schwanken. Garnot akzentuiert stärker die Betonung des Abschreckungscharakters. 74 Die Ausgangslage für die Justiznutzer im Bereich der Strafgerichte läßt sich insofern als Spezialfall für die allgemeinere Regel deuten, nach der die Ergebnisse eines Aushandelnsprozesses dann besonders leicht zugunsten des Stärkeren vorhersagbar sind, wenn das Machtgefälle zwischen den Parteien sehr groß ist - Systematisch dazu: Hans-Günther Heiland/ Christian Lüdemann: Machtdifferentiale in Figurationen einfacher und höherer Komplexität. Eine Anwendung der Machttheorie von Norbert Elias auf Aushandlungen im Strafverfahren, in: KZSS 44 (1992), 35 - 54, 37f., 40. 75 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 317, das gilt insbesondere für Frauen, ebd. 210, die ihre Ziele besser auf anderen Wegen zu errreichen hofften. 76 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 192f. 77 Nicole Castan: Autorité familiale et criminalisation d’ordre public en France (XVIIe -XVIIIe siècles), in: IAHCCJ Bulletin 17 (1992/ 3), 56 - 65, 64. 78 So auch Yves Castan: Criminalisation et ménagement des règlement brutaux des conflits, in: IAHCCJ Bulletin 17 (1992/ 3), 46 - 55, 54 selbst mit Bezug auf die schwere Gewaltkriminalität. 79 Garnot: Ampleur (wie Anm. 71), 70. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 519 kann davon ausgegangen werden, daß die Untersuchung von Justiznutzungen im Bereich der Strafjustiz für die Analyse des generellen Funktionierens sozialer Kontrolle besonders aufschlußreich ist, denn gerade hier begünstigen die teilweise eher abschrekkenden Justizpraktiken stärker als in anderen Justizsparten die nicht gerichtlichen Formen sozialer Kontrolle. 80 Allerdings sollte man die »Friedfertigkeit« oder Konsensorientierung früherer Gesellschaften auch nicht überzeichnen. Es läßt sich nämlich hier und da auch das bewußte Einschalten der Strafjustiz für eigentlich »zivilrechtliche« Zwecke beobachten: So waren manchmal Personen durch die bevorstehende Exekution eines ungünstigen Urteils der Ziviljustiz in die Enge getrieben. Sie nahmen dann offenbar das Risiko einer weitgehend unvorhersehbaren und strengen Entscheidung, die sich im Fall einer ungerechtfertigten Anklage oder durch eine Gegenklage auch gegen sie selbst richten konnte, auf sich. Solche Zwangslagen scheinen m. E. diejenigen Strafklagen motiviert zu haben, die offenbar nur angestrengt wurden, um Vollstreckungen zu verhindern. 81 Solche Fälle werden z.B. für Kastilien im 16. Jahrhundert berichtet. 82 Es muß hier offen bleiben, wie verbreitet und erfolgreich diese Praxis war. Die räumliche Erreichbarkeit des institutionellen Angebotes erweist sich durchaus als wichtige Variable für Justiznutzungen. Hinsichtlich der Strafjustiz bleibt das deutlich geringere Angebot auf dem Land, das selbst regional wiederum sehr unterschiedlich ausgeprägt war, ein wichtiger Unterschied zu städtischen Verhältnissen 83 Die Untersuchung des regional zu sehr verschiedenen Zeitpunkten erfolgten Auf- und Ausbaus der Gerichtsinstitutionen sowie deren Vereinheitlichung erweist sich insofern auch jenseits der Modernisierungstheorien und der angenommenen Bedeutung der Genese von Strafgerichten für die Staatsbildung durchaus als wichtig. 84 Dabei zeigen sich nämlich die erheblichen regionalen Unterschiede sowohl innerhalb des Heiligen Römischen Reichs - man vergleiche nur Brandenburg, Pfalz-Zweibrücken, Hohenlohe, Augsburg und Köln - oder innerhalb »Spaniens« wie auch insbesondere im überregionalen Vergleich, etwa zwischen diesen Ländern und Rußland. 85 Die Vereinheitlichung der »Strafjustiz« nimmt zwar in der Frühen Neuzeit schub- und phasenweise zu, aber die Pluralität der Rechtssphären bleibt bestehen. 80 Dabei geht es um mehr als die bisher beachteten deliktspezifischen Dunkelfelder. Insgesamt verbirgt sich - bildlich gesprochen - hinter dem in den Akten der Strafjustiz greifbaren Problemen mehr gesellschaftlich selbst regulierter Konfliktstoff als hinter den Akten der Ziviljustiz. 81 Vgl dazu die Injurienklagen zur Abwehr von Hexenbeschuldigungen, zuletzt Gudrun Gersmann: »Gehe hin und verthedige dich! « Injurienklagen als Mittel der Abwehr von Hexereiverdächtigungen . Ein Fallbeispiel aus dem Fürstbistum Münster, in: Sibylle Backmann/ Hans-Jörg Künast u.a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin, 237 - 269. 82 Kagan: Golden (wie Anm. 11), 153. 83 Auch heute ist insgesamt auf dem Land die Neigung zu prozessieren geringer, vgl. Wollschläger: Arbeit (wie Anm. 33), 48 mit weiteren Belegen. 84 René Levy/ Xavier Rousseaux: Etat et justice pénale: un bilan historiographique et une relecture, in: IAHCCJ Bulletin 14 (1991), 106 - 131, 125. 85 Wolfgang Behringer: Mörder, Diebe, Ehebrecher. Verbrechen und Strafen in Kurbayern vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle, Frankfurt M. 1990, 85 - 132; Bernd Roeck: Eine Stadt in Krieg und Frieden, 2. Bände, Göttingen 1989, Bd. 1, 251ff., Bd. 2, 738ff.; Carl A. Hoffmann: Strukturen und Quellen des Augsburger reichsstädtischen Strafgerichtswesens in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 88 (1996), 57 - 108; Christoph Schmidt: Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft 1649 - 1785, Stuttgart 1996, 394, 397. Martin Dinges 520 Gerade wegen der ungleichzeitigen und lange Zeit fortbestehenden institutionellen »Unterversorgung« 86 lohnt es, sich neben dem dargestellten bekannteren Phänomen der Wahlmöglichkeit zwischen Gerichten nun der Wahlmöglichkeit zwischen Gerichten und anderen »Institutionen« nachzugehen, denn sie dürfte weitere Aufschlüsse über die Präferenzen der Bevölkerung erbringen. Dabei sollte durchaus beachtet werden, daß viele der nicht gerichtlichen Wege sozialer Kontrolle im Europa der Frühen Neuzeit bereits »im Schatten der Justiz« stattfinden, also aus der Sicht der justizanbietenden Obrigkeiten eigentlich nicht mehr existieren sollten. Insofern sind die Wechselbeziehungen zwischen Gerichtstätigkeit und außergerichtlichen Konfliktlösungen auch sachlich wichtig und nicht nur ein Ergebnis der Tatsache, daß viele der folgenden Aussagen auf der Auswertung von Justizquellen beruhen. 87 4. Die Bedeutung des Deliktes für die Justiznutzung Die bisherigen, noch recht allgemeinen Überlegungen zur Inanspruchnahme von Gerichten lassen sich exemplarisch anhand von Shoemakers Untersuchung über Südengland und London zwischen 1660 und 1725 präzisieren. Seine Befunde verweisen zunächst auf die für das Konzept der Justiznutzung wichtige Unterscheidung zwischen Deliktgruppen - in heutiger Terminologie - zwischen Verbrechen und den Vergehen. Bei den »felonies« war der Spielraum für die Nutzer des Justizsystems deshalb wesentlich geringer, weil hier das öffentliche Interesse an der Verfolgung - sofern es institutionell überhaupt lokal verankert war - stärker war. Demgegenüber kann bei den »misdemeanors« von einem größeren Spielraum für die Justizinstitutionen selbst ebenso wie für die Justizadressaten ausgegangen werden. Verallgemeinernd könnte man daraus schließen, daß sich der Handlungsspielraum der Bevölkerung proportional zur Schwere des Deliktes verringert, wobei die Bewertung in den Strafgesetzen als entscheidender Maßstab gelten könnte. Allerdings kommt es bei der Verfolgungsintensität entscheidend auf die Präsenz persönlich engagierter Richter an. Sie können die Verfolgungszahlen erheblich in die Höhe schnellen lassen. 88 Shoemaker kann nachweisen, daß die individuellen Orientierungen einzelner Richter die wichtigste Variable für die Klagezahl sind, denn sie filtern auch bei entschlossen organisierten Kampagnen - etwa von Sittenreformern - letztlich die Wirkung des Anzeigenaufkommens. Dementsprechend suchten sich anzeigewillige Gruppen oder Einzelne auch geneigte Richter, bei denen sie mit ihrem Anliegen durchdringen konnten. Daran wird die Bedeutung des »Laiensystems« sichtbar, in dem Informationen darüber weitergegeben werden, bei welchem Richter man Chancen mit einer bestimmten Anzeige hat. 89 Andererseits wird an Shoemakers Zahlen auch deutlich, daß frühere Hypothesen, die einen direkten Zusammenhang zwischen soziodemographischen oder ökonomischen Trends bzw. Konjunkturen und dem Anzeigeaufkommen 86 Die Parallele zur Medikalisierungsdebatte mit ihrer ursprünglichen Fixierung lediglich auf die ärztliche medizinsche Versorgung ist hier offensichtlich: Statt das Land wegen geringer Ärztedichte als »unterversorgt« zu betrachten, erhielt man ein realistischeres Bild der »Versorgung« erst, als man nach der Selbsthilfe und den anderen Anbietern fragte. Francisca Loetz: Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750 - 1850, 199ff. 87 Es ist also kein Quellenartefakt. 88 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 76f., 79; so schon Beattie: Crime (wie Anm. 54), 62f. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 521 oder der Verfolgungsintensität annahmen, nicht durchgängig Geltung beanspruchen können. Jedenfalls sind solch allgemeine Kovariationen in seinem Material statistisch weniger aussagekräftig als die individuellen und kollektiven kulturellen Orientierungen von Anzeigenden und Richtern. Den entscheidenden Einfluß auf das Zustandekommen des Strafverfahrens behält selbst in der Konstellation mit annahmebereiten Richtern das Anzeigeverhalten. 90 Dieses wird durch drei weitere Variablen, die im folgenden kurz dargestellt werden sollen, konditioniert: die Art der Delikte, die Person des Klägers und des Täters. Die Abgrenzung ist im einzelnen oft schwierig, da z. B. bei der Begehungsart delikt- und täterspezifische Aspekte zusammenfließen. Die Darstellung der verschiedenen Bereiche soll aber exemplarisch zeigen, daß und wie Justiznutzungen von diesen Variablen beeinflußt werden. Deliktspezifische Besonderheiten bei den Justiznutzungen lassen sich besonders gut am Beispiel der Gewalt erläutern. Selbst Mord - um ein Extrembeispiel zu nennen - ist eben nicht gleich Mord, je nach dem, ob er im 16. Jahrhundert in Rom, im 18. Jahrhundert im französischen Zentralmassiv oder gleichzeitig in Paris geschieht. 91 Ist schon im 16. Jahrhundert der südeuropäische Gewaltlevel etwa doppelt so hoch wie der nordalpine, so verstärkt sich anscheinend diese Differenz noch im 18. und 19. Jahrhundert durch gegenläufige Entwicklungen beider Teile des Kontinents. 92 Daneben lassen sich unterschiedliche Veränderungen der registrierten Gewaltbereitschaft zwischen Stadt und Land auch im nordalpinen Europa beobachten. 93 Dieser Wandel der kriminalstatistisch aufscheinenden Gewalttätigkeit verweist auch auf - im einzelnen zu diskutierende - Veränderungen der Gewaltwahrnehmung bei den Strafverfolgungsinstanzen und bei den Anzeigenden. 94 Vor dem Hintergrund dieser großräumigen, langfristigen und teilweise gegenläufigen Entwicklungen ist es wichtig, sich zu erinnern, daß es im französischen Zentralmassiv selbst im 19. Jahrhundert noch nicht selbstverständlich war, 89 Der Begriff »Laiensystem« entstammt der Medizinsoziologie und bezeichnet dort die nicht-professionellen Akteure, die das medikale Verhalten vorstrukturieren. Eine analoge Anwendung auf den Rechtsbereich, in dem auch vielerlei Informationen und Tips außerhalb professioneller Institutionen und Beratungsdienste zirkulieren, scheint mir sinnvoll. Bekanntlich instruierten auch einschlägige Anleitungen und Handbücher die Laien über rechtliche Möglichkeiten, vgl. dazu Kagan: Lawsuits (wie Anm. 10), 148. 90 So selbst - wie immer aus der Perspektive der Obrigkeit mit ihrem Interesse an »effizienter Strafverfolgung« - Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat, Köln 1997, 170ff. Hier ist auf die geringe quantitative Bedeutung der Offizialdelikte und darüber hinaus der tatsächlich ergangenen Offizialklagen hinzuweisen. Schwerhoff: Köln (wie Anm. 50), 88 kalkuliert z.B. die Anzahl reiner Akkusationsverfahren für Köln auf nur 11,4%; vgl. Xavier Rousseaux: Inititative particulière et poursuite d’office. L’action pénale en Europe (XIIe -XVIIIe siècles), in: IAHCCJ Bulletin 18 (1993) 58 - 92, der in diesem Zusammenhang auf die steigende Bedeutung der Umgehung von Gerichten hinweist, gerade weil deren Verfahren konplizierter wurden. 91 Dazu mit einem eher linearen Modell der Deliktdefinitionen Xavier Rousseaux: Ordre moral, justices et violence: L’homicide dans les sociétés européennes. XIIIe -XVIIIe siècle, in: Benoît Garnot (Hg.): Ordre moral et délinquance de l’Antiquité au XXe siècle, Dijon 1994, 65 - 82. 92 Peter Blastenbrei: Kriminalität in Rom 1560 - 1586, Tübingen 1995, 282ff.; über Osteuropa liegt zu wenig Literatur in westlichen Sprachen vor. Vgl. zur generellen Gewalttoleranz Garnot: Ampleur (wie Anm. 71), 75. 93 Yves Castan: Languedoc (wie Anm. 42); Pieter Spierenburg: Lange termijn trends in doodslag, in: Amsterdam Sociologisch Tijdschrift 20 (1991), 66 - 106; Ders.: Faces of Violence: Homicide Trends and Cultural Meanings: Amsterdam, 1431 - 1816, in: Journal of Social History 27 (1994), 710 - 716. 94 Vgl. dazu den Vorschlag von Spierenburg: Faces (wie Anm. 93) und die Diskussion bei Dinges: Formenwandel (wie Anm. 41). Martin Dinges 522 einen Mord anzuzeigen, sondern daß man dort nach wie vor Selbsthilfe für eine angemessenere Reaktion hielt, die Ehre der eigenen Familie oder zu verteidigen. 95 Gewalt wird von Personen, die nach Vorstellungen von Ehre handeln, ganz anders eingeschätzt als von solchen, die an einer polizeilich garantierten öffentlichen Ordnung orientiert sind. Die einen helfen sich »auf eigene Faust«, die anderen laufen zur Polizei. Die Nichtanzeige eines Mordes ist nur die Spitze eines Verhaltensmodells der Zurückhaltung gegenüber den Justizinstitutionen, das sich bei geringfügigeren Gewaltdelikten sehr viel stärker ausgewirkt hat, wie oben bereits generell für das Desinteresse vieler Opfer an einer Strafklage gezeigt wurde. Jenseits der soziogeographisch lokalisierten, im einzelnen aber weiter zu erklärenden Verhaltensstrukturen ist hinsichtlich der verschiedenen Gewaltdelikte von recht unterschiedlicher Wahrnehmung selbst durch die betroffenen Opfer auszugehen. So gibt es sehr gewalttätige soziale Milieus, in denen viel »passieren« muß, bevor jemand eine Anzeige erstattet. Dieser Hinweis auf zeitlich, lokal und sozial variable Gewaltlevel, denen unterschiedliche Wahrnehmungen von Gewalt entsprechen, verdeutlicht, daß man hinsichtlich der gleichen Delikte mit sehr unterschiedlichem Anzeigeverhalten - selbst innerhalb der gleichen Gesellschaft - rechnen muß. Deshalb kann nicht unbesehen davon ausgegangen werden, daß Anzeigen analog zu dem im Gesetzestext eingestufte Schweregrad einer Gewalttat erfolgten. Vielmehr sind die Toleranzschwellen eines gegebenen sozialen Milieus und die strategischen Ziele der Kläger fallweise ausschlaggebend. 96 Auch im Bereich der »Sittendelikte« werden Anzeigen keineswegs automatisch erstattet. So kann eine außereheliche Schwängerung, die zu unehelichem Nachwuchs führt, durchaus unangezeigt bleiben, wenn die Umgebung die Betroffenen schützt. 97 Dies geschieht zumeist, wenn die Frau - insbesondere - von den anderen Frauen des Dorfes als gute Arbeiterin oder ehrenhafte Person geschätzt wird. 98 Darüber entscheidet eine außergerichtliche »lokale öffentliche Meinung«, die ihre Maßstäbe nicht den Strafgesetzen oder den Kirchenordnungen, sondern eigenen Vorstellungen über den Wert der Mitmenschen und über sozial akzeptable Verbindungen entnimmt, die stärker von der dörflichen Arbeits- und Alltagswirklichkeit geprägt sind. Diese als »Dorfgericht« - im untechnischen Sinn - bezeichnete Meinungsbildung kann aber ebenso zur Vorverurteilung der Betroffenen und des Schwängerers führen. Erst diese macht durch 95 Claverie/ Lamaison: Mariage (wie Anm. 4); Beispiele für außergerichtliche Einigungsversuche bei Totschlag bringt Paolo L. Rossi: The Writer and the Man. Real Crimes and Mitigating Circumstances: il caso Cellini, in: Dean/ Lowe: Crime (wie Anm. 65), 157 - 183, 167f. 96 Am Beispiel der Eigentumskriminalität zeigt dies Sharpe: Enforcing (wie Anm. 39), 110. 97 Ulrike Gleixner: »Das Mensch« und »der Kerl«. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700 - 1760), 183ff.; zum Dorfgerede als Vorinstanz vgl. Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts, Reinbek 1989, 166f. 98 Gleixner: Mensch (wie Anm. 97), 202 belegt anhand der geringen Anzahl von Alimentationsklagen im Verhältnis zu fast neunmal mehr Unzuchtsverfahren die große Bedeutung der autonomen dörflichen Regelung der Alimentation unehelicher Kinder. Dieser Wunsch nach Selbstregulierung im Dorf ist also vorrangig gegenüber dem Befund aus der Anzeigenstatistik (192), nach der bei diesem »Delikt« »obrigkeitliche« sittenpolizeiliche Interessen und dörfliches Interesse an Festschreibung von Verantwortlichkeiten - für die nicht anders zu regelnden Fälle - als subsidiäre Lösung übereinstimmten. Zu Jungfernschaft als sozial ausgehandelter Kategorie vgl. Susanna Burghartz: Rechte Jungfrauen oder unverschämte Töchter? Zur weiblichen Ehre im 16. Jahrhundert, in: Karin Hausen/ Heide Wunder (Hg.): Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte, Frankfurt M. 1992, 173 - 183. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 523 eine Anzeige die Vorgänge zum »Straftatbestand« - und strukturiert übrigens auch die zivilrechtlichen Verhandlungsergebnisse vor. 99 Diese Überlegungen anhand von wenigen Delikttypen zeigen also, daß der rechtsdogmatisch und institutionell inspirierte Zugang, zunächst das Delikt als Einflußfaktor für das Anzeigeverhalten darzustellen, nicht unbedingt den sozialen Bedingungen und kulturellen Wahrnehmungen der Frühen Neuzeit entspricht. Dort scheinen gerade nicht - relativ abstrakte - Delikte, sondern die Personen von Kläger und Täter im Vordergrund zu stehen. 5. Die Bedeutung der Person des Klägers bzw. der Klägerin für die Justiznutzung oder: Wer nutzt die Justiz aktiv durch Anklagen? Es scheint eine Bereitschaft von Gesellschaften zu geben, ein gewisses Maß sozialer Abweichung zu ertragen. Auch die gängige Forschungsmeinung, daß die Toleranz von Gesellschaften sinkt, wenn diese verstärktem Streß ausgesetzt sind, könnte zutreffen. 100 Man wird deshalb auch jenseits einzelner Delikte von historisch, regional und lokal insgesamt variablen Toleranzschwellen ausgehen müssen, die sich keineswegs nur in eine Richtung entwickelten. 101 So könnte z.B. gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine größere Toleranz gegenüber der Gewalt oder der Unzucht mit einer sinkenden Toleranz gegenüber Eigentumsdelikten einhergegangen sein. Phasen der Toleranz wurden aber von Phasen der Beunruhigung abgelöst. Im folgenden sollen drei Typen von Verunsicherung unterschieden werden, die zu erhöhter Klagebereitschaft führten: Irritationen über die Sicherheit, über die öffentliche Moral und aufgrund sozioökonomischen Stresses. Klagekampagnen konnten sich relativ kruzfristig entwickeln, wenn - meist städtische - Gesellschaften durch nicht aufgeklärte schwere Verbrechen verunsichert waren. In Paris wirkte sich z.B. die Cartouche-Affäre als Auslöser für eine größere Anzeigenbereitschaft aus, die ein Klima gegenseitiger Bespitzelung und Denunziation schuf. 102 In London wuchs in Demobilisierungsphasen nach Kriegen jeweils die Aufmerksamkeit auch für kleine »Polizei- 99 Gleixner: Mensch (wie Anm. 97), 176 braucht den Begriff »Dorfgericht« in diesem Sinn auch ohne Anführungsstriche; vgl. zur Bedeutung des Geredes für die Anzeige auch Eva Labouvie: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der Frühen Neuzeit, Frankfurt M. 1991, 201; Rublack: Magd (wie Anm. 65), 32ff. 100 Dabei müßte für die Chancen, daß Klagen von der Justiz akzeptiert werden, allerdings, wie oben gezeigt, die Filterwirkung der richterlichen Entscheidungsfreiheit zumindest als einschränkende Bedingung stärker beachtet werden. Die Streßthese ist bekanntlich eine der Erklärungslinien für Ausbruch und Verbreitung der Hexenverfolgungen. Dazu: Hartmut Lehmann: Frömmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der »Kleinen Eiszeit«, in: Wolfgang Schieder (Hg.): Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, Göttingen 1986, 31 - 50. Dazu zulezt H. C. Eric Midelfort: Geschichte der abendländischen Hexenverfolgung, in: Sönke Lorenz (Hg.): Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten (Ausstellungskatalog des Badischen Landesmuseums Karlsruhe), Ostfildern 1994, 2 Bände, Aufsatzband, 49 - 58; s. zur Streßthese im Zusammenhang mit der Strafjustiznutzung Wrightson/ Levine: Poverty (wie Anm. 18), 182; vgl. zuletzt Tomás Mantecón: Conflictividad y disciplinamiento social en la Cantabria rural del Antiguo Régimen, Santander 1997, 192, 204, 273. 101 Das gilt auch für die Unsicherheitswahrnehmung; vgl. dazu die Einleitung zu Martin Dinges/ Fritz Sack (Hg.): Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter zur Postmoderne (wie Anm. 21), Konstanz 2000. 102 Patrice Peveri: »Cette ville était alors comme un bois (...)« Criminalité et opinion publique à Paris dans les années qui précèdent l’affaire Cartouche (1715 - 1721), in: Crime, Histoire & Sociétés/ Crime, History & Societies 1.Jg, H. 2 (1997), 51 - 73. Martin Dinges 524 delikte«. 103 Daß die Anzeigebereitschaft signifikant nach spektakulären schweren Verbrechen steigt, zeigt aber nicht eine plötzlich größere Zahl von Delikten an. Vielmehr verweist es darauf, daß Gesellschaften dann aus einem gewissen Verfolgungsaktionismus heraus mehr Mitmenschen argwöhnischer betrachten als sonst und hauptsächlich zu ihrer eigenen Beruhigung die Justiz nutzen. 104 Etwas anders gelagert sind die Motive im Rahmen der - ebenfalls meist relativ kurzfristig aufflammenden - Moralisierungskampagnen von religiösen Gruppen. 105 Diese »Virtuosen« im Sinne Max Webers versuchten, der sie umgebenden Gesellschaft ein »christlicheres« Leben aufzuzwingen, weil sie selbst davon überzeugt waren, nur so ihr eigenes und das Heil der ganzen Gesellschaft sicherstellen zu können. Ziemlich konfessionsunabhängig, allerdings verbreiteter im calvinistischen als im anglikanischen oder lutherischen und im katholischen Kontext klagten sie einige Jahre gezielt die Arten von Delikten an, die sie gerade für besonders gefährlich hielten. 106 Das waren oft verschiedene Formen des Müßiggangs, der als »aller Laster Anfang« galt, weshalb man öffentliche Spiele, die schnell als Spielsucht attackiert wurden, Alkoholkonsum, Vergnügungen, insbesondere den Tanz, sowie vor- und außereheliche Beziehungen, die als Hurerei inkriminiert wurden, verfolgte. Zumindest zu Beginn der Kampagnen achteten diese Gruppen im Sinne ihrer spezifisch religiösen Ziele auf die Sonntagsheiligung, den Gottesdienstbesuch und anderes derart mehr, weil sie mangelnde Frömmigkeit für den eigentlichen Ausgangspunkt von Verbrechen hielten. 107 Die oft den Mittelschichten entstammenden religiösen Aktivisten suchten gezielt geneigte Friedensrichter oder Polizeikommissare, um so das Justizsystem für ihre Ziele einer »moralischen Verbesserung« der Bevölkerung zu instrumentalisieren. 108 Da sie oft gut organisiert waren, erzeugten sie jeweils über kürzere Zeit erheblichen Verfolgungsdruck. So läßt sich etwa am Londoner Beispiel zeigen, daß in den Jahren nach 1690 ein erheblicher Teil der Anzeigen wegen der o.a. Delikte auf solche »Moralapostel« zurückging. 109 In calvinistischen, reformierten und anglikanisch geprägten Territorien konnten sie sich alternativ an die Konsistorien wenden, um deren Sittengerichtsbarkeit zu aktivieren. 110 Auch bei diesen Kampagnen - und das gilt insbesondere für die »opferlosen« Delikte gegen die angestrebte öffentliche Moralordnung - konditionieren ausschließlich anklägerbezogene Persönlichkeitsmerkmale wie ein strenger Glaube das Anzeigeverhalten. 111 103 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 250; die nicht selten gewaltfördernden Immigrationswellen in Städten konnten ebenfalls als Streß wirken; vgl. Blastenbrei: Kriminalität (wie Anm. 92), 53ff. 104 Heute bezeichnet man so eine massenpsychologische Lage als »moralische Panik«; vgl. dazu Stuart Hall: Mugging, the State, and Law and order. Policing the Crisis, London 1978. 105 Literatur zu diesen Bewegungen in England bei Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 239. 106 Für den katholischen Bereich ist etwa in Frankreich an die jesuitisch inspirierten Geheimgesellschaften zu denken. 107 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 248. Nach der Verfolgung von Delikten gegen die Religion wandte sich diese Kampagne der Verfolgung des unsittlichen Lebenswandels zu. 108 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 251. In London hatten die Kläger schichtmäßig etwas höhere Positionen als die Beklagten. 109 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 245. 110 Den aktuellsten internationalen Überblick dazu bietet Schmidt: Sozialdisziplinierung (wie Anm. 26). Zu den Schwierigkeiten solcher Kampagnen vgl. auch Robert von Friedeburg: Anglikanische Kirchenzucht und nachbarschaftliche Sittenreform: Reformierte Sittenzucht zwischen Staat, Kirche und Gemeinde in England 1559 - 1642, in: Heinz Schilling (Hg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994, 153 - 183 und die Literatur bei Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1). Justiznutzungen als soziale Kontrolle 525 Davon unterschieden werden muß ein dritter Typ von Anzeigewellen, der allerdings nicht mehr den Charakter einer Kampagne hat. Er ist weder so kurzfristig noch so gesteuert. Vielmehr entsteht er meist durch strukturellen sozioökonomischen Streß einer lokalen Gesellschaft. Am besten sind solche Phasen ökonomischen oder demographischen Drucks für die Frühe Neuzeit als Umstellungskrisen für das Land untersucht. 112 Auffallend ist dabei, daß zumeist wohlhabendere Hofstelleninhaber aus der örtlichen Oberschicht verstärkt solche Delikte anzeigen, die in einem Zusammenhang mit der Anbahnung und dem Erhalt sozial akzeptierter Verbindungen stehen, weil dies eine geregelte Erbfolge garantieren soll. Es handelt sich also um Delikte aus dem Bereich der »Sittlichkeit«. Die damit einhergehende soziale Kontrolle traf die Jugendlichen ebenso wie die alleinstehenden Frauen und die Witwen, die allesamt als Gefährdungspotential der angestrebten Ordnung gelten. Als ökonomisches Ziel der Kläger ist die Vermeidung unerwünschten Nachwuchses und der Pauperisierung anzunehmen. In diesem Zusammenhang achten die gleichen Kläger auch darauf, die Ortsarmenkasse nicht durch Fremde zu belasten, die sich zu lange im Dorf oder Stadtteil aufhalten, dort unkontrolliert einmieten oder gar mit - fragwürdigen - Geschäften den Ortsansässigen Konkurrenz machen. So häufen sich vorübergehend Anzeigen wegen Untervermietung, illegalem Aufenthalt u.ä. Die Justiz wird hier von den örtlichen Ober- und ggf. auch Mittelschichten ganz zweckrational zur Aufrechterhaltung der sie selbst begünstigenden bestehenden Güterordnung genutzt. Dem entspricht auch die recht selektive Nutzung der Kirchenkonvente durch die bäuerliche Oberschicht im Kanton Bern, die sich nur den kleinen Teil der ursprünglich von den Erfindern der Institution Chorgerichte vorgesehenen Zwecke auswählt, der ihren aktuellen lokalen und sozialökonomischen Zielvorstellungen entspricht. 113 Bezüglich der englischen Ergebnisse zu Terling ist besonders wichtig, daß an ihnen die Reversibilität verstärkter Anzeigebereitschaft sichtbar wird: Erholte sich das Dorf ökonomisch, dann wurde auch weniger geklagt. Unter diesem Gesichtspunkt wären die deutschen Polizeiquellen ebenfalls daraufhin zu untersuchen, ob vielleicht verschärfter ökonomischer Druck in bestimmten Phasen dazu führte, daß die Bevölkerung oder bestimmte Schichten bereitwilliger Verletzungen z.B. von Kleiderordnungen oder allgemeiner der öffentlichen Ordnung anzeigte. Neben diesen unterschiedlich motivierten Wellen der Anzeigebereitschaft lassen sich andere in den Personen der Kläger liegende Gründe ausfindig machen, die eine Nutzung der Justiz begünstigten oder hemmten. Durchgängig scheinen in allen ländlichen Gesellschaften nur wenig Fremde zu klagen. 114 Statt dessen geht das Gros der Anzeigen von den Ortsansässigen aus. Damit erweist sich ein weiteres Mal, daß die Strafjustiz nur eine in »letzter Instanz« genutzte Ressource der sozialen Kontrolle war. Offenbar bedurfte es nämlich längerer Vorgeschichten und der Vorstellung, daß man weiterhin miteinander auskommen müsse, bis eine Person in einem Konflikt zum Mittel der Strafanzeige griff. Beide Gegebenheiten treffen bei Fremden, die nur kurzfristig am Ort sind, seltener zu. Das hindert aber im Umkehrschluß keineswegs die Ansässigen, sich durch die »Fremden« gestört zu fühlen und diese zu beklagen, um so ihre ört- 111 Auch bewirkten sie wenig Verhaltensänderungen, wie sich an den Entlassenen aus der Besserungsanstalt zeigt; vgl. Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 192ff. 112 S. Anm. 100. 113 Schmidt: Dorf (wie Anm. 14), 236ff., 288f., 354ff. 114 Frank: Gesellschaft (wie Anm. 20), 227. Martin Dinges 526 lichen Ordnungsvorstellungen gegen Abweichungen durchzusetzen. Insofern dient die Justiznutzung den Ortsansässigen dazu, ihre lokale Identität gegen Fremde zu verteidigen. Es muß hier offenbleiben, inwieweit dieses Nutzungsmodell auch für die Städte gilt. Auf dem Dorf mag es noch relativ einfach sein, die Grenze zwischen den Fremden und den Hiesigen anhand relativ eindeutiger Merkmale wie der Geburt oder Heirat zu bestimmen. Aber auch auf dem Land ist schon fragwürdig, ob über Jahre beschäftigte Knechte oder alljährlich wiederkehrende Landarbeiter »Fremde« sind, was für durchwandernde Bettler oder abgedankte Soldaten sicher gilt. In den Städten mit ihren vielfältigen Formen der Mobilität und häufigen Umzügen innerhalb der Kommune dürfte die Grenze noch fließender sein. Unter diesen Umständen ist die sozialstatistische Bestimmung von Fremden - bei den oft sowieso unzureichenden Angaben bei Gericht - schwieriger. Schließlich könnte in der Stadt - wie bereits oben am Londoner Beispiel dargestellt - gerade die Lohnarbeit und die Unsicherheit über das zukünftige Verhalten des Antragsgegners die Nutzung eines Gerichts auch für »Fremde« - die z. B. nur kurzfristig beschäftigt sind - attraktiv machen. Es spricht manches dafür, daß die Kategorie der Fremdheit am Ort für aktive Justiznutzungen auf dem Land aufschlußreicher ist als in der Stadt. Grundlegender ist allerdings, daß die meisten Kläger bei der Strafjustiz - und auch die meisten Angeklagten - Männer sind. Von den Gerichten und der Öffentlichkeit - nach fraglos geschlechtsspezifischen Kriterien - als erheblich wahrgenommene Störungen der öffentlichen Ordnung, die mit der aufwendigen Form eines regelrechten ggf. gerichtlichen Verfahrens beantwortet wurden, wurden also von Männern bekämpft und gingen auch von ihnen aus. 115 Auch wenn im folgenden erhebliche Modifikationen zu diesem Ausgangsbefund zusammengetragen werden, bleibt zunächst wichtig, daß für Frauen ganz offensichtlich andere Sozialkontrollagenturen wie die Familie, die Nachbarschaft, die Verwandschaft eine größere, vorrangigere oder ausschließlichere Bedeutung hatten als für Männer. 116 Gerade aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive wird deshalb die Untersuchung dieser Formen, soziale Kontrolle von und über Frauen auszuüben, fundamental. Quantitative Vergleiche der aktiven Justiznutzung mögen zwar unter dem Vorbehalt geschlechtsspezifischer Verzerrungen stehen, sie geben aber wichtige Hinweise auf die Chancen und Hindernisse der Frauen, ihre Interessen auch mit Hilfe des Justizsystems zu verfolgen. 117 Diese Befunde ermöglichen präzisere Fragestellungen zur Vernetzung mit den weniger formalisierten Formen sozialer Kontrolle. 118 Da man sich bisher nur wenig für die Anzeigenden interessiert hat, gibt es allerdings wenig statistische Befunde über das Geschlecht derjenigen, die Anzeigen erheben. 119 Frank stellt für das von ihm 115 So umgekehrt über Frauen auch Wunder: Kriminalität (wie Anm. 3), 43; zum statistischen Befund vgl. Robert Jütte: Geschlechtsspezifische Kriminalität im Späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 108 (1991), 86 - 116. 116 Die Komplementarität der Sozialkontrollagenturen arbeitet auch heraus Mantecón: Conflictividad (wie Anm. 100), 285ff. (Dritter Teil) und Frank: Gesellschaft (wie Anm. 20), 234. 117 Statistikkritik referiert Claudia Ulbrich: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« in der Frühen Neuzeit. Kritische Bemerkungen zum Forschungsstand, in: Martina Althoff/ Sibylle Kappel (Hg.): Geschlechterverhältnisse und Kriminologie (Kriminonologisches Journal, 5. Beiheft), Weinheim 1995, 208 - 220, 208f.; vgl. mit qualitativen Überlegungen Rublack: Magd (wie Anm. 65), 61f. 118 Vgl. Jenny Kermode/ Garthine Walker: Introduction, in: Dies. (Hg.): Women, Crime, and the Courts in Early Modern England, London 1994, 1 - 25, bes. 7ff. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 527 untersuchte Lippische Gogericht achteinhalbmal so viele Klagen von Männern wie von Frauen fest, wobei die ökonomisch besser gestellten Frauen signifikant häufiger als Klägerinnen in Erscheinung treten. 120 Frauen scheinen umso stärker als Klägerinnen in Erscheinung zu treten, je mehr man sich der sogenannten Kleinkriminalität nähert, die fraglos für die Zeitgenossen als alltägliche Belästigung durchaus eine höhere Bedeutung hatte, als es die juristisch geprägte Begriffsbildung mit ihrem Gegensatz zur Schwerkriminalität suggeriert. 121 Bei Pariser Ehrenhändeln des 18. Jahrhunderts fiel auf, daß Frauen etwa ein Drittel der Kläger, aber nur ein Viertel der Beklagten stellten. Demgegenüber waren 40% der Zeugen Frauen. 122 Demnach störten Frauen bei diesem Alltagsdelikt die Ordnung in nur jedem vierten Fall, also relativ wenig, oder wurden jedenfalls nur in diesem Maß formell sozial kontrolliert; sie übten in jedem dritten Fall, also häufiger, soziale Kontrolle durch Anzeigen aus und wirkten in zwei von fünf Fällen, also am stärksten, bei der Wahrheitsfindung als Zeugen mit. Diese Beobachtungen anhand der Ehrenhändel zeigen, wie das Anzeigeverhalten von Frauen deliktspezifisch in ein Kontinuum von Handlungsmöglichkeiten eingebettet sein kann. Ob ein solches Verteilungsmuster als generelle Hypothese für die Justiznutzung von Frauen aussagekräftig ist, könnten nur weitere Forschungen erweisen. 123 Naheliegenderweise treten Frauen nur bei Vergewaltigung oder bei hauptsächlich sie betreffenden Delikten - Gewalt in der Ehe - als Kläger stark in Erscheinung. 124 Allerdings zeigt sich auch hier wieder ein interessanter geschlechtsspezifischer Bias: Aus aktuellen Forschungen zur Gewalt in der Ehe weiß man, daß in einer solchen Konfliktdy- 119 Da die Frage nach der (Frauen-)Kriminalität im Vordergrund stand, wurde für Frauen ebenso wie für Männer gewissermaßen die Rolle als »Opfer der Justiz« in den Vordergrund gerückt. Vgl. François Billacois/ Hugues Neveux: Porter (wie Anm. 51). Im Unterschied zum Geschlecht der Angeklagten - dazu weiter unten - ist mangelnde Kenntnis über die Herkunft der Kläger »eine der schmerzhaftesten Informationslücken überhaupt« bei Schwerhoff: Köln (wie Anm. 50), 88. 120 Frank: Gesellschaft (wie Anm. 20), 232, 236 bei der schichtspezifisch gegliederten Auswahl werden - wohl zufällig - nur fünfeinhalbmal mehr Männer als Kläger erfaßt. 121 Darauf weist hin Wunder: Kriminalität (wie Anm. 3), 52. 122 Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 183ff. 123 Ein weniger ausgeprägtes Profil bietet Frank: Gesellschaft (wie Anm. 20), 232 mit 11,5% Klägerinnen, 10% Angeklagten und 15,4% Zeuginnen. Anhand seiner Angaben liegt die Hypothese nahe, daß sich bei den von mir für Injurienfälle erhobenen Zahlen die Tatsache auswirkt, daß Frauen bei Ehrdelikten - wie auch in Lippe - auch stärker als in anderen Bereichen beklagt werden; vgl. 235; eine besonders hohe Frauenbeteiligung bei diesem Delikt - allerdings bei den Angeklagten - auch in Toulon zeigt Karine Lambert: La litigiosité feminine à Toulon au XVIIIe siècle à travers les procès pour injures, excès, coups et blessures, in: Garnot: Petite (wie Anm. 1), 215 - 224, 218; zur Deutung der Frauenaktivität in diesem Feld als Familienkriminalität vgl. Nicole Castan: La criminalité dans le ressort du Parlement der Toulouse. 1690 - 1730, in: André Abbiatecci/ François Billacois (Hg.): Crimes et criminalité en France sous l’Ancien Régime. 17e/ 18e siècles, Paris 1971, 91 - 107, 93f. betont mir zu stark die Instrumentalisierung der Frauen durch die Männer. Zur besonderen Bedeutung der Ehrdelikte für Frauen vgl. auch Sabine Alfing: Weibliche Lebenswelten und die Normen der Ehre, in: Dies: Christine Schedensack: Frauenalltag im frühneuzeitlichen Münster, Bielefeld 1994, 17 - 185 und jetzt Rublack: Magd (wie Anm. 65), 26, 28, 40, 47, 117, 125f. Zu geschlechtsspezifischen Aspekten der Ehre vgl. zuletzt Martin Dinges: Ehre und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, in: Backmann/ Künast: Ehrkonzepte (wie Anm. 81), 123 - 147; allgemeiner zur aktiven Justiznutzung durch Frauen vgl. Garthine Walker: Women Theft and the World of Stolen Goods, in: Kermode/ Walker: Women (wie Anm. 118), 81 - 105; vgl. auch den Beitrag von Jim Sharpe: Women, Witchcraft, and the Legal process, ebd. 106 - 124; in Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 286 sind Frauen bei allen Anzeigeformen in Stadt und Land stärker als Klägerinnen aktiv denn als Beklagte. 124 Zur zeitgenössischen Bewertung und Behandlung dieses Deliktes vgl. Anthony Fletcher: Gender, Sex and Subordination in England 1500 - 1800, New Haven 1995, 193 - 204. Martin Dinges 528 namik auch die Frauen selbst oft recht gewalttätig werden. 125 Männer pflegten in solchen Lagen aber nicht zu klagen, sondern stärker zuzuschlagen. Das gesellschaftlich von ihnen verlangte Selbstbild hätte gar keine Anzeige zugelassen, denn eine solche (Selbst-)anzeige hätte sie dem öffentlichen Spott als von einer Frau beherrschter »Waschlappen« ausgesetzt. 126 Darauf, daß umgekehrt Frauen mit entsprechend larmoyanten Klagen ihr gesellschaftlich erwünschtes Selbstbild nutzbringend bei der männlichen Justiz einsetzen konnten, wurde kürzlich ebenfalls hingewiesen. 127 Die geringere Präsenz von Frauen als Anzeigende vor Gericht beruht auf verschiedenen Gründen, die man als geschlechtsspezifische Nutzungshemmnisse charakterisieren kann. Bei einer Reihe von Delikten konnte die auch im Zivilrecht verbreitete Vertretung durch den Ehemann dazu führen, daß dieser statt der Frau klagt. 128 Entscheidender dürfte sich die ökonomische Abhängigkeit innerhalb des Hauses als Klagehindernis auswirken. 129 So muß sich eine geschlagene oder um ihre Erbschaft betrogene Ehefrau dreimal überlegen, ob sie den Mann anklagt, wenn er - wie meist - Inhaber des Hofes bzw. des Handwerksbetriebes ist. Hat sie sich allerdings zu einer Klage entschlossen, dann kann sie von etlichen Gerichten durchaus Unterstützung gegen rabiate Ehemänner erhalten. 130 Abhängigkeiten wirken sich deliktspezifisch besonders bei sexuellen Aggressionen - meist gegen Mägde oder Hausangestellte - oder nach Vergewaltigungen aus. 131 Dazu kam noch ein gewisses Desinteresse der Gerichte an der Verfolgung in solchen Fällen. 132 Die Abhängigkeiten veranlaßten anzeigende Ehefrauen nicht selten dazu, mit der Klage lediglich einen »Warnschuß« loszuwerden, denn an der länger dauernden Inhaf- 125 Michael S. Honig: Verhäuslichte Gewalt. Sozialer Konflikt, wissenschaftliche Konstrukte, Alltagswissen, Handlungssituationen. Eine Explorativstudie über Gewalthandeln von Familien. Frankfurt M. 1992; Alberto Godenzi: Gewalt im sozialen Nahraum, Basel 1996. 126 So auch David W. Sabean: Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700 - 1870, Cambridge 1990, 133. 127 Habermas: Frauen (wie Anm. 72), 111. Gewalt in der Ehe war trotz der gesetzlichen Möglichkeit übrigens kein vorrangiges Argument bei Scheidungsurteilen, die zum überwiegenden Teil - meist etwa zu zwei Dritteln bis drei Vierteln - von Frauen beantragt wurden; vgl. Roderick Phillips: Untying the Knot. A Short History of Divorce, Cambridge 1991, 70ff., 76, 78; eine weniger starke Dominanz bei den Klägern stellt fest Sylvia Möhle: Ehekonflikte und sozialer Wandel: Göttingen 1740 - 1840, Frankfurt 1997, 85f. zum Gewaltmotiv und den Gründen für sein Verschweigen ebd. 122ff. ; vgl. auch die Angaben von Thomas Max Safley: Let no man put asunder, Kirksville 1984, 171. 128 Dazu jetzt am leichtesten zugänglich Elisabeth Koch: Die Frau im Recht der Frühen Neuzeit. Juristische Lehren und Begründungen, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, 73 - 93; zur Rechtslage der Anklägerinnen im Strafprozeß s. a. die Hinweise bei Helga Schnabel-Schüle: Frauen im Strafrecht vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: ebd. 185 - 198, 191f. 129 Das gilt auch für die »wirtschaftende Hausmutter«; vgl. Luise Schorn-Schütte: Wirkungen der Reformation auf die Rechtsstellung der Frau im Protestantismus, in: Gerhard: Frauen (wie Anm. 128), 94 - 104; Möhle: Ehekonflikte (wie Anm. 127), 145ff. arbeitet die schlechtere Ausgangsposition der Akademikerfrauen heraus, die im Gegensatz zu den Handwerkerfrauen keinen entscheidenden Beitrag zum Haushaltseinkommen leisteten; vgl. auch Margaret Hunt: Wife Beating, Domesticity and Women’s Independence in Eighteenth-Century London, in: Gender & History 4 (1992), 10 - 33 und zur Argumentation bei Trennungsgründen Laura Gowing: Domestic Dangers: Women, Words and Sex in Early Modern London, Oxford 1996. 130 Mit einem Überblick über den Forschungsstand Heiner Richard Schmidt: Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert, in: Martin Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, 208 - 231. 131 Miranda Chaytor: Husband(ry): Narratives of Rape in the Seventeenth Century, in: Gender & History 7 (1995), 378 - 407; Barbara S. Lindemann: »To Ravish and Carnally Know«: Rape in Eighteenth Century Massachusetts, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 10 (1984), 63 - 82. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 529 tierung des Haupternährers konnte Frauen wegen ihres schlechteren Zugangs zum Arbeitsmarkt nicht viel liegen. 133 Zusammen mit der dadurch ebenfalls erschwerten Verfügung über größere Geldbeträge dürfte dies auch die quantitativ häufigere Nutzung abgekürzter, einfacherer und dadurch kostengünstigerer Verfahren erklären, die für England beobachtet wurde. 134 Dort bevorzugten Frauen die billigeren Schuldanerkenntnisse, die vielleicht sogar die am häufigsten von ihnen ausgewählte Verfahrensart aus dem gesamten Angebot der »Strafjustiz« überhaupt war. In dieser Verfahrensart erreichten - oder überschritten sie sogar vereinzelt - den Anteil der Männer. Bei formellen Anzeigen waren Männer zweieinhalbmal so häufig vertreten, bei den Anträgen auf Einweisung in eine Besserungsanstalt noch doppelt so oft wie Klägerinnen. Allerdings ist für England auch ein erheblicher Unterschied zwischen den Frauen auf dem Land, die selten überhaupt bei der Justiz vorstellig wurden, und den Städterinnen zu beobachten. Diese oft berufstätigen, alleinstehenden und dadurch unabhängigeren Frauen nutzen justizförmige Verfahren am häufigsten. Auch erhöhte sich ihr Anteil an den formellen Klagen von den 1660er bis zu den 1720er Jahren von ca. 12 auf ca. 25%. 135 Allerdings blieben letztlich die Schuldanerkenntnisse das meist genutzte Verfahren, was Shoemaker vor allem mit dem Geldmangel der Klägerinnen begründet. »Berufstätigkeit« von Frauen ist in der Frühen Neuzeit ein sehr problematischer Begriff, da er nur die auf einem Arbeitsmarkt stattfindende Tätigkeit gegen ein marktgängiges (Geld-)Einkommen abhebt. 136 Er soll hier trotzdem verwendet werden, da sie selbst und der damit einhergehende Ledigenstatus dazu führt, daß Frauen aktiver und ungeschützter am öffentlichen Leben teilnehmen können und müssen. Jedenfalls scheint dies zu einer stärkeren Justiznutzung zu führen, die auf die Dauer auch die härteren Verfahren umfaßt. Man darf diese quantitative Tendenz nun aber nicht als Annäherung an ein als normal gesetztes männliches Muster interpretieren. Vielmehr wird auch an den letztgenannten Zahlen aus einer großen europäischen Metropole deutlich, daß die Nutzung der Justiz für Frauen eine noch nachrangigere Option war als für Männer. Insgesamt lassen diese Hinweise darüber hinaus keine verallgemeinernden Schlüsse über die tatsächliche Neigung der Frauen zu, sie störende Verhaltensweisen in einem formellen Verfahren oder vor Gericht zu klären. Allerdings werden eine Reihe spezifischer Nutzungsmöglichkeiten und -hemmnisse erkennbar, die jeweils die unterschiedlichen Handlungschancen von Männern und Frauen in vergleichbaren Lagen deutlicher ma- 132 Das rekonstruiert für Fälle des 19. Jahrhunderts Carolyn A. Conley: The Unwritten Law. Criminal Justice in Victorian Kent, Oxford 1991, 86ff.; zum Hintergrund vgl. Anke Meyer-Knees: Verführung und sexuelle Gewalt. Untersuchung zum medizinischen und juristischen Diskurs im 18. Jahrhundert, Tübingen 1992. 133 Habermas: Frauen (wie Anm. 72), 128ff. 134 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 207ff., 237. 135 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 211. Die geringere Klageaktivität läßt sich also nicht als besondere weibliche Friedfertigkeit deuten, die sich bei genauerem Hinsehen als historiographisches Cliché herausstellt. 136 Zur Neubewertung der frühneuzeitlichen Arbeitsverhältnisse vgl. Heide Wunder: »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond« Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, insbes. 89 - 154; Merry E. Wiesner: Working Women in Renaissance Germany, New Brunswick 1986; zuletzt Sabine Lorenz-Schmidt: Vom Wert und Wandel weiblicher Arbeit. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Landwirtschaft in Bildern des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1998; Katharina Simon-Muscheid: »Was nutzt die Schusterin dem Schmied? « Frauen und Handwerk vor der Industrialisierung, Frankfurt 1998 Martin Dinges 530 chen. Justiznutzungen zu untersuchen heißt, nicht mehr das Zugangsproblem zur Institution - ihre (noch defizitäre) Inklusivität, wie es modernisierungstheoretisch heißen würde - vorrangig zu betrachten, sondern die Verhaltensoptionen der Zeitgenossen zu rekonstruieren, die sich allerdings teilweise indirekt auch aus der Untersuchung ungleicher Inklusion erschließen lassen. Für den Zugang zur Justiz war die ständische Qualität bzw. der sozioökonomische Status der Kläger ein weniger bedeutender, aber auch keineswegs unerheblicher Faktor. Anscheinend kamen häufig Kläger und Angeklagte aus der gleichen Schicht. 137 Das liegt nahe, da die meisten Kontakte innerhalb der gleichen Schicht oder des gleichen Berufsfeldes stattfinden, aus denen dann auch Konflikte entstehen können. Unter dem Gesichtspunkt des sozialen Status wirken insbesondere die bereits angesprochenen Kosten als wichtigste Nutzungsschwelle. 138 In Rom hob man sie 1562 durch die generelle Kostenfreiheit von Strafklagen auf, um so die Kooperationswilligkeit der Bevölkerung zu steigern. 139 Die englische Entwicklung nach dem Abbau solcher Schwellen durch Tarifsenkungen im Jahre 1752 zeigt, wie stark vorher die Ärmeren von Anzeigen abgehalten wurden. 15 Jahre nach der Reform wurden bereits in 35% der zulässigen Fälle, also bei Anzeigen von Verbrechen, die zu einer Verurteilung führten, die Kosten erstattet. Ein Vierteljahrhundert später galt dies bereits bei zwei Dritteln. 140 Das gibt zumindest Größenordnungen für das Ausmaß, in dem früher ausschließlich aus ökonomischen Gründen die Nutzung der Justiz behindert worden war. Schließlich war auch die Meinung einiger englischer Richter vielleicht nicht untypisch. Sie empfahlen armen Klägern, ihr Geld statt in teure Anklagen besser in die Kleidung ihrer Familie zu investieren. Außerdem sollte man bei Konflikten solcher sich leicht erhitzender Leute, statt aufwendige Verfahren durchzuführen, besser die alte Strafe des Untertauchens mit dem »ducking stool« anwenden. 141 So wurden die ärmeren Kläger neben den unverhältnismäßig hohen Kosten auch noch durch die Mißachtung, die manche Richter ihnen gegenüber empfanden, an der Justiznutzung gehindert. Demnach mußten Ärmere - wollten sie überhaupt auf die Gestaltung des Zusammenlebens einwirken - andere Formen der sozialen Kontrolle entwickeln. 142 6. Die Bedeutung der Person des »Täters« für das Anzeigeverhalten oder: Gegen wen wird Justiz genutzt? Da in den letzten 20 Jahren die Frage nach der Kriminalität im Vordergrund des Forschungsinteresses stand, wurden soziale und geographische Herkunft sowie das Geschlecht der Adressaten strafrechtlicher Sozialkontrolle vorrangig untersucht. Deshalb soll dieser Aspekt der Justiznutzung hier knapper behandelt werden. Für Ortsansässige ebenso wie für Ortsfremde gelten zunächst gewisse Toleranzschwellen: Einmalig abweichendes Verhalten oder eine leichte Form wurde gerichtlich selten geahndet. Dem- 137 Frank: Gesellschaft (wie Anm. 20), 228f. 138 S. dazu oben Kapitel 2 gegen Ende ; so auch Sharpe: Enforcing (wie Anm. 39), 110f. 139 Peter Blastenbrei: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 71 (1991), 425 - 481, 443ff. 140 Beattie: Crime (wie Anm. 54), 44. 141 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 312, vgl. 149. 142 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 202. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 531 gegenüber wurde im Wiederholungsfall oder selbst aus einem andersartigen Anlaß eine Toleranzschwelle überschritten, die zu einer Anzeige führen konnte. Dabei ist das Erinnerungsvermögen lokaler Gesellschaften erstaunlich gut. 143 Abweichungen wurden also durchaus beobachtet, aber so lange nicht weiter thematisiert, wie man sie für nicht bedrohlich hielt. 144 Voraussetzung für die bereits oben thematisierte Toleranz lokaler Gesellschaften ist ihre Fähigkeit, soziale Ordnung selbst bei einem - immer gegebenen - gewissen Maß an Abweichung aufrechtzuerhalten, und die Überzeugung, dazu auch weiterhin in der Lage zu sein. Das ist nur möglich durch die Geltung eines Verhaltenskodexes, der gewissermaßen vor bzw. unterhalb der strafrechtlich relevanten Normvorstellungen gilt und dazu dienen soll, daß abweichendes Verhalten unterhalb der Justiz eigenständig und fair reguliert werden kann. 145 Gleiche Chancen bei einer entsprechenden Auseinandersetzung sind dafür konstitutiv. Dementsprechend wird ein Angriff oder Totschlag aus dem Hinterhalt als besonders abgelehnte Begehungsart einer Tat betrachtet, die wegen des Bruchs des lokalen Verhaltenskodexes dann zur Anzeige gebracht wird. 146 Bei Tätern, die durch ihr Verhalten also die außergerichtlichen Lösungsmöglichkeiten beeinträchtigten, galt eine Schwelle als überschritten, die auch die Ortsansässigen nicht mehr vor einer Klage schützte. Dem scheint die folgende Regel zugrundezuliegen: Wer einen fairen Konfliktaustrag innerhalb der lokalen Gemeinschaft unmöglich macht, muß mit der Hinzuziehung der extern angebotenen Justizinstitutionen rechnen. 147 Insofern beschreiben die Toleranzschwellen die große Bedeutung der eigenständigen Konfliktregulierung in frühneuzeitlichen Gesellschaften, aber auch die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit. Positiv ließe sich formulieren, daß der Bedarf für die strafrechtliche Form der Sozialkontrolle erst dann steigt, wenn es dauerhaft bzw. massiv nichtkonforme Personen oder viele Fremde an einem Ort gab. Ortsfremde bzw. Nichtseßhafte wurden nämlich viel häufiger als die Ortsansässigen angeklagt. 148 Die Selbstregulierungskapazität der ländlichen Gesellschaft des Ancien Régime scheint also eine markante Grenze zu den »Fremden« aufzuweisen, gegen die man das obrigkeitliche institutionelle Angebot Gericht eher nutzte. 149 Auch in London und Umgebung wurden 143 Rainer Walz: Der Hexenwahn vor dem Hintergrund dörflicher Kommunikation, in: Zeitschrift für Volkskunde 82 (1986), 1 - 18, 10 bringt Beispiele von Personen, die seit 20 bis 40 Jahren »im Gerücht gewesen waren«. Da beim Erinnerungsvermögen meist an das Dorf gedacht wird, hier ein städtisches Beispiel mit erzählten Vorgeschichten: Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 181. 144 Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 288ff. 145 Solche Vorstellungen von Fairness gelten auch bei besonderen Vertrauensverhältnissen, weshalb der Haus- oder »Domestikendiebstahl« von den Zeitgenossen als so heimtückisch verabscheut wird; vgl. dazu Michel Porret: Les »circonstances aggravantes« du vol domestique dans la société de l’Ancien Régime selon les réquisitoires des procureurs généraux de Genève (XVIIIe siècle), in: Garnot: Ordre (wie Anm. 91), 295 - 302 und zur Bestrafung Otto Ulbricht: Zwischen Vergeltung und Zukunftsplanung. Hausdiebstahl von Mägden in Schleswig-Holstein vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Ders.: Huren (wie Anm. 3), 139 - 170, 161ff. und Rublack: Magd (wie Anm. 65), 145 - 149; zur Rechtslage des Gesindes s. Renate Dürr: »Der Dienstbote ist kein Tagelöhner (...)«. Zum Gesinderecht (16.bis 19. Jahrhundert), in: Gerhard: Frauen (wie Anm. 128) 115 - 139. 146 Vgl. Lenman/ Parker: State (wie Anm. 1), 15. 147 Das scheint darüber hinaus sogar das Motto der nicht professionellen englischen Dorfpolizisten (Constables) bis in das 19. Jahrhundert gewesen zu sein; vgl. Sharpe: Enforcing (wie Anm. 39), 108. 148 Sharpe: Crime (wie Anm. 39), 82; Frank: Gesellschaft (wie Anm. 20), 227: 10% Bevölkerungsanteil der Wanderarbeiter, aber 31% der Angeklagten (1778 - 1795). 149 Claude Gauvard: »De grace especial« Crime, Etat et société en France à la fin du Moyen Age, 2 Bde, Paris 1991, Bd. 2, 514ff. und das folgende Kapitel beschreibt die spätmittelalterliche Ausgangssituation. Martin Dinges 532 gegen kurz zuvor eingewanderte Fremde eher die härteren Verfahren genutzt, da Personen ohne dauerhafte Ortsansässigkeit keine Sicherheiten für Schuldanerkenntnisse bieten konnten. 150 Auch bei den Moralisierungskampagnen wurden, selbst wegen kleiner Vergehen, besonders Vertreter der Unterschichten, Immigranten sowie alleinstehende, junge Frauen angeklagt, die erst kürzlich in die Stadt gezogen waren. Das Lebensalter im Zusammenhang mit dem Geschlecht scheint bei alleinstehenden alten Frauen besonders zu Klagen einzuladen, da man ihre Verteidigungschancen als gering einschätzte. 151 In England wurden außerdem die weniger harten Verfahren häufiger gegen Frauen angestrengt und auch die Urteile scheinen durchgehend milder ausgefallen zu sein. 152 Neben dem bereits zu den Fremden Gesagten, hat der sozioökonomische Status eines Gegners weitere Auswirkungen auf die Justiznutzung. So sind außergerichtliche Einigungen zweckmäßiger und leichter mit Zahlungsfähigen, da man bei ihnen davon ausgehen kann, daß sie eine Entschädigung auch tatsächlich aufbringen können. 153 Folglich wurden in England Arme öfter direkt beklagt oder der Antrag auf Einweisung in eine Besserungsanstalt gestellt. Man konnte sie auch deshalb leichter beklagen, weil sie sich keinen professionellen Rechtsbeistand leisten konnten, so daß das Risiko für den Kläger gering war. 154 Gegen Arme wurden die härteren Verfahren eingesetzt; bei Einweisung in eine Besserungsanstalt entstanden ihnen wegen der verschiedenen Gebühren höhere Kosten als die Zahlungsfähigen für ihre Bürgschaften aufwenden müssen. 155 7. Wie werden die Verfahrensmöglichkeiten genutzt? Das instrumentelle Verhältnis der Bevölkerung zur Justiz und insbesondere zur Strafjustiz wurde bereits herausgearbeitet. Unter diesem Gesichtspunkt ist von den Nutzern durchgehend ein strategisches Verhalten zu erwarten. Bei Polizei, Friedensrichtern und Gericht kommt es - auch nach Beobachtungen zu heutigen Verhältnissen - ganz entscheidend darauf an, daß man eine »starke Geschichte« gut an die Institution bringt. 156 Als erstes mußten die Geschädigten die Protokollierpraktiken beachten und sich entscheiden, auf welchem Wege sie ihre Anzeige erheben wollten. Drei Fälle lassen sich unterscheiden: Eine mündliche Klage konnte direkt bei Gericht einem Schreiber vorgetragen werden, der - etwa als Friedensrichter - rechtskundig war oder sogar eine juristische Ausbildung erhalten hatte. 157 Daneben sind bei einer gewissen Entfernung des 150 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 118, 125f. 151 Vgl. dazu auch Otto Ulbricht: Einleitung, in: Ulbricht: Huren (wie Anm. 3), 1 - 37, 14; Claverie/ Lamaison: Mariage (wie Anm. 4),75 - 80 weisen allerdings darauf hin, daß Ältere insbesondere in den ärmeren Haushalten generell als Last empfunden und deshalb - auch juristisch - bedrängt wurden. 152 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 149, 213ff; zum Forschungsbedarf hinsichtlich der langfristigen Entwicklung bei den Urteilen vgl. Ulbricht: Einleitung (wie Anm. 151), 11f. Dem heuristisch interessanten Befund milderer Bestrafung widerspricht die Hexenverfolgung, der fast nur Frauen zum Opfer fielen, und die Tendenz, Frauen beim Überschreiten der geschlechtsspezifisch konstruierten Grenzen einer noch »akzeptierten« Abweichung besonders hart zu bestrafen. 153 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 118. 154 Mantecón: Conflictividad (wie Anm. 100), 368; daß sich Prozesse sogar als spekulative Geldanlage lohnen konnten, meint Kagan: Golden (wie Anm. 11), 155f. 155 Shoemaker: Prosecution (wie Anm. 1), 120. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 533 Wohnortes vom Gerichtsort oder entsprechenden Verfahrenserfordernissen schriftliche Klagen möglich, die entweder vom Kläger selbst oder von einer schreibkundigen Person in seiner Umgebung wie dem Pfarrer bzw. Lehrer oder ebenfalls von einem juristisch gebildeten Schreiber formuliert werden. Es ist eine offene Forschungsfrage, wie sich im strafrechtlichen Bereich die (Nicht-)Professionalität der Klage auf die Argumentationsweisen und auf die Chancen vor Gericht - vielleicht auch unterschiedlich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert - auswirkte. Dazu könnten gerade unter dem Gesichtspunkt, ob und wie sich Teile der Bevölkerung diese verschiedenen Möglichkeiten der Justiznutzung bereits in der Wahl der Anzeigeform aneigneten, diskurs- und justizanalytischen Forschungen interessante Ergebnisse erbringen. Bei Anzeigen vor den vielen Gerichten, die gleichermaßen zivilwie strafrechtliche Fälle bearbeiteten, bot nämlich die gekonnte Stilisierung der vorgefallenen Ereignisse die Möglichkeit, die Verfahrensart auszuwählen. So konnten selbst Auseinandersetzungen, in denen Blut geflossen war, als zivilrechtliche Fälle angezeigt werden. Allerdings scheinen die Tatopfer bei Überschreiten einer gewissen Toleranzschwelle das Strafverfahren bevorzugt zu haben, um damit dem Gegner eine Höherstufung des Konfliktes zu vermitteln. 158 Als nächstes spielt für eine erfolgreiche Darstellung der eigenen Interessen eine wichtige Rolle, wann man die Geschichte des Konfliktes mit dem Beklagten beginnen läßt. 159 Der Kläger kann dadurch die Richtung der Untersuchung erheblich beeinflussen, unangenehme Vorgeschichten vertuschen und so versuchen, das Gericht über Nebenmotive oder gar den eigentlichen Hintergrund der Anzeige im Unklaren zu lassen. Naheliegenderweise empfiehlt sich eine Stilisierung als friedliebender Zeitgenosse oder schwache Frau, die beide alles versucht haben, entstehende Spannungen zu lösen. 160 Unter bestimmten Bedingungen konnte es auch nützlich sein, sich als jemand darzustellen, der allenfalls aus einem Affekt oder nach Alkoholgenuß zurückgeschlagen hat, wobei jeweils zu betonen ist, wie defensiv man sich verhalten hat. 161 Dazu gehört bei den Pariser Klagen auch immer, daß man sich als jemand darstellt, der eigentlich gar nicht klagen wollte, sondern von - als neutral gedachten - Dritten dazu gedrängt wurde. Auch dies war ein rhetorisches Mittel, um die eigene Friedfertigkeit darzustellen. Zu ihr gehörte es, lange die Angriffe des Beklagten auszuhalten und »eigentlich nur« 156 Josef Kürzinger: Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion, Berlin 1978; Karl F. Schumann: Aushandeln von Sachverhalten innnerhalb des Strafprozesses, in: Georg Soeffnaer (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, 11 - 23; dazu aus machttheoretischer Perspektive anregend Heiland/ Lüdemann: Machtdifferentiale (wie Anm. 74) und Kai-D. Bussmann/ Christian Lüdemann: Klassenjustiz oder Verfahrensökonomie. Aushandlungsprozesse in Wirtschafts- und allgemeinen Strafverfahren, Pfaffenweiler 1995; s.a. Heinrich W. Schmitz: Vernehmung als Aushandeln der Wirklichkeit, in: F. Kube/ H.U. Störzer u.a. (Hg.): Wissenschaftliche Kriminalistik 1, Wiesbaden 1983, 353 - 387. 157 Zu diesem Personal ist sozialgeschichtlich interessant E.W. Ives: The Lawyers of Pre-Reformation England. Thomas Kebell: A Case Study, Cambridge 1983; deutsche Forschung zur anwaltlichen Praxis fehlt. 158 Clement: Délits (wie Anm. 1), 150f.; Audran-Delhez: Force (wie Anm. 57), 33; vgl. Castan: Languedoc (wie Anm. 42), 71, 77. 159 Dazu Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 178. Zu verweisen ist hier auch auf die Forschung zu den Gnadengesuchen, zuletzt und am gründlichsten Gauvard: Grace (wie Anm. 149); methodisch innovativ war Nathalie Z. Davis: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1988; entsprechende Forschungen zu den Indultos betreibt derzeit Mantecon in Spanien. 160 Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 74f.; Habermas: Frauen (wie Anm. 72), 111. 161 Schwerhoff: Köln (wie Anm. 50), 104ff.; Castan: Languedoc (wie Anm. 42); Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 75, 356. Martin Dinges 534 die selbstbestimmten Mittel zur Erhaltung des Friedens zu nutzen, statt die Gerichte einzuschalten. Auch darin wird eine weiteres Mal die Präferenz für die gegenseitige soziale Kontrolle sogar gerichtsnotorisch. 162 Fast alle Anzeigen sind uns aber in einer Form überliefert, die durch die genannten Dritten niedergeschrieben wurde. 163 Dieser Verschriftlichungsprozeß führt zu einer Veränderung der ursprünglichen Anzeige durch Nachfragen des Schreibers und Besprechung des Vorgangs, die sich in Straffungen, logischer Systematisierung etc. niederschlagen. 164 Am wichtigsten ist die Einführung strafrechtlich bedeutsamer Tatbestandsmerkmale in die Texte wie z. B. die Unterscheidung zwischen der »offenen« bzw. »geschlossenen« Hand oder der Faust bei einem tätlichen Angriff. Erst durch solche Details entstehen die letztlich auch juristisch relevanten Erzählungen, die vor Gericht durchschlagenden Erfolg zeitigen können. Die notwendige Zusammenarbeit zwischen dem Schreibenden - mit seinen spezifischen Rechtskenntnissen - und dem Anzeigenden läßt nur den Schluß zu, daß diese Quellen kulturelle Mischprodukte aus unterschiedlichen Einflüssen sind. Zwar zeigen sie die Geschicklichkeit der Kläger, sich sprachlich und argumentativ auf das Gericht einzustellen, aber die Vorstellung, hier äußere sich das »Volk«, ist zumeist unzutreffend. Vielmehr ist für jeden Anzeigentyp und jede Institution nachzuvollziehen, welche sprachlichen Freiräume die Anzeigenden hatten. Insofern eignen sich diese Texte als geradezu klassisches Beispiel für Diskursanalysen, die die einschränkenden Bedingungen der Diskursformation Gericht zu beachten haben. 165 Diese läßt zwar nur bestimmte »Wahrheiten« zu, aber sie eröffnet gleichzeitig die Chance, Dinge zu sagen, die anderswo nicht zur Sprache kommen. 166 In dieser Diskursformation werden die Handlungschancen der Kläger und ihre Grenzen deutlicher nachvollziehbar. In den weiteren Verhandlungen mit der Justiz gab es viele Möglichkeiten, das Verfahren zu beeinflussen, die auch genutzt wurden. Die wohl wichtigste Verweigerungsstrategie war es, sich als Beklagter dem Gericht zu entziehen, was bei der oft sehr kleinräumigen Gerichtsorganisation der Frühen Neuzeit relativ leicht war. 167 Diese Optionen hatten eher die mobilen und die jüngeren Bevölkerungsgruppen, damit allerdings auch die, die sehr häufig beklagt wurden. Blieb man am Ort, konnte das Nichterscheinen allerdings durch gerichtliche Vorladungen mit bedingter Bußenverhängung für den Fall des Nichterscheinens geahndet werden. Als nächstes ist das Leugnen der Tat, das einer Aussageverweigerung nahekommen konnte, zu nennen, was in einem Verfahren, das auf ein Geständnis angewiesen war, die gerichtliche »Wahrheitsfindung« erheblich beeinträchtigen konnte. 168 162 Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 181. 163 Das gilt natürlich auch für die »mündlichen« Anzeigen bei den Friedensrichtern oder Polizeikommissaren. 164 Die einschlägige Forschung hat diese Vorgänge sehr differenziert beschrieben, Nachweise bei Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 88ff. 165 Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 72ff., 85ff. 166 Vgl. dazu den Beitrag von Mazet in diesem Band. 167 Beispiele etwa bei Castan: Languedoc (wie Anm. 42); s.a. Monika Mommertz: »Hat ermeldetes Weib mich angefallen« Gerichtsherrschaft und dörfliche Sozialkontrolle in Rechtshilfeanfragen an den Brandenburger Schöppenstuhl um 1600, in: Peters: Gutsherrschaft (wie Anm. 5), 343 - 358, 355; Helm: Obrigkeit (wie Anm. 72), 166, 168; Läuflingsbewegungen als generelle Strategie der Herrschaftsbegrenzung spielt vor allem in Osteuropa eine große Rolle; s. dazu Schmidt: Sozialkontrolle (wie Anm. 85), 62ff., 155ff.; sie werden dann selbst wieder kriminalisiert 282ff. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 535 Schließlich spielte die Zeugenbeeinflussung in der von elementaren Solidaritäten gesprägten Gesellschaft der Frühen Neuzeit eine schwer abzuschätzende Rolle, bei der Verwandtschaftsbeziehungen und bestehende Abhängigkeiten ebenso genutzt werden konnten wie Geld oder Versprechungen für die Zukunft. Obwohl man von diesen Vorgehensweisen nur erfährt, wenn sie entdeckt wurden, ergibt sich doch der Eindruck einer verbreiteten Praxis. 169 Schließlich nutzte man in unterschiedlichen Phasen des Verfahrens die Möglichkeit des Gnadenbittens. Schon bei der Festnahme eines Täters durch die Polizei konnten sich die dazu besonders berechtigten Personen wie - meist weibliche - Angehörige, am besten mit vielen Kindern, Ortsgeistliche oder lokale Notabeln für einen Missetäter einsetzen, um gleich die Verhaftung oder jedenfalls die Gefangensetzung zu unterlaufen. 170 Im Rahmen der Zeugenbefragung können dann die Sprecher des örtlichen Leumunds wichtigen Einfluß auf das Verfahren nehmen. 171 Es kann hier offen bleiben, inwieweit es sich dabei bereits in der Frühen Neuzeit um die Verteidigung älterer Verfahrensweisen handelt. 172 Die Tatsache einer weit verbreiteten Praxis des Gnadenbittens, das sich dann in Form von Suppliken weiterentwickelt, bis zum Ende dieser Epoche legt es nahe, diese Praxis als eine wichtige Form der Justiznutzung mitzubeachten. 173 Schließlich ist hier an die besonderen, ursprünglich auf dem Prinzip der königlichen Gnade beruhenden Verfahrensarten zur Umgehung der Strafjustiz zu erinnern, die als Antrag auf einen königlichen Siegelbrief (lettres de cachet) z.B. in Frankreich eine beachtliche Rolle als Alternative zum Strafverfahren spielten. 174 Als letzte Chance von Verurteilten sei auf das Nachverhandeln bei der Umsetzung eines bereits festgesetzten Strafmaßes verwiesen. Auch dazu fehlt für die Frühe Neuzeit bisher weitgehend die Forschung. Allerdings legt eine Untersuchung zum Spätmittelalter die Hypothese nahe, daß hier auch für spätere Zeiten weitere Chancen der Justiznutzung sichtbar werden, die bisher unterschätzt wurden. 175 Insgesamt zeigen die hier zusammengetragenen Aspekte, daß die Justiz vielfältige Möglichkeiten einer aktiven Aneignung für eigene strategische Ziele bot, die sie eher als eine Arena für den Streit divergierender Ordnungsvorstellungen und Interessen erscheinen lassen als einen Ort von Akkulturation oder Sozialdisziplinierung. 176 Eine sol- 168 Gemeinschaftlich abgesprochenes Leugnen beschreibt Silke Göttsch: »Alle für einen Mann (...)« Leibeigene und Widerständigkeit in Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert, Neumünster 1991, 89. 169 Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 302; Krug-Richter: Konfliktregulierung (wie Anm. 4) , 223. 170 Vgl. ein Beispiel bei Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 20. 171 Gleixner: Mensch (wie Anm. 97); bekanntlich konnte schlechter Leumund nach der Carolina als Indiz für die Tatbegehung gewertet werden; vgl. Schwerhoff: Köln (wie Anm. 50), 110. 172 Andreas Bauer: Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16. Jahrhunderts, Frankfurt 1996, 187ff. 173 Zuletzt belegt dies wieder eindringlich Rublack: Magd (wie Anm. 65), 50f., 65, 87ff., 97 - 101, 103, 127; Beispiele auch bei Schwerhoff: Köln (wie Anm. 50), 171ff.; dazu demnächst die Dissertation von Harriet Rudolph. 174 Am leichtesten zugänglich dazu ist Arlette Farge/ Michel Foucault: Familiäre Konflikte. Die »Lettres de cachet«, Frankfurt M. 1989. 175 Peter Schuster: De iustitia. Herrschaft und Rechtsordnung in der Reichsstadt Konstanz (1430 - 1460), masch. Habilitationsschrift, Bielefeld 1997; demgegenüber scheinen Zahlungstermine und die Zahlung der gesamten Summen in der frühneuzeitlichen Züricher Bußenpraxis streng durchgesetzt worden zu sein (Ich danke für diesen Hinweis Fr. Loetz). Vgl. zur Notwendigkeit einer angepaßten Strafpraxis, die stärker von den unteren Instanzen gesehen wurde Ulinka Rublack: Frühneuzeitliche Staatlichkeit und lokale Herrschaftspraxis in Württemberg, in: ZHF 24 (1997), 347 - 376, 375. Martin Dinges 536 che Deutung entspräche übrigens auch der nüchternen Einschätzung der Strafjustiz durch heutige Juristen. Sie meinen selbst zum Extremfall der Gefängnisstrafe, deren einziger sicherer Effekt sei, daß »der Verurteilte für die Zeit seiner Inhaftierung mutmaßlich (! Hervorhebung: M.D.) keine neuen Straftaten begehen kann«. 177 8. Wie wirken Justiznutzungen und was bedeuten sie für die Ausgangskonflikte? Es wurde bereits hervorgehoben, daß die Inanspruchnahme einer Justizinstitution und insbesondere der Strafjustiz sozial einen Bruch markiert, der geheilt werden muß. Das wird sowohl an der Rhetorik, man sei zur Klage gedrängt worden, wie an der Behauptung von Betroffenen, beklagt zu werden, sei geradezu ehrverletztend, und an weiteren Verhaltensweisen deutlich. Die Nutzung der Justiz ist also - entgegen traditioneller rechtshistorischer Lesart - keineswegs automatisch als ein Mittel der Befriedung oder Friedensstiftung einzuschätzen, das außerdem noch allen anderen Formen der Konfliktlösung überlegen wäre. Vielmehr wirkt das Einschalten der Justiz zunächst konfliktverschärfend und wird auch bewußt so gehandhabt. Allerdings ist der Bruch auch nicht so schwerwiegend, daß ihn die Betroffenen nicht selbständig wieder heilen könnten. Das zeigt überdeutlich die enorme Differenz zwischen angezeigten Abweichungen und den durch ein Urteil abgeschlossenen Fällen. Die Anzeigenden nutzten die vielen Möglichkeiten, ihre Konflikte dem Justizsystem wieder zu entziehen, indem sie sich selbst »zusammenrauften«. Der Ausgangsbefund muß also als Hinweis darauf gedeutet werden, daß die Zeitgenossen den Bruch wieder kitten und zu den sozial und finanziell weniger kostenträchtigen Formen des Konfliktaustrags zurückkehren wollten, die sie bevorzugten. Gerade die massenhafte, nur instrumentelle Nutzung der Justiz zur Stärkung der eigenen Schlichtungschancen zeigt den Wunsch, soziale Kontrolle möglichst autonom auszuüben. Eine Friedensfunktion der Justiz wäre dann paradoxerweise gerade darin zu sehen, daß sie nur zusätzlich genutzt wurde. Die Justiznutzung dient in der überweigenden Zahl der beklagten Delikte letztlich der Justizvermeidung. So erweist sich insgesamt die Anzeige zwar als Mittel zur Konfliktverschiebung, doch wurde diese ganz überwiegend zur selbständigen Wiederherstellung des Friedens genutzt. Nur in der Minderheit der Fälle, die mit einem Urteil endeten, konnte die Justiz dauerhaft konfliktbeendend oder -verschärfend wirken. Die friedensfördernde Wirkung der Justiz ist auch in weiteren Konstellationen weder automatisch noch zu überschätzen. So zeigen die Fälle, in denen eine Strafanzeige dazu diente, die Vollstreckung eines Zivilurteils zu behindern bzw. auszusetzen, daß hier ein Gerichtszug genutzt wurde, um die streitentscheidenden Effekte des anderen 176 Susanne Rappe: Schelten, Drohen, Klagen. Frühneuzeitliche Gerichtsnutzung zwischen »kommunikativer Vernunft« und »faktischem Zwang«, in: Werkstatt Geschichte 14 (1996), 87 - 94 scheint sich noch nicht ganz entschieden zu haben, ob sie Jürgen Habermas’ Modell folgen soll, in dem das Gericht zu einem aseptischen Ort stilisiert wird, wo für alle vernünftige Regeln gelten, oder ob sie neben »nicht einmal vorwiegend unmittelbarem herrschaftlichen Zwang (...) auch (! ) ein (...) Eigeninteresse der Dörfler (...)« annehmen soll, was vielleicht zu etwas weniger Vertrauen in die Habermas’schen Vernunftfiktionen geführt hätte. 177 Klaus Lüderssen: Abschaffen des Strafens? Frankfurt M. 1995, 29; Karl F. Schumann: Der Handel mit Gerechtigkeit. Funktionsprobleme der Strafjustiz und ihre Lösungen, Frankfurt M. 1977. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 537 zu konterkarieren. Weiterhin waren verlorene Prozesse der Hintergrund für ein Siebtel der von mir untersuchten Pariser Ehrenhändel, in denen die Kontrahenten dann meist strafrechtlich relevante Untaten begingen. 178 Ein solches Umschalten von gerichtlichen Verfahren auf - nicht selten fortgesetztes - gewalttätiges Verhalten wurde auch andernorts beobachtet. 179 Es zeigt den sozialen Bruch, den Gerichtsbzw. Polizeinutzungen verschärfen können. Gerade Justiznutzungen können also bei den Unterlegenen den Bedarf an sozialer Kontrolle eines solchen Anzeigeverhaltens auf anderen Feldern wieder erhöhen, weil die Verlierer es als unangemessen empfinden. Weiterhin wird daran deutlich, daß die Gerichtsnutzungen in einem Kontinuum sozial kontrollierender Handlungsweisen stehen, bei dem die Zeitgenossen nicht von der Überlegenheit einer Form sozialer Kontrolle über die anderen ausgingen. Neben den Nutzungen wirkten sich auch die geschlechtsspezifischen und sozioökonomischen Nutzungshemmnisse auf andere Formen sozialer Kontrolle aus. Die bei Frauen und Ärmeren durchgehend geringere Justiznutzung hatte nämlich Wirkungen auf die außergerichtliche Schlichtung, die man als »sekundäre Machteffekte« bezeichnen könnte. Die Chancen für eine erfolgreiche Konfliktlösung stiegen entscheidend dadurch, daß der Gegner wirkungsvoll mit der Justiz drohen konnte. Dementsprechend hatten Arme und Frauen strukturell auch schlechtere Chancen, sich bei einer außergerichtlichen Schlichtung in den dafür überhaupt in Frage kommenden Fällen durchzusetzen. Hier werden wichtige Rückwirkungen der Justiz auf die außergerichtliche soziale Kontrolle sichtbar. 180 Von daher bekommt auch das Drohen mit der Justiz eine sozial präzisere Bedeutung. Zwar zeigt es in jedem Fall eine Höherstufung des Konfliktes an. Es ist aber nur in den Fällen glaubwürdig, in denen der andere tatsächlich finanziell potent genug ist, die Drohung auch wahrzumachen. 181 9. Was bedeuten Justiznutzungen für die Herstellung des lokalen Friedens und die Staatsbildung? Fragt man nach der Bedeutung der Justiznutzungen für die Einschätzung der Rolle der Strafjustiz in der frühneuzeitlichen Staatsbildung, dann liegt zunächst ein Blick auf Kontexte dieser Aneignung von obrigkeitlichen Institutionen nahe. Die deutlich erkennbare Praxis einer sehr eigenständigen, instrumentellen Nutzung der Justiz bestätigen die Befunde aus anderen Bereichen der Gerichtsbarkeit. Zu den Anklagen bei Hexenverfolgungen wurde zwar bereits früher hervorgehoben, daß die Folter ständig neue Besagungen hervorbrachte, und es war bereits länger bekannt, daß die Rechtskonsulenten ein professionelles Interesse an einer Ausweitung dieser Justiztätigkeit hatten. In den letzten Jahren wurde aber schließlich auch die Bevölkerung als wichtiger Akteur 178 Dinges: Maurermeister (wie Anm. 4), 178. 179 Claverie/ Lamaison: Mariage (wie Anm. 4), 259, 21f. 180 Martin Dinges: Négocier son honneur dans le peuple parisien au XVIIIe siècle: la rue, l’infrajudiciaire et la Justice, in: Garnot: Infrajudiciaire (wie Anm. 42), 393 - 404 betont demgegenüber stärker die Nutzerperspektive. 181 Die wirkungsvolle Drohung ist die entscheidende Differenz gegenüber einer eher rhetorischen Drohung, die dann als »Justizphantasie« zu bezeichnen wäre; vgl. Martin Dinges: Michel Foucault, Justizphantasien und die Macht, in: Gerd Schwerhoff/ Andreas Blauert (Hg.): Mit den Waffen der Justiz, Frankfurt M. 1993, 189 - 212. Martin Dinges 538 entdeckt. 182 Rummel zeigt nachdrücklich, daß sich die Bevölkerung bei ihren Anklagen zwar genau den obrigkeitlich inspirierten Hexendiskurs aneignete. Hatte sie sich aber unter bestimmten institutionellen Bedingungen, den Ausschüssen, die Möglichkeiten dazu geschaffen, verfolgte sie nichtsdestoweniger gleichzeitig mit der Entdeckung weiterer Hexen eigene sekundäre Ziele. 183 Es ging ihr, soweit sich dies rekonstruieren läßt, um die ganze Fülle der üblichen Nachbarschaftsauseinandersetzungen und Alltagskonflikte, die sie im Medium der Hexenbesagung weiterführte. Später, z. B. im nachrevolutionären Frankreich, wurden politisch inspirierte Strafgesetze ähnlich gezielt zur Verfolgung mißliebiger Personengruppen genutzt. 184 Die noch zu schreibende Geschichte der Denunziation dürfte weitere Belege für die Tendenz der Bevölkerungen erbringen, sondergerichtliche bzw. sonderpolizeiliche institutionelle Angebote für ihre Zwecke umzunutzen. 185 Daneben zeigt auch die Forschung zum bäuerlichen Widerstand einerseits die selbstbewußte Nutzung der Justizinstitutionen, andererseits aber die Tendenz, mißliebige Urteile nicht hinzunehmen. Statt dessen schaltete man bei nächster Gelegenheit auf andere Formen sozialer Kontrolle wie die Gewalt um, um so eine als ungerecht empfundene institutionelle Ordnung zu unterlaufen. 186 Daneben prägt ein langlebiges offenes Ringen um das Funktionieren der Gerichtsinstitutionen auch das Verhältnis zwischen Bauern und Herrschaft, so z.B. in Sachsen. 187 Solche Einflußnahme von unten zeigt sich darüber hinaus in dem weiten Feld, das in Suppliken aufgegriffen wird. War die Politikfähigkeit der Bauern früher bereits im engeren Bereich ständischer Vertretung wiederentdeckt worden, 188 so zeigt sich nun anhand der Suppliken auch eine nicht unerhebliche Mitwirkung der »Untertanen« an der Gesetzesanwendung, die letztlich wieder auf die Gesetzgebung zurückwirkt. 189 In England gelang es im 17. Jahrhundert sogar petitionierenden Frauen, Pensionen für Krie- 182 Walter Rummel: Bauern, Herren und Hexen. Studien zur Sozialgeschichte sponheimischer und kurtrierischer Hexenprozesse 1574 - 1664, Göttingen 1991, bes. 161ff.; früher bereits aus der Perspektive des Dorfes Walz: Hexenwahn (wie Anm. 143); s. auch Labouvie: Zauberei (wie Anm. 99), 68ff, 82ff.; jetzt auch Elisabeth Biesel: Hexenjustiz, Volksmagie und soziale Konflikte im lothringischen Raum, Trier 1997, 165 weist auf weitere Landschaften mit Ausschüssen hin. 183 Walter Rummel: »Die Ausrottung des abscheulichen Hexerey Lasters«. Zur Bedeutung populärer Religiosität in einer dörflichen Hexenverfolgung des 17. Jahrhunderts, in: Wolfgang Schieder (Hg.): Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, Göttingen 1986, 51 - 72; auch Biesel: Hexenjustiz (wie Anm. 182), 164 kann vorangegangene andersartige Konflikte rekonstruieren, die zur Hexenbesagung führten. 184 Lewis Gwynn: La terreur blanche et l’application de la Loi Decazes dans le département du Gard (1815 - 1817), in: Annales historiques de la Révolution française 175 (1964), 174 - 193. 185 Hedwig Röckelein/ Günther Jerouschek (Hg.): Denunziation, Tübingen 1997; zur Denunziation in Pestzeiten vgl. Martin Dinges: Pest und Staat. Von der Institutionengeschichte zur sozialen Konstruktion? , in: Ders./ Thomas Schlich (Hg.): Neue Wege in der Seuchengeschichte, Stuttgart 1995, 71 - 103, 79f. sowie zur Verweigerung der Anzeigepflicht unter Verweis auf Bulst 84; vgl. zur Denunziation während der NS-Zeit Robert Gellately: The Gestapo and German Society, Oxford 1990. 186 Winfried Schulze: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1980 mit der Verrechtlichungsthese; Werner Troßbach: Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648 - 1806, Weingarten 1987; Ders.: Raum, Zeit und Schrift. Dimensionen politisch-sozialen Handelns von Bauern in einigen Kleinterritorien (17. und 18. Jahrhundert), in: Peters: Gutsherrschaft (wie Anm. 5), 405 - 418. 187 Schmale: Archäologie (wie Anm. 7), 189f. 188 Peter Blickle: Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, München 1975 bleibt grundlegend; zur Entwicklung der Debatte vgl. Troßbach: Bauern (wie Anm. 60), 79 - 87. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 539 gerwitwen durchzusetzen, die so gar nicht vom Gesetzgeber vorgesehen waren. 190 Da die durch Suppliken direkt beeinflußten Einzelfallentscheidungen in der Verwaltungspraxis des Ancien Régime genauso typisch für die »Gesetzgebung« waren wie die als Entscheidungsorientierung gedachten (Policey- oder Landes-)Ordnungen - was mit dem anderen Gesetzesbegriff der Zeit zusammenhängt -, 191 wird hier ebenfalls die aktive Mitgestaltung der öffentlichen Ordnung durch die Herrschaftssubjekte erkennbar, die eben nicht »unterworfen« (subiecti) waren, sondern »Untertanenpolitik« betrieben. 192 Die Bevölkerung nutzte und beeinflußte also auf vielfältige Weise das obrigkeitliche Institutionenangebot in ihrem Sinn. Dementsprechend ist auch die eigenständige Nutzung der Strafjustiz nicht überraschend. Vielmehr ordnet sie sich in ein Kontinuum von Möglichkeiten der frühneuzeitlichen »Untertanen« ein, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse durch Partizipation an den Institutionen »auszuhandeln«. 193 In dem international gängigen Konzept, daß Herrschaft ausgehandelt wird, ist der »Staat« als wichtiger und mächtiger Verhandlungspartner eine selbstverständliche Größe. Insofern wird er weder aus der Geschichte verbannt, noch unterschätzt. 194 Erstaunlich ist vielmehr, daß die Fragen nach Strafverfolgung und »Kriminalität« die Erforschung der Strafjustiz so stark dominieren konnten, daß die Intentionen und Praktiken der Nutzer bisher so wenig systematisch in den Blick kamen. Das untersuchte Beispiel der Klageerhebungen regt jedenfalls dazu an, die Rechtskultur des Ancien Régime stärker als bereits bisher in der Sozialgeschichte der »Kriminalität« im Sinne des Enkulturationsparadigmas zu deuten. Danach finden zwischen 189 Andreas Würgler: Desideria und Landesordnungen, in: Peter Blickle (Hg.): Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1998, 149 - 297 sowie den Überblick von Würgler u.a.und den Beitrag von André Holenstein, ebd. Vgl. auch W. Hülle: Das Supplikenwesen in Rechtssachen. Anlageplan für eine Dissertation, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 90 (1973), 194 - 212. 190 Geoffrey L. Hudson: Negotiating for Blood Money: War Widows and the Courts in Seventeenth-Century England, in: Kermode/ Walker: Women (wie Anm. 118), 146 - 169. 191 Vgl. dazu Lothar Schilling: Gesetzgebung im Frankreich Ludwigs XIII. - ein konstitutives Element des Absolutismus? , in: Ius commune 24 (1997), 91 - 131, 98ff. 192 Dies im Sinne der Anregungen von Peter Blickle: Deutsche Untertan - ein Widerspruch, München 1981. 193 Vgl. dazu die Skizze von Martin Dinges: Aushandeln von Armut in der Frühen Neuzeit: Selbsthilfepotential, Bürgervorstellungen und Verwaltungslogiken, in: Werkstatt Geschichte 10 (1995), 7 - 15. 194 Die Forderung, die Alltagsperspektive der Zeitgenossen als Ausgangspunkt von Geschichtsschreibung ernst zu nehmen und die Beeinflussung historischer Entwicklungen von unten angemessen bei der Beschreibung des historischen Wandels zu berücksichtigen, scheint für Heinz Schilling schwer verständlich zu sein. »Manichäisch« ist weniger das von mir vertretene Aushandelnskonzept als der Bedarf, meine nicht etatistische Vorstellung vom historischen Wandel - mit Begriffen wie »Polarisierung«, »radikal«, »grundsätzliche Ausgrenzung« - dadurch ad absurdum führen zu wollen, daß er mit »missionarischem Eifer« und - mit einem unzutreffenden Beleg - folgendes unterstellt: »Dinges« (...) »verdammt (M.D.) jedes Konzept, das Einflüsse des Staates in Rechnung stellt«. Tatsächlich kommen auf der von Schilling zitierten Seite 19 »Massenmedien in Staatshand« vor und im Modell des kulturellen Aushandelns von Seuchen auf S. 17 erscheint die »Obrigkeit« als einer von vier Akteuren. Vgl. zu dieser überflüssigen Polemik Heinz Schilling: Disziplinierung oder »Selbstregulierung der Untertanen? «, in: HZ 264 (1997), 675 - 691, 677, Anm. 4 und seine entsprechende Äußerung in: Ders.: Nochmals »Zweite Reformation« in Deutschland, in: ZHF 23 (1996), 501 - 524, 512, Anm. 24 mit dem gleichen unzutreffenden Beleg. Zur selbstreflexiven Rolle des gesetzgebenden Staates vgl. unter Bezugnahme auf die Sozialdisziplinierungsdebatte Dinges: Normsetzung (wie Anm. 26). In der Kritik an etatistischen Akzentsetzungen stimmen die Überlegungen zur »Sittenzucht« von Schmidt: Sozialdisziplinierung (wie Anm. 26) mit meinen Einschätzungen überein. Martin Dinges 540 den Strafgerichten und der Bevölkerung gegenseitige Lernprozesse statt. Akkulturation betont demgegenüber zu sehr die obrigkeitliche oder Elitenperspektive und unterschätzt gleichzeitig die aktive Beteiligung der Bevölkerung an der Veränderung der Rechtskultur. »Verrechtlichung« betont zu stark die systemischen Aspekte in einer Geschichte ohne Subjekte und beachtet zu wenig die Bedeutung der historischen Akteure, die - ob Obrigkeit oder Untertan - erst im historischen Prozeß lernen mußten, mit den entstehenden Institutionen umzugehen und deren Funktionieren so zu ermöglichen. Demgegenüber betont »Enkulturation« erstens die Gegenseitigkeit der Lernvorgänge und zweitens durch den Bezug auf Kultur auch den umfassenden, systemischen Wandel. In diesem Sinn dient die Frage nach den Justiznutzungen vor allem dazu, heuristisch die Bereiche aufzuspüren, die für ein solch verändertes Verständnis der Strafgerichtsbarkeit und ihrer sozialen Wirkungen vorrangig zu untersuchen wären: die Handlungen und Wahrnehmungen der Bevölkerung, die sich zwar unter einschränkenden Bedingungen entwickeln, aber in ihrer Massivität durchaus strukturbildende Wirkung entfalten konnten. Selbstverständlich gilt dabei weiterhin, daß Justiznutzungen in einem Wechselverhältnis zu den beiden anderen Analysebereichen der Justiz, den institutionellen Logiken und den Interessen derer, die die Gerichte betreiben, stehen. Hier sollte nur derjenige von drei analytischen Zugriffen auf die Justiz herausgehoben werden, der bisher am wenigsten beachtet wurde. Dabei blieb noch ein weiteres sehr wichtiges Thema, das Bild der Justizinstitutionen bei der Bevölkerung, ausgespart. 195 Die aus verschiedenen Untersuchungen zusammengestellten empirischen Befunde erlauben derzeit folgendes vorläufige Fazit: Strafjustizinstitutionen wurden umso eher genutzt, je mehr sie lokal verfügbar waren. Danach war wichtig, daß sie für viele erschwinglich sein mußten. Schließlich wurden sie um so eher genutzt, je mehr die Bevölkerung ihr Sanktionsangebot als angemessen wahrnahm. Die geringe Vorhersagbarkeit der Ergebnisse von Strafprozessen dürfte generell als Nutzungsbarriere wirken. Auch förderten Richter teilweise selbst die Vermeidung von Justizinstitutionen. Nicht strafgerichtliche Formen sozialer Kontrolle waren also besonders wichtig, wenn die Justiz fern oder teuer und somit sozial exklusiv war und die Bevölkerung ihre Sanktionen als überzogen, oder, das wäre vielleicht ein Problem des ausgehenden 20. Jahrhunderts, als zu geringfügig erachtete und die Ergebnisse für schwer berechenbar hielt. Diese Faktoren des institutionellen Angebotes beeinflussen nur zum Teil das Nutzungsverhalten. Relativ unabhängig von den institutionellen Ausformungen läßt sich als Forschungshypothese ein dominantes Muster der Justiznutzung hinsichtlich der Nutzergruppen feststellen: So treten durchgehend die (Haus-)Väter vorrangig als Kläger in Erscheinung, allerdings überwiegen dabei nur phasenweise die Inhaber größerer Hofstellen oder höherer Schichtpositionen, so daß eine durchgehende vorrangige Nutzung der Gerichte durch Männer in sozial dominanten Positionen nicht unterstellt werden kann. Auch die soziale Kontrolle bestimmter Altersgruppen wie der geschlechtsreifen, aber sozialökonomisch noch nicht ehefähigen Jugend oder von vor kurzem Immigrierten wird nur phasenweise mit Hilfe der Gerichte betrieben. Die jüngeren unverheirateten Männer spielen nicht zuletzt deshalb eine wichtige Rolle, weil sie nicht selten in Delikte verwickelt waren. Die insgesamt geringere Nutzung der Justiz durch Frauen läßt sich nur teilweise dadurch erklären, daß ihre Interessen in bestimmten Fällen durch Männer 195 Dazu Hinweise bei Jim A. Sharpe: The People and the Law, in: Barry Reay (Hg.): Popular Culture in Seventeenth-Century England, London 1988, 244 - 270 und Dinges: Michel Foucault (wie Anm. 181). Justiznutzungen als soziale Kontrolle 541 mit wahrgenommen werden. Die Frauen wandten sich umso mehr an die Justiz, je mehr sich der Deliktbereich ihren Tätigkeitsfeldern nähert. Demnach nutzen sie die Justiz umso häufiger, je mehr sie beruflich selbständig und dann zumeist auch unverheiratet sind, was in dieser Kombination insgesamt häufiger in der Stadt als auf dem Land zu beobachten ist. 196 Auch setzen sie häufiger auf durch Schlichter vermittelte Schuldanerkenntnisse sowie andere schnelle und billige Verfahren. Die aktivste Nutzung zeigen sie wohl bei Beleidigungsdelikten; also betrachten sie die Lösung der damit zusammenhängenden Probleme auch selbst als eine so wichtige Aufgabe, daß sie zu dem besonders harten Mittel justizieller Sozialkontrolle greifen. Gesellschaftliche Dominanz verheirateter Männer und/ oder Frauen, Älterer gegenüber Jüngeren, Wohlhabenderer gegenüber Ärmeren wird demnach zwar teil- und insbesondere phasenweise durch Justiznutzungen befördert, sie wird aber auch durch diese begrenzt. Allerdings müssen große Teile der nachrangig aktiven Nutzergruppen soziale Kontrolle vorwiegend in nicht justiziellen Formen ausüben. Das heißt nicht, daß nicht auch sie Gerichte nutzen konnten oder auch tatsächlich nutzten, sondern nur, daß es sozial weniger erwartbar war und sie sich tatsächlich seltener dazu entschieden. In bezug auf die Delikte scheint die Nutzung nicht unbedingt und automatisch dann besonders hoch zu sein, wenn ein Delikt im Sinne der geltenden Gesetze als besonders schwer gilt. Vielmehr gehen in die Bewertung einer Abweichung als anklagebedürftig neben der gesetzlichen Klassifizierung weitere Parameter ein: Eine Abweichung wird von der Bevölkerung besonders dann mit den Mitteln der Justiz verfolgt, wenn sie von den Klägern als Gefährdung der Selbstregulierungsmöglichkeiten der »local Community« wahrgenommen wird. Das gilt z.B. für besonders unfaire Begehungsarten, weil damit die »Waffengleichheit« von zwei Kontrahenten als konstitutives Prinzip für die Möglichkeit eines außergerichtlichen, gerechten Interessenausgleichs außer Kraft gesetzt wird. Allerdings können sich solche Vorstellungen von der Selbstregulierungsfähigkeit der Betroffenen durch die Zuordnung bestimmter Formen von Abweichungen zu bestimmten Formen sozialer Kontrolle vielfach sehr einseitig zuungunsten schwächerer Interaktionspartner auswirken. So werden offenbar Verletzungen von Rechtsgütern wie der körperlichen Unversehrtheit von Frauen deshalb besonders selten angeklagt, weil die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen paradoxerweise die Lösungskompetenz für diese Probleme vorwiegend anderen Institutionen als den Gerichten, also etwa den betroffenen Familien oder gar den beteiligten Personen selbst zuschreiben und deshalb nicht die Nutzung einer externen Institution sozialer Kontrolle anstreben. Auch wird in etlichen Fällen soziale Kontrolle von Betroffenen wegen bestehender Machtverhältnisse überhaupt nicht für aussichtsreich gehalten. Weiter scheint das wiederholte oder gar endemische Auftreten von Delikten wie etwa des Diebstahls oder »unsittlichen« Verhaltens indes als weitergehende Bedrohung wahrgenommen zu werden, die dann die Nutzung der Justiz befördern kann. Schließlich begünstigt die Wiederholung von - nicht nur leichten - Abweichungen ähnlicher oder unterschiedlicher Art durch die gleiche Person die Justiznutzung, weil in Bezug auf solche Wiederholungstäter die anderen Formen der sozialen Kontrolle dann als unzureichend wahrgenommen werden. Diese delikt- und personenbezogenen Parameter dürften sich gegenseitig verstärken. 196 Vgl. Heide Wunder: »Jede Arbeit ist ihren Lohn wert«. Zur geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit in: Karin Hansen (Hg.): Geschlechterhirarchie und Arbeitsteilung, Göttingen 1993. Martin Dinges 542 Beachtet man daneben die langfristigen Konstanten, insbesondere des Anklageverhaltens bei Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit von Frauen, dann scheint die Zuordnung der Kompetenz für die soziale Kontrolle bestimmter Delikte durch die Bevölkerung auch über sehr lange Dauer die wichtigste Determinante für das Klageverhalten zu sein. Diese Hypothese wäre etwa hinsichtlich der Verfolgung verschiedener Formen von Gewalt unter Männern für unterschiedliche soziale Kontexte zu überprüfen. Demgegenüber scheint weder die Deliktverbreitung, noch die »Wiederholungstäterschaft«, noch die gesetzliche Einstufung eine vergleichbar große Bedeutung für die Entscheidung über eine Nutzung oder eine Nichtnutzung der Justiz zu haben. Insofern kann man die Hypothese zur Diskussion stellen, daß die wichtigste Variable für Justiznutzungen das Geschlecht ist. Dieses Ergebnis weicht von der gängigen Vorstellung, das Justizangebot dominiere den Justizmarkt, erheblich ab. Aus den dargestellten Parametern ergibt sich, daß jeweils für gegebene historische Konstellationen festzustellen bleibt, welche Abweichungen und Personen(gruppen) vorwiegend außerhalb der Strafgerichte sozial kontrolliert wurden und wie dies im einzelnen geschah. Für die Art der Justiznutzung schält sich als Arbeitshypothese das folgende dominante Muster heraus: Der Teil der Bevölkerung, der überhaupt die Justiz nutzt, setzt recht eigenwillig seine Interessen unter Ausnutzung möglichst aller Institutionen und Verfahrensmittel durch und nutzt dabei gezielt die Konkurrenz unter verschiedenen Gerichten und verwandten Institutionen aus. Allerdings wird die Justiz erst bei hohem Problemdruck und nur nachrangig zur Ergänzung anderer Methoden der sozialen Kontrolle eingesetzt. Die allermeisten Anzeigen wurden nicht zu Ende verfolgt. Anzeigen sind deshalb als die am weitesten verbreitete Form der Justiznutzung die wichtigste Weise, in der die Bevölkerung mit der Justiz umging. Anzeigen dienten hauptsächlich als Mittel zur Höherstufung eines Konfliktes, mit dem zumeist lediglich das Ziel verfolgt wurde, den Druck zur Konfliktlösung außerhalb des Gerichtes zu erhöhen. Demnach werden die Gerichte meistens nur genutzt, um sie nicht bis zur endgültigen Streitentscheidung in einem Urteil in Anspruch nehmen zu müssen. Bei diesem souveränen Umgang mit der Justiz hat derjenige bessere Chancen, sich außergerichtlich - auch bei Straftatbeständen (! ) - zu vergleichen, der glaubwürdig mit der Justiz drohen kann. Die Nutzung der Justiz führt für die Bevölkerung daneben lediglich teilweise zur »Konfliktbeendigung und -lösung« im Sinne eines Ausgleichs. Die Bevölkerung instrumentalisiert allerdings die Strafjustiz auch gegen rechtskräftige Urteile aus der »Ziviljustiz«. Beides verweist - neben den dargestellten geschlechtsspezifischen, sozialökonomischen und deliktspezifischen Nutzungshemmnissen - auf strukturelle Grenzen der Befriedungsfunktion der Justiz, die die große Bedeutung anderer Sozialkontrollagenturen unterstreicht. Unter diesem Gesichtspunkt empfiehlt es sich, nicht nur »Strafgerichte« - in dem untechnischen Sinn, der die Sittengerichte mit einschließt - und die verschiedenen anderen Justizinstitutionen, sondern auch weitere Kontrollagenturen wie das Haus, die Nachbarschaft 197 , Zünfte, Bruderschaften etc. in Mikrostudien für einen Ort parallel zu untersuchen. 198 197 Zur Neubewertung s. Catharina Lis/ Hugo Soly: Neighbourhood Social Change in West European Cities. Sixteenth to Nineteenth Centuries, in: International Review of Social History 38 (1993), 1 - 30. 198 Vgl. dazu Élie Pélaquier: Les chemins du contrôle social entre famille et communauté: le cas de Saint-Victor-de-la-Coste en Bas-Languedoc, au XVIIIe siècle, in: Crime, Histoire & Sociétés/ Crime, History & Societies 1.Jg, H. 2 (1997), 29 - 50. Justiznutzungen als soziale Kontrolle 543 Die angebotsorientierten Erklärungen über die sich wandelnde Funktion der Gerichte, die die Gerichtsverfassung zum wesentlichen Movens für den historischen Wandel erklären, müssen also ebenso wie die funktionalistischen Erklärungen, bei denen die Nutzung der Justiz vorrangig als Ergebnis sozioökonomischer Wandlungsprozesse interpretiert wird, modifiziert werden. Auch die Deutung nach dem Zweiordnungenkonzept bekommt die große Bedeutung der Selbstregulierungskapazitäten und ihrer Einschätzung durch potentielle Justiznutzer als Filter für die Entscheidung der Bevölkerung zur gerichtlichen Form der sozialen Kontrolle nur unzureichend in den Blick. Zwar ist das Justizangebot konstitutiv für die Möglichkeit seiner Nutzung, aber die Art der Nutzung hängt vorwiegend davon ab, wie die Bevölkerung ihre anderen Möglichkeiten sozialer Kontrolle einschätzt. So nutzt sie die Strafgerichte vorwiegend, um eigenständige Chancen sozialer Kontrolle außerhalb des Gerichtes zu verbessern. Sie stuft ihre Justiznutzungen sorgfältig hinsichtlich der Geschlechter wie der Alters- und der sozialen Statusgruppen und in bezug auf einzelne Delikte und Täter danach ab, ob ihr nicht andere, vorzuziehende Formen sozialer Kontrolle zur Verfügung stehen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß der historische Sachverhalt sozialer Kontrolle auch in seiner langfristigen Entwicklung nicht angemessen mit »Theorien« zu erfassen ist, die das institutionelle Angebot und seine internen Entwicklungen in den Vordergrund rücken. Vielmehr sprechen die empirischen Befunde aus mehreren Ländern dafür, die Nutzerperspektive stärker zu beachten, denn nur sie erlaubt es überhaupt, den Stellenwert des Justizsystems im sozialen Kontext zu verstehen. Man wird dann territorial recht unterschiedliche Entwicklungswege der Justiz und ihrer Nutzung konstatieren, die sich jeweils zwischen den untersuchten Zeitpunkten hinsichtlich der genannten Parameter in bestimmten Punkten unterscheiden. In einer längerfristigen Betrachtung erweist sich die entscheidende Besonderheit der Frühen Neuzeit, noch nicht über ein durchgehend ausgebautes Justizsystem mit durchgängigem Instanzenzug zu verfügen, als weniger exotisch. Zwar erlaubte diese Situation den Zeitgenossen durch die Auswahl zwischen verschiedenen Institutionen zur Verfolgung eigener Interessen noch »wildere« Justiznutzungen als später im 19. Jahrhundert. Aber die aktuelle Debatte um Veränderungen des Strafrechts zeigt nur zu deutlich, daß auch in der Gegenwart der Formenwandel sozialer Kontrollagenturen weitergeht 199 . Dabei sind immer wieder Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsschübe zu beobachten, die nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Effizienz der Strafinstitutionen diskutiert werden. Verpolizeilichung, Abschieben in den Bereich des Zivilrechtes, Verlagerung zu Sozialarbeit oder in die Psychiatrie und die Einbeziehung der Nachbarschaftskontrolle in die Polizeistrategie sind heutige institutionelle Alternativen. Für die behandelte Epoche lassen sich zwar einerseits Tendenzen der Verrechtlichung im Sinne einer quantitativ gesteigerten Nutzung von Justizinstitutionen beobachten. Allerdings kann man sich bei den vielen extrem kleinen Reibereien, die vor Gericht ausgetragen werden, durchaus fragen, ob in der Frühen Neuzeit nicht in manchen Gegenden mehr Probleme sozialer Kontrolle vor Gericht kamen als heutzutage. Entscheidend bleibt aber, daß die Strafanzeige bei Gericht in den meisten Fällen nur bedeutet, daß man diese Institution nicht bis zu einem Urteil nutzen will. Demnach bleibt ein Verrechtlichungskonzept, das nur formale Nutzungshäufigkeiten registriert, inhaltlich 199 Lüderssen: Abschaffen (wie Anm. 177). Martin Dinges 544 zu unbestimmt. Jedenfalls folgen dem langfristigen Verrechtlichungstrend, wenn es ihn denn gibt, oft Entinstitutionalisierungsphasen, die man analog zu dem modernisierungstheoretischen Begriff der Verrechtlichung als Entrechtlichungsphasen bezeichnen könnte. 200 Andererseits - und dies scheint mir für die Perspektiven der Kriminalitätsgeschichte noch wichtiger - bleibt offenbar die funktionale Alternative zwischen der Justiznutzung und anderen Formen sozialer Kontrolle erhalten und wird bei Bedarf - teilweise von den Nutzern, teilweise auch von den Institutionen - immer wieder aktualisiert. 201 Die Frage nach den Justiznutzungen als einer unter anderen Formen sozialer Kontrolle lädt dazu ein, quantitative und qualitative Forschungen unter einer neuen Frageperspektive zu verbinden. Ob dabei eine Typenbildung von Gesellschaften unter der Perspektive sozialer Kontrolle entsteht und welche langfristigen Veränderungen die Rolle der Justiznutzungen erfuhren, wird sich zeigen. Jedenfalls weisen auch die anregenden Diskussionen um soziale Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften - die die »Durchherrschung« dieser Gesellschaften in ein Verhältnis zu den Spannungen im »Haus« zu bringen versuchen - daraufhin, wie weit nicht nur die deutsche Historiographie noch von einer Staatsbildungsgeschichte entfernt ist, die auch nur annähernd die Nachfrage nach sozialer Kontrolle von unten angemessen berücksichtigt. 202 Die Herstellung öffentlicher Ordnung ist nicht das Ergebnis des Angebots von Justizinstitutionen, sie ist auch nicht eine abhängige Variable von sozioökonomischem oder demographischem Stress, der interessierte Bevölkerungsgruppen zur Klage bei Gericht treibt. 203 Sie ist vielmehr Ergebnis eines komplexeren Zusammenspiels dieser Faktoren mit ihrer Einschätzung durch die historischen Subjekte, die letzlich entscheiden, ob sie überhaupt die Justiz in Anspruch nehmen oder sich selbst mit anderen Formen der sozialen Kontrolle helfen. Befunde über die derzeitigen Praktiken sozialer Kontrolle mit oder ohne Polizei und Gerichte in der Bundesrepublik zeigen, wie aktuell diese Überlegungen zur Justiznutzung in der Frühen Neuzeit sind. 204 200 Zweifel scheinen auch für den Bereich der Strafjustiz zu hegen: Lenman/ Parker: State (wie Anm. 1), 16; jedenfalls waren neun Zehntel der Zuwächse im 16. und 17. Jahrhundert zivilrechtliche Fälle. 201 Dies ist eine Paralelle zu der kürzlich herausgearbeiteten funktionalen Alternative Recht und Ritual; vgl. dazu Heinz Duchhardt/ Gert Melville (Hg.): Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln 1997, bes. VII. 202 Dazu sind die Diskussionsbeiträge in Peters: Gutsherrschaft (wie Anm. 5), 438ff., 442, 471 - 475 beachtenswert. S.a. Jürgen Schlumbohm: Gesetze, die nicht durchgesetzt werden - ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? , in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 647 - 663. 203 Zur dieser unzureichenden Konzeptualisierung vgl. Helmut Thome: Modernization and Crime: What is the Explanation? , in: IAHCCJ Bulletin 20 (1995), 31 - 48, bes. 35. 204 Hanak/ Stehr/ Steinert: Ärgernisse (wie Anm. 29). 545 Francisca Loetz L’infrajudiciaire Facetten und Bedeutung eines Konzepts 1 Die Historische Kriminalitätsforschung hat sich, wie die Literaturberichte im vorliegenden Band verdeutlichen, insbesondere im englisch- und französischsprachigen Raum zu einem bedeutenden Forschungsschwerpunkt entwickelt. Ihre Vertreter lenken die Aufmerksamkeit vorwiegend auf die Rekonstruktion von Delikt-, Täter- und Strafprofilen mithilfe quantitativer Methoden. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft hingegen stellt die Historische Kriminalitätsforschung eine noch sehr junge Ausrichtung dar, die ihren Akzent eher auf die Erarbeitung einer qualitativen Sozial- und Kulturgeschichte des Rechtsalltags legt. 2 Vor dem Hintergrund dieses wachsenden Interesses am Verständnis von Konfliktregelung als sozio-kulturellem Phänomen scheint mir der aus der französischen Forschung stammende und dort etablierte Begriff infrajudiciaire 3 von zentraler Bedeutung zu sein. 4 So veranschaulichen etwa die Kurzreferate, die anläßlich einer Tagung des Dijoneser centre d’études historiques zum Thema des infrajudiciaire gehalten wurden, welchen Beitrag zur Erforschung des Rechtsalltags die vornehmlich qualitativ orientierten Fallstudien leisten. 5 Die Arbeiten zur außergerichtlichen Konfliktaustragung verdeutlichen, daß Konflikte innerhalb einer Gesellschaft in vielfältigsten Formen geregelt werden und daher die Betrachtung allein von gerichtlichen Vorgängen eine inadäquate Reduzierung der Rechtswirklichkeit 1 Ich danke Martin Dinges (Stuttgart), Arthur Hartmann und Caja Thimm (beide Heidelberg) für die kritische Durchsicht des Manuskripts. 2 Daher auch der treffende Titel des sozialhistorisch orientierten Forschungsüberblicks über die deutsche Literatur bei Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 681 - 715. Als jüngste Zusammenfassung des Forschungsstands aus eher rechtsgeschichtlicher Perspektive vgl. Hermann Romer: Historische Kriminologie. Zum Forschungsstand in der deutschsprachigen Literatur der letzten zwanzig Jahre, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 14 (1992), 227 - 242. 3 Wörtlich übersetzt müßte der Begriff l’infrajudiciaire, der französischen Substantivierung des Adjektivs entsprechend, als »das Infrajustizielle« wiedergegeben werden. Dagegen spricht, daß die im Französischen üblichen und begrifflich klaren Substantivierungen von Adjektiven wie z.B. le social in der deutschen Übertragung zu unpräzise sind. Da ferner, wie zu zeigen sein wird, das Präfix infra nicht lediglich »Justiz unterhalb der Gerichtsebene« meint, habe ich auf eine mißverständliche Eindeutschung als »Infrajustiz« oder eine einengende Umschreibung als »vorgerichtliche Konfliktregelung« verzichtet und stattdessen die neutrale Paraphrase »außergerichtliche Konfliktlösung« gewählt oder aus stilistischen Gründen den französischen Terminus »infrajudiciaire« übernommen. 4 Die Beschäftigung mit dem Thema des infrajudiciaire reicht in Frankreich bis in die frühen achtziger Jahre zurück. Vgl. etwa die einschlägigen Studien der Eheleute Castan, die Aufsätze Alfred Somans oder auch Beiträge in der Zeitschrift Annales. E.S.C. Vgl. beispielsweise Nicole Castan/ Yves Castan: Vivre ensemble: Ordre et désordre en Languedoc (XVIIe -XVIIIe siècles), Paris 1981; Alfred Soman: Deviance and Criminal Justice in Western Europe 1300 - 1800. An Essay in Structure, in: Criminal Justice History 1 (1980), 3 - 28; ders.: L’infrajustice à Paris d’après les archives nationales, in: Histoire, économie, société 1 (1982), 361 - 375; Patrick J. Geary: Vivre en conflit dans une France sans Etat. Typologie de mécanisme de règlement des conflits (1050 - 1200), in: Annales E.S.C. 41 (1986), 1107 - 1133. 5 Vgl. den Tagungsband Benoît Garnot (Hg.): L’infrajudiciaire du Moyen Age à l’époque contemporaine. Actes du colloque de Dijon 5 - 6 octobre 1995, Dijon 1996. Francisca Loetz 546 darstellt. Die Recherchen zum infrajudiciaire unterstreichen ferner, daß Gesetzgebung und Gesetzesanwendung nicht einer gesetzlosen Sphäre gegenübergestellt werden können, sondern daß Rechtspraxis vielmehr auf dem Zusammenspiel von formellen und informellen Formen der Konfliktaustragung beruht. Ungeachtet der Anregungen, die im Begriff des infrajudiciaire liegen, spielt das Konzept der außergerichtlichen Konfliktaustragung in der deutsch- und englischsprachigen Forschung eine untergeordnete Rolle, obgleich das Thema der außergerichtlichen Konfliktbewältigung hier und dort aufgenommen wird. 6 Freilich ist diese mangelnde Auseinandersetzung mit dem Konzept des infrajudiciaire nicht allein auf Rezeptionsprobleme im Fach, sondern auch auf Schwächen des Konzepts selbst zurückzuführen. Kennzeichnenderweise zog Benoît Garnot am Ende erwähnter Dijoneser Tagung das Fazit, daß zwar über die Praktiken außergerichtlicher Konfliktaustragung Konsens hergestellt worden, die Konzeptualisierung des Begriffs aber weiterhin offen geblieben sei. Aufgabe dieses Beitrags ist es daher, zunächst anhand empirischer Beispiele zu veranschaulichen, welche Spuren außergerichtliche Konfliktlösung in Justizquellen hinterlassen hat. An den konkreten Einzelfällen soll ausgeführt werden, welche Kennzeichen, Regeln, Bedingungen und rituelle Formen die außergerichtlicher Einigung charakterisieren, in welchem Verhältnis Justiz und infrajudiciaire bei einer außergerichtlichen Konfliktbewältigung zueinander stehen und welche Kategorien einer solchen Konfliktlösung jeweils zu unterscheiden sind. In einem zweiten Schritt gilt es von diesen Beispielen zu abstrahieren, um den Begriff des infrajudiciaire in seinen wesentlichen Ausprägungen im Anschluß an die französische Forschung zu konzeptualisieren. Abschließend wird zu diskutieren sein, welcher Stellenwert der Betrachtung des außergerichtlichen Raums in einer sozial- und kulturgeschichtlich orientierten Historischen Kriminalitätsforschung der Frühen Neuzeit zukommt. Ein Blick in die Rechtspraxis: das Beispiel des frühneuzeitlichen Territorialstaates Zürich 7 Als Marx Wingkler um 1552 sich wegen Friedbruchs vor Gericht verantworten mußte, gab dieser folgende Stellungnahme zu Protokoll: 8 Er sei am Samstag vor drei Wochen zusammen mit Jacob Fröhlich und Heini Müller in einem Bülacher Wirtshaus einge- 6 Vgl. etwa als deutsche Beispiele Hinweise auf die Regelung von Schlägereien und Körperverletzungen in Köln, die Festsetzung von Alimentationszahlungen an uneheliche Mütter oder innerdörfliche Formen der Konfliktbeilegung in Brandenburg bei Gerhard Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991, 288; Ulrike Gleixner: »Das Mensch« und »der Kerl«. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der frühen Neuzeit (1700 - 1760), Frankfurt a. Main 1994, 202, 208f.; Monika Mommertz: »Ich. Lisa Thielen«. Text als Handlung und sprachliche Struktur - ein methodischer Vorschlag, in: Historische Anthropologie 4 (1996), 303 - 329; hier: 315. 7 Die Beispiele stammen alle aus dem Staatsarchiv des Kantons Zürich, insbesondere den Kundschaften und Nachgängen (Protokolle der Aussagen der Angeklagten und Zeugen vor den Kundschaftern bzw. Nachgängern als Vertreter des Gerichts) und werden im folgenden unter ihrer dortigen Signatur aufgeführt. Daß die Beispiele auf Injurienhändel und Blasphemiefälle verweisen, hängt nicht primär mit dem Thema der außergerichtlichen Konfliktregelung zusammen, sondern ist lediglich durch die Perspektive meines Habilitationsprojekts zum Delikt der Gotteslästerung bedingt, unter der ich die genannten Justizakten derzeit bearbeite. 8 A. 27. 19, ca. 1552. L’infrajudiciaire 547 kehrt und dort mit ihnen guter Dinge gewesen. Auf dem Heimweg jedoch habe er, Wingkler, Fröhlich darum gebeten, ihm den Anteil an der Zeche zurückzuerstatten, den er für ihn ausgelegt hatte. Fröhlich habe dies aber abgelehnt. Daher habe er, Wingkler, sich veranlaßt gesehen, Fröhlich als Dieb zu bezichtigen. Daraufhin sei zwischen ihnen eine Schlägerei ausgebrochen: Daruff Heÿnÿ Müller vonn Hochfeldenn Inen frid pottenn, doch nur von mund unnd nit mit der hannd. Wingkler habe sich mit Fröhlich weiter geschlagen, bis er, Wingkler, verletzt am Boden liegen geblieben sei. Inn dem sÿge Jakob Fröhlich heÿmganngen unnd ... sömliches sinen Sönen antzeÿgt. Dann, wie er [ Wingkler ] heÿm wellen unnd für deß fröhlichs huß anhin ganngenn, sÿgennt sine [ des Fröhlichs ] zween Sön uff dem mist gstannden unnd Inn der ein mit der gablen zuo bodenn geschlagenn. Damit die sach sich gerundet. Ganz gerundet kann sich die Sache nicht haben. Sie hätte sonst keine Spuren in den Justizakten hinterlassen. Dieser Fall verdeutlicht vielmehr ein grundlegendes Kennzeichen außergerichtlicher Regelung: In der Frühen Neuzeit suchten die Zeitgenossen Alltagskonflikte erst einmal ohne Hinzuziehung eines Gerichts nach dem Äquivalenzprinzip zu regeln. Wingkler hatte in der handgreiflichen Auseinandersetzung zwar eine zweimalige Niederlage einstecken müssen, dennoch schätzte er die Lage dahingehend ein, daß er mit seinem Kontrahenten quitt war. Offensichtlich betrachtete er den Angriff der Söhne Fröhlichs angesichts der von ihm provozierten Schlägerei und des von ihm begangenen Friedbruchs als gerechtfertigt und somit als legitime gleichwertige Reaktion. Der Selbstdarstellung des Beklagten zufolge hätte es nicht mehr einer gerichtlichen Klärung bedurft, da doch die Kräftebalance ohne Hinzuziehung eines Gerichts, im justizfreien Raum, wiederhergestellt worden war. Daß Wingkler vor Gericht zitiert wurde, zeigt indes, daß sein Kontrahent diese Einschätzung nicht geteilt haben dürfte (aus den Akten ist der Kläger nicht eindeutig zu ersehen). Somit wird eine von mehreren Kategorien außergerichtlicher Konfliktregelung ersichtlich: L’infrajudiciaire konnte, so das erste Zwischenergebnis, einem Raum entsprechen, auf den die Justiz keinen Zugriff hatte, kam also einer Leerstelle im formalen Justizsystem gleich, welche die informelle und bestimmten Gerechtigkeitsprinzipien gemäß als angemessen empfundene Selbsthilfe ausfüllte und welche - im historischen Rückblick aus etatistischer Perspektive - die Dunkelziffer der nicht erfaßten Delikte ausmacht. L’infrajudiciaire läßt sich insofern als »nichtgerichtliche« Einigung fassen. Die Äquivalenzregel bei der Austragung von Konflikten im außergerichtlichen Raum war nicht auf handgreifliche Streitigkeiten beschränkt. Dies belegt eine Szene in einem Richtischwyler Wirtshaus vom April 1612. Der evangelische Uli Walder von Holtzhusen hatte sich erlaubt, die Jungfräulichkeit der Mutter Gottes nicht nur in Zweifel zu ziehen, sondern Maria zudem als uneheliche Mutter und damit gleichsam als Prostituierte hinzustellen. Daraufhin hätten, so das Aussageprotokoll des Zeugen Rudolf Goldschmid, die katholischen Trinkkumpanen aus Ärgeri und Einsiedeln Walder aufgefordert, die Zeche zu übernehmen, was er jedoch verweigert habe. Der evangelische Junghans Zollinger sei jedoch eingesprungen: [ Dieser ] habe sich anerboten, welle der beßßer sÿn unnd umb frid und einigkeit willen die Ürten [ die Zeche ] zallen. Doch daß sölliche sach hin tod und absÿn unnd der Walder diser sach wägen (...) nit gfarrt oder gfängklich ÿnzogen werden. Welliches die beid (...) dem Zollinger Inn die hand verheißen. Unnd daruf hin nach ein wÿl mit ein anderen trunken unnd volgenz mit guten willen von ein anderen gescheiden. 9 Demnach hatten die Katholiken ihre Bereitschaft 9 A. 27.57, um April 1612. Francisca Loetz 548 signalisiert, gegen eine materielle Wiedergutmachung auf die Verfolgung des Rechtsbruchs, den Walder mit der Verletzung des Landfriedens durch das Delikt der Religionsschmähe begangen hatte, 10 zu verzichten. Im Grunde genommen boten sie folgendes Tauschgeschäft an: Übernahme der Wirtshausrechnung gegen das formale Versprechen, von einer Klage abzusehen. Obwohl die Parteien ohne Hinzuziehung von Dritten, also unter Verzicht auf formelle gerichtliche Schritte eine erfolgreiche außergerichtliche Regelung gefunden hatten, gelangte die Sache vor das Gericht. Irgendjemand - die Person läßt sich aus den Akten nicht erschließen - muß geklagt haben. Dabei fällt auf, daß weder der Wirt noch der Zeuge und Gerichtsdiener Heinrich Schnyder Anzeige erstatteten, obgleich beide dazu von Amts wegen verpflichtet gewesen wären, weshalb sie sich später vor Gericht verantworten mußten. 11 Stattdessen hatten sie im Unterschied zum unbekannten Kläger die außergerichtliche Einigung der Trinkkumpanen auf sich beruhen lassen und damit als »Aufsichtspersonen« einen alternativen außergerichtlichen Raum der Konfliktlösung toleriert. Das Beispiel der Richtischwyler Wirtshausszene, so das zweite Zwischenergebnis, präzisiert die charakteristischen Elemente des infrajudiciaire. Außergerichtliche Konfliktlösung erstreckte sich nicht nur auf Fälle, in denen die Kontrahenten einander einen vergleichbaren körperlichen oder materiellen Schaden zugefügt hatten, sondern in denen es auch um die als adäquat erachtete Wiedergutmachung einer symbolischen Verletzung ging. Dieses Wiedergutmachungsprinzip, nach dem sich die Beteiligten selbstständig orientierten, funktionierte unter drei Bedingungen: Die Kontrahenten mußten einen für sie befriedigenden Ausgleich erreichen. Waren Personen mit obrigkeitlichen Aufsichtspflichten Zeugen der Konfliktregelung, so mußten diese die Einigung zumindest tolerieren. Doch setzte dies ebenso voraus, daß weitere Anwesende gegen die Form und das Ergebnis der Konfliktregelung einer gütlichen außergerichtlichen Regelung nichts einzuwenden hatten und sich daher nicht bewogen fühlten, den Fall Vertretern der Justiz zu melden. Außergerichtliche Lösungen erforderten also nicht nur Einigungsfähigkeit bei den Kontrahenten und Toleranz seitens der Obrigkeit, wenn sie Zeugen einer Auseinandersetzung wurden, sondern auch soziale Akzeptanz bei den Zeugen. Weitere Kennzeichen charakterisieren den außergerichtlichen Interessenausgleich, wie die folgende Wirtshausszene aus dem Jahre 1659 zeigt. 12 Den Aussagen des Altstettener Wirts Guldner zufolge, hatte der Wirt beobachtet, wie drei seiner weiteren Gäste, Andreas Koller so gar unhoflich (...) von dem Brot gerissen. Deswegen habe er, Guldner, den ebenfalls anwesenden Metzger Schneebeli gebeten, den dreien sein Schlachtmesser zu leihen. Schneebeli habe hierin eingewilligt und drei Stunden später sein Messer zurückerbeten, woraufhin die drei Gäste jedoch behauptet hätten, nicht mehr im Besitz des Messers zu sein: Kam die sach so weit, daß des wirts muoter umb vermÿdung wüster schwüren und anderen übels ehe das messer zu bezahlen versprochen. Der Metzger indes habe sein Messer unverzüglich zurückhaben und sich nicht mit dem Angebot der Mutter zufriedengeben wollen. Da habe Muntwyler angeboten, sich durchsuchen zu lassen, weßwegen des wirtsknecht [Felix Freÿ von Hedingen] berufft und als unpartheÿisch hierzu 10 Zu den Regelungen des Landfriedens im einzelnen vgl. Rudolf Pfister: Kirchengeschichte der Schweiz. Von der Reform bis zum zweiten Villmerger Krieg, Bd.2, Zürich 1974, 114 - 119, 254f., 636f. 11 A. 27.57, um April 1612. 12 A.27.96, 18.2.1659. L’infrajudiciaire 549 verordnet worden. Dieser habe allerdings nichts gefunden, so daß sich hierauf Schneebeli bis auf das Hemd ausgezogen habe, um sich einer Durchsuchung zu unterziehen. Als ein vierter Gast nun auch aufgestanden sei, um sich abtasten zu lassen, sei Zischli sitzen geblieben. Als dieser durchsucht werden sollte, habe die Wirtin nach dem Messer gesucht und es schließlich unter einem Kissen auf der Bank zwischen Zischli und Koller gefunden. So bald der Muntwÿler solches gesehen, erbran er im Zorn und sprach zuom Schneebeli: Geld metzger, du hast das messer hinder mir nit funden, du Roter verdamter Kätzer. Bei der folgenden Schlägerei sei es schließlich dem Wirtsknecht gelungen, zwischen den Streitenden Frieden zu stiften, so daß der Muntwÿler dem Metzger die hand [ bot ] , küßt ihn zum offtermahlen, entschluog von freÿgen stuken und bate, er wolle doch nichts an ihn zürnen und ihm nicht weÿters thuon, dan er habe sin part bekomen (...), ließ drüber wÿn bringen, botte dem Metzger einen truonk und legt sich hiernach zum Ofen schlaafen. Anschließend habe Schneebeli Zischli und Koller angesprochen und ihnen vorgeworfen, daß einer von ihnen das Messer genommen haben müsse, worauf erneut eine Schlägerei ausgebrochen sei. Der Metzger habe beide zu Boden geworfen und schwer verletzt. Schließlich sei Zischli wieder aufgestanden und habe gesagt, was es ihn gheÿ [ angehe ] , er hab ietz seinen theil auch, wölle dafür ein maaß weÿn trinken. Koller aber habe zum Schrecken Schneebelis zuerst leblos auf dem Boden gelegen, bis er wieder aufgestanden und zu Zischli an den Tisch gegangen sei, um dort weiterzutrinken. Bevor der Metzger schließlich nach Hause gegangen sei, habe er für alle vier die Zeche beglichen, deßen sie [die 3 Kontrahenten] morndens gar wol zefriden ihn umb verzeichuong batend mit verheißung sich ins künfftig an ihme nit zu rächen, (...) worauf der Metzger ihnen gescheiden. Die Wirtshausszene resümiert zum einen die Elemente, welche die außergerichtliche Auseinandersetzung unter bestimmten Bedingungen insofern zu einer alternativen Rechtsform macht, als die Konfliktparteien autonom von der Justiz einen Streitfall für sich lösten. Zum anderen verweist sie ferner auf die rituellen Formen, derer sich manche Konfliktparteien in der außergerichtlichen Auseinandersetzung bedienten: Gelang es den Kontrahenten nicht, untereinander zu einer Einigung zu gelangen, wurde eine dritte, möglichst unparteische Person hinzugezogen. Ziel war es, Forderungen dadurch aufzuheben, daß die Kontrahenten ein für beide Seiten angemessenes Gleichgewicht der Kräfte herstellten. So lehnte der Metzger den Vorschlag der »Wirtsmutter« ab, sich für das Messer materiell entschädigen zu lassen. Es ging ihm um den Ehrverlust, den ihm der Spott mit dem versteckten Messer eingebracht hätte und den er durch die für ihn erfolgreiche Schlägerei wettmachte. Dies gestanden Koller und Muntwyler ihm auch zu, indem sie beide einräumten, in der Prügelei ihre gerechte, äquivalente Strafe bezogen zu haben. Scheebeli wiederum stellte durch Begleichen der Wirtshausrechnung seinen Friedenswillen unter Beweis, was ihm Muntwyler mit einer rituellen Geste derVersöhnung, dem Kuß, dankte. Das Ritual der Friedensvereinbarung ging sogar noch weiter. Koller, Muntwyler und Züschli baten Schneebeli am folgenden Tag nicht nur um Verzeihung, sondern gaben das Versprechen ab, sich nicht an ihm zu rächen. Sie schworen damit quasi Urfehde, wie sie in einem förmlichen Verfahren zu erwarten gewesen wäre. Genauso nahm der Metzger die informelle »Urgicht« an und hob analog zu einem Gericht das Verfahren auf, indem er die Sache ausdrücklich als geschieden anerkannte. Demnach konnte mit außergerichtlichen Mitteln die volle Wiedergutmachung eines Schadens erreicht werden, wobei die Versöhnungsrituale Resonanzen mit denjenigen der formellen Justiz aufweisen konn- Francisca Loetz 550 ten. 13 Der Fall Schneebeli contra Koller und Co. belegt also, um das dritte Zwischenergebnis festzuhalten, daß die außergerichtliche Konfliktbeilegung zwar die Funktion einer Alternative zum Gericht besaß, aber deswegen nicht nur informellen Regeln des Ausgleichs folgte, sondern vielmehr auch mit der Justiz identische ritualisierte Formen der Versöhnung kannte. Diese Feststellung wirft die Frage danach auf, in welchem Verhältnis Justiz und infrajudiciaire zueinander standen. Einen offen justizsubstituierenden Charakter erfüllte die außergerichtliche Einigung dann, wenn die obrigkeitlichen Instanzen über die Toleranz eines gewissen außergerichtlichen Freiraums hinausgingen, indem sie die Regelung eines Streitfalls entschieden ablehnten und diesen einer »alternativen« Lösung zuzuführen suchten. Hiervon zeugt ein nicht genauer datierbares Beispiel aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts: 14 Balthasar Wydenhuber von Sankt Gallen, so seine Aussage, hatte für Ulrich Zolligkhofer in einer Schuldensache mit Jörg Kilchrath eine Einigung vor Gericht zu erzielen gesucht. Dieses habe aber die Parteien aufgefordert, sich an Meister Wegman zu wenden, dergestalt, das er lugen [ schauen sollte ] , das er sÿ gütlich miteinanderen vereinbaren möchte. Das Gericht wies den Fall also schlichtweg ab, um stattdessen auf eine Schiedsperson zu verweisen, die statt ihrer den Konflikt lösen sollte. Damit verzichtete nicht nur die Justiz selbst auf allumfassende schiedsrichterliche Ansprüche, sie legitimierte auch explizit Formen außergerichtlicher Regelung und wies ihnen somit als Alternative zu einem Gerichtsverfahren substitutive Funktion zu. 15 Die Fälle, in denen der Weg von der Justiz zum infrajudiciaire hin führte, dürften allerdings eher die Ausnahme gewesen sein. Die Gerichtsakten vermitteln den Eindruck, daß die außergerichtliche Konfliktaustragung häufig einen ersten Schritt auf dem Weg zum Gericht darstellte und damit als vorgerichtlicher Einigungsversuch zu betrachten ist. Dies läßt die Reaktion des Vogts Hans Jacob Hönysen zu Alten erkennen. Als er 1684 vom Gericht angeklagt wurde, eine gotteslästerliche Bemerkung über die Qualität desjenigen Weins gemacht zu haben, den ihm sein Verwandter und Seckelmeister Landolt geliefert hatte, gab er zu bedenken, 16 daß Landolt ihn niemahlen beschelkt [ ermahnt ] oder ihme das geringste verwisen, da er es doch als sein gevater sonderlich morndeß [ vor Erstatten der Anzeige ] im vertrauwen hete thun sollen. Die Selbstdarstellung Hönysens als Opfer Landolts, der umgehend die Justiz eingeschaltet habe, statt die Sache erst einmal untereinander zu besprechen, liefert somit einen - allerdings nur indirekten - Beleg dafür, daß außergerichtliche Vermittlungsversuche von den Zeitgenossen als eine Vorstufe zur Justiz betrachtet wurden. Denn Honysen hätte sich seines Arguments nicht bedienen können, wäre er nicht davon ausgegangen, daß seine Selbstrechtfertigung vor Gericht zumindest eine gewisse Überzeugungskraft besitzen würde. Das Verhältnis von Justiz und infrajudiciaire war somit dadurch gekennzeichnet, daß außergerichliche Konfliktbewältigung das Gericht substituieren konnte, wohingegen gescheiterte Lösungsversuche eine vorgerichtliche Etappe auf dem Weg zum Gericht darstellten. 13 Freilich ist es hierbei eine offene Frage, ob außergerichtliche Formen der Konfliktregelung sich an Muster der formellen Urteilsfindung anlehnten oder umgekehrt. 14 A.27.11. 15 Auf die Bedeutung vergleichbarer schiedsgerichtlicher Verfahren weist ebenso hin: Katja Hürlimann: Soziale Beziehungen im Dorf. Aspekte dörflicher Soziabilität in den Landvogteien Greifensee und Kyburg um 1500, Diss. phil., Zürich 1997, 32 - 41. 16 A. 27.113, 12.11.1684. L’infrajudiciaire 551 Die Wirtshausszene mit dem Konstanzer Fuhrman Seteli deckt eine weitere Facette des Verhältnisses zwischen gerichtlicher und außergerichtlicher Konfliktaustragung auf. Soweit sich aus den teilweise widersprüchlichen Aussagen der Zeugen rekonstruieren läßt, 17 war Seteli betrunken in ein Gasthaus der Stadt Zürich zurückgekehrt, um dort zu übernachten. Bevor er sich schlafen legte, lud er jedoch drei ihm unbekannte Männer, David Füßli, Caspar Koller und Jacob Haller, zu einem Trunk und einer Kleinigkeit zum Essen ein. Als die Suppe samt Brot gereicht wurde, beging er eine Religionsschmähe. Er bezeichnete das Brot als Zürcher Oblaten und gab vermutlich sogar zu verstehen, er habe sich deswegen übergeben müssen, weil er diese Oblaten zu sich genommen habe. Wie reagierten die Zürcher Trinkkumpanen auf diese schwere Beleidigung der reformierten Religion? Anstatt ordnungsgemäß Meldung zu erstatten, wandten sich Koller und Haller am nächsten Morgen an Seteli, dem gegenüber sie als Unbekannten in keiner Pflicht standen und den sie also nicht zu schonen brauchten. Der Aussage des Wirts und Hauptmanns Jagli zufolge hätten die beiden Seteli indes zugesprochen, er sölle Gott dem Allmechtigen ernstlichen umb verzÿchung petten. Wo er ein sölliches nit thun, wurdind sÿ ver ursachet, sölliches dem Hrn. [ Herrn ] Burgermeister oder Hrn. Pfarrer Breitinger anzuzeigen. Darüber Seteli nochmalen begert, sÿ söllind nüt daruß machen und habe Uff Ir begeren Ime Hrn. Haubtmann 5 lb gelts, die er In das Allmoßen Seckli legen sölle zu geben versprochen. Darnebent deme er, Seteli, die 3 fl 10ß, wellche sÿ In den obstenden schlafftrunck verzehrt Ime zebezallen versprochen habe. 18 Koller und Haller nahmen also für sich in Anspruch, anstelle des Gerichts und damit als »alternative« Justizpersonen handeln zu können. Gemäß dem frühneuzeitlichen Ehrverständnisses 19 verlangten sie eine Entschuldigung bei dem Beleidigten, dem in seinem Abendmahlssakrament injurierten Gott der Reformierten, erhoben eine für Religionsschmähungen übliche Geldstrafe und wiesen für ihren Verzicht auf eine Meldung Seteli die Kosten für Speis und Trank zu, so wie in einem Gerichtsverfahren die für schuldig Befundenen die Gerichtskosten zu übernehmen hatten. Koller und Haller verlangten also nicht eine persönliche Wiedergutmachung, sondern verhängten ein schiedsrichterliches Urteil (förmliche Entschuldigung, Geldbuße, Übernahme der »Gerichtskosten« durch den Schuldigen). Allerdings tolerierten diesmal die Vertreter der Obrigkeit die außergerichtliche Regelung nicht. Als der Ratsredner Wüst vom Vorfall erfuhr, forderte er nach eigener Aussage den Ratsredner Berger auf, mit ihm zusammen den Wirt aufzusuchen, um sich die Sache schildern zu lassen. Beide Amtsleute hätten darauf feststellen müssen, werde nit also verblÿben (...) Sÿ wolten nit, das sÿ [ Haller und Koller ] thädungs herren geweßen weren (...) 20 Mit der Thädigung, der förmlichen aber informellen Regelung, 21 hatten die beiden sich, so das Urteil der Ratsredner, Rechte angemaßt, die ihnen nicht zustanden. Die Religionsschmähe hatte für sie einen politisch und konfessionell 17 A. 27.71: Aussagen der insgesamt 18 Zeugen zum Fall Seteli vom 8.11.1633 bis 27.11.1633. 18 A.27.71, 8.11.1633. 19 Zum Stellenwert der Ehre in frühneuzeitlichen Gesellschaften vgl. als jüngsten deutschsprachigen Sammelband: Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995. Der geschlechtergeschichtlichen Perspektive widmen sich insbesondere an den Beispielen der frühneuzeitlichen Städte Rom und Paris bzw. des neuzeitlichen Frankreichs Elizabeth S. Cohen: Honor and Gender in the Streets of Early Modern Rome, in: Journal of Interdisciplinary History 22 (1992), 597 - 625; Martin Dinges: Sexualitätsdiskurse in der Frühneuzeit, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 24 (1995), 12 - 20; William M. Reddy: The Invisible Code. Honor and Sentiment in Post-Revolutionary France 1814 - 1848, Berkeley 1997. 20 A.27.71, 8.11.1633. Francisca Loetz 552 zu stark aufgeladenen Charakter, als daß sie unter Privatleuten hätte aufgehoben werden können. Aus Sicht der Amtspersonen kam deren außergerichtliche Regelung einer nicht tolerierbaren Handlung gleich, die offenbar von den Ratsrednern insofern als »subversiv« empfunden wurde, als für sie Koller und Haller obrigkeitliche Herrschaftsrechte an sich gerissen hatten. Das Beispiel Setelis verdeutlicht also, daß der alternativ zur Rechtssprechung gestaltete außergerichtliche Vergleich, spätestens dann problematisch wurde, wenn sich die Obrigkeit - wie in Ober- und Niederösterreich - 22 in ihren Herrschaftsansprüchen gefährdet sah. Das Gleiche gilt in Fällen, bei denen Personen in ihrer Eigenschaft als Amtspersonen betroffen waren. Hierzu sei das Beispiel eines Streits zwischen zwei Amtsschreibern angeführt: Seiner Darstellung zufolge hatte der Unteramtsschreiber Escher von Uwisen im Jahre 1713 den Amtsschreiber Wiser aufgefordert, seiner Vorladung in die Kanzlei Folge zu leisten. Wiser habe sich aber geweigert, der Anweisung nachzukommen und insistiert, von Gerichtsdienern abgeholt zu werden, sofern sie hierzu überhaupt eine rechtskräftige Anweisung besäßen. Schließlich habe er, Escher, Wiser förmlich beschicken lassen, woraufhin dieser auch in der Kanzlei erschienen sei, sich dort aber ungebührlich aufgeführt habe. Er habe Wiser deswegen ermahnt und ihm deutlich gemacht, daß er nicht ihme alß ein particular, sonder [ n ] in Namen der hohen Obrigkeit [ handle ] und daher sein Angebot, Satisfaktion zu leisten, ablehne. 23 Ebenso hielt Wiser in seiner Stellungnahme fest, daß Escher den Vorschlag, die Sache à part zu klären, weit von sich gewiesen habe. 24 Eine außergerichtliche Lösung hatte offenbar in dieser Auseinandersetzung zwischen einem untergeordneten Amtmann, der nicht als Privatper- 21 »Teidingen« (bzw. »tädigen«) kann sowohl die gerichtliche Verhandlung als auch die informelle Unterhandlung bezeichnen. Vgl. zur Wortbedeutung Jacob Grimm/ Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Teil I/ 1, Leipzig 1935, 234. »Tädingsherren« meint die zu einem Vergleich obrigkeitlich verordneten Männer, Richter oder Vermittler, »Tädingslüt« diejenigen, die einen Streit als Zugezogene schlichten helfen. Vgl. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Bd. 2, Frauenfeld, 1885, Sp. 1545; ebd.: Bd. 3, Frauenfeld 1895, Sp. 1895. Zum Thema der Tädigung in Schlaghändeln vgl. Valentin Groebner: Der verletzte Körper und die Stadt. Gewalttätigkeit und Gewalt in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, in: Thomas Lindenberger/ Alf Lüdtke (Hg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. Main 1995, 162 - 189. Daß die Regelung von Gewaltdelikten nach subjektiven Kategorien der Betroffenen erfolgte und für die Obrigkeit als legitim galt, solange die Auseinandersetzungen die soziale Ordnung nicht störten, führt ebenfalls aus: Philippa C. Maddern: Violence and Social Order. East Anglia 1422 - 1442, Oxford 1992. 22 Thomas Winkelbauer stellt hier für die Frühe Neuzeit einen Entrechtlichungsprozess fest, in dem die Taidigung von der Obrigkeit zunehmend in Hinblick auf ihre absolutistischen Herrschaftsinteressen kriminalisiert wurde. Vgl. Thomas Winkelbauer: »Und sollen sich die Parteien gütlich miteinander vertragen«. Zur Behandlung von Streitigkeiten und von »Injurien« vor den Patrimonialgerichten in Ober- und Niederösterreich in der frühen Neuzeit, in: ZRG GA, 109 (1992), 129 - 158. Im oligarchisch strukturierten Zürich hingegen weist nichts auf eine Verdrängung der Taidigung hin. Nachrichten über kritisierte Taidigungsverfahren sind extrem selten. Der Streit zwischen dem Untervogt Schellenberg von Pfäffikon und dem Schneider Michel aus dem Jahre 1504 etwa hatte andere als rechtliche Ursache: Suter hatte einen Gerichtstermin verlangt, ihn jedoch schließlich nicht eingehalten, da er sich vor der Gerichtssitzung mit seinem Kontrahenten gütlich geeinigt hatte. Hiervon erfuhr der Untervogt indes erst im Verlauf der Gerichtssitzung, daß er sich erbost an Suter wandte: wie kanstu ein man sin, dz [daß] du ein ding so hoch verredist, du wöltist kein täding me mit inen [den Schuldnern] uff nemen und jetz so byst darvon gefallen (...) dz schlach ich dir ab und wil dich nit mer zuom schnider haben (...) Zitiert nach: Hürlimann (s. Anm. 14), 92. Schellenberg fühlte sich offensichtlich in seiner Amtsehre verletzt, stellte aber kennzeichnenderweise die informelle Konfliktlösung nicht in Frage. 23 A. 27.128, 1.8.1713. 24 A.27.128, 4.8.1713. L’infrajudiciaire 553 son, sondern im Namen der Obrigkeit gegen seinen Vorgesetzten zu handeln hatte, keinen Platz. Demnach erstreckten sich außergerichtliche Regelungen überwiegend auf Konflikte, in denen die Betroffenen nicht als Vertreter der Obrigkeit involviert waren, Konflikte also, in denen die Kontrahenten sich einander als Privatpersonen gegenüberstanden. Außergerichtliche Regelungen scheinen also in Grenzen von der Justiz toleriert worden zu sein, die spätestens dann erreicht waren, wenn ein Konflikt das »öffentliche Recht« oder die Kontrahenten in ihrer Eigenschaft als Amtspersonen betraf. Daß der mit einem Gerichtsverfahren verbundene Zeit- und Kostenaufwand sowie das Risiko eines ausgesprochenen, da mit einem Urteil verbundenen Gesichtsverlusts private Konfliktparteien immer wieder davon abgehalten hat, die Justiz hinzuziehen, ist bekannt. 25 Die Zürcher Gerichtsprotokolle liefern jedoch für diese disuasiven Momente in der Entscheidung gegen die Hinzuziehung eines Gerichts keine überzeugenden Belege. Vielmehr macht ein Ausnahmefall auf einen weiteren Aspekt des Verhältnisses zwischen gerichtlicher und außergerichtlicher Konfliktbewältigung aufmerksam: Dem zusammenfassenden Bericht des Gemeindepfarrers Wyß zufolge 26 hatte die Ehefrau Heinrich Werkis von Dachslen nach langen Ehestreitigkeiten dem Geistlichen angezeigt, daß ihr Mann fürchterliche Schwüre getan und gotteslästerliche Bemerkungen über das Abendmahl fallen gelassen habe. Daraufhin habe er, Wyß, ein informelles Sittengericht angerufen, indem er in Anwesenheit der zwei örtlichen Eherichter und des zuständigen Untervogts das Ehepaar bezüglich ihrer Konflikte befragt und Werki hinsichtlich der Schwüre zur Verantwortung gezogen habe, ohne jedoch auf den Vorwurf der Blasphemie einzugehen: Der schweren Gottslesterung halben, dz H. [ das heilige ] nachtmahl betreffend, hab ich vor den geschwornen keinen anzug gethan, damit sölcher gutwol desto minder under die leüt kommen solte. Der Pfarrer muß also - und dies hatte er drei Jahre nach dem Vorfall vor Gericht zu rechtfertigen - entweder den schweren Vorwurf der Gotteslästerung auf sich beruhen gelassen oder ihn unter vier Augen mit seinem Pfarrangehörigen geregelt haben. Ungeachtet seiner Amtspflichten als Pfarrer hatte Wyß eine außergerichtliche Form der Klärung gewählt, die seinen Pfarrangehörigen nicht nur vor sittengerichtlicher und weltlicher Strafverfolgung, sondern auch vor sozialer Stigmatisierung durch die Verbreitung von Gerüchten in Schutz nahm. Geht man von der wohl wahrscheinlicheren Vermutung aus, daß Wyß nicht einfach die Frage der Gotteslästerung übergangen, sondern diese vielmehr mit Werki privatim geklärt haben dürfte, konnte eine als Dritte hinzugezogene amtliche Vermittlungsperson demnach auch unter Ausschluß der »sozialen Öffentlichkeit«, d.h. eher als Privatperson für die Regelung von Normbrüchen sorgen, also einen Rollenwechsel vom amtlichen zum privaten Schlichter vollziehen. Die außergerichtliche Konfliktbewältigung, so das vierte Zwischenergebnis, hatte den Charakter einer parallel und ergänzend zum Justizsystem wie auch substituierend und als Alternative zum Gericht bestehenden Form, Streitigkeiten informell zu regeln. Abgesehen davon, daß außergerichtliche Konfliktbewältigung eine entweder obrigkeitliche legitimierte bzw. tolerierte Art des Augleichs von Interessenkonflikten zwischen Privatpersonen darstellte, ist allerdings schwer zu bestim- 25 Vgl. in empirischer Argumentation etwa Soman (s. Anm. 3), 9, 15. Die Entscheidungskriterien, die bei der Option für bzw. gegen die Einleitung eines Gerichtsverfahrens eine Rolle spielten, diskutiert hingegen konzeptionell Martin Dinges: Négocier son honneur dans le peuple Parisien au XVIIIe siècle. La rue, l’infrajudiciaire et la justice, in: Garnot (Hg.), (s. Anm. 4), 3 9 3 -404; hier: 403. 26 A.27.68, 28.1.1628. Francisca Loetz 554 men, wo genau im Verhältnis zur Justiz die Grenzen außergerichtlicher Handlungsspielräume verliefen und wie sehr Amtspersonen in ihrer Vermittlerrolle auch als Privatpersonen handelten. Über die Frage, welche Konsequenzen Konfliktregelungen für die Parteien hatten, geben die Justizakten kaum Auskunft. Aus dem Zürcher Bestand der frühneuzeitlichen Nachgänge und Kundschaften läßt sich lediglich ersehen, daß das Gedächtnis der sozialen Umgebung weit zurückreichen konnte. So hält etwa das Protokoll des stadtzürcher Sittengerichts, der sogenannten Reformationskammer, unter dem sechsten Juni 1734 fest: Auf die geführte Klag Mstr. [ Meister ] Heinrich Bürklis des Schneiders, wie daß vergangenen Weißer Sontag Mstr. Schnieder Obermann der Sekelmstr. ihme sein in seiner Jugend zu Winterthur gehabtes Unglück (da er nammlich von dem Sacrament der H. [ heiligen ] tauffs gotlose wort außgestoßen) aufgehebt und gesagt, es habe ihme ein solcher, der schon den Boden habe küßen müßen, nichts zu befehlen. Weilen nun solches eine schon vor villen Jahren geschehen und ausgemachte sach seÿe, als hoffe er, das Mstr. Obermann wegen disen ohngeschikten worten billichmäßiger Satisfaction werde geben müßen. Ist erkennt worden, daß Mstr. Obermann den Mstr. Bürkli solle umb verzeichung, ihne vor einen ehrlichen Meister halten und 5 lb obrigk[eitlic]h Buß erleggen. 27 Bürkli hatte für seinen Normbruch schon vor langer Zeit gebüßt und war als Handwerksmeister in die Stadtgesellschaft integriert. Dennoch blieb er angreifbar, wie dies Obermanns Argument belegt, er brauche einem ehemaligen Gotteslästerer, dem die förmliche und ehrenrührige Strafe des Herdfalls auferlegt worden war, nichts schuldig zu sein. Obermann nutzte also die Verletzlichkeit Bürklis aus, indem er im Anschluß an das formelle Verfahren - und insofern ließe sich hier von dem nachgerichtlichen Aspekt des infrajudiciaire sprechen - mit der Aberkennung seiner Rechte erneut zu bestrafen versuchte, was allerdings das Sittengericht schließlich unterband. Neben dieser informellen Form, nach Abschluß eines Gerichtsverfahrens ein eigenes Urteil auszusprechen, bestand im ausgehenden Mittelalter und am Beginn der Frühen Neuzeit auch die Möglichkeit, daß nach Scheitern eines gerichtlichen Lösungsversuchs der Rat ein Schiedsgericht verordnete. 28 Außergerichtliche Konfliktaustragung hörte also offenbar, fünftens, nicht mit der Aufhebung eines Interesssengegensatzes auf, sondern schloß langfristig den Wandel der sozialen Position mit ein, die das soziale Umfeld nach der Konfliktregelung den Parteien zuordnete und konnte erneut einsetzen, nachdem das Gericht sich vergeblich um die Regelung eines Konflikts bemüht hatte. Die angeführten Beispiele aus der Zürcher Rechtspraxis verdeutlichen, so das Zwischenfazit, wie viele Facettten bei der Untersuchung von Konfliktaustragung verlorengehen, wenn die Herstellung eines Rechtskonsenses allein mit Justiz, mit formellen Gerichtsverfahren und Gesetzgebung gleichgesetzt wird. Zum einen erfaßt Justiz lediglich einen Ausschnitt von Konfliktregelung, zum anderen wird die antagonistische Gegenüberstellung von Justiz und Nichtjustiz den komplexen Formen nicht gerecht, in denen in Konfliktfällen die Streitenden zu einer einvernehmlichen Einigung gelangten. Der Frage, wie diese vielfältigen Formen der Auseinandersetzung konzeptualisiert werden könnten, gelten die folgenden Überlegungen. 27 B III.178, p. 9. 28 Vgl. Hürlimann (s. Anm.14), 36. L’infrajudiciaire 555 L’infrajudiciaire: Kategorienbildung und Konzeptualisierung Aus streng juristischer Sicht 29 regelt das positive Recht die Konflikte einer Gesellschaft. Alle Streitfälle, die nicht vor das Gericht gelangen, gehören entweder in den Bereich der Dunkelziffer der nicht geahndeten Delikte oder in den Bereich der anderweitig und damit ohne Bedarf an obrigkeitlichem Eingreifen geschlichteten Divergenzen. Alles Außergerichtliche wird aus der Perspektive des Rechts gleichbedeutend mit der Kategorie der Nichtjustiz und interessiert höchstens als Leerstelle im Justizsystem. Demgegenüber kommt die Betrachtung außergerichtlicher Spielräume als Nichtjustiz einem zentralen Anliegen sozial- und kulturhistorischer Forschung entgegen. Denn die Austragung von Konflikten auch im außergerichtlichen Raum zu verfolgen, heißt danach fragen zu können, wie Mitglieder einer Gesellschaft Streitfälle miteinander zu lösen versuchten. In welchen Fällen und unter welchen Bedingungen dies geschah, indiziert, wie die betrachtete Gesellschaft »funktionierte«. Die Konzeptualisierung von infrajudiciaire als Nichtjustiz ist zwar lediglich eine Begriffsbestimmung via negationis und deswegen unbefriedigend, doch richtet diese Negativdefinition die Aufmerksamkeit auf Konflikte wie z.B. demjenigen der Prügelei zwischen Wingkler und Fröhlich. Solche Fälle aus dem Alltagsleben wiederum sind nicht belanglos, sondern eröffnen vielmehr einen Einblick in die gesellschaftliche Praxis der Konfliktregelung, sozusagen in die »gelebte Rechtskultur« einer Gesellschaft. Im Gegensatz zum Verständnis von außergerichtlicher Konfliktregelung als Nichtjustiz steht die Vorstellung, daß unterhalb des obrigkeitlichen Justizapparats ein informelles System der Konfliktregelung existiert, das zur institutionalisierten Justiz konkurriert. In dieser Konzeption fungierten außergerichtliche Regelungen als Alternative zur obrigkeitlichen Rechtssprechung, die gemäß eigener Logiken die Herrschaftsausübung der Obrigkeit zu unterwandern sucht. L’infrajudiciaire ließe sich hier als ein »alternativ-substitutives« Rechtssystem kategorisieren, das, wie im Beispiel der selbsternannten Richter Haller und Koller zu sehen war, notwendigerweise zu Konflikten mit der offiziellen Justiz führte, wenn die Obrigkeit ihre Rechte infragegestellt sah. Zwischen den zwei extremen Polen von infrajudiciaire als einer Leerstelle in der formellen Rechtspraxis oder eines Widerstand gegen obrigkeitliche Kontrolle wendet sich derzeit, soweit ich sehe, die Historische Kriminalitätsforschung drei weiteren Aspekten von außergerichtlicher Konfliktregelung zu: der Funktion (amtlicher) Vermittlungspersonen im Rechtsalltag, den vorgerichtlichen Einigungsversuchen und den Konsequenzen einer Konfliktlösung für die Betroffenen. Bezüglich der Funktion (amtlicher) Vermittlungspersonen haben insbesondere Arbeiten zu Notaren im romanischen, zu Friedensrichtern im englischen oder zu Nachbarschaftsvorstehern im niederländischen Raum gezeigt, 30 daß Streitfälle nicht nur von Richtern, sondern auch von anderen Amtspersonen mit richterlichem Auftrag geschlichtet wurden. Zum Kreis der Vermittler gehörten Personen, denen eine gewisse moralische Autorität zugesprochen wurde. Geistliche wie der Pfarrer Wyß sind hierfür 29 Zur Betrachtung der »Differenz zwischen positiven Recht und anderen Normen« als Zugang zum Verstehen der Handlungen und zum Erklären der Prozesse, »durch welche eine Gesellschaft einen Sinnbereich namens Kriminalität konstituiert« vgl. hingegen die jüngste wissenssoziologisch begründete Kriminalitätstheorie aus kriminologischer Perspektive: Henner Hess/ Sebastian Scheerer: Was ist Kriminalität? Skizze einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie, in: Kriminologisches Journal 29 (1997), 83 - 155; hier: 88 - 90. Francisca Loetz 556 ein typisches Beispiel. 31 Als Unparteiische konnten jedoch auch Personen wie der Wirtsknecht Felix Frey oder der Meister Wegmann eingeschaltet werden, obwohl sie nicht über eine spezifische richterliche Autorität verfügten oder in einem besonderen Vertrauensverhältnis zu den Konfliktparteien standen. Die Funktion dieser Vermittler bestand darin, den Streitenden zu einer für alle Betroffenen (die Konfliktparteien, das soziale Umfeld und gegebenenfalls die Obrigkeit) befriedigenden Lösung zu verhelfen. Freilich variierte hierbei ihre Rolle als Vermittlungsperson. So trug beispielsweise Felix Frey nicht aktiv zur Beendigung des Streits bei, sondern wurde lediglich als neutrale Untersuchungsperson eingeschaltet. Pfarrer Wyß hingegen handelte bei der Einberufung des informellen Sittengerichts als Repräsentant der Obrigkeit, wohingegen er in der eigenmächtigen Regelung des Gotteslästerungsvorwurfs unter vier Augen die Rolle der vermittelnden Vertrauensperson übernahm. Wie Meister Wegmann den ihm übertragenen Konflikt gelöst hat, ist aus den Akten zwar nicht zu ersehen, doch dürfte er wohl die Funktion einer richterlichen Schiedsperson erfüllt haben. Ganz unabhängig von der spezifischen Rolle, die Vermittler in ihrer Eigenschaft als Schlichter spielten, sie übernahmen Aufgaben des institutionalisierten Rechtswesens, allerdings ohne zur formellen Justiz in Konkurrenz zu treten. Mittler wie Frey, Wyß oder Wegmann substituierten zwar mit ihren alternativen Wegen der Rechtseinigung das formelle Rechtssystem, nicht aber um dieses aus Ablehnung aufzuheben, sondern um es zu entlasten. Ihre Funktion bestand darin, eine komplementäre, nicht eine substitutive Alternative zum formellen Recht zu bieten. 32 Dafür, daß gerichtliche und außergerichtliche Konfliktaustragung zwar zwei unterschiedliche Formen des Aushandelns von Rechstansprüchen darstellen, diese Formen aber nicht notwendig im Gegensatz zueinander stehen müssen, spricht weiterhin die Beobachtung, daß die Konfliktparteien rituelle Formen des Ausgleichs zu nutzen wußten, die in einem Resonanzverhältnis zu denen eines förmlichen Gerichtsverfahren standen. Hierfür sei an das Beispiel der »Urfehde« der Kontrahenten Schneebelis erinnert. Außergerichtliche Konfliktlösung bot und bietet bis heute den Vorteil, Kosten, Aufwand und Risiko eines Prozesses zu vermeiden. Die zumindest teilweise Komplementarität von Justiz und in- 30 Vgl. jeweils zur Einführung etwa: Les actes notariés, source de l’histoire sociale (Actes du colloque des Strasbourg, mars 1978), Straßburg 1979; Alfred Soman: L’infra-justice à Paris d’après les archives notariales, in: Histoire, Economie, Société 1 (1982), 369 - 375; Barbara Roth-Lochner: L’évolution de l’activité notariale à Genève aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine 33 (1986), 96 - 113; Peter Wettmann: »Arbitrator« und »Adjudicator«. Zur Bedeutung der englischen Justices of the Peace bei der formellen und informellen Konfliktregelung in ländlichen Gemeinden des 18. Jahrhunderts: Gerlinda Smaus (Hg.): Kriminalität und Geschichte, Weinheim 1987, 111 - 129; Herman Roodenburg: Reformierte Kirchenzucht und Ehrenhandel. Das Amsterdamer Nachbarschaftsleben im 17. Jahrhundert, in: Heinz Schilling (Hg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. (Mit einer Auswahlbibliographie), Berlin 1994, 129 - 151. 31 Zur Vermittlungsfunktion niederländischer, bretonischer und burgundischer Geistlicher vgl. Gilles Deregnaucourt: Les modes d’action et d’intervention des doyens de chrétienté en amont des procédures judiciaires dans les anciens Pays-Bas méridionaux (XVIe -XVIIIe siècle), in: Garnot (Hg.) (s. Anm. 4), 215 - 229; Jean Quéniart: Recteurs et régulation sociale en Bretagne au XVIIIe siècle, in: ebd., 2 3 1 -239; Eric Wenzel: Le clergé diocésain d’Ancien Régime au coeur de l’infrajudiciaire. L’exemple de la Bourgogne aux XVIIe et XVIIIe siècle, in: ebd.: 2 4 1 -249. 32 Zur rechtssoziologischen Diskussion der entsprechenden Unterscheidung von »alternativen Rechtsformen« innerhalb des Rechts im Gegensatz zu den »Alternativen zum Recht« vgl. in aller Kürze Erhard Blankenburg: Recht als gradualisiertes Konzept. Begriffsdimensionen der Diskussion um Verrechtlichung und Entrechtlichung, in: Ders./ Ekkehard Klaus/ Hubert Rottleuthner (Hg.): Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht, Opladen 1980, 83 - 98; insbesondere: 84f. L’infrajudiciaire 557 frajudiciaire ebenso wie die zwischen beiden Rechtsformen bestehenden Resonanzphänomene erklären jedoch zusätzlich, warum außergerichtliche Regelungen in Anspruch genommen wurden, ohne deswegen zwangsläufig einer obrigkeitskritischen Absage an das formelle Rechtssystem gleichzukommen. L’infrajudiciaire läßt sich also ferner als Konfliktbewältigung kategorisieren, die als komplementäre Alternative zur Justiz vollzogen wird. Freilich hatte nicht jede außergerichtliche Konfliktsaustragung Erfolg. Wie im Beispiel des Vogt Hönysen lassen die Rechtsakten immer wieder erkennen, daß informelle Vermittlungsansätze scheiterten und daraufhin der Weg zum Gericht eingeschlagen wurde. Das außergerichtliche Austarieren von Interessendivergenzen entpuppte sich in diesem Fall als Vorstufe zur Regelung des Konflikts vor der Justiz und ließe sich somit vom Standpunkt der prozessualen Entwicklung her betrachtet als vorgerichtliche Lösungssuche klassifizieren. 33 Zu den denkbaren Formen außergerichtlicher Rechtspraxis wären überdies alle Verhaltensweisen zu zählen, die im Anschluß an eine Urteilsfindung die sozialen Konsequenzen des Urteils für die Parteien betreffen. Das Nachspiel einer Auseinandersetzung, vor dem etwa Pfarrer Wyß Werki in Schutz nahm, läßt sich theoretisch ebenso als infrajudiciaire betrachten, womit die nachgerichtliche Behandlung der Kontrahenten durch ihr soziales Umfeld gemeint wäre. 34 Alle diese Kategorien von außergerichtlicher, interpersoneller Konfliklösung, die ich aus analytischen Gründen als »nicht-«, »substitutiv bzw. komplementär alternativ-«, »vor-« und »nachgerichtlich« bezeichnet habe, sind bislang - so mein Fazit - nicht konsequent unterschieden worden, obgleich diese Kategorien des infrajudiciaire immer wieder in der Argumentation herangezogen werden. Ein befriedigendes Konzept außergerichtlicher Konfliktregelung steht bislang aus. Mein konzeptueller Vorschlag geht deswegen dahin, l’infrajudiciaire als außergerichtlichen Raum zu betrachten, in dem überwiegend private, nicht zwangsläufig einander bekannte Konfliktparteien in den Grenzen obrigkeitlicher Toleranz wie auch sozialer Akzeptanz in komplementärer oder substitutiver Alternative zum formellen Justizsystem über Selbsthilfe, Verhandlung zu zweit oder Schlichtung zu dritt Wege 35 finden, ihre Interessensgegensätze so zu regeln, daß die Streitenden den sozialen Frieden wiederherstellen. Von sozialer Kontrolle 36 un- 33 Auf diesen Aspekt wurde bereits vor einiger Zeit hingewiesen etwa durch: James Anthony Sharpe: »Such Disagreement betwyx Neighbours«. Litigation and Human Relations in Early Modern England, in: John Bossy (Hg.): Disputes and Settlements. Law and Human Relations in the West, Cambridge u.a. 1983, 167 - 187; hier: 184. 34 In diesem Zusammenhang macht etwa Benoît Garnot auf die Folgen von (Ehren)strafen aufmerksam. Vgl. Benoît Garnot: Une illusion historiographique. Justice et criminalité au XVIIIe siècle, in: Revue Historique 281 (1989), 361 - 379; hier: 372. 35 Für weitere Hinweise zur Typologisierung der Arten von Konfliktregelungsverfahren vgl. zusammenfassend aus kriminologischer Perspektive Arthur Hartmann: Schlichten oder Richten. Der Täter-Opfer- Ausgleich und das (Jugend-)Strafrecht, München 1995, 15f. 36 Zur neuesten soziologischen Diskussion des schwer faßbaren Begriffs der sozialen Kontrolle vgl.: Colin Summer: Social Control. The History and Politics of a Central Concept in Anglo-American Sociology, in: Roberto Bergalli/ Ders. (Hg.): Social Control and Political Order. European Perspectives at the End of the Century, London/ Thousand Oaks/ New Delhi 1997, 1 - 33; Sebastian Scheerer/ Henner Hess: Social Control. A Defence and Reformulation, in: ebd., 96 - 130. Zur empirischen Umsetzung des Konzepts der sozialen Kontrolle für die historische Forschung am Beispiel des frühneuzeitlichen Ehrbegriffs vgl. beispielsweise Martin Dinges: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, 26 - 30, 169 - 171. Francisca Loetz 558 terscheidet sich außergerichtliche Konfliktaustragung dadurch, daß nicht so sehr die Einhaltung bzw. Durchsetzung stets gefährdeter Verhaltensnormen durch das soziale Umfeld im Vordergrund stehen als vielmehr die Aufhebung eines erfolgten Normbruchs durch die Kontrahenten selbst. In ihrer Eigenschaft als begrenzte Alternative zur institutionalisierten Justiz bildet außergerichtliche Konfliktaustragung zusammen mit gerichtlicher Rechtssprechung ein Gesamtsystem der Konfliktaustragung. Bei den Resonanzphänomenen, die hierbei zwischen ordentlichem Gerichtsverfahren und informellen Handlungen der Rechtsentscheidung zu beobachten sind, ist offen, in welchem Verhältnis von Ursache und Wirkung jene Resonanzen entstehen. Freilich kann auch der vorliegende Konzeptualisierungsversuch nicht alle Probleme lösen, die der Begriff des infrajudiciaire bereitet. Dies liegt nicht so sehr an der Facettenvielfalt des Begriffs, denn die aufgeführten Kategorien außergerichtlicher Konfliktaustragung schließen einander nicht aus, sollten aber zur Vermeidung begrifflicher Unklarheit benannt werden. Es sind andere Fragen, die offen geblieben sind: Handelte Wyß als Amts- oder als Privatperson, als er seinen Pfarrangehörigen in Schutz nahm? Spielte er die Rolle einer richterlichen Schiedsperson oder eines freundschaftlichen Vermittlers? Die teilweise ambivalente Rolle der Vermittlungspersonen in der außergerichtlichen Konfliktbeilegung ist nicht systematisch in das Konzept integriert worden. Ebensowenig ist eine Typologisierung der außergerichtlichen Regelung etwa nach Delikten und Konfliktparteien erfolgt. Auch ist das Ausmaß außergerichtlicher Spielräume unbestimmt geblieben, wenngleich die Einigungsfähigkeit der Kontrahenten, die Toleranz der Obrigkeit wie auch des sozialen Umfeldes als die drei wesentlichen Bedingungen des infrajudiciaire genannt worden sind. Die Tatsache schließlich, daß nicht jeder Konflikt Gegenstand einer (außer-)gerichtlichen Handlung ist, daß nicht nur durch Justiz und infrajudiciaire, sondern auch über soziale Selbstregulation Konflikte gelöst werden, ist ausgeklammert worden. Damit ist die Frage, wie sich Autoregulation und außergerichtliche Konfliktbewältigung zueinander verhalten, nicht aufgegriffen worden. Wie kann angesichts dieser offenen Probleme der Begriff des infrajudiciaire für eine sozial- und kulturgeschichtliche Kriminalitätsforschung von besonderer Bedeutung sein? Auf diese Frage gilt es im folgenden einzugehen. L’infrajudiciaire und seine Bedeutung für die sozial- und kulturgeschichtliche Kriminalitätsforschung Nach den Varianten von Konfliktaustragung außerhalb des Gerichts zu fragen, bleibt für die Historische Kriminalitätsforschung nicht ohne Konsequenzen. Erstens zeigt sich, daß die Betrachtung der formalen Justiz lediglich ein Segment von Konfliktregelung erfaßt. 37 Die Wiederherstellung dessen, was in einer Gesellschaft als rechtmäßig 37 Für das frühneuzeitliche Württemberg geht Ulinka Rublack soweit, vom Gericht als letzten Schritt einer Auseinandersetzung und somit von der außergerichtlichen Konfliktlösung als Norm zu sprechen. Vgl. Ulinka Rublack: Magd, Metz` oder Mörderin. Frauen vorfrühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt a. Main 1998, 34, 55. Für die Zeit von 1454 bis 1530 sind jedenfalls allein in den Zürcher Ratsmanualen 79 Verweise auf schiedsgerichtliche Verfahren nachweisbar. Daß diese »nichtgerichtlichen Vermittlungsinstanzen« oft zur Zufriedenheit der Betroffenen arbeiteten, läßt die Tatsache erkennen, daß in nicht mehr als einem Drittel der Fälle eine gütliche Einigung scheiterte. Vgl. Hürlimann (s. Anm.14), 32, 39, 41. L’infrajudiciaire 559 angesehen wird, geschieht offenbar nicht allein mithilfe gerichtlicher Urteile, sondern schließt vielfältige außergerichtliche Formen des Konfliktausgleichs ein. Der Blick auf das infrajudiciaire führt daher eine Akzentverschiebung in der Betrachtungsweise herbei. Statt auf gesetzlich kategorisierte Kriminalität eines Verhaltens und auf Rechtsprechung lenkt die Auseinandersetzung mit dem Problem außergerichtlicher Konfliktlösung den Blick auf gesellschaftlich definierte Normverletzung und informelle Rechtseinigung. Welche Verhaltensformen gelten innerhalb einer Gesellschaft als nicht tolerabel und wie werden diese von den Streitenden innerhalb ihres sozialen Umfelds so korrigiert, daß der soziale Frieden gewahrt bzw. wiederhergestellt wird (eine als rechtens ausgehandelte Regelung erzielt wird)? Auf diese Frage weisen alle Facetten des Problems der außergerichtlichen Konfliktbewätigung hin. Doch das Konzept des infrajudiciaire ergänzt nicht allein den Aspekt der Rechtsprechung um den der informellen Rechtseinigung. Die Auseinandersetzung mit dem Problem außergerichtlicher Konfliktlösung fordert zweitens auch zur Überwindung vermeintlich selbstverständlicher Kategorien heraus. So zeigt sich etwa, daß die Trennlinie zwischen gerichtlicher und außergerichtlicher Sphäre unscharf ist. Zum einen konnte Konfliktregelung außerhalb des Gerichts explizit von der Justiz legitimierte »alternative Justiz« sein. Zum anderen handelten Pfarrer, Notare, Gerichtsdiener, Eherichter und Vögte im Rahmen ihrer Amtspflichten zwar als Stellvertreter der Justiz, konnten aber ebenso informelle Wege der Konfliktregelung gehen. Ferner erweist sich für die Richtenden die Gegenüberstellung von positivem Recht und außergerichltichen Rechtsgepflogenheiten als unzureichend. Die Zürcher Vögte der Frühneuzeit z.B. repräsentierten das weltliche obrigkeitliche Gericht, ohne über ein kodifiziertes Strafrecht zu verfügen. Ebensowenig durchliefen die Vögte eine formalisierte Ausbildung, vielmehr erlernten sie zumeist von ihren Vätern die lokalen rechtlichen Usancen. 38 Die Vögte übten also formelles Recht in regulären Verfahren aus, doch ist im Anschluß an Carolyn Conleys Konzept des »ungeschriebenen Gesetzes« 39 die Frage durchaus berechtigt, ob sie tatsächlich das formelle städtische Recht auf dem ländlichen Territorium des Stadtstaates durchsetzten oder sich eher den informellen lokalen Rechtspraktiken anpaßten. Von einem solchen Zusammenspiel von ungeschriebenem und geschriebenem Gesetz auszugehen, macht indes die Gegenüberstellung von gelehrtem und kodifiziertem Recht einerseits und mündlich tradiertem Gewohnheitsrecht andererseits hinfällig. Genausowenig lassen sich für Justiz und infrajudiciaire die Gegensatzpaare unfair/ fair, reflektiert/ willkürlich, förmlich/ formlos, öffentlich/ privat, punitiv/ restitutiv 38 Vgl. Hans-Rudolf Dütsch: Die Zürcher Landvögte von 1402 - 1798. Ein Versuch zur Bestimmung ihrer sozialen Herkunft und zur Würdigung ihres Amtes im Rahmen des zürcherischen Stadtstaates, Zürich 1994. 39 Carolyn Conleys Argumentation läßt sich dahingegehend zusammenfassen, daß die Anwendung des Rechts von dem Rechtsempfinden der Bevölkerung, d.h. zumindest von einem gewissen Ausmaß an Unterstützung seitens der Bevölkerung abhing. Die Ausübung des geschriebenen war demnach mit dem des »ungeschriebenen Gesetzes« gekoppelt. Vgl. Carolyn A. Conley: The Unwritten Law. Criminal Justice in Victorian Kent, New York/ Oxford 1991. Mit der Frage nach dem »Eigenanteil der Menschen im Umgang mit obrigkeitlichen Institutionen und deren Vertretern nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Disziplinierung« setzt sich anhand der Habermasschen Diskurstheorie des Rechts ferner auseinander: Susanne Rappe: Schelten, Drohen, Klagen. Frühneuzeitliche Gerichtsnutzung zwischen »kommunikativer Vernunft« und »faktischem Zwang«, in: Werkstatt Geschichte 14 (1996), 87 - 94; hier: 88. Francisca Loetz 560 bilden. 40 Wie etwa aus den empirischen Zürcher Beispielen ersichtlich geworden sein sollte und wie die Logiken des Ehrhandels belegen, orientierten sich die Konfliktparteien bei einer außergerichtlichen Regelung sehr wohl an Maßstäben von gerechter, konkreter Strafe, rationaler Kompromißlösung, ritualisierter und damit förmlicher Versöhnung und öffentlicher Wirkung (Vermeiden eines Gesichtsverlusts vor dem Publikum der Zeugen). Umgekehrt hatten die oft willkürlich, also nicht immer fair und reflektiert erscheinenden Urteile eines Gerichts wie des spätmittelalterlichen Zürcher Rats nicht allein punitiven, sondern durchaus restitutiven Charakter. 41 Die aufgeführten Gegensätze aufzulösen, aber heißt, unser bisheriges Verständnis von Konfliktaustragung in frühneuzeitlichen Gesellschaften grundlegend zu revidieren. Statt Konfliktregelung vorrangig unter dem Aspekt mehr oder weniger gelungener Durchsetzung eines staatlichen Rechtsmonopols zu betrachten, gelangen Konflikte als Räume der Interaktion und Mediation zwischen Streitenden, die miteinander eine gesellschaftlich akzeptable Lösung aushandeln, in das Zentrum des Interesses. Konfliktregelungen werden nicht mehr als politisches Instrument ausgrenzender Bestrafung oder reintegrierender Sühne, sondern als Mittel der Wiederherstellung eines sozial sanktionierten Interessenausgleichs erkennbar. Beide, Justiz und infrajudiciaire, lassen sich somit als komplexes Gesamtsystem gesellschaftlicher Regulierung verstehen, das der Etablierung des sozialen Friedens und somit der Konsolidierung der sozialen Ordnung dient. Die Ausübung von Recht wird nicht mehr vorrangig mit dem Problem obrigkeitlicher Herrschaft über die Untertanen als Rechtsobjekte identifiziert. Recht wird vielmehr auch dadurch »produziert«, daß Rechtssubjekte Justiz bzw. infrajudiciaire mittragen bzw. selbst gestalten. Zusammen mit der Auflösung der genannten antagonistischen Begriffspaare bedingt also die Auseinandersetzung mit dem Thema des infrajudiciaire einen Perspektivenwechsel von der etatistischen Sicht der Kriminalitätsbekämpfung weg zur gesellschaftlich ausgehandelten Verhaltensnormierung hin. Die Untersuchung außergerichtlicher Entscheidungsspielräume stellt drittens zwei fundamentale Erklärungsansätze zur Entstehung der modernen Gesellschaft in Frage. Wie etwa Andrea Zorzi für das hochmittelalterliche Florenz oder Valentin Groebner für das spätmittelalterliche Nürnberg ausführen, 42 erweisen sich Modernisierungstheorien, die davon ausgehen, daß das Ausmaß des gerichtlichen Zugriffs einen verläßlichen Indikator für den Staatsbildungsprozeß darstellt, als unzutreffend. Als genauso problematisch erweisen sich Evolutionsmodelle, die Disziplinierungsprozesse innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft allein in gesellschaftlich vertikaler Richtung, also »von oben 40 Vgl. als Beispiel für die konzeptionelle Auflösung dieser Gegensatzpaare aus anthropologischer Perspektive Simon Roberts: The Study of Dispute. Anthropological Perspectives, in: John Bossy (Hg.) (s. Anm. 29); historisch argumentiert hingegen Xavier Rousseaux: Entre accommodement local et contrôle étatique. Pratiques judiciaires et non-judiciaires dans le règlement des conflits en Europe médiévale et moderne, in: Garnot (Hg.) (s. Anm. 4), 87-108. Als empirische Hinweise vgl. etwa Raymond A. Mentzer: Making the Taboo. Excommunication in French Reformed Churches, in: Ders. (Hg.): Sin and the Calvinists. Morals Control and the Consistory in the Reformed Tradition, Ann Arbor/ Michigan 1994, 97-128, hier: 128; Dietrich Oberwittler: Crime and Authority in Eighteenth Century England. Law Enforcement on the Local Level, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 15/ 2 (1990), 3-34. 41 Vgl. Susanna Burghartz: Disziplinierung oder Konfliktregelung? Zur Funktion städtischer Gerichte im Spätmittelalter. Das Zürcher Ratsgericht, in: Zeitschrift für Historische Forschung 16 (1989), 385 - 407. 42 Vgl. Andrea Zorzi: Contrôle social, ordre public et répression judiciaire à Florence à l’époque communale. Eléments et problèmes, in: Annales E.S.C. 45 (1990), 1169 - 1188; Groebner (s. Anm. 19), 189. L’infrajudiciaire 561 nach unten« betrachten. Konzepte wie Max Webers »Rationalisierung«, Norbert Elias’ »Zivilisierung« oder Gerhard Oestreichs »Sozialdisziplinierung« vernachlässigen die Formen, in denen Konflikte gesellschaftlich horizontal, also zwischen den Streitenden untereinander, gelöst werden. 43 Der Aspekt des infrajudiciaire verstärkt also die Kritik, die seit geraumer Zeit an noch verbreiteten Modernisierungs- und Disziplinierungstheorien geübt wird. Damit unterstreicht die Auseinandersetzung mit dem Thema der außergerichtlichen Konfliktaustragung die Notwendigkeit, Modelle gesellschaftlicher Regulierung zu entwickeln, die horizontale Disziplinierungsprozesse gebührend berücksichtigen, ohne deswegen vertikale Disziplinierungformen auszuschließen. Der durch den Blick auf außergerichtliche Räume der Konfliktaustragung bedingte Perspektivenwechsel in der Betrachtung von Recht eröffnet viertens neue thematische Aspekte. Die Erträge der Forschung beispielsweise zur Praxis des Charivari, zur Ehre als Schlüsselbegriff der frühneuzeitlichen Gesellschaft oder zur Verfluchung eines Gegners als Mittel der Verteidigung und Bestrafung verdeutlichen, 44 wie dynamisch die Beziehungen zwischen den Mitgliedern selbst einer vermeintlich festgefügten Ständegesellschaft waren. Freilich bleibt noch viel Pionierarbeit zu leisten, um die thematischen Perspektiven außergerichtlicher Regelung auszuschöpfen. So wissen wir z.B. noch wenig über die Funktion des Gerüchts, 45 kaum etwas über den rituellen Charakter außer- 43 Zur einer ausführlichen Kritik dieser Diszplinierungsmodelle am Beispiel der »christlich inspirierten Selbstregulierung der dörflichen Gemeinden« auf dem Berner Land vgl. Heinrich Richard Schmidt: Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart/ Jena/ New York 1995, 360 - 376; ders.: Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), 639 - 682. Einer eingehenden Kritik unterwirft die Oestreichschen bzw. Eliasschen Disziplinierungsmodelle: Martin Dinges: Normsetzung als Praxis? Oder: Warum werden die Normen zur Sachkultur und zum Verhalten so häufig wiederholt und was bedeutet dies für den Prozess der »Sozialdisziplinierung«? , in: Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Internationales Round-Table Gespräch Krems an der Donau 7. Oktober 1996, Wien 1997, 39 - 53; ders.: Formenwandel der Gewalt in der Neuzeit. Zur Kritik der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, in: Rolf Peter Sieferle (Hg.): Gewalt im interkulturellen Vergleich, Frankfurt am Main 1998 (i. Dr.). 44 Vgl. etwa zum Einstieg aus der deutschsprachigen Literatur Norbert Schindler: Karneval, Kirche und verkehrte Welt. Zur Funktion der Lachkultur im 16. Jahrhundert, in: Ders.: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. Main 1992, 121 - 174; ders.: »Heiratsmüdigkeit« und Ehezwang. Zur populären Rügesitte des Pflug- und Blochziehens, in: ebd., 175 - 197; Schreiner/ Schwerhoff (s. Anm. 17); Eva Labouvie: Verwünschen und Verfluchen. Formen der verbalen Konfliktregelung in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Peter Blickle (Hg.)/ André Holenstein (Redakteur): Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993, 121 - 145. 45 Dabei reichen die ersten empirische Ansätze bereits vor zwanzig Jahren zurück. Vgl. etwa Ernst Schubert: »Bauerngeschrey«. Zum Problem der öffentlichen Meinung im spätmittelalterlichen Franken, in: Jahrbuch für Fränkische Landeskunde 34/ 35 (1974/ 75), Zum Gerücht nicht als Indiz eines politischen Aufruhrs, sondern als Mittel der Abgrenzung zur Männerwelt wie auch zur Durchsetzung von Normen innerhalb einer Subkultur, »in der Frauen Frauen richten« vgl. aus historisch-soziologischer Perspektive zum neuzeitlichen England Melanie Tebbutt: Women`s Talk? A Social History of »Gossip« in Working Class Neighbourhoods 1880 - 1960, Brookfield/ Vt. 1995, 78. Zur politischen Dimension des Gerüchts vgl. den Themenschwerpunkt in: Werkstattgeschichte 15 (1997). Zur »Logik des Geredes« im frühneuzeitlichen Württemberg vgl. Rublack (s. Anm. 34), 19 - 34. Auf das Gerücht als Forschungsdefizit hat bereits hingewiesen Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 385 - 414; hier: 407f. Außerdem Pia Holenstein/ Norbert Schindler: Geschwätzgeschichte(n). Ein kulturhistorisches Plädoyer für die Rehabilitierung der unkontrollierten Rede, in: Richard van Dülmen (Hg.): Dynamik der Tradition, Frankfurt a. Main 1992, 41 - 108, 271 - 281. Francisca Loetz 562 gerichtlicher Konfliktlösung, über die Formen der Hinzuziehung und des Eingreifens von Vermittlungspersonen, 46 über das Zusammenspiel von Justiz und infrajudiciaire oder die Logiken der »ungeschriebenen Gesetze« des Rechtslebens in- und außerhalb des Gerichts. Auch »privatrechtliche« Angelegenheiten wie etwa Konflikte um Erbteilung, Schuldenforderungen, Bau- und Wohnrechte sind bislang kaum untersucht worden. 47 Ferner bereitet das Problem der Quellengrundlage zur Erschließung außergerichtlicher Formen von Entscheidungsfindung besondere Schwierigkeiten. Denn als außergerichtliche Einigung liegt es in der Natur der Sache, daß nur wenige Dokumente von einer solchen Regelung zeugen. Hier bieten sich bekanntlich vorwiegend für den romanischen Raum die bereits erwähnten Notariatsarchive oder Notiz- und Geschäftsbücher von professionellen Vermittlungspersonen wie Friedensrichtern an. Manchmal läßt sich auch aus chronikalischen Quellen der Weg zum Gericht nachzeichnen. 48 Doch sollte das Auskunftspotential der Gerichtsakten selbst nicht unterschätzt werden, wenngleich die Akten ein spezifisches, nämlich durch ein Justizverfahren gefiltertes Licht auf einen Konflikt werfen. Wie die Zürcher Beispiele zeigen, enthalten diese immer wieder Hinweise darauf, wie es zur gerichtlichen Auseinandersetzung gekommen ist, welche Versuche des Konfliktausgleichs also nicht gelungen oder bewußt vermieden worden sind. Wenn auch zumeist in indirekter Form erlauben diese Indizien einen Blick in den außergerichtlichen Raum. Sich dem Thema des infrajudiciaire zu nähern, bedeutet daher fünftens nicht, verzweifelt nach ganz neuen und nicht vorhandenen Quellenbeständen suchen zu müssen, sondern bereits vertraute Quellen mit neuen Augen, d.h. unter anderen Fragestellungen zu lesen. Die Bedeutung des infrajudiciaire für die (deutsche) Historische Kriminalitätsforschung besteht darin, Konfliktlösung nicht allein mit gerichtlicher Regelung zu identifizieren. Die Meßlatte für die Klärung von Interessendivergenzen ist nicht allein der obrigkeitliche Anspruch auf das Rechtsmonopol. Vielmehr werden Rechtsprechung und außergerichtliche Formen der Konfliktaustragung als Elemente eines komplexen Gesamtsystems der Wiederherstellung des sozialen Friedens ersichtlich. Die Perspektive jedoch, daß Recht nicht nur durch eine Institution erwirkt, sondern mit dem Ziel einer Rechtseinigung unter den Streitenden innerhalb ihres sozialen Umfelds auf vielfältige Weise ausgehandelt wird, zeigt, wie erforderlich die Überwindung vertrauter Kategorien und geläufiger Disziplinierungsmodelle ist. Vielleicht kann gerade die Facettenvielfalt des Konzepts des infrajudiciaire als nicht-, substitutiv bzw. komplementär alternativ-, vor- oder nachgerichtliche Regelung dazu beitragen, der Komplexität gesellschaftlicher Konfliktaustragung auf die Spur zu kommen. Gewiß, die Quellen setzen hier enge Grenzen, doch spricht nichts dagegen, zumindest bis an diese Grenzen gehen. 46 Vgl. etwa Oberwittler (s. Anm. 35) oder Derégnaucourt, Quéniart, Wenzel (s. Anm. 27). 47 Als Konfliktfelder untersucht Schuldenforderungen und Wohnverhältnisse Dinges (s. Anm. 32), 116 - 132. Das Thema der Bau- und Wohnrechte behandelt Christine Schedensack (Münster) im Rahmen ihres Dissertationsprojekts. Zu den ersten Ergebnissen in Auseinandersetzung mit der Konfliktsoziologie vgl. Christine Schedensack: Formen der außergerichtlichen gütlichen Konfliktbeilegung. Vermittlung und Schlichtung am Beispiel nachbarrechtlicher Konflikte in Münster (1600 - 1650), in: Westfälische Forschungen 47 (1997), 643 - 667. 48 So z.B. Hermann von Weinsberg mit seiner Darstellung der familieninternen Streitigkeiten. Vgl. Schwerhoff (s. Anm.5), 288 - 290. 563 Carl A. Hoffmann Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten als vertikale und horizontale soziale Kontrolle im 16. Jahrhundert 1. Einleitung Im 16. Jahrhundert finden sich immer wieder privatrechtliche Einigungen im Zusammenhang mit verschiedenen Straftatbeständen und -verfahren. Das Spektrum der Tatbestände reicht von Totschlagfällen über Verschuldungen, Beleidigungen, Verschwendungssucht bis hin zu Ungehorsam gegenüber Familienoberhäuptern und Ehestreitigkeiten. Nicht immer kam es dabei zu einem öffentlichen Strafverfahren, vielmehr blieb es teilweise dem Kläger freigestellt, ob tatsächlich ein solches Verfahren durchgeführt wurde 1 . Wenn jedoch der Prozeß unvermeidlich wurde, gab die private Einigung in diesen Fällen einen entscheidenden Ausschlag für die Straffreiheit, Begnadigung oder Wiedereingliederung des Delinquenten in die Gesellschaft. Die privaten Einigungen können dabei sowohl eine Schadenersatzleistung beinhalten als auch Auflagen für das zukünftige Verhalten. Diese Phänomene können im Kontext des Entstehungsprozesses des frühmodernen Staates wie der allgemeinen Rechtsentwicklung betrachtet werden. Die Rechtsgeschichte hat sich mit Sühneverträgen 2 , Privatstrafen 3 , Bußen 4 , Schiedsgerichten 5 und Vergleichen 6 verschiedentlich auseinandergesetzt und sie primär im Entwicklungsprozeß vom Kompositionensystem zum Öffentlichen Strafrecht interpretiert 7 . Dabei lag das Interesse vor allem auf den mittelalterlichen Veränderungen bis zur Rezeption und 1 Zum Mittelalter vgl. Rudolf His: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. I, Leipzig 1920, 301f. 2 His: Strafrecht I (wie Anm. 1), 296ff.; Ekkehard Kaufmann: Sühne, Sühneverträge, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (nachfolgend abgekürzt HRG), Bd. 5, Sp. 72 - 76 (hier wie auch in den im folgenden zitierten HRG-Artikeln weitere Literaturangaben). 3 Heinz Holzhauer: Privatstrafe, in: HRG, Bd. 3, Sp. 1993-1998; Gunter Gudian: Zur Klage mit Schadensformel. Ein Beitrag zum mittelalterlichen Klagsystem, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (nachfolgend abgekürzt als ZRG GA) 90 (1973), 121-148. 4 Ekkehard Kaufmann: Buße, in: HRG, Bd. 1, Sp. 575 - 577; P. Weimar/ H. Nehlsen/ H. Ehrhardt: Buße (weltliches Recht), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, Sp. 1144 - 1151; Gunter Gudian: Geldstrafrecht und peinliches Strafrecht im späten Mittelalter, in: Hans-Jürgen Becker u.a. (Hg.): Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte, Festschrift f. Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, Aalen 1976, 273 - 288. 5 Karl S. Bader: Das Schiedsverfahren in Schwaben vom 12. bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert, Diss., Freiburg 1929; Udo Kornblum: Zum schiedsrichterlichen Verfahren im späten Mittelalter, in: Hans-Jürgen Becker u.a. (Hg.): Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte, Festschrift f. Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, Aalen 1976, 289 - 312; Wolfgang Sellert: Schiedsgericht, in: HRG, Bd. 4, Sp. 1386 - 1393. 6 St. Chr. Saar: Vergleich, in: HRG, Bd. 5, Sp. 723 - 725. 7 Vgl. besonders His: Strafrecht (wie Anm. 1); Eberhard Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1. Aufl., Göttingen 1947, 3. Aufl., Göttingen 1965; Wolfgang Leiser: Strafgerichtsbarkeit in Süddeutschland. Forschungen und Entwicklungen (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 9), Köln/ Wien 1971; Wolfgang Sellert/ Hinrich Rüping: Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Aufklärung (bearb. von Wolfgang Sellert), Aalen 1989; Hinrich Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 2. Aufl., München 1991. Carl A. Hoffmann 564 den Bestimmungen der Carolina. Die Betrachtung der Rechtspraxis des 16. Jahrhunderts weist trotz verschiedener Publikationen zu diesem Thema 8 noch erhebliche Lükken auf. Hierzu gehört nicht nur die Frage nach Anklage- oder Inquisitionsprozeß 9 , sondern die Bedeutung der privaten Vergleiche im Rahmen von Strafverfahren. Ausgangspunkt der hier vorgestellten Fragestellung ist dabei nicht die rechtshistorische Erörterung der genannten Probleme für das 16. Jahrhundert, sondern die Frage nach dem Wechselverhältnis von obrigkeitlicher Strafrechtspflege und Disziplinierungsanspruch einerseits sowie Interessen und Ordnungsvorstellungen der Untertanen im beginnenden frühneuzeitlichen Staat andererseits. Hierdurch werden Mitwirkungsspielräume, Initiativen und Einwirkungsmöglichkeiten der Bevölkerung bei Funktion und Durchsetzungskraft der öffentlichen Strafgerichtspflege und der damit verbundenen obrigkeitlichen Ordnungspolitik deutlich. Im Schnittpunkt dieser beiden Ebenen treffen sich vertikale und horizontale soziale Kontrolle und geben über Gemeinsamkeiten und Oppositionen Aufschluß. Zentral erscheint bei dieser Fragestellung auch die Möglichkeit, daß eine Durchbrechung der alleinigen Konzentration auf Obrigkeit und Täter ermöglicht wird und damit die Perspektive und die Interessen der Opfer und ihres Umfeldes berücksichtigt werden. Bevor jedoch diese Probleme erörtert werden können, wird zunächst das Spektrum von privatrechtlichen Einigungsverfahren, die im Zusammenhang mit Strafverfahren stehen, exemplarisch beschrieben. Hier ist auch die Praxis dieser Verfahren anzusprechen. Die Beispiele entstammen zumeist Überlieferungen der Rechtsprechung in der Reichsstadt Augsburg aus dem 16. Jahrhundert. Neben dem Rat, der hier die höhere Strafgerichtsbarkeit vertrat, finden sich die Organe der Straf- oder Zuchtherren als Vertreter einer niederen Strafgerichtsbarkeit und die Einunger. Letztere traten im Untersuchungszeitraum fast ausschließlich als Schlichtungsorgan in privatrechtlichen Angelegenheiten auf, während sie bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts auch wesentliche Strafkompetenzen hatten und dabei als Vorgänger der Strafherren gelten können. Zu diesen Straforganen sind jeweils Protokollreihen erhalten, die die zentrale Quellengrundlage dieser hier vorgestellten Überlegungen bieten. Ebenso wichtig waren auch die Sammlungen der Suppliken. Darüber hinaus wurde auf die Bestände der Ratsbücher und Mandatesammlungen zurückgegriffen 10 . Die Gerichtsorganisation und -zuständigkeiten Augsburgs differieren teilweise gegenüber anderen - hauptsächlich schwäbischen - Reichsstädten, die hier zum Vergleich herangezogen werden 11 . 8 Hans Bruch: Die Strafrechtspflege der Stadt Trier im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Waldkrich 1934; Karl Ernst Meinhardt: Das peinliche Strafrecht der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main im Spiegel der Strafpraxis des 16. und 17. Jahrhunderts, Frankfurt 1957; Hildegard Nordhoff-Behne: Gerichtsbarkeit und Strafrechtspflege in der Reichsstadt Schwäbisch Hall seit dem 15. Jahrhundert (Forschungen aus Württembergisch-Franken 3), Schwäbisch Hall 1971; Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/ Berlin 1991. 9 Vgl. Winfried Trusen: Der Inquisitionsprozeß. Seine historischen Grundlagen und frühen Formen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 74 (1988), 168 - 230. 10 Zu diesen Quellengattungen und der Organisation der Augsburger Strafgerichtsbarkeit mit weiterführender Literatur vgl. Carl A. Hoffmann: Strukturen und Quellen des Augsburger reichsstädtischen Strafgerichtswesens in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben 88 (1995), 57 - 108. An dieser Stelle sei auch Herrn Assessor Reinhold Schorer gedankt, der den Beitrag kritisch gelesen hat; er bereitet eine kurz vor der Fertigstellung stehende Dissertation unter dem Titel »Die Gerichtsverfassung und Gerichtsorganisation in peinlichen Sachen in der Reichsstadt Augsburg von 1156 - 1548« vor. Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten 565 2. Privatrechtliche Einigungsverfahren 2.1. Totschlags- und Körperverletzungsfälle In der rechtshistorischen Forschung ist die parallele Existenz von Strafverfahren und Sühnevertrag insbesondere in Totschlagsfällen immer wieder beschrieben worden 12 . Die Literatur konzentriert sich hier jedoch auf das Mittelalter. Zur Frühen Neuzeit finden sich lediglich Hinweise auf eine weitgehende Bedeutungslosigkeit des Phänomens oder pauschale Bemerkungen wie im Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte: »Sie (die Totschlagssühnen, C. H.) haben sich als private Beilegung eines Kriminaldeliktes noch besonders lange, mit landschaftlich allerdings unterschiedlicher Intensität, bis in die Neuzeit hinein behauptet« 13 . Zu Basel zeigt Hans Rudolf Hagemann, daß selbst der einfache Totschlag zu Beginn des 16. Jahrhunderts »grundsätzlich Malefizsache« geworden war. Seit dem Stadtfrieden von 1339 hatte sich der Rat selbst in Sühneverhandlungen eingeschaltet und - im Falle von Körperverletzungen - überzogene Forderungen der Opfer auch korrigiert. Letzteres geschah allerdings nicht in Totschlagsfällen. Das Rachebedürfnis schien hier als zu entscheidend für den Rechtsfrieden, daß »eine erzwungene Sühne keine wirkliche Aussöhnung und Befriedigung der Parteien herbeiführt«. Wie auch in anderen Städten waren Strafe und Sühne miteinander verbunden und der stadtverwiesene Täter hatte sich auch in Basel, Leutkirchen oder Ulm vor seiner Rückkehr mit der verletzten Partei auszusöhnen 14 . Die Gerichte wirkten also entsprechend auf die Parteien ein, um eine amicabilis compositio herbeizuführen. Dieser Vergleich war seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert selbständig vollstreckbar und galt wie ein gerichtliches Urteil 15 . Hagemanns Interpretation nach hatte der Rat Basels spätestens 1504 die Verbannungsstrafe »zugunsten der gerichtlichen Verfolgung und der reichsrechtlichen Todesstrafe« fallen gelassen 16 . Ähnlich wurden in Köln Totschläger mit wenigen Ausnahmen hingerichtet 17 . Damit war auch die privatrechtliche Einigung zwischen Täter und den Angehörigen des Opfers kein Teil dieses Verfahrens mehr. Das Tötungsdelikt war zur rein öffentlichen Strafsache geworden. Eine vergleichbare Entwicklung wie in Ulm, daß Totschläge zu Beginn des 16. Jahrhunderts nur noch mit Geldstrafe belegt worden seien, ohne Verbannung bzw. Leibes- oder Todesstrafe, ist sonst nirgends faßbar und darüber hinaus auch zweifelhaft. Göggelmann nennt selbst für Ulm 1529 eine Hinrichtung in einem Totschlags- 11 Vgl. u.a. Hans Erich Göggelmann: Das Strafrecht der Reichsstadt Ulm bis zur Carolina, Diss., Tübingen 1984, 14 - 22; Nordhoff-Behne: Schwäbisch Hall (wie Anm. 8), 57 - 73. 12 Hervorzuheben sind u.a. allgemein Hiß: Strafrecht I (wie Anm. 1), 296ff.; ders.: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. II, Weimar 1935, 83; Otto Rieder: Totschlagsühnen im Hochstift Eichstätt. Nach Beispielen aus dem 15. und 16. Jahrhundert, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Eichstätt 6 (1891), 1 - 58, 7 (1892), 1 - 37, 8 (1893), 1 - 30; Paul Frauenstädt: Blutrache und Totschlagsühne im Deutschen Mittelalter. Studien zur Deutschen Kultur- und Rechtsgeschichte, Leipzig 1881, Neudruck Berlin 1980. 13 Kaufmann: Sühne (wie Anm. 2), Sp. 74; vgl. Wolfgang Leiser: Strafrechtspflege in Schwaben vom Mittelalter zur Neuzeit. Ein Überblick, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 45 (1986), 9 - 23, hier: 12. 14 Hans-Rudolf Hagemann: Basler Rechtsleben im Mittelalter, Basel/ Frankfurt a. Main 1981, 169f.; Leiser: Strafrechtspflege (wie Anm. 13), 15f. 15 Saar: Vergleich (wie Anm. 6), Sp. 724. 16 Hagemann: Basel (wie Anm. 14), 280. 17 Schwerhoff: Köln (wie Anm. 8), 281. Carl A. Hoffmann 566 fall 18 . Dem steht auch die generelle Zurückdrängung der »Fiskalisierung« des Strafrechts in der Zeit der Rezeption entgegen 19 . Die übliche Strafe durch den Rat in Augsburg bei Totschlagsfällen war der Stadtverweis, die Verbannung. Der Totschläger hatte die Stadt auss gnaden fünf Jahre, aus vngnaden zehn Jahre zu verlassen 20 . Die Stadtgerichtsordnung von 1529 formuliert dabei auch, daß ein Täter, der flieht, auch wenn er sich mit des enntleibten erben vertregt, (...) funff ganze jar on alle gnadt aus der Stadt verwiesen bleiben soll. Wenn er dann zurückkehre, habe er dem Rat eine Strafe von zehn Gulden zu bezahlen, vnd sonnst menigelich sein recht vorbehalten sein 21 . Letzterer Passus bezieht sich auf eventuelle weitere Ansprüche Dritter. Wie lange der Täter aber tatsächlich verbannt blieb, ist damit noch nicht gesagt. Die Lösung von der Strafe entschied sich primär erst nach dem erfolgreichen Abschluß eines Sühnevertrags und an zweiter Stelle im Rahmen der hier nicht näher zu behandelnden Fürbitten- und Gnadenpraxis 22 . Voraussetzung für die Rückkehr des stadtverwiesenen Totschlägers war auch nach Ablauf der Fünfbzw. Zehnjahresfrist ein Vergleich mit der Familie des Getöteten. Die Suppliken der Verurteilten oder deren Angehörigen auf Wiedereinlaß in die Stadt beinhalten deshalb auch stets einen Hinweis auf den gütlichen Vergleich, d.h. den Sühnevertrag. So weist der Augsburger Bürger Bonifacius Lochner 1533 in seinem Gnadengesuch 23 auf einen besigelten vertragsbrief hin. Durch die Einigung sei er in groß verderben und schaden gekommen. Aus einem Geleitgesuch eines anderen Totschlägers, der wegen der notwendigen Verhandlungen mit den Hinterbliebenen des von ihm Getöteten in die Stadt eingelassen werden wollte, erhalten wir auch ungefähre Vorstellungen von den in Frage kommenden Summen. Dieser Augsburger Bürger beschrieb seinen Verhandlungsspielraum mit bis zu dreihundert Gulden 24 . Aus Augsburg sind bisher keine überlieferten Sühneverträge bekannt. Im benachbarten Ulm hatte ein Totschläger im Rahmen eines solchen Vertrages zu Beginn des 16. Jahrhunderts folgende Leistungen zu erbringen 25 : 18 Göggelmann: Ulm (wie Anm. 11), 103f. Dies bestätigt auch ein anderer Ulmer Totschlagfall aus den 1540er Jahren: Gerd Wunder: Ein Totschlag in Aufhausen im Jahre 1543. Der Prozeß gegen Paulin Doll, in: Ulm und Oberschwaben 40/ 41 (1973), 255 - 263. 19 Heinz Holzhauer: Geldstrafe, in: HRG, Bd. 1, Sp. 1470. 20 StadtA Augsburg Reichstadt Evangel. Wesensarchiv Nr. 187, Bürgermeisterinstruktion um 1600, 29, lt. einem Ratsbeschluß von 1493. 21 StadtA Augsburg Reichsstadt Band mit Polizeiordnung von 1582 und Stadtgerichtsordnung von 1529 (nicht repertorienmäßig verzeichnet), fol. 24r. Ein Ratsbucheintrag von 1516 (StadtA Augsburg Reichsstadt Ratsbuch Nr. 14, S. 225) verlangt von dem zurückkehrenden Totschläger die Zahlung von zehn Pfund Münchener Pfennigen jeweils für den Rat und für den Stadtvogt. 22 Vgl. hierzu Andrea Bookmann: Urfehde und ewige Gefangenschaft im mittelalterlichen Göttingen (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen Bd. 13), Göttingen 1980, 89 - 91; Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 385 - 414, hier: 391; Peter Schuster: Der gelobte Frieden. Täter, Opfer und Herrschaft im spätmittelalterlichen Konstanz, Konstanz 1995, 119 - 148; Andreas Bauer: Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16. Jahrhunderts. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung von Quellen der Vorarlberger Gerichtsbezirke Feldkirch und des Hinteren Bregenzerwaldes (Rechtshistorische Reihe 143), Frankfurt am Main u.a. 1996; zur Augsburger Fürbitten- und Gnadenpraxis vgl. demnächst Carl A. Hoffmann: Der Stadtverweis als Sanktionsmittel in der Reichsstadt Augsburg zu Beginn der Neuzeit - dieser Beitrag erscheint voraussichtlich noch 1999 im Sammelband Hans Schlosser/ Dietmar Willoweit (Hg.): Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen). 23 StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken (datiert) Bonifacius Lochner (Bescheid vom 21.4.1533). 24 StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken undatiert (M-R), Wolfgang Muller. Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten 567 - Die Ausrichtung des Begräbnisses mit 40 Priestern und drei Ämter - Kerzen aus 25 Pfund Wachs - in allen drei Ämtern mit abgebrochener Kerze in der Hand für den Erschlagenen beten - nach den Ämtern jeweils sich kreuzweise auf das Grab des Erschlagenen zu legen bis ihn der Priester aufstehen ließ - Witwe und Verwandte um Verzeihung bitten - binnen Jahresfrist drei Wallfahrten nach Einsiedeln, Aachen und St. Johannes Stern durchführen - ein fünf Schuh hohes Sühnekreuz am Ort des Verbrechens aufstellen 26 Die Fünfbzw. Zehnjahresfrist konnte in Augsburg nur in Ausnahmefällen unterschritten werden. Der Maurer Lienhart Vogler mußte nach dem Vergleich mit dem Erben nur drei Jahre außerhalb der Stadt zubringen. Ihm hielt der Rat 1528 zugute, daß der von ihm in Notwehr Getötete ein muesam unruhig man gewesen sei, also ständig für Unruhe gesorgt hatte 27 . Im Fall des Schneiders Hanns Glanntz war es die Fürbitte durch den Kaiser, die dazu führte, daß eine Rückkehr in die Vaterstadt nach jar vnnd tag nach dem Totschlag zugestanden wurde 28 . Hilfreich konnte dann auch eine Fürbitte der Verwandtschaft des Getöteten sein 29 . Die Vermittlung zwischen dem Täter und der Familie der Opfer scheint in Augsburg nicht vor einem Gericht stattgefunden zu haben. Im Fall des Schneiders Hanns Glanntz wird hierfür nur die gutlich vnnderhandlung erberer leut angegeben 30 . Im Anschluß daran erfolgte dann eine notarielle Beurkundung in Form eines besiegelten Vertrags. 1562 war der Augsburger Bürger Wilhelm Wilbrecht der Stadt verwiesen worden, weil er einen Ludwig Honold layder entleibt hatte. Er hatte sich darauf mit der Verwandtschaft des Getöteten vertragen und deshalben ordenlichen vertrags brief in der städtischen Kanzlei auf gericht vnd besigelt. Diesen Vergleich legte er nun nach vier Jahren Verbannung einer Supplik auf Wiedereinlaß in die Stadt bei 31 . Erst im letzen Viertel des 16. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der privaten Einigung in Totschlagsfällen in Augsburg ab bzw. verschwand völlig. Hans Knechthofer, der 1574 Caspar Dietrich bei einem Streit um ein Messer tötete, wurde deshalb noch für fünf Jahre der Stadt verwiesen 32 . In der Folgezeit beruft sich der Augsburger Rat fast ausschließlich auf die Peinliche Halsgerichtsordnung von 1534, die in Totschlagsfällen die Todesstrafe vorsieht 33 . Als Hannß Küeß von Friedberg seinen Verwandten aus derselben Stadt ohne befuegte vrsach dermaßen verletzte, daß dieser nach wenigen Tagen starb, wurde am 12. Oktober 1596 ein peinlicher rechtstag abgehalten, und der Rat 25 Göggelmann, Ulm (wie Anm. 11), 60f.; vgl. auch verschiedene Sühneverträge in Frauenstädt: Blutrache (wie Anm. 12), 122ff., Anm. 28, und 179ff. (Urkundenbuch). 26 Vgl. hierzu Eugen Mogk: Der Ursprung der mittelalterlichen Sühnekreuze (Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, 81. Band, 1. Heft), Leipzig 1929; Peter A. Heuser: Das »Steinerne Kreuz« zu Remscheid. Ein Beitrag zur Geschichte der Sühne- und Mordkreuze im Bergischen Land (Heimatkundliche Hefte des Stadtarchivs Remscheid, 16), Remscheid 1984. 27 StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken (datiert) Lienhart Vogler (Bescheid vom 19.5.1528). 28 StadtA Augsburg Reichsstadt Ratsbuch Nr. 16, fol. 29r, Eintrag vom 4.8.1530. 29 Hoffmann: Stadtverweis (wie Anm. 22). 30 StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken (datiert) Hanns Glanntz (Supplik um Fürbitte an den Kaiser vom 27.7.1530). 31 StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken (datiert »Jan: 1562 urgicht«) Wilhelm Wilbrecht. 32 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1571 - 1580, fol. 65r, Urteil vom 6.5.1574. Carl A. Hoffmann 568 verurteilte ihn zum Tod mit dem schwert vnd bluetiger hannd 34 . Die Bestimmung der Carolina bezüglich der generellen Todesstrafe bei Totschlag (mit Ausnahme der Notwehr) wurde also in Augsburg erst ein halbes Jahrhundert nach ihrem Erlaß umgesetzt. Dieser Befund läßt sich auch in anderen Gebieten nachweisen 35 . Spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wurde jeder Totschlag von Amts wegen verfolgt. Vorher stand es dem Kläger offen - wie durch das römische Recht eingeführt 36 -, ob er peenlich oder burgerlich clagen wollte. Er konnte sich bei dieser Wahlmöglichkeit auf kaiserliches Mandat berufen 37 . 1555 ergeht an die Bürgermeister in Augsburg die Ratsverordnung: Ob auch hinfuro jnn diser stat ain todschlag beganngen wurde, sollen zustundtan die herrn burgermaister die geschwornen wundtartzt vber den entleipten verordnen zuuerfaren vnnd zubesichtigen, wieuil vnnd was fur leibscheden der entleipt empfangen vnnd wie sie alle gelegenhait befunden, das sollen sie ordenlich auffschreiben lassen vnnd alsdann jnn die canntzley antworten 38 . Die um 1600 kompilierte Bürgermeisterinstruktion Augsburgs bestimmt dann auch, daß nach Anzeigen von Barbieren oder anderen bei Körperverletzungsfällen und Tötungen Bürgermeister oder Vogt die Verhaftung des Täters durchzusetzen haben, und bei Tötungen die Freiungen gesperrt, die Tore geschlossen und Informationen von den Nachbarn eingeholt werden sollen 39 . Die Übergangszeit um die Mitte des 16. Jahrhunderts zeigt auch ein Fall aus dem Jahre 1559. Nach Ratsbeschluß sollte der Verwandtschaft eines Getöteten mit dem Angebot der Stellung eines Advokaten zugesprochen werden, den Täter anzuklagen. Wenn jedoch keine Klage erfolgte, soll alsdann geratschlagt werden, wie ex officio zuhandlen sey 40 . Eine Alternative zum Todesurteil in Totschlagsfällen stellte die Begnadigung zum Kampf im Türkenkrieg dar. Als ein Bobinger Sattlergeselle in einem nächtlichen rauf vnd schlaghandel den Schlossergesellen Hanns Geiger erstach, hätte er eigentlich eine leibs vnd lebensstraf sollichen begangnen todschlags wegen verschuldet. Dennoch hat ein e. rhat auß gnaden vnd inn ansehung für ine bescheener statlicher fürbit heüt dato [23.11.1599, C.H.] erkannt, das er auf ein geschribne geschworne uhrphed erlassen, siben jar an die vngerische gränitz condemniert werden soll 41 . In der Zeit der Zusammenstellung der großen Mittelmeerflotte gegen die Türken war auch die Galeerenstrafe für Totschläger möglich 42 . Bei Körperverletzungen - selbst in schwersten Fällen - war jedoch die privatrechtliche Einigung auch am Ende des 16. Jahrhunderts entscheidendes Element des Verfah- 33 Vgl. StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1596 - 1605, fol. 5r, Urteil gegen Jacob Müller vom 12.10.1596: ob er nun wol von solliches begangnen todschlags wegen, vermüg der recht vnd der peinlichen halsgerichtsordnung das leben verwürckt, wird er durch den Rat zu sechs Jahren an die ungarische Grenze zum Türkenkrieg verurteilt. Müller hatte einen Taglöhner bei einer schlag vnd rumor handlung in dem Dorf Oberhausen erschossen. 34 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1596 - 1605, fol. 4v-5r. 35 Rieder: Totschlagsühnen (wie Anm. 12), 5, spricht von der »Blüteperiode« der Totschlagsühnen in Eichstätt in den 1540er und 1550er Jahren; vgl. auch Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 22), 404. 36 Ekkehard Kaufmann: Das spätmittelalterliche deutsche Schadenersatzrecht und die Rezeption der »actio iniuriarum aestimatoria«, in: ZRG GA 78 (1961), 93 - 139, hier: 136f. 37 Vgl. hierzu einen Fall aus dem Jahre 1521 StadtA Augsburg Reichsstadt Ratsbuch Nr. 15 fol. 9. 38 StadtA Augsburg Reichsstadt Ratsbuch Nr. 29 I. Teil, fol. 52r, Mandat vom 18.7.1555. 39 StadtA Augsburg Reichstadt Evangel. Wesensarchiv Nr. 187, Bürgermeisterinstruktion um 1600, 26. 40 StadtA Augsburg Reichsstadt Ratsbuch Nr. 31 I. Teil, fol. 44v. 41 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1596 - 1605, fol. 92r. Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten 569 rens 43 . So hatte im Jahre 1594 der Uhrmachergeselle Hannß Buechhofer aus Langenneufnach ein poldern vnd rumorn angefangen und bei der Arretierung einen Wächter mit dem Beimesser in den Hals gestochen vnd in damit biß auf den tod verwundt. Als sich der Verletzte jedoch wieder zur besserung geschickt, verglich sich Buechhofer mit ihm. Daraufhin entließ ihn der Rat aus der Haft und verbannte ihn für unbestimmte Zeit aus der Stadt 44 . Andere erhielten in solchen Fällen eine Geldstrafe durch die Strafherren 45 . Wenn jedoch die Notwehr nachgewiesen werden konnte, war weder ein Vergleich mit dem Verletzten noch eine öffentliche Strafe zu erwarten 46 . 2.2. Verschuldung Die Augsburger Zucht- und Polizeiordnung von 1537 und 1553 nennt als Qualifikationsmerkmale für eine Strafsache bei Verschuldung, wenn die Schuldner in machung jrer Schuld/ vnd sunst/ gefaerlicher weiß/ handlen/ dardurch gemainem trawen vnd glauben grosser abpruch/ Auch dem Handtierenden vnd gemainem Man verhinderung seiner Narung zugefuegt würdt. Wer dabei bis zu 200 fl. Schulden nicht begleichen konnte, mußte bis zur völligen Bezahlung die Stadt verlassen. Bei mehr als 200 fl. Schulden hatten die Gläubiger den Schuldner durch den Bürgermeister zu Burgerlicher Verwarung in den Turm aufnehmen zu lassen und dafür vier bzw. ab 1553 acht Pfennige pro Tag Unkosten zu bezahlen. Der Schuldner mußte in diesem Falle bis zur völligen Begleichung gefangen bleiben. Bei Flucht eines Schuldners behielt sich der Rat unabhängig von ei- 42 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1563 - 1571, fol. 56r, Urteil vom 20.4.1571 gegen den Tuchscherer Ulrich Mair: Er hat ain todtschlag begangen, vnnd wiewol er furgeben, das er sich getzwungenlich wöhren vnnd beim leben erretten muessen, so hat er doch solchs nit beweisen können. Derwegen er zehen iar lang auff ain galeen condemnirt worden. Vgl. Hans Schlosser: Die Strafe der Galeere für Kriminelle aus Bayern und Schwaben - Menschenhandel als Strafvollzug im 16. - 18. Jahrhundert (Rieser Kulturtage 5/ 1984), 1985, 269ff.; ders.: Der Mensch als Ware: Die Galeerenstrafe in Süddeutschland als Reaktion auf Preisrevolution und Großmachtpolitik (16. - 18. Jahrhundert), in: FS f. Louis Perridon, Berlin 1984, 91ff. 43 Vgl. zu Nürnberg Hermann Knapp: Das alte Nürnberger Kriminalrecht. Nach Rats-Urkunden erläutert, Berlin 1896, 106; dagegen Rudolf His: Die Körperverletzungen im Strafrecht des deutschen Mittelalters, in: ZRG GA 41 (1920), 75 - 126, hier: 115, 117, 123, der für die meisten mittelalterlichen Rechte in schweren Körperverletzungsfällen die Talion als Strafe sieht, die jedoch ablösbar war. 44 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1596 - 1605, fol. 210r. Im Urteil heißt es hier: Nach dem sich aber deß beschädigten sachen widerumb zur besserung geschickt, vnd sich der Buechhofer deß zugefuegten schadens halben mit ime verglichen, auch sonst stadtliche fürbit für ine, Buechhofer, einkommen, hat ein e. rhat heüt dato [7.6.1594, C.H.] erkant, das er wider erlassen, aber aus der stat geschaft vnd nit bald wider herein gelassen werden soll. 45 Vgl. u.a. StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1563 - 1571, fol. 50r, Urteil vom 23.1.1571 gegen Hanns Kapffer, der nachts durch Messerstiche einen Kontrahenten tötlich verwundete. Derwegen er venkhlich eingetzogen, aber dieweil sich des beschedigt sachen zur besserung geschikht vnnd er, Kapffer, sich erboten hat, mit ime abtzukomen, wider von statten gelassen vnd fur die straffherrn verschafft worden. Ine daselbst nach gelegenhait seines verbrechens zustraffen. Vgl. auch StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1571 - 1580, fol. 86r, Urteil vom 10.5.1575, wo sich der Täter mit dem Opfer des empfangen leibschadens halb verglichen hatte, bevor er nach weiteren acht Tagen in Haft von den Strafherren eine Geldstrafe erhalten sollte. Auch in StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1571 - 1580, fol. 29r, im Urteil vom 10.6.1578 gegen Steffan Reichart wird dem Täter als Voraussetzung für Entlassung und Bestrafung (eine Geldstrafe) durch die Strafherren der Vergleich mit dem beschedigten genannt. 46 Vgl. StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1571 - 1580, fol. 71v, Urteil vom 31.8.1574 gegen Christoff Bokh, der während eines fechthandels den Angreifer todtlich verwundet hatte. Weil er hierzu hochlich verursacht vnnd die nothwohr statlich erwisen, wurde er on entgelt wieder aus der Haft entlassen. Carl A. Hoffmann 570 ner Einigung der Parteien eine entsprechende Strafe vor. Ein Ratsbeschluß vom 13.9.1537 ergänzte dahingehend, daß der Schuldner innerhalb von 14 Tagen aus der Stadt geschafft werden sollte, wenn die Parteien bei belegten Schulden gutlich nit vertragen werden mögenn 47 . Die Praxis war jedoch bereits älter 48 . Dem Stadtverweis kam in diesen Fällen - wie vergleichsweise auch für Ulm belegt 49 - der Charakter eines Surrogats oder eines Beugemittels zu. Streitige Schuldfälle wurden üblicherweise vor den Einungern ausgetragen 50 . Die dort geschlossenen Vergleiche beinhalten zumeist lediglich die festgelegten Zahlungsfristen, mitunter auch die Drohung, sofern nicht Bezahlung geleistet werde, solle der Schuldner innerhalb von 14 Tagen die Stadt verlassen und erst wieder nach Begleichung der Schuld zurückkehren 51 . Vermutlich nur wenn diese Fristen nicht eingehalten wurden bzw. die Parteien sich vor den Einungern nicht vergleichen konnten, kam der Fall an den Rat. Allein im Jahre 1599 standen 24 Schuldner vor dem Rat. Teilweise wurden sie nach Begleichung der Schuld aus der Haft entlassen, teilweise mußten sie die Stadt verlassen. Dabei kamen auch Verbannungen bis zu einem Jahr vor 52 . Es sind auch Fälle bekannt, in denen der Stadtverweis auch noch nach Begleichung der Schuld andauerte 53 . Vermutlich war hier der Stadtverweis nicht nur als Beugemittel zu verstehen, sondern auch als Strafe. Inwiefern durch die nicht überlieferten privaten Vergleiche ein Ausgleich der Vermögensbeschädigung des Gläubigers durch den Kreditnehmer durchgeführt wurde, kann hier nicht gesagt werden. Sicher ist jedoch, daß eine Privatstrafe hierbei nicht zu erkennen ist 54 , sieht man von den schwerwiegenden Folgen einer - wenn auch nur temporären - Verbannung einmal ab. Das öffentliche Interesse in Schuldsachen wird auch im Falle von Bankrotten deutlich. Die Exekutionsordnung für die Strafherren von 1553 bestimmt hierzu, daß die Strafherren Erkundigungen darüber einzuziehen hätten, wer bankrottiert, gefährliche Schulden gemacht oder wer sich mit seinem Gläubiger um Schulden gefährlich verglichen habe. Die private Einigung wird hier also auch im Bereich des Kreditwesens unter obrigkeitliche Überwachung und eventuell Strafe gestellt. Dabei drohte auch eine Ehrenstrafe. Überführte Delinquenten waren der Stubengerechtigkeit nicht fähig, mußten bei Leichenprozessionen hinten gehen, wurden in der Kirche zu den Frauen gesetzt, und ihre Söhne und Töchter durften keine Ketten tragen 55 . In Schuldfällen existierte also neben der Möglichkeit der Erzwingung der Schuldbegleichung durch eine Inhaftierung bzw. einen Stadtverweis auch ein obrigkeitlicher Strafanspruch 56 . Kreditvergehen wurden auch als Gefahr für die öffentliche Ordnung 47 StadtA Augsburg Reichsstadt Einungerbuch 1537 - 40 [unfoliiert und unpaginiert, fol. 1r]. 48 Vgl. StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1507 - 26, 123, wo es im Urteil heißt: Der Stadtverwiesene Schuldner werde erst wieder eingelassen, wenn er vorher seinen Gläubiger vmb die schuld, darumb er im vor dem stattvogt hinawss geschworn, das er aber nit gehalten hat, entricht vnd bezalt (1522). 49 Göggelmann: Ulm (wie Anm. 11), 51. 50 StadtA Augsburg Reichsstadt Einungerbücher; vgl. auch Hoffmann: Strukturen (wie Anm. 10), 79f. 51 StadtA Augsburg Reichsstadt Einungerbuch 1537 - 40, fol. 30r, Fall des Georg Hafner vom 12.1.1538. 52 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1596 - 1605. 53 Vgl. u.a. den Fall des Cristoff Mair StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken undatiert (M-R), Cristoff Mair, und Suppliken (datiert) 8.6.1525 (Cristoff Mair), genauer in Hoffmann: Stadtverweis (wie Anm. 22). 54 Vgl. hierzu allgemein Kaufmann: Schadensersatzrecht (wie Anm. 36), 94. 55 StadtA Augsburg Reichsstadt Schätze Nr. ad 36/ 3, fol. 23v (Exekutionsordnung von 1553). 56 His: Strafrecht I (wie Anm. 1), 264, sieht diesen Strafanspruch des Staates bereits im Mittelalter nur noch bei gerichtlich festgestellter Schuld oder bei Flucht des Schuldners als gegeben an. Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten 571 angesehen und waren damit von öffentlichem Interesse. Die private Einigung blieb wie bei entsprechenden zivilrechtlichen Verfahren jedoch der Normalfall bei Schuldfragen sowie der wesentliche Schlüssel, ob eine strafrechtliche Verfolgung erfolgte oder nicht. 2.3. Beleidigungen Die Augsburger Zucht- und Polizeiordnung von 1537 - wie auch die erneuerte von 1553 - bestimmt bei Injurien, wer Personen/ vnchristlicher/ vnbillicher weiß/ hinderruckh/ vnd sunst/ mit erdichten/ vnwarhafftigen/ Eerletzlichen/ schweren Schmach vnd Nachreden ( ...) an jren Eren verletzen/ vervnglimpffen vnd belegen sollte, werde nach Schwere des Delikts mit Vermögens-, Turm-, Ehren-, Leibes- oder Lebensstrafen belegt. Dem Geschmähten bleibt das Recht/ vmb die zugefuegten Schmach vnd Jniuri vorbehalten 57 . Die Exekutionsordnung nennt dann ein Strafmaß von zwei Tagen und Nächten auf dem Turm, wobei es den Strafherren frei stand, bei größerer Schmach das Strafmaß zu erhöhen 58 . Noch 1621 werden hierfür zwei Tage und Nächte Turmstrafe bzw. als Ablösesumme 1 fl. pro Tag verordnet 59 . Die Zuchtordnung des Jahres 1472 bestimmt dagegen lediglich Geldstrafen zwischen zwei und vier Pfund Pfennigen zugunsten der Stadtkasse für Scheltworte wie schalck buben, huren buben sun oder huren sune, (...) zohen sune, merhen sune, ketzer, mainaiden, [oder wer jemanden] ainen dieb, ainen verraeter, ainen rauber, ainen boßwicht etc. nennt, Ausdrücke bzw. Beschuldigungen, die dem manne von seinen eeren sagen 60 . Wie bei den Totschlägen zeigt sich hier also ein verstärkter Strafanspruch der Obrigkeit. Auch in Ulm kannte man um 1500 für Scheltworte einen abgestimmten Strafenkatalog von Geldbis zu Verbannungsstrafen. Speziell die Lügenschelte wurde zunächst mit acht Tagen Verbannung bestraft, ab 1498 dagegen nur mit zehn Schilling Haller 61 . In den genannten Fällen wurde mit dem Verfahren zumeist eine Abbitte erzwungen. Typisch hierfür ist der Streit zweier Bierschenken, von denen der eine - Hans Mayr - seinen Kollegen Georg Berckenmair zu Unrecht in der Kornschranne beschuldigt hatte, Betrug zu begehen. Der öffentliche Widerruf Mayrs beinhaltete dann zunächst die Unschuldserklärung für Berckenmair und dann die stets in solchen Fällen wiederkehrende Formel: er wiss nichtzit anders von jm dan alls von ainem fromen erbern man. Schließlich folgt die Aussage, er habe seinen Kollegen auch gebeten, ihm zu verzeihen und zu vergeben 62 . 1621 sollte die Abbitte nach dem obligatorischen Handschlag folgenden Text beinhalten: Das ichh wider euch schmehlich oder verklainerlich geredt, euch dardurch an ehren unzimlich angriffen und verletzt hab, in dem bekenne ich mein Unrecht, ist mir laid, bitte euch dero wegen mir solches zuuerzeihen, solle nit mehr geschechen, auch euch ohne allen nachthail sein, dannich vonn euch anderst, als von einem ehrlichen Biderman nit wais 63 . Eigene Sühneverträge in Beleidigungsfällen sind jedoch in Augsburg nicht überliefert 64 . 57 StadtA Augsburg Reichsstadt Evangel. Wesensarchiv Nr. 147 T. I (Polizeiordnung von 1537); Stadt- und Staatsbibliothek Augsburg 2° Aug. 243 (Polizeiordnung von 1553). 58 StadtA Augsburg Reichsstadt Schätze Nr. ad 36/ 3, fol. 16v-17r (Exekutionsordnung von 1553). 59 StadtA Augsburg Reichsstadt Evangel. Wesensarchiv Nr. 155, tom. II (Polizeiordnung von 1621), fol. 46r-v. 60 StadtA Augsburg Reichsstadt Schätze Nr. 36 (Zuchtordnung von 1472), 7f. 61 Göggelmann: Ulm (wie Anm. 11), 114f. 62 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1509 - 1526/ 28, S. 38 (Urteil vom 27.10.1513). 63 StadtA Augsburg Reichsstadt Evangel. Wesensarchiv Nr. 155, tom. II (Polizeiordnung von 1621), fol. 46r. Carl A. Hoffmann 572 Beleidigungsfälle finden sich vor dem Rat, vor den Strafherren und den Einungern. Dabei scheint sich die Praxis herausgebildet zu haben, daß bei Klagen vor den Strafherren auch meist eine (öffentliche) Strafe erfolgte - in Form einer Geldsumme oder Turmstrafe 65 -, während die Einunger in solchen Fällen lediglich als Schlichter auftraten und keine Strafen verhängten. Auch hier stand am Ende ein Widerruf 66 . Vor diesem städtischen Organ wurden auch die meisten derartigen Fälle - wie ein Vergleich der Einungerbücher mit den Strafbüchern des Rates und der Strafherren belegt - behandelt. Weitergehende Ansprüche des Beleidigten - im Sinne einer Privatstrafe - sind in den Augsburger Protokollreihen nicht erkennbar 67 . 2.4. »Übelhausen« Das öffentliche Interesse wie patriarchalische Fürsorgevorstellungen der Obrigkeit richteten sich gegen verschwendungssüchtigen Lebenswandel von verheirateten und unverheirateten Untertanen, die die Existenzgrundlagen von Familien gefährdeten. Gemeint waren damit mueßgang, vberig essen, trinken, spilen, zeren, vnzucht treiben, legen vnnd jnn summa jr ererbt hab vnnd gut verschwenden vnnd verdempffen womit sie nit allain jr aigen person vnnd frundschafft jnn schmach, schaden vnnd spott, sonnder auch jre weib vnnd kynnd vilmals jnn armut ellend hunger, kumer vnnd verderben setzen. Als Strafen drohte der Rat Inhaftierung, Leibes- und Geldstrafen an sowie die Verwaltung des Besitzes durch einen Pfleger 68 . Im weiteren Kontext gehören hierzu auch die Übertretungen der Glücksspiel-, Trinkbzw. Zutrink-, Völlereiverbote oder der Kleiderordnungen sowie aller Arten von sonstigen Aufwandsbeschränkungen 69 . Das sogenannte »Übelhausen« war zumeist mit der einen oder anderen Art dieser Übertretungen verbunden oder gar mit körperlicher Gewalt gegen Familienmitglieder bzw. Nachbarn 70 . 64 Vgl. einen solchen Sühnevertrag aus dem Jahre 1556 bei George A. Löning: Totschlag zu Kiel und andere Rechtsfälle aus dreieinhalb Jahrhunderten, Göttingen 1992, 34 - 40. 65 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch der Straf-/ Zuchtherren 1549/ 50, fol. 115: Hier wurde der Schlosser Thoman Weltzlin, der den Weber Thoman Mauer einen schelmen, dieb vnd posswicht gescholten hatte, neben der üblichen Abbitte zu zwei Tagen Turm verurteilt. Nach Ableistung der Strafe erhielten die Delinquenten noch eine zusätzliche Verwarnung. 66 StadtA Augsburg Reichsstadt Einungerbuch 1537 - 40, fol. 5v (Eintrag vom 13.8.1537): zwischen Margreth Wiltspringerin sowie dem Hirten Vlrich Rasch und seiner Ehefrau synnt der schmachreden, so baid weiber ain ander zugezogenn aufgehebt vnd hingelegt guetlich vertragen vnnd vergleichen, doch so hat Billispringerin der Raschin ain widerruf gethan; anglobt. Vgl. auch ebd., fol. 2v, Eintrag vom 2.7.1537, wo die beiden Kontrahenten zue guetlich freunden gesprochen wurden. Nach der Stadtgerichtsordnung von 1529 (wie Anm. 21), fol. 23r, wird die Einung als Instanz für scheltwort bestimmt, sofern nicht der Fall an andere Organe gezogen werde. Die Einung solle zumindest einmal monatlich zusammentreten. 67 Vgl. Kaufmann: Schadenersatzrecht (wie Anm. 36), 137. 68 StadtA Augsburg Reichsstadt Ratsbuch Nr. 20 I. Teil, fol. 49r-v, Mandat vom 17.3.1546. 69 Vgl. u.a. Polizeiregelungen, die die verderblichen Auswirkungen des Spiels auf den Unterhalt von Ehefrauen und Kindern explizit nennen (StadtA Augsburg Reichsstadt Evangel. Wesensarchiv Nr. 147 T. I (Polizeiordnung von 1537); Stadt- und Staatsbibliothek Augsburg 2° Aug. 243 (Polizeiordnung von 1553). 70 Vgl. Lyndal Roper: Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt am Main/ New York 1995, 150ff.; Bernd Roeck: Neighbourhoods and the Public in German Cities of the Early Modern Period. A Magician and the Neighbourhood Network, in: Anton Schuurman/ Pieter Spierenburg (ed.): Private Domain, Public Inquiry. Families and Life-Style in the Netherlands and Europe, 1550 to the Present, Hilversum 1996, 193 - 209, hier: 193; weitere Literatur hierzu siehe Heinrich Richard Schmidt: Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), 639 - 682, hier: 656f. Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten 573 Die Anzeige des Delikts erfolgte zumeist aus dem Umfeld der Familie, vielfach aus einem unmittelbarem Notstand. Charakteristisch hierfür ist der Fall des Barchentkarters Jeremias Müller 71 . Hier ist das Vorgehen der Ehefrau ganz besonders gut aus zwei Suppliken dokumentiert. Müller war bereits verschiedentlich inhaftiert und mit Geldstrafen belegt worden, hatte auch Wirtshausverbote nicht eingehalten 72 . Vor kurzem - so die Ehefrau in der Supplik - wären sie beide sogar vor dem Bürgermeister Haintzl gestanden, als sie ihren Ehemann auf einen Turm bringen lassen wollte. Müller habe dabei an ayds statt angelopt, daß er des verschwendß, vbel haussens muessig zuegehen, seinem handtwerckh vnd arbeitdt vleyssig auß worden wöll. Auch diesmal habe er jedoch alles jnn wind geschlagen. Durch dieses Verhalten hatte er auch das Vermögen seiner Frau erheblich vermindert. Als er schließlich alle Tage der Woche betrunken war und weder seine Frau noch ihre Kinder ihres lebenß sich sicher sein konnten, auch die Mitbewohner des Hauses und die Nachbarn von ihm belästigt wurden, ließen ihn die Betroffenen am Freitag, den 12. August 1580, nachts zwischen neun und zehn Uhr von der Wache arretieren. Am darauffolgenden Dienstag, den 16. August, reichte Magdalena Lutzenberger eine Supplik an den Rat, worin sie u.a. bittet, ihren Mann nur im Turm auf ihre Kosten zu belassen, ihn dort seine straff schuldt (...) ain zeyt lang lassen abbiessen und ihn nicht der Stadt zu verweisen. Üblicherweise war dies die Strafe, wenn Wirtshausverbote, Aufwandsbeschränkungen oder ähnliche Restriktionen über einen Bürger verhängt und nicht eingehalten worden waren. Für Müller war diese Gefahr besonders groß, war er durch die Strafherren ja bereits mehrfach vorbestraft. Da der Rat in vergleichbaren Fällen ohne Zögern einen - zumindest temporären - Stadtverweis verhängte, scheint hier die Ehefrau mit ihrer Supplik einem Urteil zuvorgekommen zu sein. Es findet sich zu diesem Zeitpunkt auch kein Urteil in den Strafbüchern des Rates. Erst als Müller entlassen wird, am 15. September 1580, wird vermerkt, er sei wegen seines vbelen vnd verthulichen hausens halben auf einem thurn gelegt [worden] und werde nun auf eine geschriebene Urfehde entlassen 73 . Die Entlassung erfolgte allerdings nicht nach Ablauf einer festgesetzten Haftdauer, sondern erneut auf Supplik der Ehefrau. Ihr Antrag ist es, der für Müller das Ende des Turmaufenthaltes bedeutet, nicht die Ableistung einer bestimmten Strafe oder die Begnadigung durch den Rat. Interessant ist hier nun besonders die Argumentation der Ehefrau, weshalb sie die Entlassung ihres Mannes wünscht. Geschäftspartner ihres Mannes hatten durch einen Bürgermeister die Erlaubnis bekommen, den Inhaftierten im Turm zu besuchen. Diese wandten sich nun als eine Art Fürsprecher an die Ehefrau. Hintergrund ihrer Intervention war jedoch die Drohung, die bestehenden Aufträge anderweitig zu vergeben, was - nach Angaben der Ehefrau - zum Bankrott des Betriebs geführt hätte. Gleichzeitig verspricht Müller, in Zukunft mit ihr wol (...) zuehausen und die bestehenden Auflagen einzuhalten. Diesem Druck kann sich die Frau nicht mehr entziehen. Sie bittet nun um Entlassung des Ehemanns, nicht jedoch ohne deutlich zu machen, daß sie sich hierzu einerseits betzwungen sieht, andererseits auch skeptisch dessen Versprechungen gegenübersteht. Als eine Art Sicherheit dringt sie deshalb darauf, dem Ehemann ein glupt abzunehmen, und daß er im 71 StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken (datiert) 16.8. und 15.9.1580 (Jeremias Müller, Barchentkarter). Sofern nicht anders zitiert, sind alle Angaben zum Fall Müller diesen beiden Suppliken entnommen. 72 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1571 - 1580, fol. 115v (Eintrag vom 29.11.1576), fol. 116v (Eintrag vom 18.12.1576), fol. 73v (Eintrag vom 26.11.1579). 73 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1571 - 1580, fol. 87v. Carl A. Hoffmann 574 Falle der Rückfälligkeit tatsächlich einer Ratsstrafe anheim fallen würde. Es handelt sich dabei um die Urfehde, die im Strafbuch verzeichnet ist. Die ökonomische Notwendigkeit zwang also zum Ausgleich der Ehepartner, ohne daß die Ehefrau von einer tatsächlichen Besserung ausging. Anders verlief der Fall des Cristoff Reischner 74 , der aufgrund verschiedener Fürbitten aus dem fancknus entlassen wurde, in das er wegen eines vergleichbaren Delikts gekommen war. Die böse Überraschung kam jedoch, als ihm durch den Ratsdiener Hans Muster auf Befehl des Bürgermeisters die Rückkehr in das eigene Haus verwehrt wurde. Als er auf Einlaß klagte, bekam er vom Rat lediglich zur Antwort: dweil sein hausfraw jne nit annemen wolle, könnde ain erber rath darjnn nichtzit handlen noch einschaffen. Was war geschehen? Der Rat und ein Herr von Weingarten hatten sich mit der Ehefrau in Verhandlung gesetzt und ettliche gutliche mittel furgeschlagen, damit sie ihren Ehemann wieder aufnehme. Affra Reischnerin lehnte das Ansinnen endgültig mit folgenden Argumenten ab: Nemlich vnd zum ersten das benannten mein eewirt vonn alen seinen eeren entsetzt ist, der gestallt, das er weder trawen noch glauben mer hat vnnd das nichts mer mit jme außzerichten oder anzusehen jst. So kan jch jm auch furohin nit mer vertrawen, noch jchs guts zw jme fursehen, dieweill er sein trew an mir gebrochen. Zum andern. So jst das vnerlich kind vor augen, dem jch weder lieb noch trew beweisen kan, noch mag, sonder als offt jch das vor mir sehe vnnd mir mein hertz erkallten vnd zu zorn bewegt. So mag auch mein gullt nit erleiden, das solhs kind davon erzogen werden möchte, dan es wurde mir an meiner leibsnarung abgan, daran jch hieuor nit ersattigt bin, sonder hab offt klainoter vnd anders muessen einbuessen, verkauffen vnd hingeben. Zum dritten. So hab jch gedachten meinen eewirt erst kurtzlich aus den schulden geloßet, da hab jch hundert guldin eingenomen vnd fur jn bezallt (...) deshalben jch solhs abermalen nit wenig zubesorgen, wan jch jne jetz widerumb also auffnemen wurde, mir gleich wieuor mit den schulden ergann. Zum vierdten, wa gleich Laux Swartz obgenanten meinen eewirt jn seinen diennst aufnemen wurde, des jch doch nit glaub, so mocht er doch solhen diennst liederlich widerumb verschertzen, so käme er mir widerumb haim vnd wurd mein sach bösen, dan vor ine, deshalben mir diser zeitt nit gelegen sein will, mergenannten meinen eewirt widerumb aufzenemen. Nach der Haftentlassung bzw. dem Stadtverweis lag es also - zumindest in extremen Fällen - in der Hand der Familie, den »Hausvater« wieder aufzunehmen oder nicht. Ein durch die Stadtobrigkeit Begnadigter war also noch lange kein »ehrbarer Bürger« in den Augen seiner Kollegen, seiner Nachbarschaft oder auch seiner eigenen Familie. Einwirkungsmöglichkeiten in derartigen »Resozialisierungsfällen« von Ehefrauen und Angehörigen auf Ratsentscheidungen betrafen auch - wie im Fall des Barchentkarters Müller - die »Bewährungsauflagen« in der Urfehde von Haftentlassenen. Der Wirt Hans Beham war am 13.12.1597 verthuelichen wesens vnd vbel hausens halben vnd das er sein weib vbel gehalten vnnd jr noch darzu gedroet in die Fronfeste gekommen 75 . Dort verblieb er die ungewöhnlich lange Zeit von sieben Monaten. Er stellte nun den Antrag auf Freilassung mit dem Versprechen, sich zu bessern. Seine Ehefrau bewilligte seine Rück- 74 StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken undatiert(M-R) Cristoff Reischner. 75 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rats 1596 - 1605, fol. 37v. Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten 575 kehr ins eigene Haus nur unter der Bedingung, daß er namblich vf ein solche mit sondern conditionem specificiert vrphedt lautt seiner vbergeben schrifft vnd was darbej noch weiters nottwendig einuerleibt werden mechte 76 . 2.5. Ungehorsam gegen den »Hausvater« oder das Oberhaupt der Familie In den thematischen Kontext des »Übelhausens« gehören auch Fälle, in denen sich Kinder nicht mehr durch das Oberhaupt der Familie zu einem christlichen Lebenswandel führen ließen. Die Augsburger Polizeiordnung von 1621 drückte dies dadurch aus, daß sich die jugent gegen ihrn eltern und vorstehern alles billichen gehorsams, auch sich selbsten aller zucht sich befleissen, verschwendung, böse gesellschafft und alle andere sträfliche laster vermeid sollen. Übertretungen wurden - sei es nach Anklagen oder auch durch Verfolgung von Amts wegen - mit ernstlichem verweis, oder umb gelt durch die straffherrn, oder da ein fall so wichtig und gros, mit anderem ernst durch einen Ersamen Rath abgestrafft 77 . Auch in Fällen von Ungehorsam gegen den Haushaltsvorstand gingen wie beim »Übelhausen« strafrechtliche Verfolgung und private Einigung Hand in Hand, die »Opfer« hatten also einen entscheidenden Part bei der Begnadigung des Täters mitzusprechen. Beispielhaft für eine solche Klage ist der Fall des Ennderiß Widenman des Älteren, der sich wohl gegenüber seinem Sohn nicht mehr zu helfen gewußt hatte und den Rat bat, als ain christenliche lobliche oberkait auff mein vnnderthanig anhalten vnnd bitt, zu vatterlichen straff meinen son, Hannsen Widenman, jnn fänngknus auff ainen thurem anzunehmen. Dort war er ettlich wochen verblieben. Widenman reichte daraufhin ein Gesuch an den Rat, den Sohn wieder zu entlassen und begründete dies mit dessen Einsicht: nun aber derselb mein son solche vatterliche straff gehorsamlich erkhennet, hinfuro sich zu bessernn vnnd von seinem vbeln hawsen abzusteen, dartzu sich als ain eern vnnd hawßman zu halten willens ist 78 . Wie in solchen Fällen üblich, mußte der Kläger - hier also der Vater - den Gefängnisaufenthalt bezahlen. Wenn die Türme alle belegt waren, bot der Rat dem Kläger auch eine Einlieferung in die Eisen an, eigentlich das Gefängnis für die Untersuchungshaft der Verbrecher 79 . Ähnlich verhielt es sich auch im Fall des Sohnes der Müllerswitwe Anna Mayr. Die - modern gesprochen - alleinerziehende Mutter war wohl ebenfalls mit ihrem Sprößling nicht mehr fertig geworden und hatte den Rat gebeten, diesen zue zichtigung fencklich legen zulassen. Auch hier war das Gefängnis wohl das probate Züchtigungsmittel. Der Sohn wandte sich nach gewisser Zeit mit bereutem hertzen an die Mutter, ihn aus dem Gefängnis zu entlassen. Er wolle sich gantz gehorsamlich erbar vnnd wie ainem gotseligen kindt gebürtt vnnd woll anstatt halten vnnd erzaigen, darob jch vnd sonst menigelich ain gefallen haben sollen. Die Mutter bat nun den Rat, nachdem sich auch Freunde für den Sohn eingesetzt hatten, um Entlassung des Sohns aus dem Gefängnis. Gleichzeitig ersuchte sie aber darum, ihrem Sohn Auflagen zu machen, die Strafurteilen in vielen Ver- 76 Diese und die folgenden Angaben zu dem Fall nach StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken (datiert), 11.7.1598 Hans Beham. 77 StadtA Augsburg Reichsstadt Evangel. Wesensarchiv Nr. 155, tom. II (Polizeiordnung von 1621), fol. 74r. 78 StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken (datiert), ca. 1564 Ennderiß Widenman (für seinen Sohn Hanns). 79 StadtA Augsburg Reichsstadt Ratsbuch Nr. 25, fol. 39r, Eintrag vom 18.4.1551. Carl A. Hoffmann 576 schwendungs-, Trunkenheits- oder Rumordelikten gleichen: ihm sollte jeglicher Wirtshausaufenthalt und gemeinsames Zechen verboten werden. 80 2.6. Ehestreit Nach modernen Maßstäben völlig zerrüttete Ehen wurden in vielen Fällen zumindest durch einen Ehepartner de facto dadurch beendet, daß er nicht mehr geneigt war, eeliche beywonung zu tun und auszog 81 . Gerade dies war nun aber aus Sicht der christlichen Obrigkeit ein völlig untragbarer Zustand, selbst wenn diese in Extremfällen Scheidungen zustimmte 82 . Üblicherweise wurden die Ehepartner widerumb zusamen verschaft, und es ist ihnen bevolhen worden, das sie ainander wie eeleut zu stat eerlich vnd wol haben vnnd halten vnd trewlich zusamen setzen vnd hausen wöllen 83 . Derartige Urteile finden sich sowohl vor dem Rat als auch vor den Strafherren. Vor dem letzteren Organ scheinen nun aber doch auch Vergleiche über Streitigkeiten der beiden Ehepartner durchgeführt worden zu sein. In Ratsurteilen heißt es immer wieder, die Ehepartner sollen vor die Strafherren verschafft werden, wo zwischen inen gehandlet werden soll 84 . Die Strafherren werden dabei zu einem Schiedsorgan wie im Fall des Tuchschererehepaars Miller, wo das Gericht folgenden Vergleich in das Urteil - sie wurden wie üblich zusamen geschäfft - aufnimmt 85 : Die Frau soll allen hausraden vnnd was sy mit recht erhallten widerumb hineinpringen. Miller dagegen dürfe seiner Frau die hineingebrachten vnnd mit recht erhalltne stuckh als ir gefreit heiratgut nit vsstragen, versetzen noch verkhauffen. 80 StadtA Augsburg Reichsstadt Suppliken (datiert), 12.8.1564 Anna Mayrin (für ihren Sohn). 81 Zu dieser Thematik vgl. u.a. die folgenden neueren Arbeiten, die auch die weitere Literatur wiedergeben: Thomas Max Safley: Let no man put asunder. The control of Marriage in the German southwest: A comparative study, 1550 - 1600, Kirksville 1984; Stefan Breit: »Leichtfertigkeit« und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit, München 1991; Rainer Beck: Frauen in der Krise. Eheleben und Ehescheidungen in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien régime, in: Richard van Dülmen (Hg.): Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung IV, Frankfurt am Main 1992, 137 - 212; Heinrich Richard Schmidt: Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 41), Stuttgart u.a. 1995; Roper (wie Anm. 70); Ulinka Rublack: Geordnete Verhältnisse? Ehealltag und Ehepolitik im frühneuzeitlichen Konstanz, Konstanz 1997. 82 Appolonia Baumgartnerin hatte über Monate ihrem Ehemann Michael Lang Quecksilber inn küechlin gethan (...) vnd ime dardurch schmerzen vnd grimmen im leib machen wöllen. Dafür wurde sie zunächst inhaftiert und nach einigen Monaten der Stadt verwiesen. Lang wurde die Ehescheidung zugestanden und in einem Anhang an das Urteil gegen seine Frau ans consistorium gewisen: StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1596 - 1605, fol. 98v, Urteil vom 19.2.1600. 83 Beispiel aus StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1533 - 39, fol. 19v (Jacob und Appolonia Hölderich, Maurer, Urteil vom 3.2.1534). 84 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch des Rates 1596 - 1605, fol. 87v (Urteil vom 2.10.1599 gegen Maria Oßwäldin). 85 StadtA Augsburg Reichsstadt Strafbuch der Strafherren/ Zuchtherren 1549/ 50, fol. 111v (Urteil vom 8.1.1550 gegen Jorg und Elisabeth Miller). Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten 577 3. Gesellschaftliche und herrschaftliche Relevanz der privaten Einigungen Die exemplarisch vorgestellten Straftatbestände im Sinne des Straf- und Polizeirechts des 16. Jahrhunderts umspannen ein weites Spektrum von Delinquenz. Gemeinsam sind ihnen u.a. die öffentliche Verfolgung durch die städtischen Straforgane sowie die unterschiedlich große Bedeutung von privaten Vergleichen für Strafmaß, Begnadigung bzw. Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft. Auf die großen rechtshistorischen Veränderungen, die die Phänomene juristisch begründen, kann hier nicht näher eingegangen werden. Vielmehr soll der Blick gerade von dieser Doppelgleisigkeit der Verfahren in einer derartigen Breite von Delikten aus auf die gesellschaftliche und herrschaftliche Bedeutung für die Stadtgemeinschaft des Zeitalters gerichtet werden. Es läßt sich erkennen, daß das private Einigungsverfahren in Strafsachen als ein wichtiger Indikator für die Funktionsmechanismen und den Wandel vertikaler und horizontaler sozialer Kontrolle gelten kann. Zunächst lassen sich Delikte unterscheiden, bei denen eine außergerichtliche Einigung durch die Straforgane erzwungen wurde, gegenüber solchen, bei denen diese auf freiwilliger Basis erfolgte. Zumindest während der längsten Zeit des 16. Jahrhunderts war bei Totschlagdelikten die private Einigung unabdingbare Voraussetzung für die Rückkehr des fast immer stadtverwiesenen Täters in die Gesellschaft. Bei nicht erfolgter Einigung war die Konsequenz die lebenslange Verbannung des Täters. Erzwungen wurde der Ausgleich hier also nicht. Dagegen verblieb bei Körperverletzungen der Täter in der Stadt, und der Rat bzw. die Strafherren setzten die Festlegung der Wiedergutmachung und der Schadenersatzsummen durch. Auch in den Fällen von Auflösung der ehelichen Gemeinschaft durch die oder einen der beiden Ehepartner wurde eine Einigung erzwungen. In den Delikten, die vor verschiedenen Gerichten - Rat, Strafherren oder Einungern - ausgetragen werden konnten, war die Notwendigkeit der Einigung davon abhängig, vor welchem Gericht verhandelt wurde. Ob es sich um Schuldensachen oder Beleidigungen handelte, die Einigung war vor Rat oder Strafherren obligatorisch, vor den Einungern freiwillig. Die größte Entscheidungsfreiheit blieb den Parteien - besonders den Opfern - im Rahmen der Delikte des »Übelhausens« bzw. des Ungehorsams gegen das Familienoberhaupt. Nicht nur, daß die Kläger bei begründeter Beschwerde den Delinquenten durch den Rat auf den Turm verschaffen lassen konnten, sondern sie beeinflußten in erheblichem Maße auch dessen Haftdauer. Letztlich mußten sie auch für die Unkosten aufkommen. Einer unbeschränkten Haftdauer scheint der Rat jedoch auch bei diesem Delikt einen Riegel vorgeschoben zu haben, wie Fälle zeigen, in denen die Täter zwar vom Turm entlassen, von der Familie jedoch nicht wieder angenommen wurden. Wesentlichstes Kriterium für die Notwendigkeit der Einigung scheint die Bedeutung des Delikts bzw. der begründeten Klage für den städtischen Frieden gewesen zu sein. Ein in die Gemeinschaft zurückkehrender Totschläger, Täter, die Bürger lebensgefährlich verletzt hatten, Personen, die durch Auflösung der Ehe die sozialen Grundlagen der Gesellschaft erschütterten, oder auch Kreditnehmer und Falliten, die das Wirtschaftsgefüge gefährdeten, sie alle waren gezwungen, durch eine Einigung mit den Opfern und ihrer sozialen Umgebung ihre »Resozialisierbarkeit« zu beweisen. Letztlich entschieden also hier die Opfer und die Gesellschaft in einem hohen, wenn auch unterschiedlichem Maße über das Schicksal des auf Gnade angewiesenen Täters. Dies gilt in erheblichem Ausmaß auch für das Umfeld der Verschwendungsfälle. Hier war die ob- Carl A. Hoffmann 578 rigkeitliche Einwirkung auf die Einigung am geringsten. Der Befund läßt sich auch mit dem durch Martin Dinges von Bourdieu abgeleiteten Begriff des »Sozialvermögens« umschreiben 86 . Die Ehre des Täters, die hier als sein Rückhalt im sozialen Beziehungsnetz der städtischen Lebenswelt zwischen Obrigkeit, Nachbarschaft, Berufsgruppe, Familie etc. zu verstehen ist, gibt den Ausschlag über seinen Wiedereingliederungserfolg. Ausgehend von diesen Beobachtungen läßt sich ein starkes Ineinanderwirken von vertikaler und horizontaler sozialer Kontrolle erkennen. Der obrigkeitliche Ordnungsanspruch äußert sich in der strafrechtlichen Verfolgung des frühneuzeitlichen Deliktspektrums des Straf- und Polizeirechts in seiner gesamten Breite. Ob Totschlag oder Injurie, Körperverletzung oder unerlaubtes Verlassen der ehelichen Gemeinschaft, das 16. Jahrhundert hat alle diese Delikte einer öffentlichen Verfolgung unterstellt, wenn auch wichtige privatrechtliche Elemente - z.B. bei der Klageeinreichung - noch erhalten blieben. Das öffentliche Interesse an einer sich intensivierenden und verbreiternden Strafverfolgung wird daran deutlich. Disziplinierung und Friedenswahrung können dabei als die Ziele dieses öffentlichen Interesses gesehen werden. Wesentlich in allen genannten Beispieldelikten ist jedoch der (noch) vorherrschende außergerichtliche Einigungsaspekt. Dieser wird hier als Element horizontaler sozialer Kontrolle verstanden. Ob nun - wie in den meisten Fällen - erzwungen oder auf einer freiwilligen Basis, die private Einigung ist ein entscheidendes Element zur endgültigen Bestimmung des Strafmaßes bzw. für das zukünftige Schicksal des Täters. Das Opfer, seine Umgebung und sein soziales Umfeld wurden so in den Prozeß des öffentlichen Strafens integriert. Die städtische Obrigkeit räumte damit der Aussöhnung und dem Ausgleich der Parteien in Strafsachen eine große Bedeutung für die Wiederherstellung des Rechtsfriedens und damit des Stadtfriedens ein. Umgekehrt mußte also der Täter über die Einigung versuchen, sich mit seinem Umfeld oder dem Opferumfeld soweit wieder zu vertragen, daß ein konfliktfreies Zusammenleben für die Zukunft wahrscheinlich erschien. Dieser Aspekt weist weit über ein reines Kompositionensystem des Mittelalters hinaus und zielt direkt auf die Wiederherstellung des Stadtfriedens. Dieser private Aspekt des öffentlichen Strafrechts reicht bis hin zu einer Instrumentalisierung der städtischen Justiz durch die Bürger für die eigenen Interessen. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Turmhaft als Erzwingungshaft für Schuldzahlungen oder Wohlverhalten innerhalb der Familie 87 . Diesem Modell fehlt jedoch noch der Faktor Wandel. Veränderungen in den Vorstellungen von sozialem Leben, in den rechtlichen wie gesellschaftlichen Normen, in der Auffassung von Herrschaft, obrigkeitlicher Funktion, sowie von Verantwortung für das weltliche und geistliche Heil von Untertanen, in der Intensität der Repression einer Herrschaftsordnung etc. sind die Variablen in diesem Spiel von Friedenssicherung und Disziplinierung. Wandel wird im vorgestellten Untersuchungszeitraum vor allem in 86 Martin Dinges: Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte - Eine Semantik im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: Zeitschrift für historische Forschung 16 (1989), 409 - 440; ders.: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts (Veröff. d. Max-Planck-Instituts f. Geschichte 105), Göttingen 1994, 24 - 26; Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff: Verletzte Ehre. Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: dies. (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrenkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 1995, 1 -28, 10f. 87 Vgl. Schmidt: Sozialdisziplinierung? (wie Anm. 70), 655 - 657, der die Forschungslage zu diesem Thema aus der Perspektive der hier nicht behandelten Kirchenzucht betrachtet. Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten 579 den Totschlagfällen sichtbar. Interessanterweise wohl später als andere Städte geht Augsburg zu einem rein strafrechtlichen Verfahren unter Berufung auf die Carolina von 1532 über, d.h. die private Einigung spielt erst am Ende des Jahrhunderts keine Rolle mehr. Damit verlieren die Kläger in diesem Verfahrenstypus auch ihre Wahlmöglichkeit. Der Prozeß wird der gütlichen Beilegung durch die Beteiligten entzogen 88 . Hierfür dürften - neben der allgemeinen Rechtsentwicklung - besonders auch Gründe der Gewaltabschreckung in der zu dieser Zeit stark wachsenden und von vielen Fremden besuchten Stadt gesprochen haben. In einer anonymer werdenden Gesellschaft verlor eben das Mittel des privaten Ausgleichs an disziplinierender Wirkung. Der »Staat« tritt verstärkt in Bereiche informellen Ausgleichs ein. Ein Phänomen, das Paul Münch auch für die nachbarschaftliche Konfliktbereinigung im kalvinistischen Bereich festgestellt hat 89 . Leiser sieht darin einen Wandel des Strafzwecks. An Stelle von Schadenersatz und Versöhnung stünden jetzt die Genugtuung des Verletzten und besonders die Abschrekkung (Spezial- und Generalprävention) im Vordergrund 90 . Ferner läßt sich auch eine Intensivierung des obrigkeitlichen Interesses in Kreditsachen erkennen. Die private Einigung mußte dabei durch die Obrigkeit erzwungen werden. Zahlenmäßig nahmen die Strafverfolgungen in diesem Bereich stark zu. Das öffentliche Interesse artikulierte sich in einer Fernhändlerstadt wie Augsburg natürlich besonders stark in Finanzsachen. Hierzu scheinen auch die zahlreichen Bankrotte des Jahrhunderts beigetragen zu haben. 88 Kaufmann: Sühne (wie Anm. 2), Sp. 723. 89 Paul Münch: Kirchenzucht und Nachbarschaft. Zur sozialen Problematik des calvinistischen Seniorats um 1600, in: E.W. Zeeden/ P.T. Lang (Hg.): Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa, Stuttgart 1984, 216 - 248. 90 Leiser: Strafrechtspflege (wie Anm. 13), 16. VI. Geistliches Gericht und Kirchenzucht 583 Heinrich Richard Schmidt Elsli Tragdenknaben Niklaus Manuels Ansicht des geistlichen Gerichts Niklaus Manuel, ein Laientheologe und Propagandist der Berner Reformation, hat kurz vor seinem Tod 1530 ein bislang in der Forschung weit unterschätztes Stück mit dem seltsamen Namen »Elsli Tragdenknaben« verfaßt. In ihm beschreibt er ein bischöfliches Gericht, das eine Eheansprache verhandelt. Dieser Fall ist Anlaß für Manuel, über das geistliche Gericht, wie es ist und wie es sein sollte, nachzudenken. Er stellt uns seine Ansicht eines evangelischen geistlichen Gerichtes vor, die einen Einblick in die zeitgenössische Kritik an der alten Kirche ebenso erlaubt wie einen Eindruck von den Reformabsichten der Neugläubigen gibt. Die Alternative, die Manuel entwirft, konzentriert sich auf den Sinn und die geistliche Aufgabenstellung der Kirchengerichtsbarkeit, wobei die Unterscheidung zwischen »geistlich« und »weltlich« eine wichtige Rolle spielt - weltlich ist sie, geistlich sollte sie sein. Seiner Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Reformation entsprechend, steht dabei aber nicht die Trennung von Objektbereichen im Vordergrund, so als sollte die Welt weltlich und die Kirche geistlich sein, sondern die Vergeistlichung der Welt. Gerade weil er inhaltlich zwischen »geistlich« und »weltlich« unterscheidet, das auf der Institutionenebene aber gerade nicht tut, können seine Ausführungen auch für die Leser eines Sammelbandes, der - wenn auch mit einem Hang zum crimen - »sin and crime« zum Gegenstand hat, nützlich sein, weil sie für eine Differenzierung der Sicht und zugleich eine Zusammenführung der Sachbereiche plädieren. 1. Niklaus Manuel 1.1 Person und Leben Niklaus Manuel, 1484 geboren und so etwa gleichaltrig mit Luther und Zwingli, 1 trat 1509/ 10 in den Berner Großen Rat ein. Dennoch war er so etwas wie ein Außenseiter, stammte er doch von der unehelich geborenen Tochter eines Berner Stadtschreibers und einem italienischstämmigen Apotheker ab. 2 Er selbst war beruflich zunächst als 1 Grundlegend die beiden Sammelbände: Niklaus Manuel Deutsch. Maler - Dichter - Staatsmann, Bern 1979=Katalog der Ausstellung im Kunstmuseum Bern; 450 Jahre Reformation. Beiträge zur Geschichte der Berner Reformation und zu Niklaus Manuel (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 64/ 65), Bern 1980/ 81. Die Angaben zum Leben bei Paul Zinsli: Niklaus Manuel als Schriftsteller, in: 450 Jahre Reformation (a.a.O), 104 - 137, bes. 104 - 110; Hans Rudolf Lavater: Niklaus Manuel Deutsch - Themen und Tendenzen, in: 450 Jahre Reformation (a.a.O.), 289 - 312, bes. 296 - 307; ausführlich Jean Paul Tardent: Niklaus Manuel als Staatsmann, Diss. phil., (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 51), Bern 1968. 2 Bernd Moeller: Niklaus Manuel - ein Maler als Bilderstürmer, in: Zwingliana 23 (1996), 83 - 104, hier: 84. Heinrich Richard Schmidt 584 Maler tätig und schuf neben dem bekannten Totentanz eine Reihe von eindrücklichen Kirchenbildern. Der Totentanz, der wohl zwischen 1516 und 1519 entstand, zeigt Manuels Mal-, aber auch schon seine Dichtkunst. Sich selbst stellt er wie die übrigen Stände und Berufe als vergänglichen Menschen dar, der seine Hoffnung auf Jesus Christus setzt: Hilff, eyniger Heyland, darumb ich dich bitt! Dann hie ist meines Blybens nit. 3 1516 und 1522 nahm Manuel als Schweizer Landsknecht an französischen Feldzügen in Norditalien teil. Damit stand möglicherweise seine innere Wende, die etwa 1522 stattgefunden haben muß, in Verbindung. 4 Er wurde nun - seines Kriegshandwerks, aber auch seiner Malerei überdrüssig - Beamter des bernischen Staates, schließlich sogar Landvogt in Erlach am Bieler See, damit Obrigkeit für die Untertanen von 10 Dörfern an der deutsch-französischen Sprachgrenze. 5 Das hinderte ihn aber nicht daran, auch künstlerisch neue Wege einzuschlagen und als Verfasser von volkstümlichen Dialogen und Fastnachtsspielen hervorzutreten. 6 Mit dem Berufs- und Kunstwechsel einher ging eine ideologisch-religiöse Wandlung. Niklaus Manuel wurde zum Protagonisten und Agitator zugunsten der Reformation. 7 Als »Rufer« oder Herold begleitete Manuel die Berner Disputation. 8 Zu Ostern 1528 wurde er als Vertreter der nun den Rat beherrschenden Reformationsbefürworter in den Kleinen Rat gewählt, am 29. Mai 1528 der erste Ratsvertreter im neuerrichteten Chorgericht, Ungeldner und Verwalter der Armenversorgung. Im Oktober 1528 schon wurde er Venner zu Obergerbern und Mitglied des Geheimen Rates. 9 Bis zu seinem Tod am 28. April 1530 verfocht er mit seinen Kollegen an der Spitze des mächtigsten Stadtstaates nördlich der Alpen eine energische und entschieden reformatorische Politik. Er setzte dabei allerdings - anders als die Zürcher - nicht auf die militärische Stärke, sondern auf die selbstwirksame Kraft des Wortes: Warlich man mag mit spiess und halbarten den glouben nit [nicht, im Text verschrieben in »mit«] ingeben. 10 3 Historisches Museum Bern. 4 Tardent: Manuel als Staatsmann (wie Anm. 1), 74 - 80. 5 Dazu Jean Paul Tardent: Niklaus Manuel als Politiker, in: 450 Jahre Reformation (wie Anm. 1), 405 - 431; Ulrich Im Hof: Niklaus Manuel als Politiker und Förderer der Reformation 1523 - 1530, in: Katalog (wie Anm. 1), 92 - 99. 6 Dazu auch Peter Pfrunder: Pfaffen, Ketzer, Totenfresser. Fastnachtskultur der Reformationszeit. Die Berner Spiele des Niklaus Manuel, Zürich 1989. 7 In der Forschung kontrovers interpretiert wird in diesem Zusammenhang das Versepos Ain Seltzammer, wunder scho e ner trom. In ihm stellt Manuel die Bekehrung des Papstes zur Kirche des Evangeliums dar, abgedruckt bei Fritz Burg: Dichtungen des Niclaus Manuel. Aus einer Handschrift der Hamburger Stadtbibliothek (Neues Berner Taschenbuch auf das Jahr 1897), Bern 1896, 1 - 136, hier: 61 - 97. Vgl. dazu den Forschungsüberblick und die Diskussion bei Paul Zinsli: Der »Seltsame wunderschöne Traum« - ein Werk Niklaus Manuels? , in: 450 Jahre Reformation (wie Anm. 1), 350 - 379, der die Verfasserschaft Manuels in Zweifel zieht. Dazu auch die Diskussion: Peter Schibler: Protokolle des Manuel- Kolloquiums, in: 450 Jahre Reformation (wie Anm. 1), 432 - 438. Für die Echtheit votiert Gottfried W. Locher: Niklaus Manuel als Reformator, in: 450 Jahre Reformation (wie Anm. 1), 383 - 404, hier: 385 und Tardent: Manuel als Politiker (wie Anm, 5), 411. 8 Vgl. zur Berner Reformation Heinrich R. Schmidt: Stadtreformation in Bern und Nürnberg - ein Vergleich, in: Rudolf Endres (Hg.): Nürnberg und Bern. Zwei Reichsstädte und ihre Landgebiete (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 46), Erlangen 1990, 81 - 119; kurze Zusammenfassung ders.: Artikel »Bern«, in: Hans J. Hillerbrand (Hg.): The Oxford Encyclopedia of the Reformation, New York, Oxford 1996, Bd. 1, 143 - 145. 9 Moeller: Manuel (wie Anm. 2), 90f. 10 3.6.1529 - Rede Manuels vor dem Zürcher Rat, zitiert nach Tardent: Manuel als Staatsmann (wie Anm. 1), 243; die Rede insgesamt abgedruckt Ebd., 242 - 244. Schon während der Berner Disputation hatte Manuel am 13.1.1528 eine versöhnliche, zu Wahrheit und Frieden mahnende Rede gehalten. Elsli Tragdenknaben 585 1.2 Manuels reformatorische Laientheologie Manuel vertritt in voller Klarheit das gemeinreformatorische sola gratia: 11 Aus uns können wir nichts Gutes tun, denn wir sind in Sünden geboren und darum sind wir all ewig verloren, wir sind und thu o nd nüt anders denn sünd. 12 Erlösung kann nicht durch unsere Anstrengung, sondern nur als Geschenk erlangt werden. Petrus selbst tritt in einem Fastnachtsspiel auf und sagt: Christus ist darumb für uns gestorben, Dass er uns heil und gnad hat erworben Und dass wir möchtind ewig leben; Darumb hat er sich in tod geben, Uf dass er uns erlösen möcht von nöten. 13 Sein Opfer hat Gott versöhnt auf ewig. 14 Gott hat mir grosse sünd vergeben Und mich erwelt in ewigs leben Durch das verdienen Jesu Christ, On welches nüt sälig wirt, noch ist (...) Wer im recht gloubt und sine bot halt, Der vörcht keins bapsts noch menschen gwalt; Sin blu o t, das für uns ist worden vergossen, Ligt zu o Rom nit in der kisten beschlossen, Noch niemand hat’s im gwalt uf erden. Wer gnaden begert, dem mag sie werden. 15 Ohne Bruch zu dieser passiv scheinenden Konzeption vertritt Manuel eine aktive, ethisch strenge Pflichtenlehre. Das Evangelium ist eine Frohe Botschaft, welche die Welt durchdringen soll, aber gerade deshalb zugleich eine lex evangelica darstellt, welche die Gläubigen verpflichtet, individuell und im Staatsleben den Geboten Nachachtung zu verschaffen. Gottfried Locher hat dies in der Interpretation des Manuel-Stükkes »Ein seltsamer, wunderschöner Traum« so formuliert: »In dem hier erschallenden Gotteswort stehen Gesetz und Evangelium einander nicht gegenüber, sondern gehen miteinander. Die reformatorischen Alternativen heißen: Neues Testament oder Kirchenrecht; Gottes Wort oder Menschenlehre; Evangelium oder Tradition; Papst oder Christus.« 16 Aus der Tiefe der neuen Lehre wird klar, was recht und unrecht ist, daß nur die Schrift allein Gottes Wort enthält. 17 Nur das muß gehalten werden, was seinen claren grund (...) helger gschrift hat. 18 Manuel betont, daß Christi Lehre allzit uf die liebe zeigt, Dass man dem armen sig geneigt, Zu o hilf ze kummen in sinen nöten? 19 Ja wenn wir sunst armen huslüten gend, Unseren nachpuren, deren vast vil sind Arm, ellend und krank und hand ouch kind: Das gevalt am allerhöchsten gott, Es sind ouch sine gheiss und gebot. Christus, do er uf ertrich was, Do tet und hielt er alles das, Das gott hat geboten nach dem gsatz; Aber sunst ander götzpfaffen geschwatz Und ihre gebot, die sie selbs erdachtend Und us ihren eignen köpfen brachtend, (...). Die hat er ruch gestraft, fri veracht. 20 Glauben und Leben in Christi Wort müssen zusammenkommen, damit der Mensch ins ewige Leben eingehen kann. Im »Barbali« 11 So auch Max Huggler: Niklaus Manuel und die Reformatoren, in: 450 Jahre Reformation (wie Anm. 1), 380 - 382, hier: 380; Locher: Niklaus Manuel (wie Anm. 7), 386 und Moeller: Manuel (wie Anm. 2), 89. 12 Niklaus Manuel: Vom Papst und seiner Priesterschaft, 1522/ 23, in: Jakob Bächtold (Hg.): Niklaus Manuel, Frauenfeld 1878, 29 - 102, hier: 100. 13 Ebd., 95. 14 Ebd., 100. 15 Ebd., 90f. 16 Locher: Niklaus Manuel (wie Anm. 7), 386. 17 So auch bei Niklaus Manuel: Barbali, [1525], in: Bächtold (Hg.): Manuel (wie Anm. 12), 133 - 202 - dazu Huggler: Manuel (wie Anm. 11), 381: Manuel läßt hier »den dogmatischen Gehalt des neuen Bekenntnisses hinter den ethischen zurücktreten«. 18 Manuel: Vom Papst (wie Anm. 12), 79. 19 Ebd., 56. 20 Ebd., 78f. Heinrich Richard Schmidt 586 wird die Pflicht zur Liebe als Bedingung der Erlösung besonders deutlich gemacht: All gsatz erfüllt man in eim wort (…). So man den nächsten liebet allein Mit liebe us rechtem herzen rein. So volgt, wer liebe übersicht, Dass der göttlich gsatzt schantlich bricht. Nun ist das ganz wider Gottes bot, Verflüecht, verdampt ewigklich vor Gott, Ja, das ist des tüfels ghorsamkeit, Der sich wider gotts bot allweg leit. 21 Der Beseitigung der Götzenanbetung und ihrer Entfernung aus den Kirchen, die Manuel energisch fordert, 22 muß die Befreiung der Menschen von den inneren Götzen folgen, besonders von der Selbstsucht. 23 Der götzen sind so vil on zal. Schier alle menschen überall Vil gitigkeit und hu o rery, Gross schand und laster, büebery, Fressen, sufen und gottslesterung, Tribend ietzund alt und jung; Vergiessend das unschuldig blu o t. Man tu o t so frech umb zitlich gu o t. Eebruch ist ietzund so gemein, Niemants sins wibs gelebt allein. Schinden und schaden iederman Weist iederman, und frisch dran! Der hinderst mu o ss ein bettler bliben, Der nit kan allen vorteil triben Mit sinem nächsten, fründ und find; Da ist die welt so mechtig gschwind, Dass sie nit anderst weist vom glouben, Dann es söll sin den nächsten rouben. Die jugent ist so gar unzogen Und was sie redt, das ist erlogen; Üppigkeit ist’s, was sie tu o t, Vater und mu o ter hond’s für gu o t Und sehend zu o dem argen leben, Bis dass in’ gott den lon wirt geben. 24 Das Ziel Manuels besteht in der Reformation nicht nur des Glaubens oder der Kirche, sondern der Gesellschaft. 25 Die Obrigkeit muß, weil auch sie unter der lex evangelica steht, Sittenlosigkeit und Verbrechen bekämpfen: Erlücht uns alle durch dinen geist, Die oberkeiten ouch allermeist, Dass sie die schäfli füerind recht Und sich erkennind dine knecht Und nit selb weillind herren sin, Ir eigen gedicht mischlind in und dinen schäflin schüttind für! 26 Wie die Kirche muß auch die Welt gereinigt werden. Fluchen, Lügen, sexuelle Zügellosigkeit, Spielen, Schlagen und Streiten Nüts tu o t, dann wider gott streben. 27 Die Obrigkeit 28 hat die Aufgabe, dem Ärgernis zu wehren. 29 O des ellenden grossen pre- 21 Manuel: Barbali (wie Anm. 17), 147. 22 Ulrich Im Hof: Niklaus Manuel und die reformatorische Götzenzerstörung, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 37 (1980), 297 - 300; Martin Körner: Bilder als »Zeichen Gottes«. Bilderverehrung und Bildersturm in der Reformation, in: Reformiertes Erbe. Fs. für Gottfried W. Locher, Bd. 1 (Zwingliana 19/ 1), Zürich 1992, 233 - 244 betont die gesetzmäßige, sozusagen ihrem Amt entsprechende Aufgabe der Obrigkeit, die Götzen zu zerstören, wenn damit auch die spontane Bilderstürmerei abgeblendet wird, die ja ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt hat. Über die Frage, ob Manuel zur Bilderentfernung habe aufrufen wollen - eine, wenn man sie als Obrigkeitsaufgabe versteht, klar zu bejahende Frage - ist in der Berner Forschung eine Kontroverse entstanden: Die Frage bejaht auch Conrad André Beerli: Le peintre poète Nicolas Manuel et l’évolution sociale de son temps, Genf 1953, 275f.; ebenso Moeller: Manuel (wie Anm. 2), 90; verneint wird sie von Huggler: Manuel (wie Anm. 11), 380 - 382. 23 Zum Eigennutz und der Hoffart als schwersten Sünden nach Manuel vgl. Tardent: Manuel (wie Anm. 5), 411f. 24 Niklaus Manuel: Klagred der armen Götzen, 1528, in: Bächtold (Hg.): Manuel (wie Anm. 12), 237 - 253, hier: 245f. Zum Eigennutz und der Habgier als Sünden und der Brüderlichkeit als Gottesgebot vgl. Tardent: Manuel (wie Anm. 5), 412. 25 Locher: Niklaus Manuel (wie Anm. 7), 387. 26 Manuel: Vom Papst (wie Anm. 12), 102. 27 Manuel: Götzen (wie Anm. 24), 246. Vgl. 248f. 28 Manuel: Vom Papst (wie Anm. 12), 81 zum prinzipiell geforderten Obrigkeitsgehorsam. Seit seiner Tätigkeit in Erlach habe Manuel seine ehedem revolutionären Ansätze dem Obrigkeitsgehorsam untergeordnet und die Obrigkeit als »alleinige Quelle des Rechts« betrachtet, meint Tardent: Manuel (wie Anm. 5), 414 - eine angesichts der christlichen Prinzipien in der Funktion eines ius divinum bei Manuel nicht haltbare Anschauung. Wenig plausibel auch die Aussage ebd., 416: »Vor allem faßte er für den weltlichen Bereich der Gesellschaft keine Strukturveränderung ins Auge.« Elsli Tragdenknaben 587 sten [Übels], Dass wir so gar tu o nd uf die welt achten Und nit gedenkend, dass uns der herr heist wachen! Wer ist aber schuldig daran? Die oberkeit, es lit inen nüt daran! Sie lu o gend nit in das spil, (...). Aber was wir förchtend, das wirt uns werden Und darzu o ewigklich verderben. 30 Manuel fordert, daß das übel gstrafet werd Und abgestellt all schantlich berd [Gebärde, Tat]. Man soll nit liden alles schweren, Mit ganzem ernst sol man dem weren; Wer schwert, dem sol man zungen rissen, so wurd man sich wol anderst flissen Und us der bösen gwonheit kommen, Die üch [Euch] sunst nimmer wirt genommen. 31 Fort und fort häuft Manuel Klagen gegen die innere Verderbtheit und Sittenlosigkeit der Welt, 32 fast verzweifelt fordert er ein Eingreifen der Obrigkeit, Damit gestraft werd gross und klein ( ...). Damit dass gott hab wolgefallen Ab einem ieden und ab allen: so wirt man sehen, dass gott lebt, der allen übel widerstrebt. 33 Manuel verlangt die Abstrafung, letzten Ende die Ausrottung des großen und des kleinen Verbrechens als Sünde wider Gott und den Nächsten. Dabei kommen mit dem Wucher auch Themen des Wirtschaftsstrafrechtes, mit dem Ehebruch, dem Fluch, der üblen Nachrede, der Gewalt, dem Streit auch Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in den Blick der »geistlichen Reformation«. Jedes Delikt ist ein Verstoß gegen Gottes Ordnung, im Grunde Gotteslästerung. Die Verbrechensals Sündenbekämpfung steht in einem eschatologischen Horizont, an ihnen hängen Heil oder ewiges Verderben. Die Obrigkeit wird in die gesellschaftliche wie christliche Pflicht genommen, alles Böse auszurotten. Einen davon ausgenommenen »weltlichen« Bereich sieht Manuel gerade nicht. Die Erlösung sola gratia und die Vergeltung nach dem Wert der guten Taten gehen Hand in Hand. Petrus sagt im Spiel »Vom Papst und seiner Priesterschaft«: Einiger gott und gewaltiger herr, Der gibt den himmel und sunst niemand mer, Der wirt belonen gu o ts und bös; Gloub nit, dass man’s mit gelt ablös! 34 So klagt der Bettler gegen die Ablaßprediger als falsche Propheten: Gott wirt nit am jungsten tag erfragen, Wer hab zu o sant Peters münster tragen; Aber nach den werken der barmherzikeit, Darvon hat uns Cristus selber geseit - Da wirt er fragen, öb man sie hab getan, Den armen nit turst noch mangel gelan, die nackenden bekleit, die gefangnen tröst. In summa brüederlich liebe ist das gröst. Wolan, wir armen müessend uns tucken, Unser krüz nemen uf unsern rucken Und gott lan [lassen] mit uns sin willen füeren. Öb ir schon hie kein crütz nit anrüeren. So findend ir doch dört üwer straf, Di ir verdienend an gottes schaf. 35 Dann got vertregt nit falschen won, Er gibt dem selben sinen lon. 36 Die Tatpredigten Gottes Mit krieg und türe 37 haben uns gewarnt. Deshalb lasse jedermann den Wucher und bekehre sich, So wirt er gricht nach sim gmüet. 38 Lass uns nit also wider dinen willen streben, Damit wir nit verlierend das ewig leben! 39 29 Manuel: Götzen (wie Anm. 24), 247. 30 Ebd., 248. 31 Ebd., 250. 32 Ebd., 245 - 254 ununterbrochen. 33 Ebd., 252. 34 Manuel: Vom Papst (wie Anm. 12), 90f. 35 Niklaus Manuel: Der Ablaßkrämer, 1525, in: Bächtold (Hg.): Manuel (wie Anm. 12), 112 - 132, hier: 116f. 36 Manuel: Götzen (wie Anm. 24), 253. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd., 254. Heinrich Richard Schmidt 588 Die Koexistenz von sola-gratia-Prinzip und lex-evangelica-Prinzip, die auf den ersten Blick nicht harmonieren können, wird erklärlich, wenn man der Tatsache Rechnung trägt, daß das Wort Gottes, wie es Manuel - wie die Laientheologen der frühen Reformation insgesamt 40 - versteht, eine Wandlung des Menschen zu einem besseren bewirkt. Christus ist der »Heilmacher der Welt«. 41 Die noch eben alles für einen Ablaß geben wollten, und wähnten, in den Ablaß predigenden Mönchen gott selber gesehen zu haben, werden plötzlich wach, 42 wenn ihnen verkündet wird, daß es nutzloser Tand ist. 43 Eine solche Wandlung des Menschen von einem weltlichen, Gottes Wort ignorierenden, zu einem geistlichen Wesen beschreibt auf eindrückliche Weise das Spiel mit dem eigenartigen Titel »Elsli Tragdenknaben«. 2. Elsli Tragdenknaben Dieses Werk ist das letzte von Manuels Hand. Erstmals in Bern aufgeführt wurde es am 27. Februar 1530, zwei Monate vor dem Tod seines Verfassers. 44 Es hat die unterschiedlichsten, doch kaum lobenswerte Erwähnungen in der Literatur- oder Religionsgeschichte gefunden. Die Echtheit wird sogar mitunter bezweifelt, zuletzt noch 1988. 45 Doch hat sich in jüngster Zeit übereinstimmend die Ansicht durchgesetzt, daß diese Zweifel unbegründet sind. 46 Zusammenfassend das Urteil Bernd Moellers: »Daß es, wie in der Berner Forschung erwogen, Manuel abzusprechen sei, weil ‘der lebendig-übermütige Dialog zu Beginn (…) und der langatmige predigthafte mittlere Teil’ 47 nicht zusammenpaßten, ist völlig unwahrscheinlich.« 48 Trotz der unbestreitbaren Echtheit und der Kritik am geistlichen Gericht, die Reformationshistoriker wie Kriminalitätsforscher zur Beschäftigung mit diesem Spiel veranlassen könnten, ist eine solche bislang praktisch nicht erfolgt. Selbst Gottfried Locher, einem führenden Historiker der Schweizer Reformation, ist eine Wertschätzung schwergefallen. Manuel habe hier, meint er, einen »Dorfhader« dargestellt und ein seltsames Chorgericht gezeichnet, das noch mit päpstlichen Dispensen rechne, anderer- 40 Heinrich R. Schmidt: Die Ethik der Laien in der Reformation, in: Stephen Buckwalter/ Bernd Moeller (Hg.): Die Frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199), Gütersloh 1998, 333 - 370, bes. 358 - 361. 41 Niklaus Manuel: Von Papsts und Christi Gegensatz, 1522/ 23, in: Bächtold (Hg.): Manuel (wie Anm. 12), 103 - 111, hier: 105. 42 Das Bekehrungserlebnis Manuels kann geradezu als »Aufwachen« beschrieben werden. Vgl. dazu auch Locher: Niklaus Manuel (wie Anm. 7), 386. 43 Manuel: Vom Papst (wie Anm. 12), 75. 44 Vgl. dazu auch Moeller: Manuel (wie Anm. 2), 93f. 45 Klar gegen die Verfasserschaft Manuels votiert in Anlehnung an die ältere Stellungnahme von Adolf Kaiser (Die Fastnachtsspiele von der Actio de sponsu. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Fastnachtsspieles, Göttingen 1899) Paul Zinsli: Niklaus Manuel, der Schriftsteller, in: Katalog (wie Anm. 1), 75 - 91 und 499 - 512, hier: 86 und 511. Erneut auch ders.: Der »Seltsame wunderschöne Traum« - ein Werk Niklaus Manuels? , in: 450 Jahre Reformation (wie Anm. 1), 350 - 379, hier: 372f. Zuletzt auch Pfrunder: Pfaffen (wie Anm. 6), 42. 46 Locher: Niklaus Manuel (wie Anm. 7), 392. Zuletzt Moeller: Manuel (wie Anm. 2), 94. 47 So Paul Zinsli: Niklaus Manuel, der Schriftsteller, in: Katalog (wie Anm. 1), 75 - 91 und 499 - 512, hier: 511. 48 Moeller: Manuel (wie Anm. 2), 94. Elsli Tragdenknaben 589 seits Laienrichter und einen bäuerlichen Vermittler kenne. 49 Peter Pfrunder berücksichtigt es in seiner Darstellung über Manuels Spiele gar nicht, weil in ihm »kaum mehr konfessionelle Propaganda erkennbar« sei. 50 Völlig unerwähnt bleibt es auch bei Conrad Beerli. 51 Die Wertschätzung, die es im DDR-»Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller« findet, beruht eigentlich nicht auf einer korrekten Inhaltserfassung: »Als wichtigstes Spätwerk«, heißt es da, »gilt ‘Ein hübsch Spiel von Elsli Tragdenknaben’ (1529) (…); mit seiner realistischen Genremalerei und Sittenschilderung aus dem Leben der Bauern ist auch dieses Stück bemerkenswert u.a. wegen seiner - damals in der bürgerlichen Literatur kaum zu findenden - positiven Darstellung bäuerlicher Figuren.« 52 Lediglich Bernd Moeller hat bislang auf der Grundlage einer zutreffenden Inhaltserfassung seine Anerkennung ausgedrückt: Für ihn ist »dieses Stück (…) eines der charakteristischsten Werke Niklaus Manuels überhaupt, das an die Genialität seiner frühen Stücke zumindest heranreicht.« 53 Angesichts des mißlichen Geschicks, das dieses - wie auch ich meine - meisterliche Stück bislang erlebt hat, lohnt eine intensivere Beschäftigung mit ihm - nicht zuletzt aber auch deswegen, weil hier die geistliche Gerichtsbarkeit von einem Zeitgenossen in einer Weise kritisiert wird, die zur Diskussion über den Zusammenhang von »sin and crime« beiträgt. 2.1 Personen Die Personen in diesem Fastnachtsspiel 54 tragen sprechende Namen. Die Parteien heißen »Tragdenknaben« und »Rechenzahn«. Damit wird ihr Tun, ihr Delikt, aber auch ihr Wesen beschrieben: »Tragdenknaben« meint »Hure«, eine, die einen Mann oder Knaben auf sich liegen läßt, ihn »trägt«. Von ihr wird denn auch gesagt, sie habe ihr ehrliches Handwerk in tütsch [deutschen] und welsch landen gelert Und sich bisher allweg erlich ernert Mit der hand, daruf sie sitzt, Und oft gearbeitet, dass sie schwitzt. 55 Rechenzahn meint Reck den Zahn, wobei »Zahn« ein Synonym für »Penis« 56 darstellt. Hure und Hurenbock stehen einander in diesem Spiel gegenüber. Die Mutter Elslis, die als ihre Zeugin auftritt, heißt Tribzu o , also »Zutreiberin«; sie ist die Kupplerin ihrer eigenen Tochter. 57 Möglicherweise wird durch die Verschiedenheit der Namen auch angedeutet, daß die Mutter ihr Kind nicht ehelich empfangen hat. Sie hat ebenfalls als Hure gearbeitet, wie sie - in einem Sprachspiel versteckt 58 - selbst zugibt. 49 Locher: Niklaus Manuel (wie Anm. 7), 391f. 50 Pfrunder: Pfaffen (wie Anm. 6), 300, Kapitel VI, Anm. 2. Pfrunder geht im übrigen davon aus, daß »dessen Autor nicht genau bekannt ist.« Daneben wird das angebliche Fehlen konfessioneller Propaganda, die ja der Gegenstand von Pfrunders Studie ist, für die Auslassung angeführt. 51 Beerli: Le peintre Nicolas Manuel (wie Anm. 22). 52 Artikel »Manuel«, in: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2, Leipzig 1974, 71. 53 Moeller: Manuel (wie Anm. 2), 94. Allgemein zu dem Stück 93f. 54 Niklaus Manuel: Elsli Tragdenknaben, 1530, in: Bächtold (Hg.): Manuel (wie Anm. 12), 255 - 298. Es werden im folgenden nur die Zeilen dieses Drucks gegeben. 55 Z. 606 - 608. 56 Z. 479 - 482 wird von Elsli gesagt: So hette sie weder silber noch gold Von im umb iren rosenkranz [Jungfernschaft], Den er ir hett zerbrochen ganz Mit sinem jungen rechenzan. 57 Vgl. Z. 340: »Zutreiber« ist »Kuppler«. Vater Rechenzahn ist zugegebenermaßen Knecht im Hurenhaus gewesen - Z. 167. Über die Tätigkeit von Froneca Tribzu o als Kupplerin Z. 183 - 185. Heinrich Richard Schmidt 590 Die Zeugen für Elsli sind neben ihrer Mutter zunächst ein grauer Mönch und Elsli Süesmüli [Süßmund], die beide ebenfalls aus dem Hurenmilieu stammen. Uli Rechenzahn kennt sie aus früheren Zeiten, wo er Süesmüli beim Hurentanz gesehen hat; er fragt sie, die sich als von großem Geschlecht darstellt, deshalb: Süessmüle, sind ihr vor nie am rucken gelegen? 59 Sie habe damals den Preis gewonnen, weiß er noch, den der Vogt von Baden der hübschisten in der hu o ren zal versprochen hat. 60 Über den Mönch erzählt Uli, dieser habe eines Tages in der Nähe seiner Klause zu Immenhausen eine schlafende Ehefrau vergewaltigt. 61 Weiter weiß er von ihm zu sagen: Do bu o ltestu in der bicht [Beichte] umb die wiber Und sunst bistu selb ouch kuppler und zu o triber! 62 Ulrich Rechenzahn hat wohl nicht ganz unrecht, wenn er sagt: Es sind liederlich unnütz lüt, Was sött [sollte] man uf ire wort buwen? Inen ist doch keiner eren zu o truwen. 63 Es handelt sich also um ein Verfahren von Personen der untersten sozialen Schicht. Am Ende tritt mit Küni Süwtrog [Sautrog, Schweinetrog] ein Bauer auf, wie die Parteien des Rechtsstreites eine eher pejorativ bezeichnete Person, die trotz ihrer Primitivität und des äußerlichen Schmutzes innerlich rein und lauter und von Herzen mehr gebildet ist als die gelehrten Herren des Gerichts. Sie steht damit in einem krassen Gegensatz zu den Parteien, obwohl auch sie niederer Abkunft ist. 2.2 Handlung Die Handlung verläuft in vier Sinneinheiten. 64 Zunächst wird durch zwei Narren das Publikum begrüßt und darüber informiert, daß es im folgenden Stück um eine Verhandlung zwischen zwei liederlichen Parteien vor dem bischöflichen Gericht geht. 65 Auch der Gegenstand des Prozesses wird schon verraten, nämlich daß ein entjungfertes Mädchen seinen Sexualpartner verklagt Und meint, er si ir eelicher man. 66 Selbst der Ausgang, den ein solcher Prozeß vor dem bischöflichen Ehegericht haben wird, wird vorweggenommen: Beide Parteien werden nichts gewinnen. 67 Aber richter, fürsprech, schriber und die knaben Die werdend inen den seckel dermass schaben [das Portemonnaie aufschneiden], Dass inen nit vil überblibt. 68 Die Pointe wird absichtlich verschwiegen, nämlich daß das angekündigte Ende gar nicht eintritt. Mit der falschen oder besser unvollständigen Inhaltsangabe wird das Gewicht, das Manuel dem Auftritt des Bauern zuweisen will, noch gesteigert. 58 Z. 417 - 421: Ich wil dir das gar nüt nachlan, Dass du mich schiltest erenlos. Ich hab erlitten manchen stoss, der mir doch nie so we hat tan. »Stoß« wird einmal im Sinne von »Angriff« oder »Beleidigung«, dann im Sinne von »Stoß mit dem Glied« assoziiert. 59 Z. 371. 60 Z. 387. 61 Z. 300 - 304. 62 Z. 339f. 63 Z. 272 - 272. 64 Teil 1: Z. 1 - 56, Teil 2: Z. 57 - 773, Teil 3: Z. 774 - 1021, Teil 4: Z. 1022 - 1165. Teil 1=56 Zeilen, Teil 2=717 Z., Teil 3=248 Z., Teil 4=144 Z. 65 Z. 1 - 56. Daß es ein bischöfliches Ehegericht ist, um das es hier geht, sagen neben Z. 3, 51 auch Z. 574, 637 (Appellation nach Rom), 741 (item), 1120. 66 Z. 50. 67 Z. 12. 68 Z. 13 - 15. Elsli Tragdenknaben 591 In einer zweiten Einheit folgt der eigentliche Prozeß vor dem Offizial. Der Schreiber nimmt zunächst die Personaldaten auf. 69 Danach bringt Elsli Tragdenknaben ihre rechtliche Forderung vor. Sie behauptet, Uli sei ihr Mann. 70 Er weigere sich aber, diese Tatsache anzuerkennen und ehelich mit ihr zusammenzuleben. 71 Uli leugnet rundweg, etwas mit Elsli zu schaffen gehabt zu haben, wobei auch er den Sexualverkehr als Eheschließung interpretiert - ihn aber eben leugnet. 72 Elsli insistiert auf diesem Sachverhalt: Du weist, ich bin din eelich wib Und hast mir selb den mägdtum genummen, Ja den ich nit bald mag überkummen [zurückbekommen kann]. Sunst hab ich nie kein man erkent. 73 In der Folge treten die Zeugen auf, die beide als Lügner erweisen: 74 Uli hat mit Elsli verkehrt, Elsli ihrerseits aber ist eine gewohnheitsmäßige Hure. Da der Geschlechtsverkehr erwiesen ist, muß - so verkündet der Offizial - der Täter die Klägerin ehelichen. 75 Unvermittelt wie ein deus ex machina tritt im dritten Teil der Bauer Küni Süwtrog auf. Die Frage, ob Indizien eine Ehe unausweichlich machen, die bisher im Zentrum gestanden hatte, läßt er völlig außen vor. Ihm geht es darum, die Liebe zwischen beiden Parteien herzustellen, die eine solche Ehe überhaupt erst christlich werden ließe. Die Sünde, die soziale Verachtung, die niedrige Geburt, die finanziellen Schwierigkeiten sollen Elsli und Uli nicht abhalten. Denn auch Christus sprach: ich bin nüt darumb kummen, Dass ich berüefen well die frummen, Sonder von der armen sündern wegen; An denen ist mir allermeist gelegen! 76 In einer die Herzen der Klägerin wie des Beklagten ergreifenden Predigt führt er die zentralen Bibelstellen an, welche die Taten und Gleichnisse Christi enthalten, in denen er sich den Armen und Verlassenen, den Geringen und Kleinen, den Sündern zuwendet und ihnen seine Liebe gibt. 77 Warum woltestu denn Elsli verschmechen, So Gott den sünder nicht verschmacht, Den Christus selber hat wider bracht? Elsli ist von Jesus tür erkouft Und ist ein christenmensch getouft Und wirt ein kind der seligkeit, Als uns der mund gotts zu o hat gseit. Es würt sich bessern und würken bu o ss (…) Darumb, Uli, folg durch Christus eer, So grüwt [reut] es dich gwüss nimmermer! 78 Die Stellung des Bauern in diesem Stück widerlegt die Ansicht Tardents, bei Manuel habe seit seiner Tätigkeit als Landvogt eine Wende stattgefunden vom bäuerlich orientierten Autor zu einem Verfechter des Obrigkeitsstaates. 79 Deshalb habe er - verstärkt durch den Bauernkrieg, der auch im Bernbiet spürbar war - auch nicht mehr von den Bauern als Trägern der evangelischen Botschaft sprechen können. 80 Davon kann überhaupt keine Rede sein. 69 Z. 63 - 70. 70 Z. 75f. 71 Zur Anklage der Elsli und zur Gegenrede Ulis Z. 77 - 98. 72 Z. 90: Die Formulierung, er habe sie nicht genommen (…) zur ee meint ja in der Tat das sexuelle Nehmen und die damit erfolgte Konstituierung der Ehe. 73 Z. 100 - 103. 74 Z. 442 - 507 zum Beischlaf, Z. 501 - 507 zum Eheversprechen, Z. 575 - 595 Kommentar des Offizials [wobei dieser über - eigene? - Detailerfahrungen berichtet], 600 - 615 die Aussage der Mutter zu Elslis Hurenleben. 75 Z. 710, 739f.: Es ist ein ee zwüschen üch beden, Darvon dich niemand scheiden kan, sagt der bischöfliche Schreiber. 76 Z. 780 - 783. 77 Z. 786 - 833. 78 Z. 835 - 849. 79 Tardent: Manuel (wie Anm. 5), 414 - 419. 80 Ebd., 416, 419. Heinrich Richard Schmidt 592 Uli und Elsli bekehren sich in einem Akt der Erleuchtung: Die wort die hand mer gwürkt an mir, Denn wärind der pfaffen noch vier. Das gottswort dringt durch ‘s herz hinin. 81 Uli nimmt Elsli im namen gotts, 82 gelobt, ihr treu zu sein bis in den Tod, und bittet Gott um seine Gnade. Elsli lobt Gott für die gute Stunde, also das Glück, das er ihr gibt, und betet: Er möge beide behüten vor dem ewigen Leid und ihnen die Gnade verleihen, in seinem Willen leben zu können. Und dass wir mit einandren alten [alt werden] Und lebend in sim göttlichen bot [Gebot]! O barmherziger ewiger Gott, Sit du unsern gebresten [Krankheiten, sündhaften Wesen] weist, Send uns, herr, dinen heiligen geist, Dass er uns sterk im glouben hie! 83 Auch der Vater Ulis wird ein anderer. Er, der bisher die Klägerinnen-Partei als Huren und Hexen beschimpft hatte, 84 und Froneca Tribzu o , die Mutter Elslis, die in noch heftigerer Weise Fluch auf Fluch, Beleidigung auf Beleidigung gehäuft hatte, 85 beide verfallen in ein völlig anderes Idiom, und man gewinnt den Eindruck, in einer Gemeinschaft von neuen Menschen zu sein. Hans Lüpold Rechenzahn, derVater, nennt die Prozeßgegnerin seines Sohnes Tochter; Froneca nennt Uli Sohn, seinen Vater Bruder, dieser sie Schwester. 86 Eine allgemeine Verbrüderung 87 geschieht. Froneca bietet Ulis Vater gar die Ehe an, so daß wohl eine Doppelhochzeit ins Haus steht, denn mit einem Handschlag akzeptiert dieser und macht so eine Ehe daraus. 88 Er nennt Froneca seine »Kaiserin«, sie ihn ihren »König«. 89 Und Elsli wünscht ihnen so viel Glück, dass sich das ganz erdrich bück. 90 Denn die Liebe 91 erhöht die, die sie ergreift, über alle irdische Maßen. Der Frieden besitzt nun ihre Herzen, 92 und aller Zorn ist vergessen. Versöhnung, Verbrüderung, Liebe haben die Situation von Grund auf verwandelt. Der Stimmungs- und Sprachwechsel ist eingebunden in einen Wechsel des eschatologischen Horizontes. Den zweiten Teil, den man wohl als den ersten Hauptakt ansprechen muß, prägen Neid und Haß. Dieser Akt ist beherrscht vom Teufel, der selbst in Manuels Stück auftritt. Er reibt sich die Hände und frohlockt: Ich hab vil arbeit an sie kert, Eb [sic] ich sie bracht zu o nid und hass. Ietzt bin ich wol mit inen z’pass. Min sprach spürt man an inen wol, Die ist flu o chens und scheltens vol; Kein früntlich wort noch christlich berd [Gebärde] Ist bi inen lieblich noch werd. Alle büebery, laster und sünd und schand, Wie sie es von mir glert hand, zeigt ie einer dem andern an. 93 Am Ende dieses Aktes wird denn auch fast eine Ehe in des Teufels Namen geschlossen: Wolan, min vater, so wil ich’s recht wagen, So uns doch der tüfel hat zemen tragen, Und wil sie han, grat’s wie es well. Und walt sin der koch in der hell! 94 81 Z. 878 - 880. 82 Z. 912. 83 Z. 933 - 939. 84 Z. 165 - 199. 85 Z. 105 - 132. 86 Z. 972. Die Rede des Vaters Z. 982. 87 Zur Idee der Brüderlichkeit als zentralem Motiv der Reformation vgl. Hans-Jürgen Goertz: Brüderlichkeit - Provokation, Maxime, Utopie. Ansätze einer fraternitären Gesellschaft in der Reformationszeit, in: Heinrich R. Schmidt/ André Holenstein/ Andreas Würgler (Hg.): Gemeinde, Reformation und Widerstand. Fs. Peter Blickle, Tübingen 1998, S. 161 - 178. 88 Z. 977 - 979. Seine positive Antwort Z. 983 - 988. 89 Z. 994, 997. 90 Z. 999. 91 Erstmals erwähnt Z. 1006. 92 Z. 1008. 93 Z. 397 - 406. 94 Z. 648 - 651. Elsli Tragdenknaben 593 Nicht das äußerliche Ergebnis, die Eheschließung, unterscheidet die beiden Hauptakte, sondern das innere Ereignis, nämlich die Einstellung zu dieser Eheschließung. Statt des Teufels führt im dritten Akt Gott die Regie und wandelt die Sünder in seine Kinder um, durch sein Wort aus dem Munde des Bauern. So wird es denn eine Ehe in Gottes Namen 95 und Geist, in christlicher Liebe geschlossen von Menschen, die sich von der Sünde abgewandt haben und auf dem Weg der Heiligung wandeln. In gewisser Weise wird diese Umkehr auch zur Bedingung, besser: die Beharrung im Entschluß und in der Besserung, für das Fortbestehen der Heilszusage. Denn im Gleichnis von der Ehebrecherin, das Uli Rechenzahn reflektiert, betont er, Gott habe sie nicht verdammt. Doch gedingt er ir das vorus mit nammen Und sprach zu o ir: sünd nümmenme! 96 Möglicherweise wird hier ein typisch »reformierter« Ton hörbar, der sonst hinter einer solagratianischen Konzeption zurücktritt. Im vierten Teil des Fastnachtsspiels - nachdem die Parteien die Bühne verlassen haben - kommentieren die Zurückgelassenen das Geschehene. Baß erstaunt fragen sie 97 sich, was nun aus ihrem Lohn wird. 98 Sie bitten Gott, er möge der Ehe kein Glück verleihen. 99 Insgesamt ist die ganze Juristerei sehr in Sorge um die Zukunft. O, o, lieben fründ, land [laßt] uns weren, Dass sich die lüt nüt also verrichten! Dann es könd ein järig kind erdichen, Dass unser gewinn zu o grund müest gan; Wir möchtend nit me narung han, wo frid, ru o w und liebe wär. 100 Warum hat man denn soviel Geld für das Studium der Rechte ausgegeben, fragt Otman Zünfu o ss, wenn nicht dafür, An bischoflichen rechten zu o sitzen, Do die puren das gelt usschwitzen. 101 Die Rechtsgelehrten artikulieren damit noch einmal das eingangs intonierte antiklerikale Leitmotiv, es gehe dem geistlichen Gericht nur ums Geld. Der Schreiber sagt nach der Rede Künis - durchaus bewundernd, letztlich aber doch ablehnend: Hettend wir so vil fliss angleit [angelegt, angewandt] Im evangelium und heiliger gschrift, Als was das ungeistlich recht antrifft, Des bapsts satzung und menschen ler, Wir wüstend wol als vil und mer, Denn der und ander einfalt puren [der Bauer Küni Süwtrog]. Wann uns die zit nit welte turen [dauern, zu schade sein], So möchtend wir’s noch all tag lesen. Und lertend ouch christenlich wesen. Es bringt nit gelt, wollust und mu o t; Das evangelium wär sunst gu o t. 102 Dennoch ergeht sich Manuel hier nicht in einer kruden Schwarzweißmalerei. Vielmehr wird der Offizial selbst zumindest ein wenig nachdenklich. Er hat das letzte Wort in diesem Stück: Wer weist, wie sich die ding verkehren? Wie iederman redt und tu o t das best, Den grüwt [reut] es warlich nit zu o letst Und ist ouch gar christenlich tan. 103 95 Z. 912f.: Ich wil sie nemen im namen gotts, Ungehindert weltlich spotts. 96 Z. 898 - 900. 97 Einer der Juristen (Sigwart Hübentütsch, Fürsprecher) ist von der Bekehrung aber so ergriffen, daß er seine Haltung zu überdenken beginnt - Z. 1 0 5 0 -1085. 98 Z. 1039: Was wirt uns richtern nun zu o lon? 99 Z. 1049. 100 Z. 1105 - 1110. 101 Z. 1120f. 102 Z. 865 - 875. Das geistliche Gericht denkt nicht an Christus - Z. 860 - 864. 103 Z. 1151 - 1153. Heinrich Richard Schmidt 594 2.3 Manuels Konzeption des geistlichen Gerichts In gewisser Weise ist Manuels Fastnachtsspiel dichotomisch aufgebaut. Die Art, zu leben, zu handeln, zu reden, zu fühlen, zu sein wird einmal in ihrer »teuflischen«, einmal in ihrer »christlichen« Struktur vor- und damit gegenübergestellt. Bewundernswert, wie es dem Dichter gelingt, selbst die Redeweise, die Sprache, als Ausdruck des jeweiligen Seins zu gestalten. 104 Der Bauer verkörpert den neuen, den christlichen Geist, der in dieses Gericht einziehen könnte und sollte. Er stellt die inhaltliche und personelle Alternative zur ihrem Wesen nicht mehr gemäßen kirchlichen Gerichtsbarkeit dar: Dabei ist es nicht die Tatsache, daß durch ihn die Sache »gerichtet« wird, wie es im reformierten - mit dem bischöflichen namensgleichen - Chorgericht dann in der Tat der Fall war, entscheidend, sondern die Betrachtung und Behandlung der Sünde. Das Gericht wird erst durch die evangelische Predigt seinem eigentlichen Auftrag, wie ihn das Evangelium formuliert, gerecht: Zuspruch aus Gottes Wort zu leisten, auf Umkehr hinzuwirken, zu bessern, zu versöhnen. Es geht also nicht darum, ins geistliche Gericht Laienelemente einzuführen, sondern darum, in ein verweltlichtes Gericht geistliche Elemente wiedereinzuführen. In einer Art Selbstentblößung spricht der bischöfliche Schreiber von dem ungeistlich recht 105 , das durch des Papstes Satzung - eine Menschenlehre - vor das Evangelium getreten sei. Der Bauer warnt Uli überhaupt, er solle Nit nach der welt wisheit und louf denken, denn Der welt nach so möchtestu Elsli nit han [haben], Aber dem wort gotts nach so magstu’s nit lan [lassen]. Darumb, Uli, folg durch Christus eer, So grüwt [reut] es dich gwüss nimmermer! 106 »Welt« steht hier für die Rücksicht auf äußerliche Ehre, auf Reichtum etc. - überhaupt für »Äußerlichkeit«. In der Tat ist es wohl die Nicht-Anständigkeit Elslis im äußerlichen Sinne, die Uli das Eheversprechen leugnen läßt. 107 Christus aber sieht in das Herz hinein und verachtet darum niemanden. Nicht äußerliche Wohlanständigkeit, sondern innere Frömmigkeit sollen zählen, nicht äußerer Zwang, sondern innere Wandlung, Bekehrung, nicht Furcht vor Strafe, sondern Einsicht in das Evangelium, freudiger Gehorsam, Liebe mit Liebe zu vergelten, Christus durch Nächstenliebe und Gattenliebe zu danken, seine Liebe weiterzugeben. Es geht insgesamt, das macht Manuel hier deutlich, um die innere Wandlung, die durch das geistliche Gericht, soll es diesen Namen verdienen, bewerkstelligt werden soll, wobei die eigentliche Wirkursache das Gotteswort ist, das aber aktiv angewandt werden muß und nicht im Dunkel bleiben darf. Deshalb sind auch die Mittel des bischöflichen Gerichts, die Ehe herbeizuführen, die nach allem die rechte Lösung ist, ungeeignet. Die Ehe wollen die geistlichen Richter zu- 104 Die von der Forschung bemerkte eigenartige Struktur, wonach Laienrichter und ein Bauer vor dem geistlichen Gericht aufträten, ist so eigenartig gar nicht. Laien als Zeugen kommen wohl vor, Laienrichter aber nicht, die Herren, die als eine Art Chorus auftreten und das Geschehene kommentieren, gehören zweifelsfrei dem bischöflichen geistlichen Gericht an - Z. 1022 - 1135: Arnold Spitzdenwind ist besoldeter Richter (Z. 1039), Sigwart Hübentütsch Fürsprecher [Anwalt] (Z. 1049), Herr Seltenrouch würde durch eine friedliche Regelung finanziell benachteiligt, ist also wohl auch Angestellter des geistlichen Gerichtes (Z. 1086 - 1103), Otman Zünfu o ss hat das kanonische Recht studiert (Z. 1116 - 1121). Mittel Hans Tubenkropf scheint nicht in diese Kategorie zu gehören, möglicherweise ein geladener und nicht gehörter Zeuge oder ein Zuschauer (Z. 849), ebenso Pauli Scharmütz (Z. 599). 105 Z. 867. 106 Z. 844 - 849. 107 Z. 913. Elsli Tragdenknaben 595 nächst durch Indizien erzwingen, dann durch Hinweise auf sexuelle Lust, die Elsli Uli ja sicher gekonnt gewähren wird, stiften. 108 Motiviert wird ferner mit weltlicher Ehre oder Anerkennung und mit Geschenken, die zu erwarten sind, 109 schließlich mit den durch eine Appellation nach Rom zu erwartenden Geldverlusten. 110 Besonders das Argument der sexuellen Attraktivität Elslis, wenn denn auf ihm die Ehe aufgebaut werden soll, verunsichert Uli, fürchtet er doch, Elsli werde ihm nicht treu sein. 111 Denn Lust ist nicht der rechte Grund für eine Ehe, meint Manuel, sondern nur die Treue und das Vertrauen. 112 Insgesamt gibt das Fastnachtsspiel »Elsli Tragdenknaben« die theologischen Überzeugungen Niklaus Manuels, die man aus seinen anderen Stücken ermitteln kann, in beeindruckender Dichte wieder. Weder kann man einen Bruch zu den frühen Überzeugungen feststellen, noch einen unkritischen Obrigkeitsgehorsam, noch eine negative Haltung zum Bauerntum und seiner Rolle in der Ausbreitung des Evangeliums; man kann auch nicht sagen, das Stück enthalte keine Kirchenkritik oder »konfessionelle Propaganda«, im Gegenteil: Die Kritik des ungeistlichen geistlichen Gerichts steht im Zentrum. Ihm gegenüber tritt ein Entwurf, der nicht formal ausgeführt ist, also nicht »institutionalisiert« etwa in der Form eines reformierten Sitten- und Ehegerichts, sondern sich ganz auf den geistlichen Sinn der Kirchengerichte konzentriert. Das ist sogar, scheint mir, eine besondere Leistung, denn wie leicht wäre es Manuel gefallen, das bernische Chorgericht, das die Reformation hervorgebracht hat, als logisches Heilmittel der Mißbräuche der Alten Kirche darzustellen. Es geht ihm aber eben gerade nicht um die Form, sondern um den Inhalt: Der Zugang zu den Sünden, also ihre Betrachtung, hat über die ihnen zugrundeliegende Gottferne zu geschehen. 3. Manuel und die Gravamina - Das altgläubige geistliche Gericht in der Kritik Wir kennen die Kritik am geistlichen Gericht aus den Gravamina der deutschen Nation gegen den Stuhl zu Rom und die Geistlichkeit. 113 Die Gravamina artikulieren den von Hans-Jürgen Goertz als Hauptmovens für die Reformation unterstrichenen Antiklerikalismus. 114 Wir wissen aber auch, daß die vorreformatorische Ehegerichtsbarkeit eine allgemein anerkannte und unbestrittene Aufgabe des geistlichen Gerichts war. Kritik daran verlautete praktisch nicht, angesichts des hohen Anteils von Ehesachen (80 - 95% 108 Z. 575 - 579, 614 - 630. 109 Z. 720 - 725, 731 - 735, 762 - 765. 110 Z. 632 - 641 (Vater), 739 - 749 (Schreiber des Gerichts). 111 Z. 771 - 773, 112 Zu den mal mehr formalen, mal mehr informellen Treuegelübden Z. 920 - 925 (Uli), 929 - 934 (Elsli), 961 - 963 (Froneca zu Uli als »Schwiegermutter«), 965 (Uli zu Froneca als »Sohn«), 995 (Hans Lüpold zu Froneca), 996f. (Froneca zu Hans Lüpold). 113 Vgl. Heinrich R. Schmidt: Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521 - 1529/ 30, Stuttgart 1986, 36 - 40. Siehe auch Bruno Gebhardt: Die Gravamina der Deutschen Nation gegen den römischen Hof. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Reformation, Breslau 2 1895; Karl-Heinz Scheible: Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 39 (1972), 167 - 183; Anton Störmann: Die städtischen gravamina gegen den Klerus (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 24/ 26), Münster 1916; Peter Blickle: Die Reformation im Reich, Stuttgart 1982, 26 - 30. 114 Hans-Jürgen Goertz: Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517 - 1529, München 1987; ders.: Antiklerikalismus und Reformation, Göttingen 1995. Heinrich Richard Schmidt 596 aller Fälle vor dem Offizialat) eigentlich ein Indiz für die hohe Akzeptanz der geistlichen Gerichte - wie es scheint. 115 Da rund zwei Drittel der Ehesachen Eheansprachen waren 116 wie im Fall der Elsli Tragdenknaben, kann uns dieses Stück einen guten Einblick geben in diesen »unbestrittenen« Bereich der geistlichen Jurisdiktion. 117 Die Tatsache, daß das Ehegericht häufig angerufen wurde und keine Kritik daran laut wurde, darf nicht zu rasch als allgemeine Zustimmung interpretiert werden. Es war selbstverständlich und blieb dies ja auch, daß eine zumindest geistlich mitgestaltete Instanz existieren mußte, um die häufigen umstrittenen Eheansprachen zu klären. 118 Eine nach Indizien und Zeugenaussagen getroffene Zwangsverheiratung war dabei wohl die Regel. Darin aber lag zugleich das Problem, nämlich in der Menge der nur formal »rechten« Ehen, denen die Basis der Liebe fehlte. Hier wurde spätestens seit den ersten massenwirksamen evangelischen Predigten und Publikumsstücken wie »Elsli Tragdenknaben« ein Defizit spürbar. Nun wurde dieser Tätigkeitsbereich der gleichen Kritik zugänglich, welche die übrige Kirchengerichtsbarkeit schon erfaßt hatte und die sich gegen den seines eigentlichen Zweckes völlig beraubten Bann richtete, der nur noch dazu gebraucht wurde, Geld- und Bußzahlungen (etwa an das geistliche Gericht selber) zu erzwingen; sein eigentlicher Zweck, »den Sünder zur Reue und Umkehr zu bewegen«, wurde offen mißachtet. 119 Ein bislang noch unbewußt gefühltes und wegen des Fehlens einer neuen Beurteilungsgrundlage noch nicht klar erkanntes Manko machte die neue Lehre sichtbar: Die notwendige Einstellungswandlung der Delinquenten war wichtiger als die rechtliche Beurteilung der Tat. Mit der neuen Lehre wurde ein Aha-Effekt auch in diesem Bereich intendiert, der um so eindeutiger gegen die alte Kirche zielte, als hier ihr bislang unbestrittenes Monopol, die Ehegerichtsbarkeit, tangiert wurde. Gerade wegen der bislang herrschenden Akzeptanz dieses Bereichs wirkte die neue Lehre hier grundstürzend. 4. History of Sin or History of Crime? 4.1 Punitiv oder pastoral - Eltons und Schillings konzeptionelle Trennung Geoffrey Elton verlangt eine strikte Trennung zwischen einer »Geschichte des Verbrechens« und einer »Geschichte der Sünde«. 120 Kirchengerichtsbarkeit gehört nach seiner 115 Thomas D. Albert: Die geistliche Rechtsprechung im Spiegel der Kritik des gemeinen Mannes, in: Schmidt/ Holenstein/ Würgler (Hg.): Gemeinde (wie Anm. 87), 179 - 193, hier bes. 179 - 185, 192f. 116 Ebd., bes. 188. 117 Vgl. dazu auch Richard Weigand: Liebe und Ehe im Mittelalter, Goldbach 1993, 213 - 247; Charles Donahue, Jr.: English and French Marriage Cases in the Later Middle Ages: Might the Difference be Explained by Differences in the Property Systems? , in: Lloyd Bonfield (Hg.): Marriage, Property, and Succession, Berlin 1992, 339 - 366; Richard Henry Helmholz: Marriage Litigation in Medieval England, Cambridge u.a. 1974, bes. 187 - 189; allgemein James A. Brundage: Sex, and Christian Society in Medieval Europe, Chicago, London 1987, 487 - 551, zusammenfassend 546 - 550. 118 Heinrich R. Schmidt: Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart/ Jena/ New York 1995, 174 - 186, 189 - 208, 221 - 229, 253f. Siehe auch ders.: Ehezucht in Berner Sittengerichten 1580 - 1800, in: Ronnie Po-chia Hsia/ Robert W. Scribner (Hg.): Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe (Wolfenbütteler Forschungen 78), Wiesbaden 1997, 287 - 321. 119 Albert: Rechtsprechung (wie Anm. 115), 193. Elsli Tragdenknaben 597 Anschauung nicht in den Bereich der Kriminalitätsgeschichte hinein, weil sie qualitativ anders geartet sei. Dieser Hinweis ist wichtig, weil er die geistliche Dimension für ein Unterscheidungskriterium erklärt, das beide Bereiche separiert: Die Kriminaljustiz strafe danach - ungeistlich - nur die Tat, das geistliche Gericht wende sich aber seelsorgerisch dem Täter und seinem Gottesverhältnis zu. Damit postuliert er allerdings etwas, was realiter, folgen wir der Kritik Manuels am geistlichen Gericht, nicht immer der Fall war, wirft dieser doch dem »ungeistlichen« geistlichen Gericht gerade vor, nur die äußerliche Tat zu beurteilen und nicht nach den Herzen und Gemütern der Täter zu sehen, gar sie bessern zu wollen. Mit der Übersetzung von Kirchengerichtsbarkeit in »Sündenzucht« und mit der Identifikation von »Verbrechensbekämpfung« und »weltlichem Gericht« wird bei Elton letztlich doch die Institutionenebene zum Unterscheidungskriterium. 121 Heinz Schilling hat Eltons Ansatz aufgegriffen und ebenfalls eine analytische Trennung der kirchlichen von der weltlichen Gerichtsbarkeit gefordert. 122 Er formuliert die Differenzpunkte deutlicher: Anders als die weltliche Bestrafung zielte die kirchliche Disziplin auf die Rettung des Sünders und die Reinigung der Gemeinde von Sünde; selbst wenn die gleiche Tat Gegenstand der jeweiligen Verfahren war und obgleich die Kirchendisziplin auch Strafen aussprechen konnte, eines blieb immer und grundsätzlich anders: die nicht punitive, sondern pastorale Abzweckung. 123 »Strafe« versus »Disziplin« oder »punitiv« versus »pastoral« werden so zu die Differenz kennzeichnenden Begriffen. Der Täter sollte zum Bewußtsein seines gottfeindlichen Verhaltens gebracht werden und sich aus vollem Herzen seiner Schuld bewußt werden und sich zu bessern beabsichtigen. 124 Daß »weltlich« und »geistlich« oder »punitiv« und »pastoral« tatsächlich institutionenunabhängig sind, zeigt Schilling in der - Manuels Skizze analogen - Beurteilung des vorreformatorischen geistlichen Gerichts: 125 Es hatte sein pastorales und religiöses Zentrum vergessen und war ganz veräußerlicht. Aber nicht nur der Aspekt, daß nominell geistliche Gerichte »weltlich« werden können, sollte in den Blick geraten, sondern auch die Tatsache, daß weltliche Gerichte - oder allgemeiner gesprochen die Behandlung von Verbrechen - eine geistliche Dimension besitzen konnten. 4.2 Die geistlich-religiöse Dimension des Verbrechens Erinnern wir uns an Manuels Füllung des Sündenbegriffs: 126 Sünde als Ferne von Gott und seinen Geboten zeigt sich in Gotteslästerung, Fluchen, Sabbatschändung, Hurerei, Ehebruch, Schande und Laster, Fressen, Saufen, Gewalt und Blutvergießen, Habgier, Diebstahl, Wucher und Übervorteilung, Glücksspiel, Lügen und Meineid. Manuel ver- 120 Geoffrey R. Elton: Introduction: Crime and the Historian, in: James S. Cockburn (Hg.): Crime in England, 1550 - 1800, London 1977, 1 - 14, hier: 3f. Verstöße gegen das Kirchenrecht werden pauschal als »Sünden«, solche gegen weltliches Recht als »Verbrechen« qualifiziert. 121 Ebd. 122 Heinz Schilling: »History of Crime« or »History of Sin«? - Some Reflections on the Social History of Early Modern Church Discipline, in: E.I. Kouri/ Tom Scott (Hg.): Politics and Society in Reformation Europe, London 1987, 289 - 310, bes. 293 - 303. 123 Ebd., 299f. Zur doppelten Aburteilung am Beispiel des Ehebruchs ebd., 301f. 124 Die Einsicht in die eigene Schuld enthält deutlich Elemente der altgläubig-katholischen »contritio«. 125 Schilling: History of Crime (wie Anm. 122), 293f. 126 Vgl. Teilkapitel 1.2. Heinrich Richard Schmidt 598 langt die Beseitigung dieser Sünden durch die Obrigkeit, die unter Gottes unbedingtem Gebot steht. Das Böse an diesen Lastern ist ihre Sündhaftigkeit. Verbrechen in unserem Verständnis sind sie nur zum Teil. Sünden aber sind sie alle. Zusammengebunden werden sie durch ihren Bezug auf Gottes Gesetz (Zehn Gebote), gegen das sie verstoßen. Ihre eigentliche Schwere gewinnen sie gerade durch ihren Sündencharakter, denn in ihnen zeigt sich die Feindschaft zu Gott. Verbrechen sind stets Sünden, weil und soweit in ihnen der Neid und der Haß, letzten Endes der Teufel am Werke ist. Verbrechensbekämpfung muß mit dem Schwert geschehen, um der Bösen Herr zu werden und Gottes Zorn zu stillen, sie muß aber auch in evangelischem Sinne durch die Sündenzucht, die ihre Wurzel ausrotten soll, angegangen werden. »Sünde« und »Verbrechen« sind Aspekte von Taten, gehören aber zusammen wie Feuer und Brennen. Die Schwerkriminalität im Verständnis der voraufgeklärten Gesellschaft enthielt zudem Delikte wie Gotteslästerung 127 , »Bestialität« oder »Sodomie« (Homosexualität), die deshalb angezeigt wurden, weil sie als Verstöße gegen die göttliche Ordnung betrachtet wurden und weil man glaubte, sie lösten Gottes Zorn über die Gemeinschaft aus. 128 Auch das hängt mit der sakralen Struktur 129 und dem metaphysischen Horizont zusammen, in welche die diesseitige Ordnung eingebettet war. 130 Die Konfessionalisierung kann insgesamt als Intensivierungsschub im Prozeß der »Vergeistlichung des Weltlichen« betrachtet werden. Bernd Hamm spricht im gleichen Sinne wie Manuel im Blick auf den Protestantismus von einer »Ausdehnung der Normativität der Heiligen Schrift und der Lebensform des Glaubens auf alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens. Intendiert ist von den Reformatoren die Durchdringung, Integration und verchristlichende Intensivierung aller Lebensbereiche des gesellschaftlichen corpus christianum vom Zentrum des biblischen Gotteswortes und des gemeinschaftsformenden Glaubens her. Dies bedeutet aber gerade nicht Säkularisierung der Welt und der Religion im modernen Sinne, sondern Sakralisierung der Welt, Ausweitung der Heiligung auf alle Lebensbereiche, die nun zum Ort vollgültigen Gottesdienstes werden können und sollen.« 131 Klassisch kommt die Idee, Gott strafe Gemeinschaften, die Sünden zulassen, in folgendem Erlaß aus dem nachreformatorischen Bern zur Sprache. Der Rat habe strengere Verfolgung von Delikten beschlossen, weil leyder by disen letsten bösen zytten solche unsere va e tterliche erinnerung (...), ja die thatpredigen gottes deß allma e chtigen selbs von himmel herab, durch wunder und zeichen, erdbdimen [sic, Erdbeben], füwr, strahl und hagel, ungewitter, erschrockenliche lüfft und wind, tro e wung schwerdt und kriegs, und hiemit ga e ntzlicher ußrüttung (wo wir uns nit nochnmalen (...) zu o ihme bekehren und (...) enderung alles verru o chten la e bens für die hand nemmen und würcken werdent) by dem mehren 127 Vgl. demnächst Gerd Schwerhoff: Gott und die Welt herausfordern. Theologische Konstruktion, rechtliche Bekämpfung und soziale Praxis der Blasphemie vom 13. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, erscheint Göttingen 1999 [jetzt Habil. masch., Bielefeld 1997]. Vgl. auch Heinrich R. Schmidt: Die Ächtung des Fluchens durch reformierte Sittengerichte, in: Peter Blickle (Hg.): Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 15), Berlin 1993, 65 - 120. 128 Karl Wegert: Popular Culture, Crime, and Social Control in 18th-Century Württemberg, Stuttgart 1994, bes. 187 - 207 (Bestialität), 209 - 219 (Zusammenfassung). 129 Bernd Hamm: Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, 71. 130 Vgl. die Beiträge in: Blickle (Hg.): Fluch und Eid (wie Anm. 127). 131 Bernd Hamm: Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 7 (1992), 241 - 279, hier: 262. Elsli Tragdenknaben 599 theil under uns nit so vil vermo e gen, dann das (...) nit allein wider solche unsere (...) mandaten (...) fra e ffenlich und verachtlich gehandlet, darob mit schlechtem und la e ywem yffer gehalten und die übertretter nit gestrafft, sonders ... unordnung, mutwilligkeiten, üppigkeiten, boßheiten (...) ungeschücht getriben werdint. 132 Gott verhänge pestilentz, schwären und seltzamen kranckheiten 133 , ungewonte witterung, 134 Mißernten, herbe thüre und bittere hungersnoth, 135 innerliche empörung und unru o h 136 oder ender- und umbkehrung gantzer regimenten und landschafften, 137 die landt und leüth verderbenden und uffräßenden grussammen leidigen kriegsflammen. 138 Durch sie strafe er die Ungehorsamen, wie er einst Sodom und Gomorrha gestraft hatte. 139 Erdbeben wurden in der Weise erklärt, daß gott der allmechtig vonn vnser allersyths vilfaltigenn sünden willen vns vff demselbigen tag mit synem zornn vnnd einem erschrockenlichen erdbidem heimgesucht vnnd vns darmit wellen zu o uerstan geben, das wir vonn sündenn vnnd lasteren ablaßen vnd vnns allersyths wahrlich vnnd mit rüwendem hertzen zu o imme bekherenn, ouch bu o ß vnnd beßerung thu o n wellindt. 140 Besonders zornig mußte Gott werden, wenn seine »Tatpredigten« ohne Resonanz blieben oder gar verspottet wurden. Das »trotzige« Verhalten einzelner grenzte an Majestätsbeleidigung, wenn etwa ein blinder geiger, bey neulich gewesenem sehr grosem donner wetter, war bey es sehr geblitzet und gedonnert, in des lambwürths hauß etlichen officier nächtlicher weil aufgegeiget und darbey schändtliche lieder ohn verantwortlich gesungen und gegeiget, also daß der allhiesige in quartier gelegene lieutenant ihne darvon abgewarnet, welches er zwar ein weil bleiben laßen, aber gleich wider darauf, wie das wetter noch am allergrösten war, aufgegeiget und wider schandtliche liedlen darzu gesungen, weilen er solches nicht läugnen, sondern überwisen worden, als ist er vmb sein böses verbrechen wegen vmb 2 Pfund Heller gestrafft worden (...) Wann er aber furtterhin in dergleichen ohnverantworttlichen dingen solte aufgeigen und schantliche liedlein singen, mit doppelter straff angesehen werden solle. 141 Nun ist in diesen Texten von »Sünden« die Rede, die Gottes Zorn herabrufen. Die Tatsache, daß aber meist von eher »geringen« Verfehlungen berichtet wird, darf nicht 132 SSRQ=Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. Die Rechtsquellen des Kantons Bern, Bd. VI, 1, bearb. v. H. Rennefahrt, Aarau 1960; Bd. VI, 2, bearb. v. dems., Aarau 1961, hier: VI, 2, Nr. 31k, 868-913: 27.02.1628 - Christenliche mandaten, ordnungen und satzungen (...), vermehret und uff gegenwürtige zyt gestellt und gerichtet, hier: 869. 133 SSRQ VI, 2 , Nr. 31l, 914 - 921: 05.05.1643 - Neüwe reformation, hier: 914. SSRQ VI, 2 , Nr. 31a, 826 - 839: 16.12.1548/ 07.09.1550/ 20.04.1573 - Maimandat=Das groß mandat der loblichen statt Bern, hier: 839, Anm. 4: 05.02.1578 - Ermahnung an jedermann (zur Pest). 134 Neüwe reformation (wie Anm. 133), 914. SSRQ VI, 2 , Nr. 31l, 921f.: 06./ 07.06.1649 - Verbote deß muhtwilligen wäsens an hochzeiten etc., hier: 921. 135 Ebd. - beide Belege. 136 Neüwe reformation (wie Anm. 133), 914. 137 Verbote deß muhtwilligen wäsens (wie Anm. 134), 921. 138 Neüwe reformation (wie Anm. 133), 914. 139 Ebd., 920f. Verbote deß muhtwilligen wäsens (wie Anm. 134), 921. 140 Staatsarchiv Bern BIX 462, fol. 3 - 4, 10 - 11, 15 - 16: 1622, hier: fol. 15f. Die Pest wurde in Mittelalter und Früher Neuzeit gleichermaßen als Gottesstrafe gesehen. Vgl. Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Hamburg 1989, 148. 141 Kirchenkonventsprotokolle Unterjesingen (Württemberg): 7.7.1715. Vgl. zu dem hier angesprochenen Thema insgesamt Heinrich R. Schmidt: Environmental Occurences as the Lord’s Immediate Preaching to us from Heaven: The Moral Cosmos of the Early Modern Era, in: Ruth Kaufmann-Hayoz (Hg.): Bedingungen umweltverantwortlichen Handelns von Individuen. Proceedings des Symposiums »Umweltverantwortliches Handeln« vom 4. - 6.9.1996 in Bern, Bern 1997, 35 - 42. Heinrich Richard Schmidt 600 darüber hinwegtäuschen, daß alle Verstöße gegen Gottes Ordnung selbstverständlich auch als Sünden verstanden wurden. Ihre Bestrafung war - auch und in einigen Fällen (wie der Bestialität) ausschließlich - metaphysisch begründet. Selbst die Todesstrafe besaß den Aspekt der »Selbstreinigung der Gesellschaft«. 142 Eine Kriminalitätsgeschichte, die eine »rein weltliche« Sicht auf die Frühe Neuzeit oder das Mittelalter richtet und meint, deren Verständnis von Verbrechen mit nachaufgeklärten Deutungsmustern allein hinreichend erfassen zu können, übersieht deren Sakralität, die Manuel als Zeitgenosse so deutlich artikuliert. Daß selbst zum Tode verurteilte Schwerverbrecher auch geistlich betreut worden sind, weil ihr Verbrechen ja Ausdruck einer sündigen Haltung Gott gegenüber war, ist erst kürzlich durch die vorzügliche Studie von Rainer Lächele zur Gefangenenseelsorge im Pietismus deutlich gemacht worden. 143 Ihr ging es um einen Tod in Versöhntheit mit Gott und damit um die Rettung der Seele des Delinquenten. Dafür war, wie schon bei Manuel, die »Veränderung des Herzens das entscheidende Moment«. 144 Sie brachte eine Rechtfertigung des Delinquenten vor Gott zustande. Dies besaß noch nicht den Aspekt der Resozialisierung oder gar der Strafminderung durch innere Besserung, denn gerade dagegen stand die talionische Sicht der Bibel: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.« 145 Dort, wo es keine »geistlichen Gerichte« gab, sondern Niedergerichte auch die Sündenverfolgung wahrnahmen, darf auch deren geistlicher Charakter nicht übersehen werden, selbst wenn die Pfarrer ihn vielleicht ausgeprägter gewünscht hätten. Im reformierten Graubünden 146 wie im lutherischen Württemberg 147 ist die späte Schaffung von Presbyterien vor allem als Ausdifferenzierung einer bestehenden, sowohl weltlich wie geistlich ausgerichteten Zucht zu verstehen, die zunächst ungeteilt in den Händen der Gemeinderichter gelegen hatte. Deren »geistlicher« Charakter ist sicher durch die Einsitznahme des Pfarrers und dessen theologisch-pastorale Kompetenz gestärkt worden, war zuvor aber keineswegs abwesend. 4.3 Staatlich versus geistlich? Neben der zu raschen oder strikten Trennung von »Sünde« und »Verbrechen« über die Institutionenebene besteht eine weitere Gefahr, wenn jede staatliche Bindung als »weltlich« gedeutet wird. Denn die Staatskirchen und damit die Sündenzucht in den deut- 142 Rainer Lächele: »Maleficanten« und Pietisten auf dem Schafott. Historische Überlegungen zur Delinquentenseelsorge im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 107 (1996), 179 - 200, hier: 182. 143 Ebd., passim. 144 Ebd., 186. Vgl. in diesem Sinne auch 192, 195f. 145 »Als die Kindsmörderin Else Klickin,« schreibt Lächele, »etwa - in einem ‘Rückfall’ nach ihrer Bekehrung! - vorsichtig anfragen ließ, ob sie durch die Bekehrung ihr Leben behalten könnte, wurde ihr eben dieser Bibelvers vorgehalten.« - Lächele: »Maleficanten« (wie Anm. 142), 196. 146 Heinrich R. Schmidt: Über das Verhältnis von ländlicher Gemeinde und christlicher Ethik: Graubünden und die Innerschweiz, in: Historische Zeitschrift, Beiheft N.F. 13, München 1991, 455 - 487. Vgl. Ders./ Thomas Brodbeck: Davos zwischen Sünde und Verbrechen. Eine Langzeitstudie über die Tätigkeit der geistlichen und weltlichen Gerichtsbarkeit (1644 - 1800), in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft von Graubünden 1997/ 98, 143 - 183. 147 Helga Schnabel-Schüle: Calvinistische Kirchenzucht in Württemberg? Zur Theorie und Praxis der württembergischen Kirchenkonvente, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 49 (1990), 169 - 223. Elsli Tragdenknaben 601 schen, schweizerischen, englischen, schottischen und skandinavischen Kirchen 148 werden dann zu rasch in die Schublade »staatlich« = »weltlich« gesteckt. Mit Heinz Schilling muß festgehalten werden, daß protestantische Kirchen - welche theologische und organisatorische Gestalt sie auch annahmen - sich des Unterschiedes zwischen religiöskirchlicher Disziplin und weltlicher Strafjustiz bewußt waren. 149 Selbst in protestantischen Staatskirchen stand hinter dem »nur vom Staat kontrollierten«, also nicht getragenen, Prozeß der »Sündenzucht« ein Ensemble von aktiven kirchlichen und gesellschaftlichen Kräften. 150 Die Kirchenzucht muß in ihrer kommunalen Funktionalität ernst genommen werden, erst danach kann nach dem Nutzen für den Staat gefragt werden. 151 Mit anderen Worten: Kirchenzucht hatte auch in Staatskirchentümern zuallererst eine geistliche Dimension. In Staatskirchen konnten sich Kirchenzucht und staatliche Interessen leicht ineinandermengen und so eine »criminalization of sin« herbeiführen. 152 Besonders gering war diese Gefahr möglicherweise in staatsunabhängigen calvinistischen Gemeinden, aber auch in Genf. 153 Das hängt u.a. auch damit zusammen, daß sich die Gemeinde im Calvinismus selbst für die Reinheit der Abendmahlskongregation verantwortlich wußte und deshalb »Selbstzucht« betrieb. 154 Da Schilling aber auch die lutherische Kirchenzucht durch den Pfarrer als »in Vertretung der Gemeinde geschehen« einschätzt, 155 ergibt sich aus der organisatorischen Umsetzung kein entscheidendes Differenzkriterium. Vielmehr muß uns bewußt bleiben, daß es die Betrachtungs- und Behandlungsweise eines Vergehens war, welche uns einmal von »Sündenbekämpfung« und einmal von »Verbrechensbekämpfung« sprechen läßt. Die Grenzen zwischen »geistlich« und »weltlich«, das lehrt uns Manuel, liegen weder zwischen bestimmten Taten, so als gäbe es »geistliche« und »weltliche« Delikte, noch per se zwischen bestimmten Gerichten, so als urteile ein »geistliches« Gericht prinzipiell anders als ein »weltliches« und umgekehrt. Sie liegen vielmehr in der Betrachtungs- und Bekämpfungsweise der Sünde. Er mahnt uns damit, die sakrale Dimension von crimen in unsere Überlegungen einzubeziehen und »sin and crime« als simultane Aspekte von Delinquenz zu sehen. 148 Dazu Heinrich R. Schmidt: Gemeinde und Sittenzucht im protestantischen Europa der Frühen Neuzeit, in: Peter Blickle (Hg.): Theorien kommunaler Ordnung in Europa (Schriften des Historischen Kollegs 36), München 1996, 181 - 214. 149 Schilling: History of Crime (wie Anm. 122), 294. 150 Ebd., 294f. 151 Ebd. 152 Ebd., 303f. zur Vermischung oder »criminalization of sin«. Dazu auch Bruce Lenman/ GeJoffrey Parker: The State, the Community and the Criminal Law in Early Modern Europe, in: Valentin Arthur Charles Gatrell/ Bruce Lenman/ Geoffrey Parker (Hg.): Crime and the Law. The Social History of Crime (wie Anm. 122) in Western Europe since 1500, London 1980, 11 - 48, bes. 37f. Vgl. Schnabel-Schüle: Calvinistische Kirchenzucht (wie Anm. 147), 206: »Die Instrumentalisierung im Sinne des Staatszweckes war von Anfang an angelegt, weil die Konvente keine Institutionen einer autonomen Kirche, sondern eine staatliche Einrichtung waren. Dennoch trat diese Dienstbarmachung der Konvente für die Belange des Staates erst dann in aller Deutlichkeit zutage, als der Zweck des Staates nicht mehr in religiösen Begründungen gefaßt werden konnte, sondern sich durch und durch säkularisiert zeigte.« 153 Schilling: History of Crime (wie Anm. 122), 304: »Calvinism on the whole possessed a greater potential to resist such a degeneration of church discipline than Lutheranism«. 154 Ebd., 297. 155 Ebd., 295: »ban and church discipline were exercised by the Lutheran pastor or the assembly of Reformed church elders. But this was carried out on behalf of the congregation assembled under the word of God. Therefore church discipline was not merely exercised by the church or its leadership downwards.« Heinrich Richard Schmidt 602 Verbrechen waren auch Sünden, als solche war selbst ihre »rein weltliche« Bestrafung, und sei es mit dem Tode, eingebettet in die Vorstellung einer von Gott gewollten Rache, in die geistliche Notwendigkeit, das Recht durch eine Vergeltung wieder in sein Gleichgewicht zu bringen und Gottes Zorn abzuwenden. Bei minderschweren Verbrechen ließ auch die weltliche Gerichtsbarkeit häufig Milde walten, berücksichtigte sie die Umstände der Tat und des Täters, war sie also keineswegs »mechanisch«, zielte sie bei Konflikten auf Restitution des gestörten Sozialverhältnisses und bezweckte sie Reue, Buße, Besserung. 156 Selbst schwere Verbrechen wurden mitunter durch pastorale Arbeit prophylaktisch oder nachsorgend angegangen. Idealiter begegnete man also dem Verbrecher auch pastoral und nicht nur punitiv. Wo dies nicht oder nicht mehr geschah, war dies ein Zeichen für eine Säkularisierung, welche die ursprüngliche Absicht einer Verchristlichung der Welt - und damit auch der Verbrechensbekämpfung - aufhob. Die Vorstellung, ein böses Herz sei die Quelle der bösen Tat - eine eminent geistliche Vorstellung und ehedem die Basis der frühneuzeitlichen Sündenzucht - bedeutete Verbrechensprophylaxe. Diese Idee ist dann von der Aufklärung in einem nicht mehr metaphysischen Kontext aufgenommen und mit dem Ziel, die Menschen zu »reformieren«, fortgebildet worden. 157 156 Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Berlin 1991, bes. 444 - 446; Susanna Burghartz: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990, bes. 199 - 202; André Holenstein: Die Umstände der Normen - die Normen der Umstände. Zum Umgang von Verwaltung und lokaler Gesellschaft mit Policeynormen, in: F. Stolleis/ K. Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft <in Vorbereitung>; Schmidt/ Brodbeck: Davos (wie Anm. 146). 157 Schilling: History of Crime (wie Anm. 122), 301. 603 Frank Konersmann Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 1 1 Das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken im 16. und 17. Jahrhundert I. Kirchenvistationen im Lichte der Konfessionalisierungsforschung Der hohe Informationsgehalt von Kirchenvisitationsprotokollen ist in der Mediävistik und Frühneuzeitforschung seit längerem bekannt. 2 Hingegen sind die Anfänge ihrer systematischen Auswertung und Analyse erst jüngeren Datums. In Anbetracht der in diesen Quellen zu findenden reichhaltigen, aber auch heterogenen Informationen beispielsweise über Kirchengebäude, Kircheninventar, Kapelle, Friedhof, Schulhaus, Hospital, Bruderschaft, Stiftung, aber auch über Lehrauffassung und Lebenswandel Geistlicher und deren Hilfspersonal sowie über kirchliches Verhalten von Gemeindemitgliedern ist es nicht verwunderlich, daß Kirchenvisitationen bis in die 1970er Jahre in der Regel ›nur‹ exemplarisch für orts-, landes- und kirchengeschichtliche Darstellungen genutzt wurden. 3 Zudem erschweren die z.T. mehrere hundert Folioseiten umfassenden Protokollbände Forschungsvorhaben, die systematisch die Verwaltungspraxis eines landeskirchlichen oder städtischen Kirchenregiments rekonstruieren wollen. Grundlagen für eine gezielte Erschließung von Kirchenvisitationen hat eine Forschergruppe um Hansgeorg Molitor, Ernst Walter Zeeden und Peter Thaddäus Lang geschaffen, die seit 1973 in einem Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs »Spätmittelalter und Reformation« in Tübingen mit der archivkundlichen und geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der deutschen Kirchenvisitationsakten des 16. und 17. Jahrhunderts beschäftigt war. 4 1 Für die kritische Lektüre des Typoskriptes und weiterführende Hinweise danke ich Peter Thaddäus Lang und Rudolf Schlögl. 2 Vgl. den instruktiven Forschungsbericht von Helga Schnabel-Schüle: Kirchenleitung und Kirchenvisitation in Territorrien des deutschen Südwestens, in: Repertorium der Kirchenvisitationsakten aus dem 16. und 17. Jahrhundert in Archiven der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Ernst Walter Zeeden, Bd. 2, Baden-Württemberg, Teilb. 2, Stuttgart 1987, vor allem die Seiten 15 - 33. 3 Stellvertretend für andere kirchengeschichtliche Darstellungen verweise ich hinsichtlich der Nordpfalz auf die für dieses Genre typische, zweifellos sehr informative dreibändige Monographie von Friedrich Back: Die evangelische Kirche im Lande zwischen Rhein, Mosel, Nahe und Glan bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges, 1. Theil, Bonn 1872, 2. Theil, Bonn 1873 und 3. Theil, Bonn 1874. 4 Ich verweise auf die Forschungsberichte von Peter Thaddäus Lang, die über das Ziel, den Verlauf und den vorläufigen Abschluß dieses Projekts im Jahre 1986 informieren: Die Bedeutung der Kirchenvisitation für die Geschichte der frühen Neuzeit. Ein Forschungsbericht, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 3 (1984), 207 - 212; ders.: Die Kirchenvisitationsakten des 16. Jahrhunderts und ihr Quellenwert, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 6 (1987), 133 - 153; ders.: Die Erforschung der frühneuzeitlichen Kirchenvisitationen. Neuere Veröffentlichungen in Deutschland, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 (1997), 185 - 193. Frank Konersmann 604 Neben der Erstellung und Publikation von Repertorien, von denen bisher leider nur zwei von ingesamt sieben geplanten Bänden erschienen sind 5 , legten Mitarbeiter dieses Projekts nicht nur Forschungsüberblicke vor 6 , sondern entwickelten auch erste Ansätze zur systematischen Erschließung von Kirchenvisitationen, wie z.B. Peter Thaddäus Lang, der katholische Visitationsinterrogatorien des 16. und 17. Jahrhunderts von 16 Bistümern und Erzbistümern vergleichend analysierte. 7 Bereits 1956 hatte Ernst Walter Zeeden unter dem Leitbegriff »Konfessionsbildung« ein Konzept vorgeschlagen 8 , mit dem die »geistige und organisatorische Verfestigung der seit der Glaubensspaltung auseinanderstrebenden verschiedenen christlichen Bekenntnisse zu einem halbwegs stabilen Kirchentum nach Dogma, Verfassung und religiös-sittlicher Lebensform« erschlossen werden könnte. 9 Dieses auf interkonfessionelle Vergleiche abzielende Konzept erlaubte erstmalig eine methodisch kontrollierte Rekonstruktion der Visitationspraxis. Ein Hauptanliegen Zeedens und seiner Mitarbeiter war es, die von den drei Konfessionskirchen gewählten »Formen und Methoden der Durchkonfessionalisierung« zu ermitteln. 10 In dem von Zeeden vorgestellten »Forschungsfeld« 11 der Konfessionsbildung erfuhr nun auch »das Kirchenvolk als Partner und Objekt der konfessionellen Reform« mehr Beachtung als zuvor in der herkömmlichen Kirchengeschichtsgeschreibung. 12 Daß die Erforschung der Beziehungen zwischen Kirchenvolk und Konfessionskirchen allein schon wegen der Komplexität des Gegenstandes einer konzeptionellen Vorgehensweise bedarf, z.B. im Sinne des Ansatzes der Konfessionsbildung, hat Bernard Vogler in seiner Habilitationsschrift über das religiöse Leben in der Pfalz zwischen 1556 und 1619 gezeigt. 13 Durch gezielte und systematische Auswertung vor allem von Visitationsprotokollen gewann er genauere Einblicke in religiöse, kulturelle und soziale Bräuche, Rituale und informelle Regeln in den Gemeinden. Auf diesem Wege konnte Vogler grundlegende Fragen Zeedens aufgreifen, die das Verhältnis zwischen den im 16. Jahrhundert sich festigenden Konfessionskirchen und dem Kirchenvolk betreffen. So hatte Zeeden im Ausblick seines Aufsatzes von 1956 beispielsweise gefragt: »Inwieweit war das Volk überhaupt in der Lage, zu den religiösen Fragen der Zeit Stellung zu nehmen? (...) Wo und welcherart hat das Volk auf den Konfessionszwang reagiert? Und welche Schlüsse lassen sich aus dieser Reaktion ziehen? « 14 Zeedens Ansatz ist bekanntlich in den späten 1970er Jahren von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling in modifizierter Form unter dem Leitbegriff »Konfessionalisie- 5 Vgl. Lang: Erforschung (wie Anm. 4), 186. 6 Vgl. Ernst Walter Zeeden/ Hansgeorg Molitor (Hg.): Die Visitation im Dienst der kirchlichen Reform, Münster 1967; insbesondere ist auf die Berichte von Peter Thaddäus Lang zu verweisen (wie Anm. 4). 7 Vgl. Peter Thaddäus Lang: Reform im Wandel. Die katholischen Visitationsinterrogatorien des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Ernst Walter Zeeden/ Peter Thaddäus Lang (Hg.): Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa, Stuttgart 1984, 131 - 190. 8 Ernst Walter Zeeden: Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: ders.: Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform, Stuttgart 1985, 67 - 112. 9 Ebd., 69. 10 Ebd., 110. 11 Ebd., 70. 12 So lautet ein ganzer Abschnitt in dem programmatischen Aufsatz Ernst Walter Zeedens, ebd. 80 - 91. 13 Bernard Vogler: Vie religieuse en pays rhénan dans la seconde moitié du XVI siècle (1556 - 1619), 3 Bde, Lille 1974. 14 Zeeden: Grundlagen (wie Anm. 8), 111. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 605 rung« aufgegriffen worden, mit dem sie vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Konfessionskirchen hervorgehoben haben. 15 Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die These, daß die Konfessionskirchen »ihre Mitglieder zu einheitlichem Verhalten diszipliniert« hätten 16 , wobei Reinhard die Kirchenvisitationen als die hierfür »wirkungsvollste (...) Maßnahme« bezeichnet hat. 17 Wesentlich stärker als Zeeden interpretieren Reinhard und Schilling, vor dem Hintergrund einer sich außenpolitisch zwischen 1580 und 1620 abzeichnenden »konfessionellen Konfrontation« 18 bzw. »Totalkonfrontation von Weltanschauungsystemen« 19 , die innere Staatsbildung als den entscheidenen Faktor für die Art und den Verlauf der Konfessionalisierung. In allen Konfessionskirchen habe der frühmoderne Staat die »Führungsrolle« übernommen 20 , während kircheneigene, kommunale, »republikanisch-ständische[n]« und »konstitutionelle[n]« Kräfte in der Regel an Einfluß und Geltung verloren hätten. 21 Diese Interpretation hat Heinrich R. Schmidt verschiedentlich zu relativieren versucht, vor allem mit Blick auf die lokalen Bedingungen für die Durchsetzung der neuen Bekenntnisse. Am Beispiel des einflußreichen Berner Stadtregiments hat er die Notwendigkeit relativ eigenständiger Mitarbeit von ländlichen Kirchengemeinden bzw. dörflichen Sittengerichten hervorgehoben, da nur auf diese Weise deren Rügepraxis verstanden werden könne. Ihre »aktive Mitarbeit« beurteilt er sogar »logisch als unabdingbar«. 22 Schmidts gewissermaßen ›innenpolitische‹ Perspektive auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Konfessionalisierung des Kirchenvolkes läßt sich anhand der besonderen territorialen Konstellation der Pfalz in der Frühneuzeit variieren und ergänzen. So schrieb Volker Press über die Kleinstaaten im Südwesten des Alten Reichs, insbesondere in Oberdeutschland, »daß (dort, F.K.) offenkundig zwischen der politischen Gesamtstruktur der Territorialbildung und der Stärke des gemeindlichen Wesens ein enger Zusammenhang bestand - ein schwacher Territorialstaat und eine starke Gemeinde waren sicher eine feste Relation.« 23 Für die pfälzische Region stellte er generell fest: »Die territoriale Zersplitterung des Pfälzer Raumes hat zu einer relativ großen Autonomie der dörflichen Gemeinden geführt, obgleich auch sie einem verstärkten Druck der Landesherrn ausgesetzt waren.« 24 15 Vgl. Wolfgang Reinhard: Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977), 226 - 251; ders.: Zwang zur Konfessionalisierung? , in: Zeitschrift für Historische Forschung 10, (1983), 257 - 277. Heinz Schilling: Konfessionalisierung und gesellschaftlicher Umbruch, in: S. Quandt (Hg.): Luther, die Reformation und die Deutschen, Paderborn 1982, 35 - 51; ders.: Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), 1 - 45. 16 Reinhard: Gegenreformation (wie Anm. 15), 232f. 17 Ebd. Hierzu knapp auch Schilling: Konfessionalisierung im Reich (wie Anm. 15), 30f. 18 Ebd., 19. 19 Schilling: Konfessionalisierung (wie Anm. 15), 34 und 42. 20 Ebd., 35. 21 Vgl. ebd., 33f. 22 Heinrich R. Schmidt: Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart/ Jena/ New York 1995, 59. 23 Volker Press: Kommunalismus oder Territorialismus? Bemerkungen zur Ausbildung des frühmodernen Staates in Mitteleuropa, in: H. Timmermann (Hg.): Die Bildung des frühmodernen Staates - Stände und Konfessionen, Saarbrücken 1981, 109 - 135, hier: 124. 24 Volker Press: Die Wittelsbachischen Territorien: Die pfälzischen Lande und Bayern, in: Fritz Blaich u.a. (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, 552 - 575, hier: 571. Frank Konersmann 606 Demnach ist für die Pfalz aus territorialpolitischen Gründen hypothetisch von einer gewissen Mitarbeit der Kirchengemeinden im landesherrlichen Kirchenregiment auszugehen, die auch in der Kirchenvisitationspraxis nachweisbar sein müßte. Diese Hypothese soll im folgenden am Beispiel des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken aufgegriffen werden. An ausgewählten Visitationsprotokollen wird nach der Stellung, den Funktionen und dem Handlungsspielraum von Kirchengemeinden und lokalen Amtsträgern im Kirchenregiment der Herzöge während verschiedener Phasen protestantischer Konfessionalisierung zu fragen sein. Für die Interpretation der Befunde kann nur auf einige wenige Studien von Paul Münch 25 , David W. Sabean 26 , James M. Kittelson 27 und Heinrich R. Schmidt 28 zurückgegriffen werden, zumal Untersuchungen über die Kirchenvisitationspraxis von protestantischen Landeskirchen in der Frühneuzeit auffallend rar sind, wie Peter Thaddäus Lang kürzlich noch einmal hervorgehoben hat. 29 II. Protestantische Kirchenvisitationen und Kirchenzucht von Presbyterien Die zunächst nur unterstellte Zusammenarbeit zwischen fürstlichem Kirchenregiment und Kirchengemeinden evoziert Fragen nach den diese Zusammenarbeit ermöglichenden Kommunikationsformen und diese gewährleistenden Institutionen. Zu einem der wesentlichen Kommunikationsmittel können die Kirchenvisitationen gezählt werden, die in der Forschung zumeist nur als rein obrigkeitliches und landeskirchliches Kontrollmittel verstanden worden sind. Maßgebend für diese Einschätzung waren z.T. die eher selten durchgeführten Visitationen der Alten Kirche im Mittelalter, die von hohen geistlichen Würdenträgern wie Äbten und Bischöfen durchgeführt worden waren. 30 Die von ihnen geleiteten Visitationen galten darüber hinaus vom Mittelalter bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts »in erster Linie dem Klerus«, weit weniger den Laien. 31 Daß aber mit dem Aufbau protestantischer Landeskirchen neue Formen an Kirchenvi- 25 Paul Münch: Kirchenzucht und Nachbarschaft. Zur sozialen Problematik des calvinistischen Seniorats um 1600, in: Zeeden/ Lang: Kirche und Visitation (wie Anm. 7), 216 - 248. 26 David W. Sabean: Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Frankfurt/ M. 1986. 27 James M. Kittelson: Successes and Failures in the German Reformation: The Report from Strasbourg, in: Archiv für Reformationsgeschichte 73 (1982), 153 - 175. 28 Zahlreiche seiner früher andernorts publizierten Befunde sind in Schmidts Habilitationsschrift eingegangen (wie Anm. 22); zwei neue, für die an dieser Stelle erörterte Thematik besonders erwähnenswerte Beiträge sind mittlerweile erschienen: Heinrich R. Schmidt: Gemeinde und Sittenzucht im protestantischen Europa der Frühen Neuzeit, in: Peter Blickle (Hg.): Theorien kommunaler Ordnung, München 1996, 181 - 214, und ders.: Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: HZ 265 (1997), 639 - 682. 29 Lang schreibt: »Diese Impulse für die deutsche Visitationsforschung bezogen sich somit ausschließlich auf den Bereich der katholischen Kirchengeschichte. Der Funke auf die protestantische Kirchengeschichte wollte bisher noch nicht überspringen (...)« Lang: Erforschung (wie Anm. 4), 190. 30 Vgl. Peter Thaddäus Lang: Würfel, Wein und Wettersegen. Klerus und Gläubige im Bistum Eistätt am Vorabend der Reformation, in: Volker Press/ Dieter Stievermann (Hg.): Martin Luther. Probleme seiner Zeit, Stuttgart 1986, 219 - 243, hier: 220f., Schnabel-Schüle: Kirchenleitung (wie Anm. 2), 19f. 31 Schnabel-Schüle: Kirchenleitung (wie Anm. 2), 30f. Erst durch das häufigere Auftreten von Jesuiten zu Beginn des 17. Jahrhunderts änderte sich diese herkömmliche Visitationspraxis auch in der katholischen Kirche, vgl. ebd., 31. Diese Beobachtung entspricht dem derzeitigen Forschungsstand, den Heinrich R. Schmidt referiert, in: Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert, München 1992, 69, 76. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 607 sitationen ausgebildet wurden, ist bisher nur von Paul Münch 32 und Helga Schnabel- Schüle thematisiert worden. In ihrem Forschungsüberblick von 1987 stellte Schnabel- Schüle fest: »Die nachreformatorischen Visitationen protestantischer Prägung stellen einen neuen Typ von Visitationen dar, die sich von dem überlieferten vor allem durch folgende Punkte unterscheiden: Keine Konzentration auf den Klerus, viel weniger häufig Mittelpunktsvisitationen, enge Verknüpfung von geistlichen und weltlichen Untersuchungsgegenständen, zentrale Stellung der Gemeinde in der Visitation.« 33 Zum einen sei dieser neue Visitationstypus von protestantischen Obrigkeiten »fortan als Bestandteil der Landeshoheit angesehen« worden, infolgedessen auch wesentlich mehr »Polizeiangelegenheiten« in den Blick der Visitatoren gerückt seien. Zum anderen hätten sich protestantische Visitatoren nunmehr jeder einzelnen Kirchengemeinde gewidmet, so daß die lokalen Verhältnisse, nicht zuletzt auch die Beziehungen zwischen Geistlichen und Pfarrvolk, besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten. Diese neue Form der Kirchenaufsicht bot lokalen Kräften verschiedene Möglichkeiten, die Visitatoren für ihre Belange in Anspruch zu nehmen, wie das sowohl David W. Sabean an Visitationen in Württemberg als auch Rudolf Schlögl an solchen in der Grafschaft Mansfeld für das 16. Jahrhundert gezeigt haben. 34 In beiden Regionen nutzten Gemeindevertreter die Kirchenvisitationen lutherischer Landeskirchen, um mißliebige Gemeinsleute, die fortgesetzt den Frieden im Dorf störten, sich des Abendmahls enthielten und im Streit mit dem Ehepartner lebten, den Visitatoren anzuzeigen. Nach Sabean beurteilten Dorfgemeinschaften im 16. Jahrhundert grundlegende Konflikte wegen Haß und Neid, aber auch infolge Trunkenheit und Gotteslästerung als eine unmittelbare »physische Bedrohung« ihrer selbst. 35 Er konstatiert: »Die Gefahren, die ein Dorfbewohner sah, drohten ihm von seinen Dorfgenossen, seinen Nachbarn, seiner Familie. Er war von den anderen weder getrennt noch trennbar. Seine Einheit war Teil der Einheit anderer Gegebenheiten - der Familie, der Nachbarschaft, des Dorfes.« 36 Die Kirchengemeinden im Herzogtum Württemberg und in der Grafschaft Mansfeld verfügten nicht über die gleichen kommunal-kirchlichen Gremien zur Regulierung lokaler Konflikte und zur Nutzung landeskirchlicher Visitationskommissionen für ihre Belange. Zwar wurde in Württemberg 1553/ 54 die Einführung »gemeindeeigene(r) Kirchenzucht« verschiedentlich gefordert. Martin Brecht zufolge kam es aber auf Intervention von Johannes Brenz, dem Propst der Stuttgarter Stiftskirche und »damit (...) erste(n) Geistliche(n) des Herzogtums« Württemberg 37 , nicht zur Verwirklichung dieser Pläne. 38 Selbst den Pfarrern wurde das »Abmahnungsrecht vom Abendmahl«, der sogenannte kleine Bann, abgenommen, so daß die Kirchengemeinden in besonderem Maße auf die Unterstützung der Visitatoren angewiesen waren, um ihre Interessen an 32 Vgl. Paul Münch: Zucht und Ordnung. Reformierte Kirchenverfassungen im 16. und 17. Jahrhundert (Nassau-Dillenburg, Kurpfalz, Hessen-Kassel), Stuttgart 1978, 156 - 159. 33 Schnabel-Schüle: Kirchenleitung (wie Anm. 2), 32f. 34 Vgl. Sabean: Schwert (wie Anm. 26), 51 - 76; Rudolf Schlögl: Dörfliche Kommunikation und Visitation. Beobachtungen zur Abgrenzung privater und öffentlicher Handlungsräume. Unveröffentlichtes Typoskript eines Vortrages, den Schlögl auf einer Tagung des ›Arbeitskreises für Agrargeschichte‹ am 18.6.1997 im Max-Planck-Institut in Göttingen gehalten hat. Für die Einblicknahme in seinen Vortrag habe ich Herrn Schlögl zu danken. 35 Ebd., 74. 36 Ebd. 37 Martin Brecht: Artikel: Johannes Brenz, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 7, 1981, 170 - 181, hier: 172. Frank Konersmann 608 kirchlicher Sozialregulierung zur Geltung zu bringen. In der Grafschaft Mansfeld war seit 1554 Erasmus Sarcerius als Generalsuperintendent tätig. Er war ein Verfechter gnesiolutheranischer Theologie, die für eine konsequente Handhabung der Kirchenzucht unter der Leitung Geistlicher eintrat. 39 Gleich zu Beginn seines Amtseintritts hatte Sarcerius eine Visitationsordnung für die Grafschaft verfaßt, nach der »vier sennschepfen in einer jeden gemeine verordne(t)« werden sollten. 40 Ihre Aufgabe bestand darin, das »ganze jar über neben ihren pastor, auf alle schand, laster und untugend, mit vleiß und ernst (zu) sehen (...), die leut davon abhalten, und auf das sie in der volgenten visitation oder sonst in der obrigkeit ruge und für einem consistorio unverschwiegen bleiben.« 41 Mit dieser Verordnung hatte der Generalsuperintendent der Form nach das altkirchliche Institut der Sendgerichtsbarkeit revitalisiert, dessen Tätigkeit hauptsächlich in einer Art kirchlicher Strafgerichtsbarkeit bestanden hatte. Entscheidungen trafen dort allein Erzpriester oder Archidiakone, während den Sendschöffen lediglich die Aufgabe der Denunziation zukam. 42 Inwiefern dieses mittelalterliche Gremium der Sendschöffen mit dem durch die Reformation eingeführten, in der Kirchengemeinde verankerten Typ des Presbyteriums gleichgesetzt werden kann, wie er in den calvinistischen und reformierten Kirchen zur Geltung kam, ist eine offene Frage der Kirchenzuchtforschung. 43 Hervorzuheben ist aber grundsätzlich, daß Presbyterien, denen das Schlüsselamt übertragen wurde, auch seelsorgerliche Funktionen neben denen kirchlicher Rüge zukamen, was sie deutlich von Sendgerichten unterschied. 44 Eine derartige Form presbyterialer Kirchenzucht entfaltete sich nach und nach in der Kurpfalz und auch im Herzogtum Pfalz-Zweibrüken im Zeitraum zwischen dem frühen 16. und dem frühen 17. Jahrhundert. Eine der seelsorgerlichen Aufgaben von Presbytern bestand in der Aufsicht auf Einhaltung des Dekalogs, regelmäßige Teilnahme am Katechismusunterricht und am Abendmahl, bei letzterem insbesondere auf Sündenbewußtsein, Reumütigkeit und Gnadenverlangen der Teilnehmenden, sowie auf Sonntagsheiligung und anderes mehr, mit anderen Worten: Presbyterien dürften eine nicht unwesentliche Rolle für die Beförderung eines protestantischen Selbstverständnisses vor Ort bei den Gemeindemitgliedern in den Phasen der Konfessionsbildung und Konfessionalisierung gespielt haben. 45 38 Vgl. Martin Brecht: Kirchenordnung und Kirchenzucht in Württemberg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Stuttgart 1967, 39 - 50. Brecht schreibt: »Die Gemeinde aber war nur noch Zeuge des Banns, in keiner Weise jedoch mehr an seiner Übung beteiligt, nicht einmal in der Person des Pfarrers.« Ebd., 41f. Daß sich an dieser Konstellation auch im Zuge der Einrichtung der Kirchenkonvente nichts änderte, wird aus der neuen Darstellung von Helga Schnabel-Schüle deutlich: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Würtemberg, Köln/ Weimar/ Wien 1997, 46 - 51. 39 vgl. Bernard Lohse: Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Luther bis zum Konkordienbuch, in: Carl Andresen (Hg.): Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 2, Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität, Göttingen 1980, 1 - 164, insbesondere seine Ausführungen zum interimistischen Streit, 108 - 113 und zum antinomistischen Streit, 117 - 121. 40 Zitiert nach dem Typoskript Schlögls: Dörfliche Kommunikation (wie Anm. 34), 8. 41 Ebd. 42 Ich verweise auf den informativen Wörterbuchartikel von H. Flatten: Send, in: Lexikon für Theologie und Kirche 9 (1964), Sp. 658 - 661. 43 Dieses Desiderat benennt Heinz Schilling in dem neuen einschlägigen Forschungsbericht: Die Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Europa in interkonfessionell vergleichender und interdisziplinärer Perspektive - eine Zwischenbilanz, in: ders. (Hg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994, 11 - 40, hier: 35f. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 609 Für die nähere Bestimmung der Aufgaben dieser Gemeindevertreter gilt es, Fragen nachzugehen, die etwa die Art und Weise ihrer Amtseinführung und den von ihnen zu leistenden Eid betreffen. Auf letzteren Aspekt verweist Rudolf Schlögl, ohne allerdings zu fragen, auf was und wen Sendschöffen in der Grafschaft Mansfeld einen Eid leisten sollten. 46 Hinsichtlich der Bestellung der Presbyter hat Heinrich R. Schmidt kürzlich ein zweistufiges Verfahren im Kirchenregiment von Fürsten und Stadtmagistraten im protestantischen Teil Europas nachweisen können, nämlich zuerst Ernennung aller Mitglieder des ersten Presbyteriums durch weltliche Amtsträger, sodann Kooptation der ihnen nachfolgenden Presbyter durch Presbyterium oder Gemeinde, sobald ein Mitglied ausgeschieden war. 47 Die besondere Rolle von Kirchenvisitationen für die Durchsetzung der Kirchenzucht vor Ort haben Martin Brecht und David W. Sabean für Württemberg sowie Rudolf Schlögl für die Grafschaft Mansfeld hervorgehoben. Sabean schreibt in Anlehnung an Brechts Forschungen: »Die wichtigste Institution zur Durchsetzung der Kirchenzucht war die Kirchenvisitation durch den Spezialsuperintendenten.« 48 Den genannten Autoren zufolge dominierten im Fall lutherischer Landeskirchen ganz offensichtlich hochrangige Geistliche die Handhabung der Kirchenzucht. Inwiefern dieser Befund auf deutsch-reformierte Landeskirchen übertragen werden kann, ist eine weitgehend offene Frage, die Ulrich Pfister kürzlich mit Blick auf die kirchlichen Verhältnisse in Graubünden positiv beantwortet hat. 49 Diese Frage soll im folgenden am Beispiel des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken aufgegriffen werden. 44 Dieser Aspekt ist ebenfalls ein Desiderat der Kirchenzuchtforschung, auf das Martin Brecht kürzlich wieder aufmerksam gemacht hat, in: Protestantische Kirchenzucht zwischen Kirche und Staat. Bemerkungen zur Forschungssituation, in: Schilling: Kirchenzucht (wie Anm. 43), 41 - 48, hier 46. Ein erster Versuch, systematisch verschiedene Kirchenzuchtformen zu erschließen, habe ich in einem Vortrag unternommen, den ich auf einer internationalen Tagung zur ›Geschichte der sozialen Kontrolle‹ in der Villa Vigoni am 26.10.1997 gehalten habe mit dem Titel: »Das Schlüsselamt presbyterialer Kirchenzucht aus zivilisationsgeschichtlicher Perspektive. Kirchenzucht pfälzischer und provenzalischer Presbyterien zwischen 1580 und 1780.« Der Beitrag erscheint demnächst in einem von Heinz Schilling herauszugebenen Sammelband. Der theologische Begriff des Schlüsselamtes bezieht sich auf die Perikope des Matthäus-Evangeliums 16, 17 - 19. Unterschieden wird der Bindevon dem Löseschlüssel; ersterer meint das Mahnen, Drohen, Strafen und Warnen vor Gottes Zorn, womit verschiedene Kirchenzuchtgrade verbunden sind. Letzterer setzt Sündenbewußtsein, Reue und Glaube an Gottes Gnade voraus, infolgedessen der Sünder von der Kirche wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen wird. Das protestantische Verständnis dieses Amtes unterscheidet sich von dem der mittelalterlichen, aber auch von dem der tridentischen Kirche vor allem dadurch, daß die Lehre von der Genugtuung und Sühne durch gute Werke abgelehnt wird. Das protestantische Amtsverständnis hat Martin Luther ausführlich und prägnant charakterisiert, in: Von den Schlüsseln, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1909, ND Graz 1964 (=WA), WA 30,II, 435 - 464. 45 Ich verweise auf die »Qualifikationskriterien eines guten Presbyters«, die Paul Münch auf der Grundlage des Traktats ›Von der Christlichen Disziplin‹ des in der Hohen Schule zu Herborn in der Grafschaft Nassau-Dillenburg lehrenden Wilhelm Zepper vorgestellt hat; vgl. Münch: Kirchenzucht (wie Anm. 25), 227. 46 Schlögl: Dörfliche Kommunikation (wie Anm. 34), 8. 47 Schmidt: Gemeinde (wie Anm. 28), besonders 187 - 195. 48 Sabean: Schwert (wie Anm. 26), 53; Brecht: Kirchenordnung (wie Anm. 38), 35ff. Schlögl stellt über die Generalsuperintendenten in der Grafschaft Mansfeld fest: »Sarcerius und sein von 1560 bis 1590 in der Grafschaft Mansfeld amtierender Nachfolger Hieronymus Menzel unternahmen auf ihren häufigen Visitationsreisen unermüdlich Anstrengungen, den gedruckten Buchstaben in eine lebendige Form der Kirchenzucht umzusetzen.« Vgl. Schlögl: Dörfliche Kommunikation (wie Anm. 34), 9. 49 Ulrich Pfister: Reformierte Sittenzucht zwischen kommunaler und territorialer Organisation: Graubünden, 16. - 18. Jahrhundert, in: Archiv für Reformationsgeschichte 87 (1996), 287 - 333. Frank Konersmann 610 Gleichwohl legen einige Beobachtungen Paul Münchs die Vermutung nahe, daß Kirchenvisitationen in diesen Landeskirchen nicht ohne aktive Mitarbeit presbyterial-synodaler Kräfte vollzogen wurden und sich insofern von denen lutherischen Zuschnitts unterschieden haben dürften. In seiner Untersuchung über die deutsch-reformierten Kirchenverfassungen der Kurpfalz, von Hessen-Kassel und Nassau-Dillenburg hat Münch ein zweibzw. sogar ein »dreiteiliges System von Visitationen« ermittelt, nämlich General-, Spezial- und Hausvisitationen 50 , die in dieser Vielseitigkeit weder in lutherischen noch in katholischen Konfessionskirchen durchgeführt wurden. 51 Hausvistationen, an denen Presbyter maßgeblich beteiligt waren, hat er nur in Nassau-Dillenburg nachweisen können. 52 Auch für das Herzogtum Pfalz-Zweibrüken sind Hausvisitationen mit Beteiligung von Presbytern ermittelt worden; dies allerdings erst nach dem Erlaß der Hausvisitationsordnung im Jahre 1668. 53 Diese Form der Visitation kann im folgenden Abschnitt aber nicht weiter berücksichtigt werden, da von ihrem Vollzug keine unmittelbaren Quellen überliefert sind. Im Vordergrund stehen vielmehr General- und Spezialvisitationen, von denen letztere das Gros der durchgeführten Kirchenvisitationen bildeten. III. Kirchenzucht und Denunziation anläßlich von Kirchenvisitationen III.1. Institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken Für die politischen, kirchlichen und sozialen Verhältnisse in diesem südwestdeutschen Kleinstaat ist es bezeichnend, daß die dort recht früh sich ausbildende protestantische Kirche bis Mitte der 1540er Jahre von einem »Dualismus« gekennzeichnet war, der Johann Friedrich Gerhard Goeters zufolge »in einer unabhängigen kirchlichen Initiative einerseits und einem obrigkeitlichen Akt andererseits« bestanden habe. 54 Dieser Dualismus zeigte sich sowohl an den ersten Initiativen zur Durchführung von Kirchenvisitationen als auch bei der Einführung des Presbyterialsystems in den 1530er Jahren. Zeitlich nahezu parallel wurden nämlich zum einen seit 1537 von der reformatorisch gesonnenen Pfarrerschaft Konvente und Synoden abgehalten und zum anderen spätestens seit 1539 von der herzoglichen Regierung Kirchenvisitationen vorgenommen. 55 50 Münch: Zucht und Ordnung (wie Anm. 32), 157. 51 Allerdings berichtet Peter Thaddäus Lang von einem »mehrgliedrige(n) Visitationssytem« in den katholischen Territorien »seit dem frühen 17. Jahrhundert.« Gemeint sind damit Kloster-, Dekanal- und Generalvisitationen, die von hochrangigen Geistlichen geleitet wurden. Vgl. Lang: Erforschung (wie Anm. 4), 193. 52 Münch: Zucht und Ordnung (wie Anm. 32), 158. 53 Vgl. Frank Konersmann: Presbyteriale Kirchenzucht unter landesherrlichem Regiment. Pfalz-Zweibrücken im 17. und 18. Jahrhundert, in: Stefan Brakensiek/ Axel Flügel/ Werner Freitag/ Robert v. Friedeburg (Hg.): Kultur und Staat in der Provinz. Perspektiven und Erträge der Regionalgeschichte, Bielefeld 1992, 315 - 349, hier: 324. Welchen Stellenwert Hausvisitationen für die presbyteriale Kirchenzucht einnahmen, habe ich in meiner Dissertation quantitativ und qualitativ zu bestimmen versucht: Frank Konersmann: Kirchenregiment und Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Kleinstaat. Studien zu den herrschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des Kirchenregiments der Herzöge von Pfalz-Zweibrücken 1410 - 1793, (pfälzische Version) Speyer 1996, (rheinische Version) Köln 1996, 294f. 54 Johann Friedrich Goeters: Die Reformation in Pfalz-Zweibrücken und die Entstehung der evangelischen Landeskirche, in: Hans-Walter Hermann (Hg.): Die alte Diözese Metz, Saarbrücken 1993, 191 - 206, hier: 202. 55 Vgl. ebd., S. 204; Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 180, 411. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 611 Die Einsetzung der ersten Presbyterien erfolgte von 1539 an auf Initiative oberdeutscher Geistlicher und Schulmeister mit Zustimmung der jeweiligen Stadträte. Der Aufbau eines Presbyterialsystems fand auch die Unterstützung des Fürsten. 56 Die im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken relativ häufig durchgeführten Kirchenvisitationen wurden von der jungen protestantischen Landeskirche zum systematischen Ausbau des Presbyterialsystems genutzt, »wobei für die Auswahl der Presbyter neben dem Urteil der Gemeindemitglieder das der Amtleute eine wichtige Rolle spielte.« 57 Bei der Einführung des ersten Presbyteriums in der Residenzstadt Zweibrücken 1539 war die Kirchengemeinde maßgeblich beteiligt. Über diesen Vorgang berichtet der Superintendent Johannes Schwebel, daß alle Bürger (...) sechs Cenßores under ihnen selbs erwehlet hätten. 58 Dieser Beschluß wurde noch im gleichen Jahr von der ersten Landessynode bestätigt. Er fand dann unter dem lutherischen Kirchenregiment Herzog Wolfgangs (1544 - 1569) unverändert Eingang in die Kirchenordnung von 1557, womit das Presbyterialsystem als ein »Kirchenverfassungselement im landesherrlichen Kirchenregiment des Herzogtums anerkannt wurde.« 59 Deutliche Veränderungen in der Bestellung und Besetzung der Presbyterien sind formalrechtlich erst infolge der Ältestenordnung von 1633 während der Phase reformierter Konfessionalisierung (1584 - 1681) festzustellen. 60 Nunmehr wurden die Presbyter durch die bestellete(n) Kirchendiener mit und neben dem ordentlichen Consistorio und Presbyterio (...) erkieset und gezogen. 61 Damit war die »Kirchengemeinde (...) nur noch über die Presbyter als kirchlichen Gemeindevertretern an der Presbyterwahl beteiligt.« 62 Mit dieser Kirchenordnung erfuhr das Presbyteramt gleichwohl aber eine theologische Aufwertung, da seitdem den Amtsträgern mit ihrer Vereidigung offiziell das Schlüsselamt übertragen wurde. 63 Im Rahmen 56 Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 203f. 57 Ebd., 204. 58 Johannes Schwebel: Von der Kirchendisciplin, in: Aller Teutschen Buecher und Schrifften/ des Gottseligen Lehrers/ Herrn Johannis Schwebelli, 2. Teil, Zweybruck 1598, 379 - 384, 381. Im folgenden zitiert: ZO 1539. 59 Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 211. In der Kirchenordnung von 1557 (=KO 1557) heißt es: Anfengklich sollen in allen unnd jeden Stedten und Duerffern/ sechs oder auffs wenigste fuenff erbarer Maenner/ wie vor dißer zeit geschehen/ durch die gemein erwehlet und geordnet/ (...). Kirchenordnung Herzog Wolfgangs. Zitiert nach dem in der Bibliotheca Bipontina in Zweibrücken befindlichen Exemplar T 77 B, fol. LXIII. 60 Die Ältestenordnung von 1633 (=ELO 1633) findet sich im Landesarchiv Speyer (=LA Sp) Best. B 2 Nr. 2366. 61 Ebd., 6. 62 Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 216. Ich verweise auf die sehr zurückhaltende Interpretation des in der Ältestenordnung beschriebenen Wahlverfahrens durch Walther Koch: Die Entwicklung des Presbyteramtes und der Kirchenzucht im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken von der Reformation bis zum 19. Jahrhundert, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 30 (1963), 40-66, hier: 49. Diese Stelle interpretiert Heinrich R. Schmidt so, daß hier nicht nur eine Kooptation, sondern sogar »eine Gemeindewahl« gemeint sein könnte, was ich bezweifle in Anbetracht der genannten Veränderungen der Bestimmungen in den Kirchenordnungen; vgl. Schmidt: Gemeinde (wie Anm. 28), 86 Anm. 86. 63 In der erwähnten Ältestenordnung heißt es im 1. Kapitel: Ist also hieraus leichtlich zu verstehen und zu wissen/ was durch den Eltisten Rath oder Presbyterium in der Kirchen verstanden werde: Nemblich/ daß neben den Kirchendienern und Lehrern jedes Orts/ etliche gewisse Gottselige und ehrbare tauglich Personen/ auff vorgehende anruffung Gottes erwehlet und bestettiget werden/ welche neben gedachten Lehrern an statt der ganzen Gemeinde zu gewissen zeiten zusammen kommen/ und was sich in Lehr und Leben fuer maengel und aergernues in der Gemeine zutragen/ abzuschaffen und zu verbessern/ mit einander berathschlagen/ auch nach dem Wort und Befelch Gottes das Ampt der Schluessel/ durch bruederliche Vermahnungen/ scharffe Erinnerung/ und auff den letzten nothfall/ durch den gebottenen Kirchenbann/ uben und gebrauchen. ELO 1633, 3. Frank Konersmann 612 der Aufsicht über Einübung und Einhaltung protestantischer Bußzucht bei dem einfachen Kirchenvolk waren Presbyter nunmehr den Pfarrern gleichgestellt und sollten an der Handhabung jedes Grades kirchlicher Rüge beteiligt sein. Während sie im Zeitraum zwischen der Einsetzung des ersten Presbyteriums im Jahre 1539 und dem Erlaß der Ältestenordnung 1633 mit dem Pfarrer zusammen nur die ersten drei Grade der Kirchenzucht ausüben durften, nämlich Ermahnung im Privatgespräch, sodann Rüge durch das gesamte Prebyterium bis hin zum Ausschluß vom Abendmahl, waren sie seit 1633 auch an Entscheidungen beteiligt, die die Verhängung der öffentlichen Kirchenbuße und die Androhung der Exkommunikation zur Folge hatten. 64 Für die Beurteilung der Rolle der Presbyter im Rahmen der Kirchenzucht ist die Frage nach den Normen und Maßstäben wesentlich, auf die sie bei ihrer Amtseinführung verpflichtet wurden, um anhand ihrer Amtspraxis anläßlich von Kirchenvisitationen beurteilen zu können, inwiefern sie sich an spezifisch protestantischen Bußzuchtvorstellungen orientierten oder ›nur‹ an der Durchsetzung allgemein christlicher Normen im Sinne des Dekalogs beteiligt waren, wie das beispielsweise Heinrich R. Schmidt im Fall dörflicher Chorgerichte im Berner Stadtregiment festgestellt hat. 65 In der Zuchtordnung von 1539 wird nur indirekt auf die Aufforderung Jesus Christus zur brüderlichen Zurechtweisung in der Gemeinde in Matth. 18, 15 - 18 Bezug genommen 66 , die den gewählten Zensoren als Richtmaß dienen sollte. In der Kirchenordnung von 1557 wird auf Luk. 10,16 verwiesen, wo Jesus sich mit den von ihm ausgesandten 72 Jüngern solidarisiert. 67 Schließlich wird in der Ältestenordnung von 1633 auf verschiedene Perikopen rekurriert, vor allem aber auf Matth. 18, 15 - 18 und 1. Petr 1. In letzterer wird auf die Zeugenschaft der Ältesten vom Leid Christi abgehoben. 68 Inwiefern diese auf Worte von Jesus Christus zurückgeführten Normen und Verhaltensrichtlinien für die Ältesten bzw. Presbyter auch im Kontext von Kirchenvisitationen relevant blieben, wird später an der Kirchenvisitationspraxis zu erörtern sein. In den aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert überlieferten verschiedenartigen Kirchenordnungen, in denen die Interrogatorien für die Visitatoren enthalten sind, finden die Presbyterien in unterschiedlichem Maß Beachtung. In der Kirchenordnung von 1557 wird nur sehr allgemein auf Gemeindemitglieder Bezug genommen, die neben den Pastores und Diaconi von den Visitatoren befragt werden sollten, nämlich erforderte[n] perßonen/ auß dem volck. 69 Diese Kirchenordnung enthält ein Interrogatorium von zwanzig Fragen, die den Zustand der Kirchengebäude und der Schule, Fälle von Ehebruch, Unzucht, Zauberei und Wucher sowie Wallfahrten, Verweigerung des Abendmahls und falsche Lere und Secten betreffen. Dieser Fragekatalog wurde in den folgenden Kirchenordnungen differenziert und erweitert. Während die Superintendentenordnungen von 1561 und 1565 nur Fragen an Geistliche aufweisen 70 , enthält die General- 64 Vgl. Frank Konersmann: Presbyteriale und konsistoriale Kirchenzucht in der reformierten Kirche Pfalz- Zweibrückens von 1681 bis 1798, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 61 (1994), 5 - 43, hier: 16f. 65 Schmidt: Dorf (wie Anm. 22), 168 - 171, 351 - 353. 66 In der Zuchtordnung heißt es: Dieweil unser Herr Christus Form gestellt hat/ wie ein Christ den andern vermahnen/ und warnen soll, vom aerggerlichen Leben abzustehen/ und aber vil sich beschwerren andere zu warnen/ weil wenig sind/ die Bruederliche fuer gut auffnehmen/ so haben wir den Brauch der alten Kirchen fuer die hand genommen/ (...) . In: ZO 1539, 381. 67 KO 1557 fol. LXIIII. 68 ELO 1633, 1. Kap., 2f. 69 KO 1557 fol. LXVIII. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 613 superintendentenordnung von 1575 ein sehr detailliertes Interrogatorium für jede befragte Gruppe. 71 Es werden dort u.a. neben Zensoren, Geschworenen - worunter wahrscheinlich Gerichtsschöffen zu verstehen sind - Ratsdiener und Magistrate genannt. Die Zensoren oder Presbyter betreffend heißt es: Item Ir sollet auch die Cenßores nach Verhör und eingenommener erkundigung Ihres Wandels und gehaltener Cenßur fleißig verzaichnen. Die Gemeinde wurde ermahnt, das Ältestenamt in ehren zu hallten (...) bey straf und Ungnade Gottes und Unser zu gehorsam. 72 Das kurz nach dem Wechsel Herzog Johanns I. zur reformierten Konfession entworfene Interrogatorium von 1585 ist zwar insgesamt stärker auf die Kontrolle der Pfarrer und Schulmeister zugeschnitten 73 , aber die die Zensoren betreffenden vier Fragenkomplexe gelten im wesentlichen ihrer Person, der Dauer ihrer Amtstätigkeit und ihrer Rügepraxis. 74 Schließlich ist noch auf die Visitationsinstruktion für den Generalsuperintendenten Pantaleon Candidus aus dem Jahre 1605 zu verweisen, nach der auch Cenßores zu examinieren und zubefragen waren. 75 Darin wird auf die Bestimmungen des Interrogatoriums aus den Jahren 1584/ 85 als Richtmaß der Befragung aufmerksam gemacht. Als offiziell geltende Bekenntnisschrift wird mehrfach der Heidelberger Katechismus angegeben, der auf Beschluß der Generalsynode bereits 1599 im Herzogtum eingeführt worden war. 76 Daß dieser Katechismus ganz selbstverständlich als normativer Maßstab für die von den Presbytern wahrzunehmenden Kirchenzuchtaufgaben angesehen wurde, geht aus der Ältestenordnung von 1633 indirekt hervor. 77 III.2. Die Rolle von Presbyterien bei Kirchenvisitationen Erste systematische Auswertungen der überlieferten Protokolle von den Kirchenvisitationen, die zwischen 1553 und 1675 in den Oberämtern Zweibrücken und Meisenheim durchgeführt wurden, haben ergeben, daß die Presbyter nach den Pfarrern entweder die am häufigsten von den Visitatoren befragte Personengruppe stellten oder die in der Regel neben den Pfarrern die meisten konkreten Angaben über verhaltensauffällige, norm- und insbesondere konfessionswidrige Gemeindemitglieder machten. 78 Hingegen spielten weltliche Amtsträger vor Ort, wie z.B. Gerichtsschöffen, Meier, Bürgermeister und Schultheißen, nur eine untergeordnete Rolle. Bei den von den Visitatoren 70 Die Superintendentenordnung von 1561 ist enthalten in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (= BayHStA Mü) Best. K.bl. 390/ 2b, 1. Lage fol. 475 - 477; die andere Superintendentenordnung von 1565 befindet sich im Anhang zur Kirchenordnung von 1557 (wie Anm. 59). 71 Diese Verordnung ist zu finden in: BayHStA Mü Best. K.bl. Nr. 389/ 8b. 72 Ebd. 73 Interrogatoria daruff ann Jeder Pfarrer Kirchen und Schuldiener uberhendt des andern gefragt sollen werden, in: Kirchenschaffneiarchiv Zweibrücken (= KSchA ZW) Best. II Nr. 204 fol. 21 - 25 r . 74 Hinsichtlich der Rügepraxis wird gefragt: Et sic consequenter iuxta feriem reliqorum atorum ordine procreatur, tantum et nomina personarum, te quibus inquisitio facienda est, observentur? Ebd., fol. 25. 75 Die Instruktion findet sich in: KSchA ZW Best. II Nr. 201 fol. 3 - 7 hier: 4. 76 Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 255. Der entsprechende Beschluß der Generalsynode befindet sich im: LA Sp Best. B 2 Nr. 161/ 6 fol. 15. 77 Denn die Presbyter sollten unßerer wahren allein seeligmachenden Religion zugethan sein, dieselbe nach Notturfft gnugßam verstehen. ELO 1633 2., Kap. 5. 78 Ich verweise auf die von mir erstellten sechs Tätigkeitsprofile von Visitationskommissionen mit Blick auf drei verschiedene Strategien der Regulierung, nämlich erstens konfessionelle Disziplinierung, zweitens polizeiliche Disziplinierung und drittens Ehe- und Sexualdisziplinierung, in: Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 341 - 342, 349 - 350 und 367 - 368. Frank Konersmann 614 beschlossenen Maßnahmen oder gefällten Urteilen, die kirchliche Rügen bzw. Kirchenzuchtformen betrafen, spielten Presbyter neben Pfarrern, Inspektoren oder Konventen eine nicht unerhebliche, aber mit einer Ausnahme keine herausragende Rolle. Diese Ausnahme findet sich im Kontext von Strategien der Ehe- und Sexualdisziplinierung im Oberamt Zweibrücken, wobei der zweite Grad der Kirchenzucht, die Ermahnung durch das Presbyterium, insbesondere bei Unzuchtsgerüchten und Ehekonflikten auffällt. 79 Diese verstärkte presbyteriale Rügepraxis ist seit den 1580er Jahren zu beobachten, als Herzog Johann I. unverkennbar der reformierten Konfession zuneigte. 80 Möglicherweise wirkte sich dieser Konfessionswechsel in Richtung verschärfter Kirchenzucht zunächst in dem Oberamt deutlicher aus, in dem auch die Residenz lag. Ein anderer Grund für die relativ häufige Beteiligung von Presbytern bei Denunziationen sittlicher oder religiöserVergehen in den Kirchengemeinden im Unterschied zu anderen, vor allem lokalen weltlichen Amtsträgern, ergibt sich aus ihrer weitgehenden Präsenz nicht nur in Hauptkirchorten, sondern auch in Dörfern, wo nur eine Filialkirche oder Kapelle stand. Denn in der Regel wohnte in einer dörflichen Ansiedlung mindestens ein Presbyter, nicht selten werden sogar zwei in den Kirchenvisitationsprotokollen angegeben. 81 Falls die Visitatoren in einer Gemeinde keine Presbyter antrafen, wurden entweder, wie z.B. 1575 in Lambsborn empfohlene Personen, nachdem sie uf moris gebührend gelübd gethan, ad hoc eingesetzt 82 , oder aber, wie im gleichen Jahr in Mittelbexbach, die Kirchengemeinde aufgefordert, daß solche aber erwählet werden gemäß der Kirchenordnung von 1557. 83 Schließlich ist auch noch eine dritte Variante der Einsetzung von Presbytern aus dem Jahre 1591 überliefert, als die Visitatoren den Amtleuten im Oberamt Meisenheim befahlen, an jedem Ort wieder 2 Censoren einzusetzen, nachdem die anderen verstorben sind. 84 Auch wenn dieses variantenreiche Prozedere der Ergänzung von Prebyterien nicht in jedem Fall den kirchenrechtlichen Vorgaben entsprach, können diese Beispiele gleichwohl als Indiz für eine konsequente Verbreitung des Presbyterialsystems mittels Kirchenvisitationen nicht erst in der Phase reformierter Konfessionalisierung (1584 - 1681), sondern auch schon für die ihr vorhergehende Phase der lutherischen Konfessionalisierung (1555 - 1580) angesehen werden. Es ist daher zu vermuten, daß Presbyter bzw. Presbyterien neben Pfarrern auf lokaler Ebene eine stabilisierende Funktion in den verschiedenen Phasen protestantischer Konfessionalisierung im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken einnehmen sollten, indem sie im Vorfeld von Kirchenvistationen u.a. nach konfessionellen Normen sozialregulierend und gezielt disziplinierend gegen notorische Sünder vorzugehen hatten; gegebenenfalls sollten diese dann noch den Visitatoren angezeigt werden. Gegenüber den Pfarrern waren die Presbyterien nicht selten im Vorteil infolge der langjährigen Amtstätigkeit manches ihrer Mitglieder, so daß in diesem Gremium reich- 79 Ebd., 341. 80 Werner-Ulrich Deetjen: Das Ende der Entente cordiale zwischen den Bruderkirchen und Bruderdynastien Pfalz-Zweibrücken, Württemberg und Pfalz-Neuburg, in: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte 82 (1982), 38 - 217, hier: 87ff. 81 Den Verbreitungsgrad von Presbytern in den beiden Oberämtern Zweibrücken und Meisenheim im 16. und 17. Jahrhundert habe ich anhand von Karten veranschaulicht, vgl. Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 214 - 215. 82 KSchA ZW Best. VI Nr. 1164, fol. 44. 83 BayrHStA Mü Best. K.bl. Nr. 389/ 8b, fol. 32. 84 BayrHStA Mü Best. K.bl. Nr. 390/ 1e, 2. Lage, fol. 202. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 615 haltige Kenntnisse über und vertiefte Erfahrungen mit der Kirchengemeinde vorhanden waren, die den Presbyterien vor Ort eine erhebliche Bedeutung als Regelungsinstanz verleihen konnten, auf deren Mitarbeit die Pfarrer in der Regel angewiesen waren. So war mancher Presbyter in einigen Kirchengemeinden des Oberamtes Bergzabern beispielsweise, wie in Barbelrodt und in Frankweiler, schon seit 15 Jahren im Amt; dies war aber nicht die Regel, sondern eher eine Amtsdauer zwischen fünf und zehn Jahren. Welchen Einfluß Presbyter u.U. auf die Handhabung der Kirchenzucht geltend machen konnten, wird im Fall der Kirchengemeinde Bergzabern anläßlich einer Kirchenvisitation im Jahre 1584 deutlich. Auf Fragen der Visitatoren nach achristlichem oder konfessionswidrigem Verhalten in der Gemeinde antwortete Pfarrer Alexander Metz folgendermaßen: Weiß keine in Specie anzuzeigen die das Nachtmal lange Zeit nit empfangen hetten, zudem kenne er das volck nit alles, weil aber die Cenßores die leut am beßten kennen, hab er ihnen neulich angezeigt, das man visitieren werde, da sie nun Jemandt wüßten der in solch Punkt straffwürdig were, solten sie es zur visitation anzeigen. 85 Beispiele dieser Art sind aber nicht ohne weiteres auf andere Gemeinden im 16. Jahrhundert übertragbar. Denn aus den Protokollen der gleichen Kirchenvisitation wird hinsichtlich der Kirchenzucht eine Diskrepanz zwischen den kirchlichen Kompetenzen der Presbyterien und dem theologischen Amtsverständnis der Pfarrer erkennbar. Offenbar sahen sich die meisten Geistlichen allein für die Unterweisung in protestantische Bußzuchtvorstellungen zuständig, während sie die Aufgaben der Presbyter auf die Ahndung notorischer und schwerwiegender Sünden beschränken wollten. Dementsprechend unterschied beispielsweise der Pfarrer von Frankweiler zwischen der von ihm vorgenommenen Privatabsolution und der mit den Presbytern durchgeführten Zensur. 86 Mancher Pfarrer ignorierte sogar jegliche Kirchenzuchtkompetenz des Presbyteriums. So gaben die Presbyter der Kirchengemeinde Barbelrodt 1584 gegenüber den Visitatoren an, daß der Pfarrer Johannes Laymann bisher kein(e) Censur gehalten habe, obwohl diese etlich mal am Pfarrhaus gewesen, das man die Censur vornemen wolle, ßo hab er geantwort, er hab dessen kein befelch. 87 Er halte lediglich die Privat Absolution, wie er den Visitatoren gegenüber offen bekannte 88 . Er zeigte ihnen gleichwohl auch notorische Sünder an. Die Visitatoren rügten ihn aber wegen seiner Ignoranz der Kirchenzuchtkompetenzen des Presbyteriums nicht. Dieses kirchenpolitische Verhalten der Konnivenz von seiten der Visitatoren gegenüber manchem Pfarrer ist vielleicht als Ausdruck ihrer Unsicherheit angesichts des sich beim Landesherrn in den frühen 1580er Jahren abzeichnenden Konfessionswechsels zu verstehen. Immerhin unterwiesen die Visitatoren im Zuge der genannten Kirchenvisitation zwei erst kürzlich als Presbyter gewählte Gemeindemitglieder in ihr Amt, womit sie formal die Bedeutung der Presbyter für die Aufrechterhaltung protestantistischer Bußzuchtvorstellungen unterstrichen: Ißt ihnen gesagt worden, was ihr Ambt ßei, und wie sie sich darinnen verhalten sollen, darauff ßie dann dem Oberambtman mit handgebener trew angelobt, demselben alßo nachzukommen. 89 85 LA Sp Best. X 52 Nr. 34, fol. 167f. 86 Ebd., fol. 63 r . 87 Ebd., fol. 20 r . 88 Ebd., fol. 15. 89 Ebd., fol. 23 r . Frank Konersmann 616 Ob die Presbyterien im Verlauf der Konsolidierung der reformierten Kirche mittels Kirchenvisitationen institutionell vor Ort gestärkt wurden, läßt sich anhand der überlieferten Protokolle nicht ohne weiteres beantworten, da die Visitationen in den verschiedenen Oberämtern augenscheinlich unterschiedlich vorgenommen wurden. Dies betrifft insbesondere die gezielte Befragung einzelner Presbyter, die z.B. bei der Visitation im Jahre 1605 im Oberamt Bergzabern unterlassen wurde. 90 Im Fall mancher Gemeinden, wie z.B. Bergzabern und Keffenach, werden sie in den Protokollen überhaupt nicht erwähnt, obwohl dort nach Darstellung Georg Biundos in diesem Jahr Presbyter im Amt waren 91 . In anderen Fällen, wie z.B. Hundspach, Barbelrodt, Leinsweiler und Frankweiler, werden die Presbyter namentlich genannt. Hinsichtlich der zuletzt genannten Gemeinde ist deren nach wie vor wesentliche Rolle für die Aufrechterhaltung der Kirchenzucht unübersehbar. Denn am Ende des Protokolls heißt es in einer Stellungnahme des Pfarrers Albert Conentis: In versamblter Cenßur sind verhört worden nachbenante perßonen, so zum theil zu anderen Comunion, zum theil sich weg von unßerer Kirch abßondern und sich enthalten. Sind auch von mir und der Censur freündlich und notturftiglich ausser H. schrifft underrichtett worden, wollen (sich, F.K.) aber noch von Irem irrthumb nitt abweißen lassen (...) . 92 Einen ähnlichen Eindruck vermitteln beispielsweise auch die Protokolle von der 1624 im Oberamt Zweibrücken durchgeführten Kirchenvisitation. 93 So berichtete Pfarrer Paul Kolb über die Kirchenzucht in seiner Gemeinde: Iudicium Ecclesiasticum oder Kirchen Censur pflege ich alle monatliche Bettag nach der Predigt zu Brenstelbach beneben zween gezogenen Censoren, Hannß Peter Kiefer und Peter Kleinen, beeden gemeinsmänner daselbsten, wie auch im Beyßein Peter Blumenawer deß orts Bütteln zu halten (...) . 94 Zwar erfuhren die Presbyterien mit der Ältestenordnung von 1633 eine theologische Aufwertung durch die Übertragung des Schlüsselamtes. Inwiefern sich diese aber auch in der Kirchenzuchtpraxis bemerkbar machte, ist für die folgenden 20 Jahre nicht nachweisbar, da der Dreißigjährige Krieg nunmehr auch dieses Gebiet in Mitleidenschaft zu ziehen begann. Erst im Jahre 1653 wurden wieder Kirchenvisitationen durchgeführt 95 , die aber jetzt im wesentlichen von Pfarrkonventen vorgenommen wurden unter Beteiligung der jeweiligen örtlichen Presbyterien. Immerhin ist es bemerkenswert, daß sich seit den 1630er Jahren ein Teil der Pfarrer für die gleichberechtigte Teilnahme der Presbyter an der Kirchenzucht einsetzte 96 , ein Engagement, das so deutlich nur für die Frühphase der reformatorischen Bewegung in Pfalz-Zweibrüken bekannt ist. In Anbetracht dieser Befunde ist die Frage nach den ausschlaggebenden Kräften für eine konsequente und durchsetzungsfähige Kirchenzuchtpraxis für das 16. und 17. Jahrhundert nicht generell, sondern nur für kleinere Zeiträume zu beantworten, um den Einfluß von 90 Vgl. LA Sp Best. X 52 Nr. 35. 91 Vgl. Georg Biundo: Kirchenvisitation im Oberamt Neukastel 1605, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte 11 (1935), 13 - 24, hier: Bemerkungen zu den Personalien 22ff. 92 Ebd., fol. 153. 93 Vgl. KSchA ZW Best. VI Nr. 1167. 94 Ebd., fol. 89 r . 95 Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 185f. 96 Ich verweise auf meinen Vortrag ›Reorganisation der reformierten Kirche Pfalz-Zweiweibrückens vor, während und nach dem Dreißigjährigen Krieg‹, den ich auf einer ökumenischen Tagung in der Evangelischen Akademie Enkenbach-Alsenborn am 8.1.1998 gehalten habe. Der Beitrag erscheint demnächst in einem von Bernd Hey herauszugebenen Sammelband mit dem Titel: Der westfälische Friede 1648 und der deutsche Protestantismus, Bielefeld 1998. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 617 Kirchengemeinden, Presbyterien, Pfarrern, lokalen weltlichen Amtsträgern und der Kirchenleitung historisch angemessen gewichten zu können. Von daher vermag beispielsweise Ulrich Pfisters generelle Infragestellung der aktiven Rolle von Chorgerichten in Graubünden für den Zeitraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wenig zu überzeugen. 97 Daß die Presbyterien nicht nur als Kontrollorgan der Kirchenleitung vor Ort zu verstehen sind, sondern auch von seiten der Kirchengemeinden phasenweise ein lebhaftes Interesse an dieser Art Gremium bestand, das bis 1577 über keine weltliche Strafkompetenz verfügte 98 , wird gerade anläßlich von Kirchenvisitationen erkennbar. So berichteten die Zensoren der Kirchengemeinde Pfeffelbach im Oberamt Lichtenberg den Visitatoren 1538 über die von ihnen geübte Kirchenzucht: Item die Censur werde farlessig gehalten, wellens forthermehr fleißiger thun. Der Pfarrer halte ßich mit seinem Weib und Kindern recht, aber er hab Wein (aus)geschenkt (...) . 99 Die ersten Presbyter zeigten sich also schon recht selbstbewußt im Umgang mit kirchlichen Rügeformen auch gegenüber höheren kirchlichen Amtsträgern. Diese Funktion der Kontrolle von seiten der Gemeinde war ein wesentliches Strukturelement presbyterialer Kirchenzucht im landesherrlichen Kirchenregiment Pfalz-Zweibrückens, an das die Visitatoren bei ihren Besuchen stets erinnerten. Daher bildete die Kirchenzucht der Presbyterien vor Ort und die relativ häufigen Kirchenvisitationen durch die Kirchenleitung eine ganz wesentliche Kommunikationsform, die eben auch von den Gemeindevertretern genutzt wurde. Daß nicht nur Geistliche, sondern auch höhere weltliche Amtsträger, wie z.B. Landschreiber und Amtmänner, und sogar Adelsfamilien mit gezielten Denunziationen von seiten der Presbyter rechnen mußten, sei an zwei Beispielen erläutert. In solchen Fällen machten sich die Gemeindevertreter zeittypische (konfessionelle) Feindbilder zu nutze, wie z.B. von den Täufern, die in einem auf dem Zweiten Reichstag von Speyer 1529 erlassenen Mandat auf Initiative protestantischer Reichsstände als Ketzer verurteilt worden waren und seitdem mit derTodesstrafe rechnen mußten. Demgemäß denunzierten Presbyter der Gemeinden Odernheim und Duchrodt anläßlich der Kirchenvisitation im Jahre 1553 im Oberamt Meisenheim verschiedene Höfe, deren Grundherren Adlige waren, die z.T., wie die von Waldeck, in Diensten des Herzogs von Pfalz-Zweibrücken standen. So gaben die Gemeindevertreter von Duchrodt an: In Montfort auf dem Hoff hab Simon Boß (von Waldeck) etliche leut sitzen die nit allain (...) nit in Kirch kommen sondern sonst beeden Herrschaften zu Duchrod (...) und dem Flecken nichts nutz sind. 100 Bei der Kirchenvisitation im Jahre 1575 ebenfalls im Oberamt Meisenheim zeigten die Presbyter gemeinsam mit den Gerichtsschöffen der Landstadt Moschel den Landschreiber Otto Crafter an 101 , weil er vor einem Jahr an ei- 97 Pfister: Reformierte Sittenzucht (wie Anm. 49), 292, 330. 98 Vgl. Konersmann: Presbyteriale und konsistoriale Kirchenzucht (wie Anm. 64), 16f. 99 Zitiert nach H. Fröhlich: Die Kirchenvisitationsprotokolle des Pfalz=Zweibrückischen Oberamts Lichtenberg aus den Jahren 1538, 1544 und 1553, in: Monatshefte für Rheinische Kirchengeschichte 28 (1934), 257 - 263, 321 - 362, hier: 322. 100 BayrHStA Mü Best. K.bl. Nr. 390/ 1a, 2. Lage, fol. 615. Ähnlich äußerten sich die Presbyter in Odernheim: Item uf dem Hof in Hörden seien auch ainer aigenen und sonderlich d. wiedertauffer opinionen, kommen selten zur Kirchen und haben die wiedertauffer vilmals Iren underschlauff und aufenthalt daselbst. Ebd., fol. 612. 101 Zu seiner Person einige wenige Informationen bei Ludwig Eid: Der Hof- und Staatsdienst im ehemaligen Herzogtume Pfalz-Zweibrücken von 1444 - 1604, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 21 (1897), 160. Frank Konersmann 618 nem Sonntag in volltrunkenem Zustand durch die Stadt geritten sei und einige Bürger beleidigt und gewaltsam angegriffen habe. Wie das anno 74 verschienen sonntags vor Bartholomaei Kerbweihe zu Moschel gewesen, uff welchen tag sie ein gesellen schiessen gehalten, bey welchen etliche Bürger von Kreuznach und Sobernheim geweßen so sey Otto irer Landschreiber zue Meisenheim, der zeitt zu Odernheim gewonet und bej dem Keller uf Landsberg zur Kirben geweßen, und als er widder ghen Odernheim reitten wollen sey er durch Moschel geritten, alda einen dantz gefunden den er zerstört, dem Scheffer die stock schießßen genommen, (...) und grossen Trunk angefangen und als er das Oberthor zu den Schützen kommen, hatt er sie alle miteinander schelmen gescholten und darnach davon geritten. des andern tags, do die gemeinen schützen Klaghafftung worden, hatt er sie durch den Keller daher bitten lassen, er habs auß zorn und drunckenhait gethan; do bey es auch die schützen bleyben lassen. 102 Da dieser Landschreiber in verschiedenen Prozessen auch in anderen Städten des Meisenheimer Oberamtes weniger im Sinne gerechter Rechtsfindung als vielmehr zum Vorteil seiner Einkünfte Urteile von Schultheißen abänderte, zog er den Ärger von Bürgern und Gemeinsleuten auf sich, die 1575 die Anwesenheit der herzoglichen Visitationskommission zum Anlaß nahmen, den Landschreiber mehrfach zu denunzieren. 103 An diesen Formen sozialer Kontrolle gegenüber geistlichen und weltlichen Amtsträgern ist die besonders exponierte Position von Presbyterien in den Phasen protestantischer Konfessionalisierung im 16. und 17. Jahrhundert erkennbar, die Paul Münch »als die prekärste« innerhalb deutsch-reformierter Kirchenverfassungen bezeichnet hat. 104 Denn »ihre (...) Zwischenstellung zwischen Amtskirche und Kirchenvolk - sie übten in Doppelfunktion neben ihrem weltlichen Beruf ein kirchliches Amt aus - machte sie einerseits zum idealen Bindeglied zwischen beiden Größen, ließ sie andererseits jedoch auch leicht zwischen die Fronten geraten.« 105 Von daher ergeben sich einige Fragen, die auf Schwerpunkte zwischen den verschiedenen Regelungsbereichen presbyterialer Kirchenzucht im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken abzielen; Fragen mithin, die die Gruppen betreffen, die vor allem presbyterialer Rüge ausgesetzt waren, und solche Fragen, die Rahmenbedingungen für gezielte Denunziationen gegenüber den Visitatoren zu erhellen vermögen. Den ersten systematischen Erhebungen der überlieferten Visitationsprotokolle aus den beiden Oberämtern Meisenheim und Zweibrücken ist zu entnehmen, daß Presbyter vor allem folgende Sünden bzw. Delikte den Visitatoren anzeigten: Zum einen Trunkenheit, Fluchen, Verbalinjurien und Fastnachtsbräuche 106 , zum anderen Gotteslästerung, Zaubern, Wahrsagen, Sonntagsentheiligung und ordnungswidrigen Abendmahlsbesuch 107 sowie schließlich Haushaltsführung, Desertion, Ehebruchsgerücht, Ehebruch und Unzuchtsgerücht. 108 Diese gerügten Verhaltensweisen lassen sich drei Berei- 102 BayrHStA Mü Best. K.bl. Nr. 390/ 1c, 2. Lage, fol. 642f. 103 So berichteten die Presbyter von Meisenheim: Wollfen Cloß den Ferthmann Herbst seinen laiblichen schweher wie auch schweherfrau so erbermlich zerschlagen, das das weib kennen menschen enlichen gesehen hatt, diesen hatt der Schultheiß mit dem Turm strafen wollen, aber der Landschreiber hatt sich dargegen gewert und nicht gestatten wollen, sondern Im Geld zu Frevel abgefordert. Ebd. fol. 724f. Viele haben sich über dieses Urteil geärgert, da eine Tat, die gegen Gottes Gebote ginge. Ebd., fol. 724 r . 104 Münch: Kirchenzucht (wie Anm. 25), 226. 105 Ebd. 106 Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 367 - 368. 107 Ebd., 349 - 350. 108 Ebd., 341 - 342. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 619 chen zuordnen, nämlich erstens Ordnungs- und Friedenswahrung in Dorf- und Landgemeinden 109 , zweitens Sittenkontrolle gegenüber Sexualität und Ehe, und drittens Einschränkung der sogenannten »Volksfrömmigkeit«. Die beiden zuletzt genannten Regelungsbereiche gelten als typische Objekte von Disziplinierungsstrategien der Konfessionskirchen im 16. und 17. Jahrhundert. 110 Welche Interessen und Absichten motivierten die Presbyter in ihrer Funktion als Gemeindevertreter, diese Sünden zu rügen und gegebenenfalls den Visitatoren anzuzeigen, wenn man einmal von ihren bereits genannten offziellen Kirchenzuchtaufgaben absieht? Einige Gründe für Rügen vor den Prebyterien und in der speziellen Öffentlichkeit anläßlich von Kirchenvisitationen dürfte in der Schwere der Sünde, in deren Offenkundigkeit und ihrer Dauerhaftigkeit zu suchen sein. Diese Interpretationen legen zumindest zahlreiche Fälle nahe, von denen drei aus dem Oberamt Zweibrücken vorgestellt werden sollen. So gaben die Presbyter aus Contwig den Visitatoren im Jahre 1567 Walther und Frieß ßo zu Auerbach wohnet an; sie komben nie zue Kirch sey(en) der gemein auch nichts nutz, brechen den leut die zeun, (...) were gut das Ine außgebott wuerde. 111 Durch ihr in nahezu jeder Hinsicht destruktives Verhalten hatten sich die beiden genannten Gemeinsleute offenbar derart ins Abseits der Dorfgemeinschaft begeben, daß diese ihnen nunmehr jede Unterstützung versagte und sich über die Presbyter an die Visitatoren wandte. Ein anderer, ähnlich schwerwiegender Fall in der gleichen Gemeinde, der offenbar ebenfalls die Möglichkeiten presbyterialer Verhaltenskorrektion überschritt, ist in dem Visitationsprotokoll von 1580 notiert. Dort heißt es: Philipp in der Hailbach zu Niederauerbach ist ein Weinsauffer, Spieler, hatt neulich zu Zweybrücken uff dem Rathauß 6 Gulden verspielt und hellt übel Hauß und verthue (...) sein Hab, seine Pferdt verkaufft und hab sich zum Zimmermann zu Battweiler, welcher seins gleich verdingt und lest sein weib und khindt Hunger leiden. 112 Eine Anhäufung derartiger Ordnungswidrigkeiten und die Existenz der Familien gefährdender Verhaltensweisen war weder von der Kirchenleitung noch von der Kirchengemeinde zu dulden, zumal in den späten 1570er Jahren Teuerungskrisen und Pestepidemien auch das Herzogtum heimsuchten. Insofern mußte sich die Gemeinde von dem ›üblen Haushalter‹ besonders bedroht fühlen. Inwiefern die Kirchenzucht in solch gravierenden Fällen im Vorfeld als eine spezifisch kirchliche Form sozialer Kontrolle von seiten der Presbyterien bzw. der Gemeinde genutzt wurde, wird an dem folgenden Beispiel aus einer Filialgemeinde der Hauptkirche in Winterbach im Jahre 1624 deutlich. Zu Bidershausen haben Diebold Blinden und Adam Schwarzten Hanß lange Zeit unversöhnlichen Haß ufenander getragen: welche zwar zu unterschiedlich mahlen in der Censur gestraft, und beyde Partheyen zur versöhung angemant worden: Es will aber der alte Groll nicht verlöschen. 113 Die Ermahnung durch die Presbyter diente hier ganz offensichtlich der Wiederherstellung des Friedens in der 109 Im diesem Herzogtum gab es nur sehr wenige Städte, von denen selbst die beiden Residenzstädte Meisenheim und Zweibrücken eine relativ kleine Bevölkerung von maximal 1.500 Einwohner aufwiesen. 110 Vgl. Reinhard: Zwang (wie Anm. 15), 263; Schilling: Konfessionalisierung im Reich (wie Anm. 15), 31f.; Schmidt: Konfessionalisierung (wie Anm. 31), 21ff., 42f., 53f., 94 - 106 und Peter Thaddäus Lang: »Ein grobes, unbändiges Volk.« Visitationsberichte und Volksfrömmigkeit, in: Hansgeorg Molitor (Hg.): Volksfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit, Münster 1994, 49 - 63. 111 KSchA ZW Best. VI Nr. 1164, fol. 62 r . 112 BayrHStA Mü Best. K.bl. Nr. 389/ 8c fol. 87 r f. 113 KSchA ZW Best. VI Nr. 1167, fol. 129. Frank Konersmann 620 Gemeinde, worin nach Heinrich R. Schmidt eine der wesentlichen Funktionen lokaler Kirchengremien zu sehen ist. 114 Die gelegentlich enge Verflechtung zwischen presbyterialer Rüge und visitatorischer Kontrolle wird an einem Fall von ›Segensprecherei‹ aus Bergzabern im Jahre 1584 erkennbar, ein Delikt, das in der Phase der reformierten Konfessionalisierung (1584 - 1681) verstärkt verfolgt wurde. 115 Ein Presbyter gab zu Protokoll: Rappen Ettel ein(e) Hebam geht mit segenwerk umb, und sonderlich wann ein Jemands den Ungenannt am Fing(er) hab, sprech ßie den Segen darüber, sei ihr vom Pfarrher und(er)sagt worden, hab ihr auch das Nachtmal nit wollen raichen, wo sie davon nit abgeht. 116 Die Motive für diese Denunziation liegen wahrscheinlich zum einen in der Offenkundigkeit des Falls, der schon mehrfach Gegenstand der Kirchenzucht geworden war, zum anderen sind sie wohl auch auf eine administrative Verfügung aus dem Jahre 1577 zurückzuführen, wonach alle Hebammen zu registrieren waren, um die medizinische Bedarfslage auf dem Land zu ermitteln. 117 Gleichwohl war das Segensprechen nach Ansicht Eva Labouvies »eine der verbreitetsten Formen ländlichen Heilzaubers« im saar-pfälzischen Raum im 16. und frühen 17. Jahrhundert 118 , der für die ländliche Bevölkerung infolge medizinischer Unterversorgung nach wie vor nützlich und unersetzlich gewesen sein dürfte, so daß die Denunziation des Presbyters aus der Oberamtsstadt Bergzabern entweder als Indiz für eine Form der Distanzierung von herkömmlicher Religiösität oder als Beispiel von Pflichterfüllung gegenüber der Kirchenleitung interpretiert werden könnte. Die Hypothese der Distanzierung bestimmter lokaler Gruppen von traditionellen lokalen magischen Ritualen korrespondiert mit Veränderungen in der Kontrolle zahlreicher Bräuche, die zwar zumeist von den Pfarrern ausgingen, worin sie aber immer häufiger von den Presbytern unterstützt wurden. Als ein Beleg für diese Hypothese kann die erhöhte Denunziationsbereitschaft gegenüber Fastnachtsbräuchen in den 1580er und 1590er Jahren angesehen werden 119 , was zu Konflikten mit anderen Gemeinsleuten, insbesondere mit dem Gesinde und der Jugend führte, die sich auch in den Visitationsprotokollen niederschlugen. So gab der Pfarrer Petrus Kannegießer aus der Gemeinde Braidenbach im Oberamt Zweibrücken 1567 im Einvernehmen mit dem Presbyterium den Visitatoren an, daß das Bradenhaischen (...) noch begangen (...) werde, wie wol er es gestrafft, helf nichts. Deß Meyers Frau heb zu Ime gesagt das Bradenhaischen gehe In nichts an. Ir man hebs macht zu verbieten, er sollt seiner Predigten warten. 120 Auf ähnliche Widerstände stieß der Pfarrer von Bundenbach ebenfalls im Oberamt Zweibrücken im Jahre 1580. Den Visitatoren berichtete er: Bratenhaischen wollen sie ine nit weren lassen (...) in der Fastnacht und da sie Hochzeit halten. 121 Noch 1593 konnten der Pfarrer von Lambsborn und sein Presbyterium gegenüber den Visitatoren keinen Erfolg bei der Verfolgung und Ahndung ländlicher Fastnachtsbräuche vermelden. Fast- 114 Schmidt: Dorf (wie Anm. 22), 298 - 305. 115 Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 352f. 116 LA Sp Best. X 52 Nr. 34, fol. 184 r . 117 Vgl. Vogler: Vie religieuse (wie Anm. 13), Bd. 2, 821; dazu die Anm. 37 auf 396 in Bd. 3. 118 Eva Labouvie: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16. - 19. Jahrhundert), St. Ingbert 1992, 96. 119 Frank Konersmann: Ländliche Fastnacht als Konfliktfeld. Fallbeispiel: Herzogtum Pfalz-Zweibrücken 1533 - 1680, in: Jahrbuch für Volkskunde 20 (1997), 7 - 35, hier: 17 und 21. 120 KSchA ZW Best. VI Nr. 1164, fol. 48 r . 121 BayrHStA Mü Best. K.bl. Nr. 389/ 8c, fol. 240 r . Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 621 nacht Bratenhaischen ist diß Jar geschehen, die Hirten haben oben an Vogelbach ein Zenser verkaufft und an die Pfingstmaid (...) da Peiffen sie und halten tanz und kommen auch Jungs volkh aus der Pfalz dahin. 122 An den zuletzt genannten Fällen werden Grenzen sowohl der Kirchenzuchtpraxis, ob sie nun von Pfarrern und/ oder Presbytern ausgeübt wurde, als auch der Sanktionsmöglichkeiten von Visitatoren erkennbar, die auf die Mitarbeit gerade dieser kirchlichen und kommunalen Amtsträger angewiesen waren, zumal sie - wie gesagt - von diesen auch die meisten Hinweise auf notorische Sünder erhielten. Kaum zu überwindende Schranken für Kirchenzucht und visitatorische Kontrolle zeigten sich aber nicht nur bei herkömmlichen Bräuchen, die für die Dorfgemeinschaften, insbesondere die Jugend, sozial integrativ wirkten, wie z.B. die Rituale des Bratenheischens und Lehenausrufens als Eheanbahnungsrituale in der Fastnachtszeit, sondern auch bei Versammlungen örtlicher Schützengesellschaften. Einige der aus den Visitationsprotokollen ermittelten Fälle von Sonntagsentheiligung gehen auf Versammlungen von Schützen zurück, die am Tag des Herrn ihre Schießübungen abhielten. 123 Hierüber beschwerte sich beispielsweise der Pfarrer von Bergzabern 1605 bei den Visitatoren. So fangen an Sonntag und andere Festtag die Schützen alhie ihr Schießen zur Scheiben an, ehe dann die Kind(er)lähr und Tauff in der Kirche beendet, welches sehr ärgerlich und auch schädlich ist, dan ßo baldt die Jugend solches höre, seind sie mit dem Sinn und Gedankhen draussen bej ihnen. Ja lauffen auch nacheinander hinauß. Und weil sich die Schützen uff eine Fürstl. Verordnung und befehl dießfalls beruffen, so wehr vonnöthen das ein solchs ärgerliche und gotloße ordnung geendert würdte. 124 Unübersehbar konterkarierten die Schützenversammlungen und Schießübungen nicht nur die Heiligung des Sonntags, sondern auch die Katechisation der Jugend und damit ein Basiselement protestantischer Konfessionalisierung. Augenscheinlich ließen sich die Ziele der Einübung, Durchsetzung und Aufrechterhaltung protestantischer Bußzuchtvorstellungen mittels Kirchenzucht und Kirchenvisitation im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken nur phasenweise in den Gemeinden verwirklichen, da diese Formen sozialer Kontrolle nur in Teilbereichen dörflicher bzw. ländlicher Ordnung integriert werden konnten. Zudem waren die Gemeindevertreter in den Presbyterien immer wieder dem Verdacht des Verrats und der Heuchelei ausgesetzt, ein Strukturproblem der Kirchenzucht, das auch andernorts überliefert ist. 125 Dieses Problem trat schon bei den ersten Kirchenvisitationen auf, denn die verordneten Zensoren der Gemeinde Pfeffelbach baten die Visitatoren 1544 um Amtshilfe: Begeren und bithen, daß offentlichen uf der Canzlen das Afterreden hochlich verpoten werde uf Herrn Strafe. 126 Wesentlich konkreter äußerten sich die Presbyter von Braidenbach im Jahre 1567 über Ressentiments, mit denen sie konfrontiert seien: Zeigen an das Volck tractire und speye ßie wann sie Ir ambt brauchen, haben nichts davon, biten umb verhelfung. 127 Schließlich forderten die Presbyter der Gemeinde Niederkirchen anläßlich einer Kirchenvisitation im Jahre 1590 im Oberamt Lichtenberg eine Vergütung für ihre Mühen 122 BayrHStA Mü Best. K.bl. Nr. 389/ 8c, fol. 306 r . 123 Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 378f. 124 LA Sp Best. X 52 Nr. 35, fol. 32. 125 Münch: Kirchenzucht (wie Anm. 25), 240f.; Schlögl: Dörfliche Kommunikation (wie Anm. 34), 9. 126 Zitiert nach H. Fröhlich, Kirchenvisitationsprotokolle (wie Anm. 99), 322. 127 KSchA ZW Best. VI Nr. 1164, fol. 50. Frank Konersmann 622 in Form eines Imbiß oder drei bis vier Batzen. 128 Da ohne die Censoren (...) die Leute ihre kirchliche Angaben nicht entrichteten, wie die Visitatoren in ihrem Protokoll sinngemäß notierten, gestand Herzog Johann I. schließlich den Presbytern diese Vergütung zu. 129 Schon drei Jahre später wurde dieses Strukturproblem auf der Generalsynode in Zweibrücken 1593 verhandelt. Mit Zustimmung des Herzogs sollten Presbyter zukünftig 10 Pfennig erhalten für die Denunziation von Personen, die Gottesdienste unregelmäßig oder gar nicht besuchen würden. 130 Daß diese Regelung aber nicht für andere angezeigte Ordnungswidrigkeiten oder Sünden galt, gibt die Bitte des Pfarrers von Keffenach aus dem Oberamt Bergzabern aus dem Jahre 1605 zu erkennen: Da man (...) denjenigen, welche die predig auch ir ampt hin und wider schenden, schmehen in wirtsheußern, welches (...) Censoren selten fürbringen, Inen deshalb gelt (...) zu geben. 131 Auch scheint die auf der Generalsynode 1593 getroffene Regelung nicht von langer Dauer gewesen zu sein, denn 1624 mußte Pfarrer Acontius die Visitatoren um eine finanzielle Zuwendung für die Presbyter von Breitenbach mit den Worten bitten: In (...) (dieser, F.K.) Visitation wir den H(err)n Visitatoribus in aller unterthänigkeit mit gebührlichen gehorsam fürbracht, das anderwerts die Censoren auß den Kirchengefällen, jährlichen, zu einer Ergötzlichkeit haben vier Batzen, die Ihnen der Kirchenschaffner handreicht, wie dann solches bräuchlich im Lichtenberg Ampts ist. 132 Die geringe Höhe der Vergütung für eine ganzjährige Tätigkeit als Presbyter verweist auf den symbolischen Charakter dieser Zuwendung. Dieser dürfte zum einen in der offiziellen Anerkennung dieses Dienstes bestanden haben und sollte wahrscheinlich zum anderen als eine demonstrative Geste der Unterstützung der Presbyter durch die Kirchenleitung verstanden werden. Auf den offenbar auch noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts fortbestehenden prekären Status der Presbyter in den Gemeinden wird in der Ältestenordnung von 1633 gleich im ersten Kapitel Bezug genommen mit der Drohung, weitere Verdächtigungen den Presbytern gegenüber zu bestrafen. Denn gerade beim gemeinen Mann sei (es, F.K.) nichts newes/ daß ßolches ganz veraechtlich gehalten/ und denen nach Gottes Ordnung verordneten Cenßoren und Eltisten der Kirchen spöttlich nachgeredet wird/ als ob sie nur Veraechter und Pfaffenknecht seien. Vielmehr sei ihnen das Ampt der Schluessel (...) nach dem Wort und Befelch Gottes übertragen worden. 133 IV. Protestantische Kirchenvisitation als neue Form regionaler und territorialer Öffentlichkeitsinszenierung Im Zuge der reformatorischen Bewegung wurden in zahlreichen Städten und Territorien des Alten Reichs lokale Kirchenzuchtgremien geschaffen und Kirchenvisitationen durchgeführt, die beide die Kirchengemeinde zum Hauptgegenstand ihrer Unterweisung, Belehrung und Kontrolle machten. Hierin unterschieden sich die entstehenden protestantischen Landeskirchen deutlich nicht nur von der spätmittelalterlichen, son- 128 Vgl. Daniel Hinkelmann: Eine Kirchenvisitation aus dem Jahre 1590, in: Westricher Heimatblätter NF 9 (1978), 11 - 153, hier: 146. 129 Zitiert nach Daniel Hinkelmann, ebd. 130 KSchA ZW Best. II Nr. 173, fol. 27. 131 LA Sp Best. X 52 Nr. 35, fol. 47 r . 132 KSchA ZW Best. VI Nr. 1167, fol. 26. 133 ELO 1633, 1. Kap., 3 - 4. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 623 dern auch von der nach dem Tridentinum reorganisierten und nunmehr ›katholischen‹ Konfessionskirche. Diese erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber Gemeinden von seiten der neuen Kirchen wurde nicht nur regional unterschiedlich aufgenommen, sondern war dort auch mehr oder weniger willkommen, je nach dem, wann und von wem die neue Lehre eingeführt wurde. Eine relativ hohe Bereitschaft für Kirchenreformen bestand seit dem Spätmittelalter nicht nur bei Geistlichen, sondern auch beim ›gemeinen Mann‹ in mehreren Regionen des Alten Reichs. Dieses kirchliche Interesse war zum einen Ausgangspunkt von Gemeindereformationen in den 1520er Jahren, in deren Folge massiven Forderungen der Gemeinden nach kommunalem Pfarrerwahlrecht und Predigt des ›reinen Evangeliums‹ Geltung verschafft wurde. 134 Zum anderen fanden kirchliche Reformbestrebungen von seiten Geistlicher und der Obrigkeiten daher auch Zustimmung in den Gemeinden, vor allem in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Die lokalen Regelungs- und Kontrollformen, wie sie in politisch verfaßten Gemeinden durch Dorfgerichte, Gemeindevertretungen, Vorsteher und Grundherrn im Spätmittelalter verkörpert wurden, waren durch die dauerhafte Einführung von Kirchenzuchtgremien und Kirchenvisitationen zwangsläufig Veränderungen ausgesetzt. Diese neuen Institutionen und Verfahren stellten neue Formen lokaler Öffentlichkeit her, wie das m.W erstmalig Rudolf Schlögl hervorgehoben hat 135 . Nunmehr wurden sittliches und religiöses Fehlverhalten moralisch und kirchlich angesprochen und auch gerügt, Verfahren mithin, die so zuvor weder vom Dorfgericht noch von den Sendschöffen durchgeführt worden waren. Daher brauchten die Gemeinden Zeit, insbesondere für die Integration der Kirchenzuchtgremien in die dörfliche Gemeinschaft, was nur im Ansatz gelingen konnte, da die Kirchenleitung auf die Besetzung dieser Gremien potentiell immer Einfluß nehmen konnte, nicht zuletzt über die Kirchenvisitationen. Daß die Herstellung neuer, kirchlich vermittelter Öffentlichkeitsformen von Konflikten begleitet war, in denen die Pfarrer eine wesentliche Rolle spielten, ist im Fall der Gnesiolutheraner in der Grafschaft Mansfeld weniger verwunderlich, da dort die Kirchenzuchtkompetenzen allein beim Pfarrer lagen. In dieser Grafschaft wurden die Pfarrer allerdings »aus den innergemeindlichen Kommunikationszusammenhängen ausgeschlossen« 136 , d.h. die Gemeinden bemühten sich dort, den Geltungsgrad der Kirchenzucht des Pfarrers zu kontrollieren und gegebenenfalls die Visitatoren gegen den Pfarrer zu mobilisieren. 137 Im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken bildeten sich neben lokalen z.T. regionale Öffentlichkeitsstrukturen durch die frühe Einführung des Presbyterialsystems und die ebenso frühe Durchführung von Kirchenvisitationen in den 1530er Jahren aus. Sie ermöglichten den Gemeinden, über ihre Vertreter in den Presbyterien ihre Belange nicht nur gegenüber Pfarrern, sondern auch gegenüber weltlichen Amtsträgern vorzutragen. Pfarrkonvente wurden von den Gemeinden insbesondere in den 1530er, 1560er und dann wieder in den 1650er Jahren genutzt, um ihre kirchlichen Interessen z.B. gegenüber adligen Grundherrn zu verteidigen oder auszubauen. So wollte der Junker Boos von Waldeck in die Presbyterwahl der Gemeinde Hundsbach im Oberamt Meisenheim 134 Vgl. Peter Blickle: Die Reformation vor dem Hintergrund von Kommunalisierung und Christianisierung, in: Ders./ Johannes Kunisch (Hg.): Kommunalisierung und Christianisierung, Berlin 1989, 9 - 28, hier: 11, 23f. 135 Vgl. Schlögl: Dörfliche Kommunikation (wie Anm. 34), 6, 8. 136 Ebd., 5. 137 Ebd. Frank Konersmann 624 1672 eingreifen, da seine Bediensteten dort nicht gebührend vertreten seien. 138 Die Gemeinde wandte sich daraufhin zunächst an den die Visitation durchführenden Pfarrkonvent, der diese Angelegenheit beriet, und dann den Herzog von Pfalz-Zweibrücken um Beistand bat. Derartige Konstellationen mußte der niedere Adel stets befürchten, so daß er in der Regel die Kirchenzucht ablehnte, wie das sehr deutlich auch in der Kurpfalz und in Hessen-Kassel zu beobachten ist. 139 Ähnlich kooperationsunwillig erwies er sich im Fall von Kirchenvisitationen, wodurch die kirchlichen und sittlichen Zustände in Kirchengemeinden offengelegt wurden; dies bot sowohl den Gemeinden als auch der Landesherrschaft Möglichkeiten zur Intervention. 140 Von der Inszenierung einer territorialen Öffentlichkeit im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken, die sich mehr oder weniger im Zusammenhang von Kirchenvisitationen ausprägte, kann mit Einschränkungen in drei Hinsichten gesprochen werden: Erstens infolge von Generalvisitationen, wie sie aber wahrscheinlich nur zwei Mal 1558 und 1605 durchgeführt wurden. Während dieser Kirchenvisitationen kam die aus weltlichen und geistlichen Amtsträgern zusammengesetzte Visitationskommission mit allen lokalen, kirchlichen und fürstenstaatlichen Bediensteten, aber auch mit Kirchengemeinden in näheren Kontakt. Die Visitation selbst bildete Anlaß und Forum für die Ansprache und gegebenenfalls Erledigung lokaler Problemlagen jeglicher Art. Zweitens schuf die zwischen 1592 und 1604 jährlich zusammentretende Generalsynode eine Gelegenheit für Geistliche, Schulmeister, Amtleute und herzogliche Räte, zentrale kirchliche Angelegenheiten, wie z.B. die amtliche Unterstützung von Presbyterien bei ihrer Ausübung der Kirchenzucht und dieVergütung ihrer Einsatzbereitschaft, zu erörtern und zu entscheiden. Schließlich bildete sich drittens mit der Einsetzung von Bauern- und Bürgervertretungen im Jahre 1579, sogenannter Landschaften, eine weitere Form territorialer Öffentlichkeit aus, die es auch den dörflichen Gemeindevertretern erlaubte, in bestimmten Fragen, wie z.B. Ämterbesetzung und Stipendienvergabe, auf kirchliche Entscheidungen Einfluß zu nehmen. 141 Insgesamt betrachtet ist aber bei dem Gros der Kirchenvisitationen die obrigkeitliche Dominanz unverkennbar, d.h. die Visitationen dienten der Landesherrschaft und der Kirchenleitung als Kontrollmittel nicht nur den lokalen Amtsträgern, sondern auch den Kirchengemeinden gegenüber. Dies wird in folgendem Fall anläßlich der Generalvisitation im Jahre 1558 deutlich, als die Visitationskommission den Rat der Residenzstadt Zweibrücken rügte: Den 14 vom Rath ist mitt ernst bevohlen, daß sie erstlich sich vor Irr personen aeußerlich und meines gn. F. und Herrn bevelch hinfüren gemeß erzeigen und halten, auch die gemaine Burgerschafft dahin weißen und die uebertritt mitt ernst straffen. Die Presbyter vor Ort erhielten darüber hinaus den Befehl: Insonderheit sollen 138 Vgl. Georg Biundo: Die Kirchenkonvente der Klasse Meisenheim unter Herzog Friedrich von Zweibrücken (1661 - 1681), in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte 1 (1925), 45 - 55, hier: 51. 139 Vgl. Ruth Wesel-Roth: Thomas Erastus. Ein Beitrag zur Geschichte der reformierten Kirche und zur Lehre von der Staatssouveränität, Lahr/ Baden 1954, 50 - 66. Volker Press stellt über die Position des Adels in der Kurpfalz fest, daß er »die Gemeindeverfassung mit Presbyterium und Kirchenzucht« deshalb ablehnte, weil sie »konsequent angewandt (...) die adlige Dorfherrschaft erschüttern mußte.« In: Stadt und territoriale Konfessionsbildung, in: Franz Petri (Hg.): Kirche und gesellschaftlicher Wandel in deutschen und niederländischen Städten der werdenden Neuzeit, Köln/ Wien 1980, 252 - 296, hier: 253. Hinsichtlich der Landgrafschaft Hessen-Kassel: Robert von Friedeburg: Landesherrschaft und Kirchenzucht, in: Westfälische Forschungen 42 (1992), 192 - 214. 140 Vgl. Konersmann: Kirchenregiment (wie Anm. 53), 391ff. 141 Ebd., 224f., 404ff. Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation 625 alle Sonntag und Feiertag Iren zween under der Predigt in der Statt und bei den Thorn gutte achtung haben das niemand Inn solcher Zeitt uff der gasse sich finden lasse. 142 Daß Kirchenvisitationen aber auch von den Geistlichen und z.T. von den Presbytern als ein wichtiges Regulativ für kirchliche und kommunale Konflikte verstanden wurde, dessen sie sich durchaus bedienen wollten, ist einer Stellungnahme des Meisenheimer Konvents von 1654 zu entnehmen, die an die Regierung gerichtet war. Unsere meinung gehet gantz nicht dahin, daß wir durch unser visitationes und conventus ecclesiasticos E.F.G. visitationibus praejucierlich fallen mochten, sintemahl (...) zwischen der weltlichen Oberkait und dem Ampt der Aeltesten ein großer Unterschied ist, also auch per consequens zwischen beiden visitationen (...) Derowegen dan, wie baide aempter, der oberkait und das Presbyterii, also auch die visitationes einander nicht zu wieder, sondern beede von Gott geordnet, und neben einander nützlich und wol veruebet (...) . 143 Welche Funktionen letztlich presbyteriale Kirchenzucht und Kirchenvisitationen in protestantischen Landeskirchen im 16. und 17. Jahrhundert einnahmen, läßt sich insofern nur unter Berücksichtigung der phasenweise unterschiedlichen, konkreten kirchen- und machtpolitischen Konstellationen beurteilen. 142 BayHStA Mü Best. K.bl. Nr. 389/ 8a, fol. 144. 143 BayrHStA Mü Best. K. bl. Nr. 390/ 1f., 2. Lage, fol. 331. 627 Harriet Rudolph Kirchenzucht im geistlichen Territorium Das Fürstbistum Osnabrück vom Westfälischen Frieden bis zu seiner Auflösung (1648-1802) In protestantischen weltlichen Territorien wie Hessen oder Württemberg bestand gegen Ende der frühen Neuzeit eine enge Verbindung zwischen weltlicher und geistlicher Strafgewalt. 1 Die Kirchenzuchtgremien wurden in die weltliche Strafgerichtsbarkeit integriert und für den Ausbau der staatlichen Kontrolle über das einzelne Individuum instrumentalisiert. Geistliche und weltliche Obrigkeiten arbeiteten dabei Hand in Hand. Kirchenzucht in katholischen und damit auch in geistlichen Territorien wurde in der Forschung lange Zeit vernachlässigt. 2 Ihre Bedeutung als Instrument sozialer Disziplinierung blieb weitgehend ungeklärt. 3 Die Frage nach dem Einfluß von Konfession und staatlicher Verfassung auf das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Strafgewalt erscheint am Beispiel des Fürstbistums Osnabrück besonders lohnend. Singulär im Alten Reich wurde im Westfälischen Frieden die alternative Sukzession bei der Landesherrschaft festgelegt. Auf jeden katholischen Bischof folgte ein protestantischer aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg. Diese spezifische verfassungspolitische Konstellation ermöglicht es einerseits, die Haltung konfessionell unterschiedlicher Territorialobrigkeiten zur geistlichen Strafgewalt zu beleuchten. Andererseits soll nach der Funktion der Kirchenzucht im Zusammenhang mit staatlichen Disziplinierungsmaßnahmen im geistlichen Territorium gefragt werden. 4 1 Vgl. dazu für Hessen Walter Sohm: Territorium und Reformation in der hessischen Geschichte, Marburg 1915; für Württemberg Helga Schnabel-Schüle: Kirchenzucht als Verbrechensprävention, in: Heinz Schilling (Hg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994, 49 - 64; vgl. auch Frank Konersmann: Presbyteriale Kirchenzucht unter landesherrlichem Regiment. Pfalz- Zweibrücken im 17. und 18. Jahrhundert, in: Stefan Brakensiek u.a. (Hg.): Kultur und Staat in der Provinz, Bielefeld 1992, 315 - 349; allgemein den Forschungsüberblick von Heinz Schilling: Die Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Europa, in: ders.: Kirchenzucht (wie Anm. 1), 11 - 40. 2 Der Begriff Kirchen- oder Sündenzucht wird in der Regel nur für die protestantische und die reformierte Konfession verwendet, vgl. Schilling: Kirchenzucht (wie Anm. 1), 27; zur Problematik des Begriffes generell Helga Schnabel-Schüle: Der große Unterschied und seine kleinen Folgen. Zum Problem der Kirchenzucht als Unterscheidungskriterium zwischen lutherischer und reformierter Konfession in der frühen Neuzeit, in: FS für Hans-Christoph Rublack, hg. von Monika Hagemeier/ Sabine Holtz, Frankfurt a.M. 1992, 197 - 214. Kirchenzucht im Zusammenhang mit der katholischen Konfession findet sich bei Gernot Heiß: Konfessionsbildung, Kirchenzucht und frühmoderner Staat, in: Hubert Christian Ehalt (Hg.): Volksfrömmigkeit: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, Bd. 1, Wien 1989, 191 - 220; s. auch die folgende Anm. Trotz teilweise wesentlicher Unterschiede bezüglich Grundlagen, Zielen oder Organisation scheint es aber sinnvoll, unter Kirchenzucht auch die katholischen Formen geistlicher Zucht zu fassen, um so einen lohnenden interkonfessionellen Vergleich zu ermöglichen. 3 Dazu neuerdings Andreas Holzem: Katholische Konfession und Kirchenzucht. Handlungsformen und Deliktfelder archidiakonaler Gerichtsbarkeit im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 45 (1995), 295 - 332. Dabei handelt es sich allerdings zunächst um eine Beschreibung eines geplanten Forschungsprojektes, bei dem mit dem Fürstbistum Münster ebenfalls ein geistliches Territorium im Zentrum steht. 4 Damit soll nicht der Eindruck erweckt werden, die Kirchenzucht ginge im staatlichen Disziplinierungsbemühen auf. Das Verhältnis zwischen beiden steht lediglich hier imVordergrund. Harriet Rudolph 628 Als Spezifika katholischer Kirchenzucht ist neben der Beichte die Nutzung traditioneller Formen von geistlicher Gerichtsbarkeit wie der Sendgerichte zu nennen. 5 Das institutionalisierte und verfahrensrechtlich geregelte Sendgerichtsverfahren übte in dem gemischtkonfessionellen Fürstbistum Osnabrück die Funktion der calvinistischen presbyterialen Kirchenzuchtsgremien aus, die es hier in dieser Form für die evangelischen Untertanen nicht gab. Beide waren Formen öffentlicher Zucht, die im großen und ganzen ähnliche Vergehen verfolgten, ähnliche Sanktionen verhängten und eine ähnliche Überlieferung hinterließen. 6 Im folgenden soll das Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Zucht sowie seine Bedeutung für den Disziplinierungsprozeß am Beispiel der archidiakonalischen Sendgerichte im Fürstbistum Osnabrück nach dem Westfälischen Frieden beleuchtet werden. Bereits in der Doppelfunktion des Landesherrn als Kirchenoberhaupt und oberster Gerichtsherr war ein Interessenkonflikt angelegt. 7 Als oberstem Kirchenherrn mußte ihm am Schutz geistlicher Strafkompetenz gegenüber weltlichen Ansprüchen gelegen sein. Seinem Interesse als oberstem Gerichtsherrn standen die geistlichen Strafbefugnisse jedoch entgegen. Ausbau und Zentralisierung des Territorialstaates wurden durch die Ausübung einer eigenständigen geistlichen Gerichtsbarkeit behindert. 5 Zu den spezifisch katholischen Zuchtformen vgl. Schilling: Kirchenzucht (wie Anm. 1), 35 - 39 mit weiterführender Literatur; vgl. auch Thomas Paul Becker: Konfessionalisierung in Kurköln: Untersuchungen zur Durchsetzung der katholischen Reform in den Dekanaten Ahrgau und Bonn anhand von Visitationsprotokollen 1583 - 1761, Bonn 1989. Zur geistlichen Strafgerichtsbarkeit u.a. Albert Michael Königer: Quellen zur Geschichte der Sendgerichte in Deutschland, München 1910; Leonhard Frohn: Das Sendgericht zu Aachen: bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Aachen 1913; August Franzen: Die Kölner Archidiakonate in vor- und nachtridentinischer Zeit. Eine Kirchen- und Kirchenrechtsgeschichte. Untersuchung über das Wesen der Archidiakonate und die Gründe ihres Fortbestandes nach dem Konzil von Trient (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 78/ 79), Münster 1953; Ulrich Eisenhardt: Die weltliche Gerichtsbarkeit der Offizialate zu Köln, Bonn und Werl im 18. Jahrhundert, Köln 1966; Becker: Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 252ff. Die praktische Bedeutung der Beichte für die Disziplinierung der Untertanen wird sich aufgrund ihres informellen Charakters letztlich auch in Zukunft nicht befriedigend klären lassen. Es muß letztlich offen bleiben, ob die Ohrenbeichte, wie Schilling meint, tatsächlich die wichtigste und erfolgreichste Form geistlicher Zucht bis in die Neuzeit gewesen ist, vgl. ders.: Kirchenzucht (wie Anm. 1), 36f. u. 40; auch Heiß: Konfessionsbildung (wie Anm. 2), 204. 6 Dies gilt z.B. auch für die Württembergischen Kirchenkonvente, vgl. Helga Schnabel-Schüle: Kirchenzucht (wie Anm.1); dies.: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 16), Köln 1997, 46 - 51; Schilling: Kirchenzucht (wie Anm. 1), 35f. Ein wesentlicher und konfessionsspezifischer Unterschied bestand allerdings darin, daß beim Sendgericht in Osnabrück keine Laien als Schöffen und Vertreter der »geärgerten« Gemeinde mitwirkten. Zu den abgestraften Delikten gehörten zunächst religiöse Versäumnisse wie Abwesenheit vom Gottesdienst, fehlende Beichte, sonntägliche Arbeit u.ä., aber auch Beleidigungen, Unzucht, Gotteslästerung, Wahrsagerei, Aberglauben und damit verbundener Betrug. 7 Beim Regiment eines protestantischen Landesherrn war für die katholischen Geistlichen automatisch der Metropolitan von Köln als geistliches Oberhaupt zuständig. Zu Verfassung und Verwaltung des Fürstbistums Osnabrück in der Frühen Neuzeit vgl. Reinhard Renger: Landesherr und Landstände im Hochstift Osnabrück in der Mitte des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 19), Göttingen 1968; Christine van den Heuvel: Beamtenschaft und Territorialstaat. Behördenentwicklung und Sozialstruktur der Beamtenschaft im Hochstift Osnabrück 1550 - 1800 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen=OGQuF 24), Osnabrück 1984. Als wichtige Quelle zur normativen Ebene: Codex Constitutionem Osnabrugensium oder Sammlung von Verordnungen, gemeinen Bescheiden, Reskripten und anderen erläuternden Verfügungen, welche das Hochstift Osnabrück betreffen=CCO: 2 Teile, Osnabrück 1783 - 1819, bes. 601 - 646 u. 1676 - 1680. Kirchenzucht im geistlichen Territorium 629 Dazu werden in einem ersten Teil die verfassungsmäßigen Grundlagen der geistlichen Gerichtsbarkeit im Fürstbistum Osnabrück skizziert, bevor danach die Entwicklung der geistlichen Strafkompetenz unter den verschiedenen Bischöfen vom Westfälischen Frieden bis zur Säkularisierung nachgezeichnet wird. Es kann vorweggenommen werden, daß der Anspruch auf die alleinige Sanktionskompetenz bei bestimmten Vergehen einen Hauptstreitpunkt zwischen Domkapiteln und Landesherrn darstellte. 8 Der letzte Teil widmet sich den Folgen des Konfliktes für die betroffenen Untertanen: Wie weit gelang es ihnen, die konkurrierenden Gerichtsbarkeiten gegeneinander auszuspielen oder für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren? Welche Auswirkungen hatte das Nebeneinander von geistlicher und weltlicher Strafkompetenz für die Durchsetzung des Territorialstaates auf lokaler Ebene? 1. Politische Verfassung und Gerichtsverfassung - Rahmenbedingungen eines Konfliktes Im geistlichen Territorium Osnabrück besetzten die adligen Archidiakone traditionell eine einflußreiche Position. Als Mitglieder des Domkapitels wählten sie den Bischof; während der Sedisvakanz stand dem Domkapitel überhaupt die Führung der Regierungsgeschäfte zu. 9 Aus den Reihen der Domkapitulare beriefen die katholischen Bischöfe Geheime Räte, die diese weltliche Funktion dazu nutzten, ihre Gerechtsame zu sichern oder auch auszuweiten. 10 In den territorialen Regierungsfunktionen waren die Domkapitulare zwar dem jeweiligen Landesherrn verantwortlich; als Domkapitulare versuchten sie jedoch in erster Linie, eigene Interessen gegenüber dem Landesherrn und den Zentralbehörden durchzusetzen. So fungierte das Domkapitel beim Jurisdiktionskonflikt zwischen Landesherrn und Archidiakonen als Sprachrohr der geistlichen Gerichtsherrn. Die einflußreiche Stellung der Archidiakone in Osnabrück resultierte vor allem aus ihrer weitreichenden Gerichtsbefugnis. 11 Gesellschaftliches Prestige und machtpoliti- 8 Hermann Hoberg: Die kirchliche Gemeinschaft der Bekenntnisse im Fürstentum Osnabrück seit dem Westfälischen Frieden, Diss., Osnabrück 1939, 116. 9 Zum Domkapitel vgl. generell die Studie von Johannes Freiherr von Boeselager: Die Osnabrücker Domherren des 18. Jahrhunderts (OGQuF 28), Osnabrück 1990, zu Stellung und Funktion der Archidiakone bes. 62; Renger: Landesherr (wie Anm. 7), 50 - 66. Als Überblick über die Verhältnisse zwischen Landesherrn und Domkapitel in den nordwestdeutschen Bistümern vgl. Michael Kissener: Ständemacht und Kirchenreform, Paderborn 1993. 10 Siehe die Aufstellung bei von Boeselager: Domherren (wie Anm. 9), 70. Der Dompropst war zeitweilig auch Präsident der Landes- und Justizkanzlei, der obersten Justizbehörde des Fürstbistums. Er hatte ebenfalls ein Archidiakonat inne, vgl. dazu auch Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück=StAOS Rep 100 Abschn 266 Nr 5. Der Präsident übte zwar keine praktische Tätigkeit im Rahmen der Justiz aus. Dennoch erscheint die Ansicht von Boeselagers, das Domkapitel hätte keinerlei Einfluß auf die Kanzlei ausgeübt, obwohl seine Mitglieder im Geheimen Rat saßen, etwas zweifelhaft, vgl. ders.: Domherren (wie Anm. 9), 73. 11 Die Archidiakonalgerichtsbarkeit war ursprünglich aus den bischöflichen Visitationen entstanden. Zur geistlichen Gerichtsbarkeit im Fürstbistum Osnabrück vgl. die knappen Bemerkungen bei Max Bär: Abriß der Verwaltungsgeschichte des Regierungsbezirkes Osnabrück, Hannover 1901, 40 - 42; Hoberg: Gemeinschaft (wie Anm. 8), 115 - 7; von Boeselager: Domherren (wie Anm. 9), 62 - 67. Als wichtige zeitgenössische Quellen Kreß (s. Anm. 28); Johann Aegidius Klöntrup: Alphabetisches Handbuch der besonderen Rechte und Gewohnheiten des Hochstiftes Osnabrück mit Rücksicht auf die benachbarten westfälischen Provinzen, 3 Bde., Osnabrück 1798 - 1800, 79 - 88. Der Protestant Klöntrup war allerdings ein entschiedener Gegner der archidiakonalen Gerichtsbarkeit, was den Tenor der Darstellung prägt. Harriet Rudolph 630 scher Einfluß verbanden sich für den Inhaber eines Archidiakonats mit erheblichen finanziellen Vorteilen. 12 Ende des 18. Jahrhunderts gab es im Fürstbistum Osnabrück zehn geistliche Gerichtsbezirke, in denen sowohl katholische wie auch evangelische Untertanen lebten. 13 Die Gerichte waren generell für die Zivil- und niedere Strafgerichtsbarkeit katholischer Geistlicher und Kirchendiener zuständig. 14 Sie entschieden alle Ehe- und Alimentensachen katholischer Untertanen und bestraften kirchliche Vergehen katholischer und Unzuchtsdelikte aller weltlichen Untertanen. 15 Für Vergehen von evangelischen Geistlichen und Kirchendienern, kirchliche Versäumnisse sowie Ehe- und Alimentensachen evangelischer Untertanen war das 1651 eingerichtete Evangelische Konsistorium zuständig. Allerdings standen dem Archidiakon des betreffenden Distriktes selbst die vom Konsistorium erkannten Strafgelder zu. Das Verfahren bei den ein bis zwei Mal pro Jahr abgehaltenen Sendgerichten ähnelte dem der landesherrlichen Brüchtengerichte. 16 Das Gericht hielt der Archidiakon selbst oder ein von ihm eingesetzter, in der Regel rechtsgelehrter Kommissar ab. Bei einem Geständnis legte er sofort eine Strafe fest, die zumeist eine Geldstrafe war. 17 Er sprach jedoch auch kurze Gefängnisstrafen oder geistliche Strafen wie die Kirchenbuße aus. 18 Wurde die Tat geleugnet, verwies der Sendrichter den Fall an das archidiakonalische Konsistorium zu Osnabrück zur Entscheidung. Vergehen, die sich im Laufe der Untersuchung als criminal herausstellten, hatten die Kommissare der Justizkanzlei zur Entscheidung zu übergeben. 19 Agierten die geistlichen Gerichtsherrn bis zum Urteilsspruch autonom, so waren sie jedoch beim Vollzug ihrer Erkenntnisse auf die Unterstützung durch die landesherrlichen Beamten angewiesen, da sie nicht über eigenes Vollzugspersonal verfügten. Sie nutzten die Amtsgefängnisse, später auch das 1767 in Betrieb genommene Osnabrükker Zuchthaus. Pfändungen und Arreste führten generell die Vögte aus. Formal mußte der Archidiakon zwar zunächst das Amt um Unterstützung bitten, bevor er sich der landesherrlichen Beamten bediente, in der Praxis leisteten die Vögte den archi- 12 Einige Archidiakone besaßen in ihrem Distrikt auch selbst Grundbesitz. In diesen Fällen entstand eine Grundherrschaft mit relativ weitreichender Gerichtsbarkeit, die sich allerdings nicht auf die Halsgerichtsbarkeit erstreckte (z.B. Ferdinand von Kerssenbrock, der sogar mehrere Archidiakonate innehatte und auch Geheimer Rat und Präsident der Landes- und Justizkanzlei war, s. auch von Boeselager: Domherren (wie Anm. 9), 67. 13 Vgl. im folg. Hoberg: Gemeinschaft (wie Anm. 8), 115f. Dort findet sich auch die Aufteilung der verschiedenen Kirchspiele unter den Archidiakonen. Auch im einzigen evangelischen Archidiakonat Quakenbrück übte die geistliche Jurisdiktion ein katholischer Domvikar aus. 14 Jedoch galt dies nur für die niedere Geistlichkeit, für die höhere waren der Domdechant bzw. das Offizialat zuständig. 15 Vgl. hierzu Bär: Abriß (wie Anm. 11), 28f.; CCO: Abschnitt 5, bes. 465 - 472 u. 1640 - 1642. Landesherrliche Bediente, Adlige und die Bürger der Stadt Osnabrück waren davon ausgenommen. 16 Vgl. dazu auch StAOS Rep 100 Abschn 378 Nr 4: Reformierte Archidiaconal-Gerichts-Ordnung, o.D. Es ist aber unklar, ob es sich hierbei nur um einen Entwurf handelt. Es kam auch vor, daß ein archidiakonalischer Kommissar eine angezeigte Person außerhalb des Sendgerichtes zitierte und aburteilte. Mit dem Archidiakonalischen Commissionsgericht zu Osnabrück und dem Archidiakonalischen Gericht zu St. Johann gab es außerdem zwei ständige geistliche Gerichte in der Stadt Osnabrück. 17 Die Sendrichter hielten sich Informanten, die ihnen vorab über die Vergehen berichteten. Sie gingen auch Anzeigen durch die Bevölkerung und die katholischen Pfarrer nach (vgl. CCO: 605). 18 Zur Kirchenbuße vgl. Abschnitt 3. 19 Alle peinlichen Delikte bearbeiteten ausschließlich die Beamten der Landes- und Justizkanzlei. Die Peinliche Gerichtsbarkeit im Fürstbistum Osnabrück ist Thema einer derzeit entstehenden Dissertation der Verfasserin. Kirchenzucht im geistlichen Territorium 631 diakonalischen Befehlen jedoch auch ohne Amtsbefehl Folge, was mitunter zum Konflikt mit den Ämtern führte. Die Sanktionskompetenz der Archidiakone sollte 1650 in der neuen Verfassung des Hochstifts, der Capitulatio Perpetua, geregelt werden. Gegen den anfänglichen Willen des Domkapitels, das die Gelegenheit zur gesetzlichen Verankerung einer möglichst weitreichenden Strafgewalt zu nutzen versuchte, einigten sich beide Seiten schließlich auf eine kompromißfähige Formel, die genügend Interpretationsraum offenließ. In Artikel 6 wurde den Archidiakonen der Umfang ihrer Gerechtsame bestätigt, soweit sie diese im Normaljahr 1624 ruhiglich ersessen und verübet hatten: In specie aber haben die Archidiaconi und etzliche katholische Beneficiati gewisse delicta zu bestrafen, die jura amovendi, installandi vel investiendi bey der Kirchen, (...) die Censur contra violatores festorum et coemeteriorum, und was derogleichen mehr sein mag. 20 Dabei sollten sie bei allen Fällen unpartheysch ohne Respect der Religion verfahren, oder in casum suspicionis et recusationis auf unparteysche Referenten oder Faculteten zurückgreifen. Die Interpretation der Formulierung und was derogleichen mehr sein mag bildete in der Folgezeit den Konfliktstoff zwischen dem Landesherrn und dem Domkapitel. 21 Der Verweis auf das Normaljahr 1624 in der Capitulatio Perpetua trug nichts zu Klärung des Sachverhaltes bei. Jede Seite konnte eine Vielzahl von Beispielfällen vorlegen, die eine angebliche Rechtsprechungsgewohnheit des eigenen Spruchgremiums belegte. Denn schon vor dem Dreißigjährigen Krieg war die Sanktionskompetenz der Archidiakone keineswegs einheitlich geregelt gewesen. 22 2. »Schädliche Rebellionstifter« -Chronologie eines Konfliktes Der von beiden Seiten vertretene Anspruch auf alleinige Sanktion bestimmter Delikte bildete einen Hauptstreitpunkt zwischen Domkapitel und Bischof in den letzten 150 Jahren des Fürstbistums Osnabrück. 23 Er betraf besonders die Delikte der Blasphemie, Grabschändung, des Inzests oder mehrfachen Ehebruches. Die Geistlichen begründeten ihre Strafkompetenz zum einen mit der Observantz, zum anderen mit der Behauptung, daß diese Delikte die Kirchenjurisdiktion, Geistlichkeit und Religion allein beträfen. Während das Delikt der Gotteslästerung bis auf wenige schwere Fälle aus dem Kanon der nach der Carolina traditionell peinlichen Straftatbestände herausfiel und nach dem Dreißigjährigen Krieg in der Regel entweder von den Archidiakonen oder von den landesherrlichen Brüchtengerichten abgeurteilt wurde, 24 bestand die Landes- und Ju- 20 Vgl. im folg. CCO: 1642f. Vgl. dazu auch Art. 4 der Capitulatio Perpetua, ebd., 1640; generell StAOS Rep 100 Abschn 24 Nr 76, 78, 103. 21 Zu den Konfliktpunkten vgl. auch von Boeselager: Domherren (wie Anm. 9), 65. Allerdings beanspruchten die Archidiakone nicht die Kriminaljurisdiktion bei Unzuchtsvergehen - wie von Boeselager schreibt -, wenn diese mit Geld abgestraft wurden, sondern sie behaupteten, in diesem Fall handele es sich nicht um Kriminaldelikte, was per definitionem stimmt. Außerdem stand ihnen die Hälfte der Geldstrafe (Halbscheid) nur zu, wenn der Landesherr eine peinliche Strafe für ein Unzuchtsvergehen in eine Geldstrafe umwandelte. 22 Schon unter Philipp Sigismund (1591 - 1623) gab es Streit um die Bestrafung von Ehebruch und Inzest, s. Klöntrup: Handbuch (wie Anm. 11), 79. 23 Hoberg: Gemeinschaft (wie Anm. 8), 116. Für Münster vgl. Godehard Joseph Ebers: Die Archidiakonal- Streitigkeiten in Münster im 16. und 17. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, k. Abt., 3 (1913), 364 - 412. Harriet Rudolph 632 stizkanzlei auf der Bestrafung der Grabschändung, wohl vor allem deshalb, weil diese häufig mit widersetzlichem Verhalten gegen die Obrigkeit verbunden war. 25 Der Streit zwischen Archidiakonen und Landes- und Justizkanzlei konzentrierte sich vor allem auf die Bestrafung von Inzest und mehrfachem Ehebruch. 26 Schon der katholische Franz Wilhelm von Wartenberg (1623 - 1661) lehnte die Zuständigkeit der Archidiakone bei den genannten Delikten ab, wenn diese nicht mit Geld abgestraft werden konnten. 27 Sein evangelischer Nachfolger Ernst August I. von Braunschweig- Lüneburg (1661 - 1698), der bestrebt war, Verwaltung und Justiz zu zentralisieren und den ständischen Einfluß zurückzudrängen, sprach ihnen selbst die Sanktion von ein- oder zweimaligem Ehebruch ab. 28 Er wies außerdem den Anspruch der Archidiakone auf die Halbscheid der umgewandelten weltlichen Leibesstrafen für diese Delikte zurück. Nach dem Tod Ernst Augusts nutzte das Domkapitel deshalb die Zeit der Sedisvakanz, um eine Archidiakonal-Gerichts-Ordnung zu erlassen, die Zuständigkeiten und Verfahren regelte. 29 Offenbar erwarteten die geistlichen Gerichtsherrn von einem katholischen Bischof eine geringere Gegenwehr als von seinem evangelischen Vorgänger. In einer Nebenabrede zur Wahlkapitulation mußte sich der neue Bischof, der katholische Carl von Lothringen (1698 - 1715), verpflichten, die neue Ordnung anzuerkennen. Als sich jedoch die Beschwerden der Untertanen über die willkürliche Rechtsprechung der Archidiakone häuften, ließ Carl die erhobenen Vorwürfe untersuchen. Die Archidiakone hatten evangelische Geistliche sowie andere Personengruppen abgeurteilt, die nicht unter ihrer Gerichtshoheit standen. 30 Sie hatten sich angeblich in Ehesachen evangelischer Untertanen gemischt und selbst Kriminaldelikte bestraft. 31 Letztlich verlief die Untersuchung jedoch im Sande. Offenbar war der katholische Carl nur begrenzt motiviert gewesen, gegen die Ausweitung der archidiakonalischen Machtbefugnisse vorzugehen. 32 24 Zumeist wurden wohl relativ geringe Geldstrafen bis zu einigen Reichstalern verhängt. Zu den schwerwiegenderen Fällen vgl. StAOS Rep 100 Abschn 376 Nr 4 - 7. Als schwerwiegend wurden die Vorgänge gewertet, die mit einem hohen Grad von Öffentlichkeit und mit einem Konflikt zwischen den Konfessionen verbunden waren, da die Erhaltung des konfessionellen Friedens nicht nur verfassungsmäßig als Aufgabe des Landesherrn vorgegeben war, sondern auch in seinem eigenen Interesse stand, wollte er Aufruhr vermeiden. 25 So StAOS Rep 100 Abschn 306 Nr 52 Bl 30f.; vgl. auch Klöntrup: Handbuch (wie Anm. 11), 86; CCO: 618. Bei diesen Fällen handelte es sich zumeist um die Wiederausgrabung von auf dem Friedhof bestatteten Selbstmördern oder Verbrechern, gegen die sich die Gemeinde aus Angst vor Wiedergängern und Wetterschlag zur Wehr setzte. 26 Da allein der Land- und Justizkanzlei die Sanktion von peinlichen Delikten zustand und sie sich als Hüterin konfessioneller Gerechtigkeit im Hochstift begriff, trug vor allem diese konfessionell paritätisch besetzte Behörde den Streit mit den Geistlichen aus. 27 CCO: 1203 - 1206. Eine Zusammenfassung der Beschwerden gegen die Archidiakone von 1653 mit zahlreichen Beispielen in CCO: 601 - 612. 28 StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 4 Bl 106 - 110. 29 Vgl. i. folg. J. C. Lünig: Continuatio spicilegii ecclesiastici des Teutschen Reichs-Archivs (...) Germaniae sacre diplomaticae, Leipzig 1720, Bd. 1, 670 - 673. Möglicherweise handelt es sich um die in Anm.16 genannte Ordnung, obwohl diese späteren Datums zu sein scheint. 30 CCO: 624 - 630; vgl. meine Anm. 15. Hoberg schreibt, daß es den Anschein gehabt habe, als ob die Archidiakone die Glaubensspaltung ignoriert hätten; ders.: Gemeinschaft (wie Anm. 8), 116f. 31 Siehe u.a. das Beispiel einer Fälschung in CCO: 606. 32 Immerhin erließ Carl 1704 ein Reskript, das den Vollzug archidiakonalischer Urteile bei strittiger Gerichtsbarkeit verbot CCO: 604. Ob dieses Reskript in der Praxis große Wirksamkeit entfaltete, bleibt jedoch fraglich. Kirchenzucht im geistlichen Territorium 633 Die berichteten Ausschreitungen der Archidiakone bildeten jedoch einen willkommenen Anlaß für den Versuch seines evangelischen Nachfolgers Ernst August II. von Braunschweig- Lüneburg (1716 - 1728), die Zuständigkeit der Geistlichen auf rein geistliche Belange zu beschränken. Ernst August II., der selbst im Hochstift residierte und im Rahmen seines persönlichen Regiments in starkem Maße die Verwaltung des Fürstbistums steuerte, verfolgte sofort nach Amtsantritt einen Kurs direkter Konfrontation: Er ließ sich von Ämtern und Untertanen über die angeblichen Befugnisüberschreitungen der Archidiakone berichten und verbot bereits 1716 den landesherrlichen Beamten, archidiakonalische Urteile auf bloßen Befehl der Geistlichen zu vollziehen. 33 Als sich die Beamten in der Folge weigerten, den Befehlen der Geistlichen nachzukommen, belegten diese die Beamten mit empfindlichen Brüchten. Da offenbar nicht allen landesherrlichen Bedienten klar war, daß die geistlichen Gerichtsherren ihnen keine Strafen diktieren konnten, erließ Ernst August II. 1721 ein ausdrückliches Verbot gegen dieses Verfahren, das seine landesherrliche Autorität untergrub. Er drohte den Archidiakonen als Verächter Unserer Hoheit, auch insonderheit die Ehr- und Gewissenliebenden rechtschaffenen Unterthanen obliegende Schuldigkeit freventlich aus den Augen setzende Restractarios, Aufwiegeler und fast gar schädliche Rebellionstifter harte Sanktionen an. 34 An gleicher Stelle wurde den Pastoren untersagt, weltliche Erlasse jeder Art - also auch Strafurteile u.ä. - von der Kanzel zu publizieren. Die alleinige Zuständigkeit der weltlichen Obrigkeit in diesen Fragen sollte so demonstrativ außer Zweifel gestellt werden. 35 Auf Anordnung Ernst Augusts versuchten die Ämter in der Folgezeit, sogar die Bestrafung von einfachen Unzuchtsfällen durch die landesherrlichen Brüchtengerichte zur Regel zu machen. 36 Da Ernst August II. wußte, daß eine völlige Ausschaltung der Archidiakone bei der Sanktion von Unzuchtsfällen bei einer Klage des Domkapitels von den Reichsgerichten höchstwahrscheinlich nicht akzeptiert werden würde, gestand er den Archidiakonen zwar die Prävention zu. 37 Gleichzeitig wies er aber seine Beamten an, sich auf keinen Fall prävenieren zu lassen. Diese Taktik - sich bei strittigen Fragen nach außen scheinbar kompromißbereit zu zeigen, nach innen aber sicherzustellen, daß der Kompromiß in der Praxis ausgehebelt wird - verfolgten später auch Georg III. und Friedrich von York. Die Klage des Domkapitels gegen die Einschränkung ihrer Gerechtsame durch den Landesherrn vor dem Reichshofrat blieb deshalb auch erfolglos. Die Vielzahl der Versuche in der Folgezeit, durch Verordnungen und Reskripte die Archidiakone von der Strafgewalt in diesen Delikten auszuschließen, zeigt aber, wie schwer es in der Praxis war, diese neue Regel durchzusetzen, da die Untertanen die archidiakonalische Sanktionspraxis offenbar häufig akzeptierten. 38 33 CCO: 509 - 511. Die Untersuchung Ernst Augusts II. ergab jedoch offensichtlich sehr wenig brauchbares Material gegen die geistlichen Gerichtsherrn. So ließ sich auch der unterstellte Gewissenszwang auf zum Tode verurteilte evangelische Untertanen durch katholische Geistliche zum Ärger Ernst Augusts II. nicht eindeutig nachweisen. 34 CCO: 628 - 630, bes. 630. 35 CCO: 629f. 36 StAOS Rep 100 Abschn 296 Nr 4 Bl 47. Auch Gotteslästerung sollte nun nur noch von den Brüchtengerichten bestraft werden; selbst die Bestrafung von Schlägereien mit Geistlichen auf Kirchengrund den Archidiakonen entzogen werden (im folgenden CCO: 568 - 572, bes. 571f.). 37 CCO: 571f. 38 Vgl. aber dazu Abschnitt 3. Ähnlicher Befund auch in Holzem: Konfessionalisierung (wie Anm. 3), 304. Harriet Rudolph 634 Als Ausdruck der feindseligen Stimmung gegenüber den geistlichen Gerichtsherrn unter Ernst August II. können auch zahlreiche Streitschriften gegen ihre Gerichtskompetenz gesehen werden. 39 Darin warfen die Autoren den geistlichen Gerichtsherrn nicht nur vor, sich als Geistliche in rein weltliche Angelegenheiten zu mischen, voreingenommen und eigennützig Recht zu sprechen, sondern kritisierten auch das ganze Verfahren als unrechtmäßig. 40 Den Archidiakonen wurde mangelhafte Rechtsvertrautheit unterstellt. 41 Ihre Strafen seien den Delikten nicht angemessen: Weder würden die Verurteilten dadurch gebessert, noch die übrigen Untertanen abgeschreckt. Aus eigennützigen Beweggründen würden die Archidiakone nur Geldstrafen verhängen. 42 Auf diese Argumente sollte am Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Debatte um die Säkularisierung geistlicher Staaten zurückgegriffen werden, als die Regelung weltlicher Belange durch Geistliche prinzipiell als fragwürdig erschien. 43 Blieb den Beschränkungsversuchen von Ernst August II. zumindest ein gewisser Erfolg nicht versagt, so konnten die Archidiakone unter seinem katholischen Nachfolger, Clemens August von Wittelsbach (1728 - 1761), ihre Kompetenzen wieder ausweiten. Zwar erging 1729 noch ein Reskript, daß die Bestrafung aller höheren Unzuchtsfälle allein durch die Landes- und Justizkanzlei zu erfolgen habe. 44 Jedoch zeigt die Praxis, daß zumindest die Ehebrüche in der Regel nur von der Kanzlei verhandelt wurden, wenn sie mit einem Inzest verbunden waren, der als das weit schwerwiegendere Delikt galt. Obwohl Clemens August den geistlichen Gerichtsherrn weniger feindlich gegenüberstand, beharrte auch er formal auf der landesherrlichen Kompetenz bei den umstrittenen Delikten. 45 Nicht zuletzt deshalb richtete das Domkapitel in den 1750er Jah- 39 Vgl. dazu u.a. Unfug und Ungrund derjenigen Gravaminum, welche kurz nach Antritt Ihrer Königl. Hoheit bischöfflicher Regierung des Fürstenthums und Stiffts Oßnabrück das Dom-Kapitel daselbst (...) bey hochlöBl Reichs-Hoffrath introduciret (...), Osnabrück 1720; Johann Paul Kreß: Rechtsbegründete vollständige Erläuterung des Archidiaconal-Wesens und der geistlichen Sendgerichte wie sie beyde (...) absonderlich in dem Hoch-Stifft Osnabrück von Zeit zu Zeit beschaffen gewesen und noch sind, Helmstedt 1725; vgl. auch Johann Zacharias Möser: Pto. praetensa jurisdictionis archidiaconorum, 1728 (StAOS Rep 100 Abschn 278 Nr 8). 40 So wurde offenbar nicht selten auf bloße Denunziation zur Sanktion geschritten. Erschien der Verurteilte nicht zum angesetzten Termin, wurde sofort eine Strafe verhängt, ohne daß diese vorher wenigstens angedroht worden war (u.a. StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 6 Bl 51 - 64). Die Kommissare verließen sich auf zweifelhafte oder dem Angeklagten eindeutig mißgestimmte Zeugen und lehnten es mitunter ab, Entlastungszeugen zu hören. 41 Im Unterschied zu den landesherrlichen Justizbehörden beauftragten die Archidiakone zur Erstellung von Urteilsgutachten im 18. Jahrhundert noch häufig Privatgelehrte, deren Gelehrsamkeit und Unparteilichkeit besonders von der Justizkanzlei bezweifelt wurde. 42 Bei armen Delinquenten hätten die Geistlichen die Gefängniskosten selbst zu zahlen gehabt, während ihnen eine Geldstrafe eine zusätzliche Einnahme brachte. 43 Vgl. dazu die Literatur in Anm. 95. 44 StAOS Rep 100 Abschn 306 Nr 52 Bl 26f. 45 Einerseits weitete er die Spruchkompetenz des Offizialates, die unter Ernst August II. eingeschränkt worden war, wieder aus. Das Offizialat galt allerdings weit mehr als bischöfliches Gericht als die Archidiakonate, da es gerade dazu eingeführt worden war, deren Macht zu beschränken. Allerdings führte ab Clemens August auch hier immer ein Mitglied des Domkapitels den Vorsitz. Zum Offizialat vgl. Bär: Abriß (wie Anm. 11), 40f.; von Boeselager: Domherren (wie Anm. 9), 79f. Andererseits erklärte Clemens August in einem Generalreskript von 1752 alle Verfahren der Archidiakone für nichtig, die der landesherrlichen Gerechtsame entgegenstünden (StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 9 Bl 83 - 86). Als ein Archidiakon die Wiederausgrabung eines auf dem Kirchhof bestatteten Verbrechers bestrafte, wurde er zu einer Strafe von 100 Reichstalern verdammt. Zwar stand den Archidiakonen die Bestrafung von Friedhofsverletzungen zu, nicht aber die der Grabschändung, um die es sich hier eindeutig handelte. Kirchenzucht im geistlichen Territorium 635 ren einen speziellen Fonds ein, aus dem alle Kosten zukünftiger Klagen gegen den Landesherrn vor dem Reichshofrat finanziert werden sollten. 46 Offenbar sahen die Mitglieder des Domkapitels neue Streitigkeiten um die Jurisdiktion voraus, zumal sie wußten, daß der nächste Bischof evangelisch sein würde. Wenige Jahre nach dem Regierungsantritt Georg III. von Braunschweig-Lüneburg (1763 - 1783) kam es auch tatsächlich erneut zum Konflikt. Die evangelische Landesregierung befand sich aber nun in einer prekären Lage: Eine Regierung des Vaters für seinen noch minderjährigen Sohn - der künftige Bischof Friedrich von York war gerade geboren - sah die Capitulatio Perpetua nicht vor. Auf Anraten von Justus Möser, der als Geheimer Referendar die Landesregierung auch in dieser Frage beriet, wurde eine direkte Konfrontation mit den Archidiakonen zunächst vermieden, da die Reichsgerichte bei einer Klage des Domkapitels möglicherweise die ganze Regierungskonstruktion in Frage gestellt hätten. 47 Man protestierte nur formal, damit die Rechtspraxis der Archidiakone nicht zur Gewohnheit werden konnte, auf die sich der Gegner in zukünftigen Streitfällen berufen konnte. 48 Als Friedrich von York (1783 - 1802) mit seiner Volljährigkeit 1783 die Regierung des Fürstbistums antrat, vermied auch er zunächst einen Streit mit dem Domkapitel, da er auf dessen Unterstützung angewiesen war. Friedrich rief seine Beamten zu verbaler Zurückhaltung gegenüber den Archidiakonen auf, wies sie allerdings gleichzeitig an, in der Praxis die Bestrafungskompetenz an sich zu ziehen. 49 Das Domkapitel durchschaute diese Taktik, sah aber keinen geeigneten Weg, ihr zu begegnen. Einerseits maß man weiteren Verhandlungen mit dem Landesherrn keine großen Erfolgsaussichten bei, andererseits hatte man mit Klagen vor dem Reichshofrat in der Vergangenheit ebenfalls keine allzu guten Erfahrungen gemacht. Die Archidiakone befürchteten zudem, daß bei einer Klage auch die Ämter aufmerksam werden könnten, in denen ihre Rechtsprechung von den landesherrlichen Beamten bislang weitgehend akzeptiert worden war. Zu Beginn der 1780er Jahre beschränkte Friedrich das Recht der Archidiakone, schwerere Strafen wie Gefängnis und die Ausstellung vor der Kirche zu verhängen. 50 Ihre Sanktionsbemessung sollte sich von nun an den Go- und Amtsgerichten orientieren. 51 Damit wurden sie mit den landesherrlichen Untergerichten auf eine Stufe gestellt 46 Von Boeselager: Domherren (wie Anm. 9), 67. 47 Vgl. im folg. generell StAOS Rep 100 Abschn 378 Nr 74. Allerdings klagte das Domkapitel später tatsächlich gegen die willkürliche Einschränkung seiner Mitbestimmungsrechte durch Georg III. beim Reichshofrat. Es bekam jedoch lediglich eine finanzielle Entschädigung zugesprochen, vgl. von Boeselager: Domherren (wie Anm. 9), 72. Zu Mösers Rolle in dieser Frage vgl. meinen Aufsatz in Möserforum 3 (1999). 48 Insgeheim gab der Geheime Rat aber den Auftrag, eine Materialsammlung anzulegen, damit man bei späteren Prozessen gewappnet sei. Vor allem sollten Beschwerden der evangelischen Untertanen über die Rechtspraxis der Archidiakone unter Clemens August zusammengestellt werden. Die brisante konfessionelle Problematik hätte sich gut für eine Einschränkung geistlicher Gerichtsbefugnisse instrumentalisieren lassen. Die Suche blieb aber weitgehend erfolglos. 49 Gegenüber dem Domkapitel behauptete er, daß er seine Beamten zur Umgehung der strittigen Punkte anhalte, die Archidiakone sollten deshalb ihre Kommissare in gleicher Weise instruieren. Dieses Verfahren hätte aber den weitgehenden Verzicht auf die Sanktionierung der umstrittenen Delikte bedeutet. Eine derartige Anordnung Friedrichs ist daher wenig glaubhaft. 50 Sie durften nur noch höchstens acht Tage Gefängnis verhängen. Zur Kirchentürstrafe waren sie überhaupt nicht mehr berechtigt. Vgl. dazu Abschnitt 3. 51 Die landesherrlichen Untergerichte konnten allerdings Strafen bis zu 14 Tagen verhängen. Vgl. StAOS Rep 100 Abschn 387 Nr 1 Bl 27 - 29. Harriet Rudolph 636 und ihre vorherige Sonderrolle negiert. Inzwischen widmete der Landesherr auch die Geldstrafe für Vergehen, bei denen dem Archidiakon traditionell die Halbscheid zustand, regelmäßig gemeinnützigen Zwecken und brachte auf diese Weise die Geistlichen um ihren Anteil. Dieses Verfahren wurde von den Archidiakonen nur widerwillig geduldet. 52 1796 war das Maß jedoch voll: Das Domkapitel klagte erneut vor dem Reichshofrat gegen die vielfältigen Verletzungen seiner Gerechtsame. Die Gegendarstellung der Kanzlei folgte den üblichen Schemata: Das Domkapitel habe in dieser Angelegenheit schon kurz nach dem Westfälischen Frieden Streit gesucht und jede Gelegenheit zur willkürlichen Ausdehnung seiner Kompetenzen genutzt. 53 Unter der Regierung von Clemens August hätten im Geheimrat Mitglieder des Domkapitels gesessen, die in dieser Frage wider die ausdrücklichen Vorschriften ihres Herrn handelten. Die Geistlichkeit solle sich auf Geistliches beschränken. Da der Kaiser schon manchen Unfug der Geistlichkeit zugunsten der Untertanen und Regierungen verhindert hätte, solle er nun die Beschwerde des Domkapitels verwerfen. Sie sei eine Anmaßung, da die Archidiakone schließlich Amt und Autorität allein dem Bischof verdankten. Letztlich erwies sich die beim Reichshofrat in dicken Aktenbänden manifeste Mühe beider Seiten als umsonst. Als 1802 das Fürstbistum Osnabrück säkularisiert wurde, war die Klage noch nicht entschieden. Mit der Säkularisation ging die geistliche Gerichtsbarkeit der Archidiakone an das Offizialat, die weltliche an die Gogerichte über. 54 Damit fand der jahrhundertelange Streit zwischen Bischof und Domkapitel um die Strafkompetenz ein Ende. Bis dahin hatten jedoch das Wissen um den Konflikt und das Fehlen einer als verbindlich akzeptierten normativen Regelung 55 den betroffenen Untertanen Handlungsspielräume eröffnet, innerhalb welcher das obrigkeitliche Disziplinierungsbemühen unterlaufen oder zumindest gemildert werden konnte. 3. Unzüchtige Untertanen - Profiteure des Konflikts? (...) so ist es doch in einem Lande, wo Recht und Billigkeit geschätzet wird, etwas unerhörtes, ein junges Mädchen, welches von ehrlichen Eltern gebohren, und sich bißher mit Leinweben, Spinnen ehrlich ernähret hat, nicht allein ohne erforderlichen Beweiß, sondern so gar ohne gehörige Untersuchung des angeblichen facti, auf einmahl mit einer solchen prostitution zu belegen, welche dieselbe auf ihre gantze Lebenszeit unglücklich machet. 56 So be- 52 StAOS Rep 100 Abschn 306 Nr 55 Bl 33f. 53 Vgl. i. folg. StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 9 Bl 4 - 16. 54 Die Gerichtsbefugnis des Offizialates wurde 1808 abgeschafft. Damit fand die Ausübung geistlicher Gerichtsbarkeit über weltliche Untertanen ein Ende. 55 Die Überlieferung ist voll von Anfragen der lokalen Beamten, wie ein konkreter Fall zu handhaben sei, da der Konflikt auf der lokalen Ebene zumeist zwischen dem archidiakonalischen Kommissar und dem Rentmeister ausgetragen wurde. Die Sanktionierung der umstrittenen Delikte differierte von Amt zu Amt, letztlich auch von Amtsinhaber zu Amtsinhaber. Auch die höchsten Territorialbehörden, die Kanzlei und der Geheime Rat, waren je nach ihrer Besetzung unterschiedlicher Ansicht. 56 Vgl. im folgenden generell StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 6 Fall 34, hier: Bl 5f. Für die Strafpraxis der Archidiakone ist generell der disparate Charakter der Überlieferung zu berücksichtigen, da die Bestände zum großen Teil 1829 kassiert wurden. Erhalten ist aber eine Vielzahl von Fällen, bei denen es zu Jurisdiktionsstreitigkeiten kam sowie jene, die von beiden Seiten als Beweismaterial ihrer Sanktionskompetenz gesammelt wurden. Trotz der so entstehenden Verwerfungen läßt sich jedoch eine Reihe von Aussagen über die Sanktionspraxis der geistlichen Gerichte im Fürstbistum Osnabrück machen. Kirchenzucht im geistlichen Territorium 637 schwert sich Catharina Werneken 1782 beim Geheimen Rat über das Vorgehen des Dechanten zu St. Johann als Archidiakon zu Belm, Bohmte, Essen, Hunteburg, Osterkappeln und Venne. Was war geschehen? Die von einer gewaltigen jalousie eingenommene(n) Frau eines Christian Wageners - so die Supplikantin - habe sie beim Archidiakon angezeigt, weil sie mit ihrem Mann mehrfach Ehebruch begangen habe. Auf die Denunziation hin lädt der Archidiakon die Frau zunächst vor, um sie über die Anzeige zu befragen. Als diese die Vorladung ignoriert, läßt der Archidiakon sie ohne weitere Vorwarnung und ohne Hinweis darauf, was man ihr überhaupt vorwirft, durch den Untervogt und bewaffnete Schützen verhaften und sie gleich einer Person, die schon der schändlichsten Thaten überführet worden mit einem sogenannten Schandlaken und einer Leuchte auf dem Kirchhof zu Hunteburg zur Schau stellen. 57 Nach dem Ende des Gottesdienstes verkündet der Pfarrer Catharina Werneken vor versammelter Gemeinde, daß sie innerhalb von 24 Stunden das Kirchspiel zu verlassen habe oder bei Wasser und Brot im Amtsgefängnis sitzen solle. Der Advokat Koch, der im Auftrag der Supplikantin die Beschwerde verfaßt, erkennt geschickt die Brisanz des Falles und funktionalisiert diese zugunsten seiner Mandantin: Nicht nur habe der katholische Archidiakon eine Protestantin abgeurteilt, sondern auch noch eine Person, über die er - da nicht aus seinem Kirchspiel - überhaupt keine Jurisdiktion besitze. Er habe sich zur Exekution des Amtsvogtes bedient, ohne vorher das Amt Wittlage um Erlaubnis zu fragen, wozu er verpflichtet sei. Koch fährt fort: Gewiß! das Verfahren ist so sonderbar und widerrechtlich, daß eine hohe Landes-Regierung solches ohne äußerste Mißbilligung nicht wird vernehmen können. 58 Der Advokat fordert 100 Reichstaler Schadenersatz und eine öffentliche Entschuldigung des Archidiakons für seine Mandantin. Die Reaktion der Territorialbehörden auf diese Beschwerde zeigt, wie willkommen den Beamten die angebliche Befugnisüberschreitung des geistlichen Gerichtsherrn war. Der Geheime Rat verlangt eine sofortige Stellungnahme des Dechanten, wie dieser unter dem Namen einer Kirchenbuße eine Kriminalstrafe habe verhängen können. Jene Strafe sei »ganz irrig« mit dem Namen Kirchenbuße belegt. Die Kirchentür unterscheide sich durch ihre wirkliche »Infamie« doch entscheidend von der Kirchenbuße, bei der der Delinquent sich freiwillig stelle und auch zum Abendmahl zugelassen werden könne. Da von einer solchen Strafe die lebenslange Wohlfahrt und Ehre eines Untertanen abhingen, sei ein einzelner Geistlicher zu ihr nicht befugt. 59 Lediglich die Beamten der Landes- und Justizkanzlei dürften nach Berücksichtigung aller Umstände eine solch schwere Strafe verhängen. Als besonders schwerwiegend bewertet der Geheime Rat die konfessionelle Brisanz des Falles. Wohl wider besseren Wissens folgt er der Argumentation des Advokaten, wonach dem Archidiakon über evangelische Personen generell keine Jurisdiktion zustünde. Dies galt - wie oben bereits bemerkt - nicht für einen Unzuchtsfall, um den es sich hier handelt. Dagegen war der Archidiakon in der Tat nicht dazu berechtigt gewesen - wie der Geheime Rat empört bemerkt - eine Protestantin vor eine katholische Kirche zu stellen. Der Geheime Rat beauftragt deshalb den Advocatus fisci festzustellen 57 StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 6 Bl 4. 58 Ebd., Bl 5. 59 StAOS Rep 100 Abschn 387 Nr 1 Bl 38 - 41. Harriet Rudolph 638 was zur Erhaltung der landesherrlichen, besonders auch der Gerechtsame des evangelischen Wesens hierauf den Rechten nach zu verfügen sei. 60 Auch der Advocatus fisci 61 nutzt die Gelegenheit, gegen den geistlichen Gerichtsherrn vorzugehen. Er plädiert dafür, diesen angeblichen Eingriff in landesherrliche Rechte sofort zu unterbinden, da von ihm Gefahren für Ruhe und Sicherheit im Fürstbistum ausgingen. Besonders betont der Advocatus fisci das unrechtmäßige Verfahren gegen das ‘arme, unschuldige und schutzlose Mädchen’, das der Landesherr vor den Übergriffen des Archidiakons zu schützen habe. Auch solle der Vogt, der auf Befehl des Archidiakons die Verhaftung ausgeführt hatte, als einen vorsetzlichen Verächter der landesherrlichen Hoheit- Rechte seines Amtes enthoben werden. 62 Die Vögte und Untervögte dürften nur auf Anordnung des Amtes tätig werden, folglich hätte der Vogt dieses Unrecht verhindern können. Dem Advocatus fisci war klar, daß die Akzeptanz der geistlichen Gerichtsbarkeit auf dieser untersten Hierarchieebene von vornherein alle Einschränkungsversuche der Territorialbehörden behinderte. 63 Auf Vorschlag der Justizkanzlei wird der Fall vom Gogericht untersucht. Die Untersuchung scheitert jedoch zunächst, da beide Delinquenten angeblich nicht aufzufinden sind. Zwei Jahre danach wendet sich Catharina Werneken erneut an den Geheimen Rat und besteht auf ihrer Forderung einer finanziellen und öffentlichen Wiedergutmachung. Sie beschwert sich nun auch darüber, daß Wagener zwar nach ihrer Bestrafung einmal zitiert worden sei, aber nach einer Entschuldigung straffrei ausging. Dabei habe er doch einen Ehebruch, sie dagegen nur einfache Unzucht begangen. 64 Der Ausgang des Falles ist ungewiß. Er hatte aber zur Folge, daß den lokalen Beamten in einem Reskript vom 10. Oktober 1783 generell untersagt wurde, Befehlen der Archidiakone zum Vollzug der Kirchentürstrafe Folge zu leisten. 65 Nur wenn ein Fall schon von der Synode untersucht worden sei und nicht der geringste Zweifel bestünde, könnten die Archidiakone nach Erhalt der landesherrlichen Bestätigung selbst eine solche Strafe aussprechen. 66 Die ehemalige geistliche Strafe wurde somit kriminalisiert und von der weltlichen Justiz vereinnahmt. 67 60 StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 6 Bl 18. 61 Dieser Beamte ist der Landes- und Justizkanzlei unterstellt. Er leitet die Untersuchung in peinlichen Fällen und verfaßt die Anklage. 62 Im Rahmen der Untersuchung von Vergehen kam es nicht selten zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Advocatus fisci und den lokalen Beamten, die sich von den Zentralbehörden nicht hineinreden lassen wollten. Wahrscheinlich ergriff der Justizbeamte deshalb gern die Gelegenheit zur Rüge der lokalen Beamten. 63 So verteidigt sich der Vogt auch damit, es sei schon vor ihm übliche Praxis gewesen, die archidiakonalischen Befehle ohne weitere Nachfragen auszuführen. Die Justizkanzlei beläßt es deshalb auch bei einer Ermahnung. 64 Damit gibt die Frau nach zwei Jahren die Unzucht zu, die sie in ihrer ersten Supplik noch rundheraus geleugnet hatte. Dennoch besteht sie auf der gleichen Entschädigung. 65 StAOS Rep 100 Abschn 387 Nr 1 Faszikel 9. 66 Vgl. dazu den Fall in StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 1 Fall 41. Bevor Elisabeth Laumann 1788 mit der Kirchentürstrafe belegt wird, bittet der Archidiakon um die landesherrliche Bestätigung. Sie erscheint ihm als einziges mögliches Strafmittel, da die Delinquentin vermögenslos ist. Sie könne weder eine Geldstrafe zahlen noch auf eigene Kosten im Gefängnis sitzen. Das Gefängnis würde ihr nur den Unterhalt sichern. Diese Argumentation überzeugt den Geheimen Rat offenbar, das Urteil wird approbiert. Es ist aber zweifelhaft, ob die Mehrzahl der Archidiakone sich in der Folge an dieses Reskript hielt. 67 Vgl. dazu Dietrich Kluge: Die »Kirchenbuße« als staatliches Zuchtmittel im 15. - 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte 70 (1977), 51 - 62. Kirchenzucht im geistlichen Territorium 639 Wenn es Catharina Werneken hier auch sehr wahrscheinlich nicht gelang, die geforderte hohe Entschädigung zu bekommen, so entging sie doch den vom Archidiakon angedrohten weiteren Sanktionen. 68 Die angeblich so schlimme Schande der öffentlichen Ausstellung scheint ihr weit weniger ausgemacht zu haben, als sie in ihrer Supplik behauptet hatte. So hatte sich die dadurch so unglücklich gewordene(n) Supplikantinn kurz danach im Wirtshaus mit Christian Wagener getroffen. Sie hatte zunächst mit ihm und anderen Männern getanzt und getrunken, was zeigt, daß diese Strafe sie auch in den Augen der anderen Eingesessenen des Kirchspiels keineswegs so geächtet hatte, daß diese den Kontakt mit ihr abgebrochen hätten. Schließlich hatte sie Wagener öffentlich umarmt, geküßt und laut verkündet gesagt, daß sie ihn trotz der Strafe nicht verlassen wolle. 69 Vorgänge dieser Art sind kein Einzelfall. Sie belegen, daß die Wirkung einer solchen Schandstrafe, ob nun geistlich oder weltlich, in der Frühen Neuzeit entscheidend davon abhing, wie das unmittelbare gesellschaftliche Umfeld reagierte. 70 Hier hatten die im Wirtshaus anwesenden Nachbarn die Bestrafte sogar noch zur Klage gegen den Archidiakon aufgefordert. Die Konflikte zwischen geistlicher und weltlicher Obrigkeit um die Sanktionierung bestimmter Delikte waren den Untertanen geläufig. Wie Catharina Werneken, die keineswegs so unschuldig und schutzlos war, wie sie sich gegenüber der weltlichen Obrigkeit dargestellt hatte, versuchten auch andere Untertanen, dieses Wissen zu ihren Gunsten zu nutzen und sich der Sanktion zu entziehen oder diese zumindest zu mildern. Peter Zöllner gerät 1790 in die Mühlen der Justiz. Er wird von zwei Nachbarn bezichtigt, seine alte und kranke Ehefrau umgebracht zu haben, damit er seine Magd heiraten könne. 71 Während seine Frau noch lebte, hatte er mit dieser Magd einen Ehebruch begangen und sie geschwängert, nach dem Tod seiner Frau die Unzucht fortgesetzt und ein weiteres Kind gezeugt. Wegen der fortgesetzten Unzucht zitiert der Sendrichter Zöllner. Wie Catharina Werneken kommt auch Peter Zöllner der Vorladung zunächst nicht nach, worauf er ohne Anhörung eine Geldstrafe von 25 Reichstalern erhält. Daraufhin suppliziert Zöllner an die Kanzlei, zwar würde er die Strafkompetenz des Archidiakons nicht generell bestreiten wollen, nur habe er sich ja wegen desselben Vergehens schon um Gnade an den Landesherrn gewandt. Dieser solle ihn nun vor weiteren Verfolgungen durch den Archidiakon schützen: gewiß kann kein armer Mark Kötter 25 Reichstaler pro poena bezahlen und würden Euer Königliche Hoheit aus Landes Väterlicher Sorge nicht zugeben, daß ein armer schatzpflichtiger Kötter so hart bestraft würde. 72 Peter Zöllner hebt in seiner Supplik in durchaus üblicher Weise darauf ab, daß die geistliche Geldstrafe seine Fähigkeit zur Schatzzahlung beeinträchtigen würde und somit nicht im Interesse des Landesherrn liegen könne. 68 Immerhin hatte die Justizkanzlei die Höhe der Entschädigung zunächst vom Maß der Schuld der Frau abhängig machen wollen. Wandten sich hingegen Inquisiten wegen einer Entschädigung für eine unrechtmäßige Untersuchungshaft u.ä., die die Kanzlei zu verantworten hatte, an den Geheimen Rat, wurden sie in der Regel rundheraus abschlägig beschieden. 69 StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 6 Bl 6 u. 77 - 80. Dieser Hergang ist zwar der Gegenschrift des Archidiakons entnommen, die plastische Schilderung und die Parallelüberlieferung sprechen aber dafür. 70 Es ist also fraglich, ob die Masse der Untertanen diese geistliche Strafe tatsächlich als so große Bedrohung empfand, wie Muster meint, vgl. Michael Muster: Das Ende der Kirchenbuße. Dargestellt an der Verordnung über die Aufhebung der Kirchenbuße in den Braunschweig-Wolfenbüttelschen Landen v. 6. März 1775, Diss. jur., Hannover 1983, 58. 71 Vgl. im folg. StAOS Rep 100 Abschn 306 Nr 53 Bl 18 - 66. 72 Ebd., Bl 50. Harriet Rudolph 640 Auf die Anfrage des Geheimen Rates verteidigt der Archidiakon sein Vorgehen damit, daß es sich bei dem von ihm bestraften Vergehen und dem von der Kanzlei untersuchten keineswegs um dasselbe handele. Kanzlei und Geheimer Rat pflichten ihm intern zu: Einmal geht es um Unzucht, das andere Mal um Mordverdacht. Dennoch nutzen die Territorialbehörden die Gelegenheit, die Sanktionsabsichten des geistlichen Gerichtsherrn zu durchkreuzen. Man beschließt, gegenüber dem Archidiakon einfach zu behaupten, in diesem Fall habe sich die Untersuchung des Mordverdachtes von der des Ehebruches nicht trennen lassen. Der Archidiakon solle deshalb vom Vollzug der verhängten Geldstrafe absehen. Dieser willigt schließlich auch widerwillig ein. Da sich der Mordverdacht im Laufe der Untersuchung nicht beweisen läßt, wird das Verfahren gegen Zöllner gegen die Zahlung von 30 Reichstalern Abolitionsgeld eingestellt. Die Zahlung beider Summen - Abolitionsgeld und Sendbrüchte - hätte Zöllner wahrscheinlich finanziell überfordert. Es liegt somit auch im Interesse des Landesherrn, die archidiakonalische Strafe aufzuheben. 73 Wenn es Peter Zöllner hier auch nicht gelang, sich jeglicher Sanktion zu entziehen, so wurden ihm doch die 25 Reichstaler archidiakonalische Brüchte erspart. Allerdings funktionierte diese Taktik nicht immer. Dies zeigt der Fall des Caspar auf der Heide, dem der Archidiakon 1758 den Umgang mit einer Witwe untersagt hatte. 74 Als er vor einer Menge anderer Untertanen lauthals verkündet, er wolle sich daran nicht halten und kurzerhand bei der Witwe einzieht, erhält er für sein widersetzliches Verhalten eine achttägige Turmstrafe bei Wasser und Brot. In seiner Supplik an den Geheimen Rat behauptet Caspar auf der Heide, er sei völlig ohne Grund, unrechtmäßig und auf spektakuläre Weise durch eine große Anzahl von Schützen verhaftet worden. Nun säße er krank unter den ärgsten Missetätern im Amtsgefängnis. Hier lehnt der Geheime Rat das Gesuch um Entlassung ab. Die Überzeugung, daß Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit - sei sie weltlich oder geistlich - bestraft werden müsse, wog offenbar schwerer als der sonst gern bezeigte Wille, die Gerichtsbefugnis der Archidiakone einzuschränken. Im Fall des Caspar auf der Heide lag die geistliche Sanktion im Ordnungsinteresse des Staates; die Beschwerde des Untertans mußte deshalb erfolglos bleiben. In der Regel scheinen die von den Archidiakonen verhängten Gefängnis- oder geistlichen Strafen durch Geld ablösbar gewesen zu sein. Diese Praxis ersparte den vermögenden Bevölkerungsschichten öffentliche Schande und Kerker; Strafen, denen sich besitzlose Untertanen höchstens durch Flucht entziehen konnten. Für einen vermögenden Delinquenten war es deshalb mitunter durchaus von Vorteil, durch einen geistlichen Gerichtsherrn abgeurteilt zu werden. Dies betraf gerade jene umstrittenen Delikte wie Inzest und mehrfachen Ehebruch, die bei einer Sanktion durch die weltliche Obrigkeit nach der Carolina und gemeinen Rechten Leibesstrafen erforderten. Die Akzeptanz der archidiakonalischen Gerichtsbarkeit dürfte somit vor allem bei vermögenden Untertanen größer gewesen sein als bei unvermögenden. Als Beispiel mag ein Fall von 1788 dienen. In einer Supplik bittet ein Colonus 75 aus dem Kirchspiel Neuenkirchen den Domdechanten von Hacke, die Bestrafung 73 Die Supplik Zöllners gegen die Zahlung der Abolitionsgelder, die ihm aufgrund seines Freispruches ungerechtfertigt erscheint, bleibt dagegen erfolglos (ebd., Bl 65). Die Kanzlei begründet ihr ablehnendes Votum damit, daß Zöllner nur ab instantia freigesprochen worden sei und sich schließlich durch sein unzüchtiges Verhalten selbst verdächtigt gemacht habe. 74 Im folgenden StAOS Rep 100 Abschn 387 Nr 1 Bl 2 - 10. 75 Die Bezeichnung findet sich für Vollbauern, Mark- und Erbkötter. Kirchenzucht im geistlichen Territorium 641 seines erstmaligen Ehebruchs durch die Beamten des Amtes Grönenberg zu verhindern und selbst eine Strafe auszusprechen. 76 Seiner Ansicht nach ist allein der Dechant als Archidiakon des Distriktes dazu berechtigt, einen Ehebruch abzuurteilen. Der Domdechant beschwert sich auch sofort beim Geheimen Rat über den Eingriff der landesherrlichen Beamten in seine Gerechtsame. Dieser fragt zunächst beim Amt an, wie derartige Fälle dort sonst gehandhabt würden und ob es nicht irgendeinen Grund gäbe, daß Verbrechen criminaliter zu bestrafen. Schon dieser Vorgang zeigt, daß es in dieser Frage keineswegs einen überall im Hochstift gültigen Verfahrensweg gab. Der Bericht der Beamten läßt erkennen, weshalb der Supplikant eine archidiakonalische Strafe vorgezogen haben muß. In den letzten fünf Jahren hatte das Amt fünf erstmalige Ehebrüche abgestraft: jedes Vergehen mit mindestens acht Tagen Gefängnis, die teilweise bei Wasser und Brot abgesessen werden mußten. Bei einer Geldstrafe durch den Archidiakon hätte der Delinquent im Höchstfall 30 - 50 Reichstaler zu erwarten gehabt. Die Beamten sind jedoch nicht bereit, den Fall dem Dechanten zu überlassen. Das Laster der Unzucht sei in der vergangenen Zeit derart eingerissen, daß ihm mit Geldstrafen nicht mehr beizukommen sei. 77 Gerade bei den besitzenden Bevölkerungsschichten, die am ehesten in Versuchung kämen, seien die Geldstrafen besonders wirkungslos. Auch die nochmalige Beschwerde des Domherren bleibt erfolglos. In seinem Gutachten stellt Justus Möser dazu lakonisch fest: Seine Königl. Hoheit werden es dem archidiacono niemahls einräumen, daß derselbe den Ehebruche prima et secunda vice, privative zu bestrafen habe. 78 Offiziell eingeräumt wurde den Archidiakonen dieses Recht zwar in der Tat nie, jedoch duldeten die weltlichen Behörden in der Praxis bei diesem geringeren Delikt die Sanktionspraxis der Archidiakone so lange, wie diese nicht formal darauf Anspruch erhoben. In den Augen der weltlichen Obrigkeit war es offenbar immer noch besser, das Delikt von Geistlichen abgestraft zu sehen, als völlig auf eine Sanktion verzichten zu müssen, weil die Tat bei den landesherrlichen Behörden nicht angezeigt wurde. Der Colonus Christian Niekamp hatte 1775 Ehebruch und Inzest mit seinen beiden Stieftöchtern begangen. 79 Als das Vergehen ruchbar wird, versucht Niekamp einer für ihn härteren weltlichen Sanktion zuvorzukommen, indem er den Archidiakon von sich aus um die Bestrafung des Deliktes ersucht. Da er offenbar selbst bezweifelt, daß diese Taktik von Erfolg gekrönt sein würde, fliehen Vater, Stieftöchter und Mutter vorsichtshalber ins Brandenburgische. Der Archidiakon pfändet daraufhin das zurückgelassene Vermögen, um die Geldstrafe vollziehen zu können. Auf Initiative des Amtes und der zurückgelassenen Kinder hebt der Geheime Rat die Pfändung jedoch auf, weil eine 76 Von Hacke war von Friedrich von Yorck 1783 zum Geheimen Rat ernannt, allerdings sofort von allen Amtspflichten entbunden worden, dazu von Boeselager: Domherren (wie Anm. 9), 71f. Vgl. im folgenden StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 4 Bl 113 - 141. Klöntrup: Handbuch (wie Anm. 11), 81, führt einen Fall an, bei dem sich sogar ein Adliger freiwillig von einem Archidiakon bestrafen lassen wollte. 77 Diese Phrase dient häufig zur Begründung bei Sanktionsentscheidungen oder Verordnungsinitiativen der Beamten. Sie sagt nicht unbedingt etwas über die tatsächliche Tendenz aus. Der Archidiakon streitet dies in seiner Gegendarstellung auch ab. 78 Wenn er wolle, könne er die Sache ja beim Reichshofrat anbringen (StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 4 Bl 138). 79 Vgl. i. folg. StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 4 Bl 67 - 95. Ein solches Vergehen galt als Inzest ersten Grades, der hier zusätzlich dadurch erschwert wurde, daß die beiden Stieftöchter untereinander blutsverwandt sind. Harriet Rudolph 642 Geldstrafe bei einem so schweren Verbrechen unangemessen sei. Man solle es vielmehr vorerst bei der selbstgewählten Relegation (Landesverweis) belassen. 80 Der Geheime Rat zieht es offensichtlich vor, auf ein Auslieferungsgesuch an Preußen, eine langwierige, kostenintensive Untersuchung des Falles sowie auch auf die ordnungsgemäße Sanktion zu verzichten. Seiner Ansicht reicht die unerlaubte Entfernung der Delinquenten aus dem Hochstift aus, um ein öffentliches Ärgernis zu verhindern. Bei einer Verurteilung durch die Justizkanzlei hätte Niekamp mit einer mehrjährigen Zuchthausstrafe rechnen müssen; im Vergleich dazu wäre ihm sicher eine - selbst hohe - Geldstrafe durch den Archidiakon weit willkommener gewesen. Die von den Archidiakonen verhängten Geldstrafen fielen zudem in der Regel vergleichsweise gering aus. Dies zeigt zum Beispiel der Fall von Heinrich Kollmer und seiner Stieftochter, die der Archidiakon wegen Ehebruch und Inzest zu einer Strafe von 22 und 18 Reichstalern verurteilt hatte. 81 Hier war der Landesherr selbst der Ansicht, daß die diktierte Strafe viel zu gering sei. Mit der Begründung, das Delikt gehöre außerdem zur Kriminaljurisdiktion, wies die Kanzlei den Archidiakon an, die Strafgelder den Delinquenten zurückzuerstatten. 82 Aber auch hier wirkte sich das Eingreifen der weltlichen Behörden letztendlich positiv für die Angeklagten aus. Da Kollmers Ehefrau den Landesherrn in einer Supplik um Gnade bat, wurde die erkannte Kriminalstrafe nicht vollzogen. 83 Beide blieben straffrei. Selbst die Gefängnisstrafen, die die Archidiakone verhängten, waren meist sehr kurz und überhaupt selten. So verurteilt der Domdechant von Hacke Johan Henrich Osterharn zu drei Tagen Gefängnis bei Wasser und Brot weil er 1. seit vielen Jahren die österliche Kommunion nicht empfangen, 2. seit vielen Jahren an Sonn- und Feiertagen nicht zur Kirche gegangen war, 3. sondern zu dieser Zeit grobe Arbeit verrichtet und seinen Neben Menschen damit geärgeret, 4. seine Kinder vom Kirchgang abgehalten und zu unerlaubter Arbeit angehalten und 5. Frau und Kinder sehr oft mit grausamen und gefahrlichen schlägen tractiret. 84 Anlaß der Strafaktion war sicher die im Urteil zuletzt genannte Behandlung von Frau und Kindern, die - sonst wäre es nicht zur Sanktion gekommen - das übliche und allgemein akzeptierte Ausmaß vermeintlich berechtigter körperlicher Züchtigung weit überschritten haben muß. 85 Die Fälle, die bei dieser Art von Delikt vor der Landes- und Justizkanzlei landeten, waren sehr selten. Wenn die Kanzleibeamten aber ein solches Delikt nach erfolglosen Sanktionsversuchen der Niedergerichte abstraften, dann griffen sie zu entschieden härteren Strafen von mehreren Wochen Gefängnis bis hin zu einem Jahr Karrenschieben. 86 80 Die Strafen der Relegation und Fustigation (Ausstäupung) waren zu diesem Zeitpunkt im Hochstift bereits abgeschafft. 81 Vgl. StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 7 Bl 1 - 8. 82 Allerdings begründet man dies hier damit, daß der Mann mit einer Zwergin verkehrt habe und das Ärgernis der Gemeinde dementsprechend hoch gewesen sei. Dies zeigt, daß auch die Kanzlei Inzestvergehen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr generell als Kriminaldelikte betrachtete. 83 Die Frau hatte ein Attest des Pfarrers vorgelegt, daß ihr Mann phasisch wahnsinnig sei und bei einer Kriminalstrafe wohl gänzlich den Verstand verlieren würde. Eine solche Behauptung mußte in der Regel vom Landesphysikus bestätigt werden, um strafmildernd zu wirken. Hier reichte sie jedoch aus. 84 StAOS Rep 100 Abschn 307 Nr 24 Bl 54. 85 Sehr wahrscheinlich war der Betreffende vorher wegen des gleichen Vergehens bereits mehrfach gebrüchtet worden, ehe zu dieser härteren Strafe gegriffen wurde. 86 Zum Beispiel StAOS Rep 100 Abschn 306 Nr 30 Bl 41 - 56. Kirchenzucht im geistlichen Territorium 643 Es waren häufig arme oder besitzlose Untertanen, die sich an die Justizkanzlei oder den Geheimen Rat wandten, wenn sie mit den vom Archidiakon diktierten Strafen nicht einverstanden waren. So beschwert sich zum Beispiel Anna Catharina Uhrmeisters 1723 bei der Kanzlei. 87 Die Frau war bereits 1720 wegen Ehebruchs mit 15 Reichstalern beim landesherrlichen Brüchtengericht bestraft worden. Nun hatte der Archidiakon ihr und dem betreffenden Mann erneut eine Strafe diktiert, da beide den unzüchtigen Umgang miteinander offenbar fortgesetzt hatten. Die Frau leugnet dies in ihrer Supplik; außerdem scheint ihr die festgesetzte Strafe ungewöhnlich hoch. Beide sollen ein Vierteljahr mit Kerze und Schandlaken sonntags während des Gottesdienstes vor der Kirchentür stehen. Auf ihre Weigerung hin hatte sie der Archidiakon kurzerhand im Amtsgefängnis zu Wittlage festsetzen lassen. Dort sollten sie solange sitzen, bis sie bereit wären, die Strafe abzuleisten. Die Landes- und Justizkanzlei zieht den Fall daraufhin an sich. Da die Untersuchung keine konkreten Beweise einer fortgesetzten Unzucht erbringt, werden beide freigelassen. Die Beschwerden von Domkapitel und Archidiakon bleiben wirkungslos, obwohl sich die geistlichen Herren mehrfach auf die so notwendige Vermeidung göttlichen Zorns berufen. 88 Auch hier war die Beschwerde der Supplikantin damit letztlich erfolgreich. Daß von Seiten der Geistlichkeit allerdings auch nicht immer auf Sanktionskompetenz bei höheren Unzuchtsvergehen bestanden wurde, zeigt der Fall Marquard von 1734. Der Mann hatte über längere Zeit eine inzestuöse Beziehung zu seiner Stieftochter unterhalten. Als daraus ein Kind hervorging, schritt die weltliche Justiz ein. Noch bevor die Kanzlei das übliche Urteil - Fustigation und Relegation - verhängt hatte, setzt sich der Dechant, in dessen Distrikt der Delinquent lebt und der als Archidiakon eigentlich Anspruch auf die Bestrafung hätte erheben müssen, bei der Kanzlei für die Umwandlung der Leibesstrafe in 200 Reichstaler ein. 89 Die von ihm angeführte Begründung, es sei fast eine gewohnheit und beständige Observantz im Hochstift, daß diese Delikte mit Geld abgestraft würden, stimmt jedoch nur für die Rechtspraxis der Archidiakone. Die Justizkanzlei hatte bis dato bei Fällen dieser Art Leibesstrafen verhängt. Der Fall Marquard wird zu einer Art Präzedenzfall, der bei künftigen Urteilsentscheiden häufig herangezogen wird. Von da ab werden vermögende Delinquenten auch von der weltlichen Justiz bei Inzest eine Zeitlang nur mit einer ihrem Vermögen als angemessen betrachteten Geldstrafe belegt, arme Delinquenten dagegen weiterhin mindestens relegiert. 90 Dieses Verfahren, ein bestimmtes Delikt mit unterschiedlichen Sanktionen je nach Besitzstand des Delinquenten zu belegen, steht quer zu der ansonsten im 18. Jahrhundert feststellbaren Tendenz zur Rechtsvereinheitlichung, die eigentlich gerade von den Territorialbehörden vertreten wird. Ein ständisches Sonderrecht wird hier kurzzeitig zu einem Besitzrecht. 91 87 Vgl. im folg. StAOS Rep 100 Abschn 382 Nr 1 Bl 131 - 170. 88 Diese Argumentation trat dagegen seit Beginn des 18. Jahrhunderts in den weltlichen Urteilsbegründungen sehr stark zurück. Wie üblich begründet die Kanzlei ihr Vorgehen mit dem Hinweis, daß den Archidiakonen in dieser weltlichen Sache keine Erkenntnis zustünde. 89 StAOS Rep 100 Abschn 306 Nr 33 Bl 115 - 117. Mit dem Vorschlag, die ihm im Begnadigungsfall zustehende Halbscheid der Geldstrafe für ein Waisenhaus zu verwenden, will der Archidiakon möglicherweise dem Verdacht entgehen, sein Eintreten für den Inquisiten habe finanzielle Motive. 90 Nach der Abschaffung dieser Leibesstrafen 1767 wurden bei Inzest kurze Gefängnisstrafen verhängt, bei Ehebruch dagegen Besserungshaus. Harriet Rudolph 644 Durch das Vorhandensein zweier potentieller Sanktionsgremien kam es mitunter allerdings auch zu doppelten Sanktionen, denen die Delinquenten nur entgingen, wenn sie bei der Justizkanzlei oder dem Geheimen Rat Beschwerde einlegten, was nicht immer der Fall war. Von einer doppelten Strafe konnte der Archidiakon zweifach profitieren: einerseits durch die volle von ihm selbst festgelegte Brüchte, andererseits durch die Halbscheid der vom landesherrlichen Brüchtengericht diktierten Geldstrafe. Bei Beschwerden wurden in der Regel die Archidiakone angewiesen, die Strafgelder den Supplikanten wieder auszuzahlen. Wie weit sie dieser Anweisung Folge leisteten, läßt sich nur ex negativo folgern: Suppliken, die sich über eine verweigerte Zurückerstattung eingezogener Gelder oder unrechtmäßige Pfändungen beschweren, sind nicht vorhanden. Mitunter weigerten sich auch die Amtsvögte, Sendbrüchten zu vollziehen, wenn ihnen bekannt war, daß der Delinquent bereits vom landesherrlichen Brüchtengericht abgestraft worden war. Zusammenfassung Die Sanktionsgewalt der geistlichen Gerichtsherrn wurde entscheidend von der Konfession des Landesherrn beeinflußt. Jedoch war es nicht das spezifische Verhältnis der jeweiligen Konfession zur geistlichen Zucht, das ihre Rolle bestimmte, sondern vielmehr die aus der Konfession resultierende politische Kräftekonstellation im Fürstbistum. Unter den katholischen Bischöfen war das Domkapitel eher in der Lage, seine eigenen Interessen offensiv zu vertreten. Die evangelischen Bischöfe beschränkten dagegen die Handlungsfreiheit der Domherren und damit auch die der geistlichen Gerichtsherrn. Dennoch verstanden sich alle Bischöfe offensichtlich zuerst als Landesherrn und erst danach als geistliches Oberhäupter. Auch die katholischen Bischöfe beharrten formal auf ihrem Sanktionsanspruch. Die Grundlage dafür, daß es den Landesherren nicht gelang, die Sanktionierung bestimmter Delikte allein zu kontrollieren, bildete ein zentrales Strukturmerkmal des geistlichen Staates: die Existenz eines zweiten Machtzentrums, des Domkapitels. 92 Landesherr und Domkapitel sahen in der Sanktionsgewalt über die Untertanen ein wichtiges Mittel zur Ausübung politischer Macht. 93 Allerdings deutet die Überlieferung mit wenigen Ausnahmen nicht darauf hin, daß gerade die evangelischen Untertanen bevorzugtes Disziplinierungsobjekt der katholischen Archidiakone gewesen seien. 94 Vielmehr gelang es mitunter Untertanen beider Konfessionen, den Konflikt zwischen den Sanktionsinstanzen zu instrumentalisieren und sich der Sanktion zu entzie- 91 Dies ist in stark zentralisierten Territorien wie z.B. Württemberg im 18. Jahrhundert nicht mehr denkbar. Vgl. Schnabel-Schüle: Überwachen (wie Anm. 2). Für schwere Fälle von Inzest, z.B. in Verbindung mit »Kindsmißbrauch« (z.B. der Fall in StAOS Rep 100 Abschn 306 Nr 58 Bl 3 - 46) wurden am Ende des 18. Jahrhunderts unabhängig von der Schichtenzugehörigkeit längere Zuchthausstrafen verhängt. 92 Ursache war also nicht die Doppelfunktion des Landesherrn. Auch die protestantischen Landesherrn übten ja beide Funktionen gleichzeitig aus; dort existierte aber eben kein dem Domkapitel vergleichbares Gremium. 93 Da die Bischöfe häufig nicht im Fürstbistum residierten, was ebenfalls als typisch für geistliche Territorien angesehen werden kann, wurden die Jurisdiktionskonflikte hauptsächlich durch die Territorialbehörden, vor allem durch die Landes- und Justizkanzlei, ausgetragen. Diese Behörde sah ihre Kompetenzen durch die geistlichen Gerichtsherren gefährdet und verband mit deren Zurückdrängung durchaus eigene Interessen. Kirchenzucht im geistlichen Territorium 645 hen. Dies dürfte die Durchsetzung eines durch die weltliche Obrigkeit vorgegebenen Verhaltenskodex erschwert haben. Disziplinierung und Zentralisierung als Merkmale von Modernisierungsprozessen in der Frühen Neuzeit wurden durch die Verfassungsstrukturen des geistlichen Territoriums deshalb eher behindert. 95 Allerdings läßt sich ein vermeintlicher Disziplinierungserfolg prinzipiell nur schwer nachweisen und somit auch schwer mit anderen Territorien vergleichen. Auch darf der Einfluß des territorialen Typus nicht überbewertet werden. Im Fürstbistum Osnabrück ergänzten sich wie in den weltlichen Territorien des Alten Reiches die geistliche und die weltliche Zucht, unterstützte die Kirchenzucht den säkularen Disziplinierungprozeß. 96 Mit Ausnahme der umstrittenen Delikte wurde die geistliche Sanktionspraxis deshalb von den Landesherrn weitgehend geduldet. 97 Sie kam der Disziplinierungsintention von Landesherrn und Territorialbehörden entgegen, solange der Territorialstaat strukturelle Schwächen aufwies. Die hier dargestellten Konfliktfälle dürfen außerdem nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Untertanen die geistliche Strafgewalt in der Mehrzahl akzeptierten, sie der weltlichen zum Teil sogar vorzogen und durch Anzeigen und Zeugenaussagen überhaupt erst ermöglichten. Um die Rolle der katholischen Kirchenzucht beim Disziplinierungprozeß in geistlichen Territorien bewerten zu können, müßten neben der Sanktionspraxis der Sendgerichte auch die anderen Formen katholischer Zucht in den Blick genommen und mit der weltlichen Sanktionspraxis kontrastiert werden. 98 Allerdings ließe sich wohl auch dann schwerlich feststellen, in welchem Maße es religiöse oder vielmehr zunehmend weltliche Normen waren, die die Mentalität der frühmodernen Menschen prägten. 99 Auch die säkulare Disziplinierung baute in der Frühen Neuzeit im wesentlichen auf religiösen Normen auf und griff auf sie zurück, obwohl sich die weltlichen Justizbehörden immer seltener explizit auf diese beriefen. 94 Hierbei ist zu berücksichtigen, daß in der Überlieferung generell Konflikte weit präsenter sind, gerade weil sie zu einer stärkeren Verschriftlichung und Archivierung führen als eine konfliktfreie Praxis. 95 Vgl. dazu generell Peter Herrsche: Intendierte Rückständigkeit: zur Charakteristik des geistlichen Staates im Alten Reich, in: Georg Schmidt (Hg.): Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, 133 - 150. Zur zeitgenössischen Diskussion Peter Wende: Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik, Lübeck 1966. Der Begriff Modernisierung wird hier ohne wertende Konnotationen lediglich im Bezug auf das theoretische Modell verwendet. 96 Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff »Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit«, in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), 279. Sie geht allerdings nicht darin auf, vgl. dazu Martin Brecht: Protestantische Kirchenzucht zwischen Kirche und Staat, in: Schilling: Kirchenzucht (wie Anm. 1), 41 - 48. 97 Hoberg: Gemeinschaft (wie Anm. 8), 117. Dies ist umso erstaunlicher, als den geistlichen Gerichtskompetenzen zunehmend nicht nur von Seiten der weltlichen Obrigkeit, sondern auch von Seiten der Untertanen im Zuge der Aufklärung Mißtrauen entgegengebracht wurde. Dies spricht dafür, daß die Rechtspraxis der Archidiakone im Fürstbistum Osnabrück in geringerem Maße von Willkür und Unrecht geprägt war, als dies die Streitschriften und die unvollständige Überlieferung nahelegen. 98 Zu den Schwierigkeiten dabei vgl. Schilling: Kirchenzucht (wie Anm. 1), 40, bes. Anm. 64. Schilling plädiert für eine klare methodische Trennung bei der Untersuchung beider Zuchtformen, sieht jedoch auch die Notwendigkeit, sie im Zusammenhang mit dem Disziplinierungsprozeß vergleichend zu betrachten, ebd., 22f. und passim. Kritisch dazu Schnabel-Schüle: Unterschied (wie Anm. 2); dies.: Calvinistische Kirchenzucht in Württemberg? Zur Theorie und Praxis der Kirchenkonvente, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 49 (1990), 169 - 223. 99 Diese Frage stellt Schilling: Kirchenzucht (wie Anm. 1), 31. VII. Delinquenz und Geschlecht 649 Katharina Simon-Muscheid Täter, Opfer und Komplizinnen - geschlechtsspezifische Strategien und Loyalitäten im Basler Mortthandel von 1502 I Die gerichtliche Untersuchung des Basler Mortthandels von 1502, die im Zentrum der folgenden Ausführungen steht, hätte dem lateinamerikanischen Schriftsteller Gabriel García Márquez als Vorlage für sein Buch »Chronik eines angekündigten Todes« dienen können. 1 Denn die literarische Fiktion aus dem 20. Jahrhundert und der Kriminalfall, der 1502 in der Stadt Basel immer weitere Kreise zog, weisen insofern erstaunliche Parallelen auf, als es sich beide Male um einen kollektiv geplanten und auch ausgeführten Mord handelt. 2 In García Márquez’ Roman weiß eine ganze Dorfgemeinschaft über das geplante Vorhaben Bescheid. Die Männer und Frauen des Dorfes kennen Opfer und Täter; Motiv, Zeit und Ort des Anschlags sind ihnen bekannt. Mit zwangsläufiger Unausweichlichkeit spielt sich das Drama ab, ohne daß die Dorfgemeinschaft eingreift. Im Basler Fall aus dem beginnenden 16. Jahrhundert planten die Mitglieder einer Zunft kollektiv den Mord an einem der Ihren. In das Vorhaben zumindest eingeweiht waren ihre Familien, ihr Gesinde und weitere Kreise innerhalb und außerhalb der Stadt. Auch sie ließen den Mord geschehen. Wie im Roman wurde weder das Opfer gewarnt noch der geplante Anschlag verhindert. Es handelt sich somit um einen spektakulären Ausnahmefall innerhalb der üblichen Tötungsdelikte 3 , die die städtische Justiz zu ahnden hatte. 4 Bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts galten im Basler Recht die Richtlinien des Einungsbriefes, des zweiten Stadtfriedens 5 von 1339. Diese sahen als Sanktionen für sogenannte redliche Totschläge eine fünfjährige Verbannungsstrafe und eine Busse von 1 Gabriel García Márquez: Chronik eines angekündigten Todes, deutsche Übersetzung Köln 1981. 2 Die Parallele beschränkt sich auf Ablauf und Inszenierung des Dramas, nicht auf Anlaß oder Motiv. 3 Zur strafrechtlichen Unterscheidung Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 3 und 5, Artikel »Mord«, 673 - 675 und »Tötungsdelikte«, 286 - 290. 4 Die Anzahl redlich, d.h. mit einer gewissen Fairness und der unredlich begangenen Totschläge (»an Wehrlosen«, »mit bedachtem Mut«, »bei Nacht und Nebel«, »hinterrücks«) sank von rund 30 Fällen pro Jahrzehnt (1376 - 85, 1386 - 95) auf rund 10 Fälle pro Jahrzehnt im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts und halbierte sich in den folgenden beiden Jahrzehnten. Siehe dazu Katharina Simon-Muscheid: Gewalt und Ehre im spätmittelalterlichen Handwerk am Beispiel Basels, in: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), 1 - 31; die Verschärfung der Strafen um 1494 begründet der Rat mit der gestiegenen Anzahl nicht geahndeter Totschläge. 5 Zur Stadtfriedenswahrung Hans-Rudolf Hagemann: Basler Rechtsleben im Mittelalter I, Basel-Frankfurt a.M. 1981; Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250 - 1500, Stuttgart 1988, bes. 74 - 76 und 146f.; Susanna Burghartz: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990; Gudrun Wittek: Stadtfrieden. Über das Zusammenleben in der hoch- und spätmittelalterlichen deutschen Stadt, in: Die alte Stadt 21 (1994), 165 - 181; Peter Schuster: Der gelobte Frieden: Täter, Opfer und Herrschaft im spätmittelalterlichen Konstanz, Konstanz 1995; immer noch grundlegend Rudolf His: Strafrecht des deutschen Mittelalters, 2 Bde., Weimar 1920, 1935. Katharina Simon-Muscheid 650 zehn Pfund Pfennigen für Bürger und für Fremde die doppelte Verbannungszeit vor; bei Totschlag unter Verletzung des Hausfriedens erhöhten sich die Verbannungszeit und die Busse. Die Stadt konnte entweder das Reichsrecht anwenden, das für Totschlag die Todesstrafe vorsah, oder sich seit dem 14. Jahrhundert auf ihr Privileg berufen, wonach sie Bürger, die einen Totschlag begangen hatten, in Gehorsam nehmen, das heißt durch einen Eid verpflichten konnte, dem über sie verhängten und von ihnen beschworenen Verbannungsurteil nachzukommen. 1494 beschloss der Rat, härter gegen Totschläger vorzugehen. Fortan unterschied er für Bürger und Fremde nur noch zwischen Totschlag und Mord, auf die Stadtverweisung bzw. Todesstrafe standen. Um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert verschmolzen - wohl unter dem Einfluss des Mortthandels - die Kategorien unredlicher Totschlag und Mord. 6 Der Mortthandel von 1502 läßt sich nicht mit den üblichen Tötungsdelikten vergleichen. Einerseits weist er Aspekte der üblichen spätmittelalterlichen innerstädtischen Unruhen und der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Faktionen auf, andererseits spielt er sich ab vor dem Hintergrund der traditionellen Konfliktlinien zwischen dem städtischen Rat und den besonders rigoros kontrollierten und besteuerten Lebensmittelgewerben. Wie in zahlreichen anderen Städten im südwestdeutschen Raum hatten die Basler Zünfte gegen Ende des 14. Jahrhunderts Einsitz in den Rat 7 erlangt, wo sie in doppelter Loyalität einerseits die Interessen ihrer Zunft und ihrer Anhängerschaft durchzusetzen suchten, als Ratsmitglieder jedoch häufig gegen die partikularen Interessen ihrer Zunft Stellung zu beziehen und unpopuläre Entscheidungen mitzutragen hatten. 8 Noch nicht lange beigelegt war der heftige Streit um eine in den 1470er Jahren eingeführte Fleischsteuer, in dem die metzgerzünftigen Ratsherren sich voll auf die Seite ihrer Zunft geschlagen und gemeinsam mit der Zunftgemeinde die neue Steuer über Jahre hinweg verweigert hatten. Auf dem Höhepunkt dieses Konflikts hatte die Obrigkeit mit der Konfiskation von Zunftbanner und Statuten und damit der Aufhebung der Metzgerzunft gedroht. Ebenso präsent war zudem die Erinnerung an den Aufstandsversuch von 1482, den Metzgerzünftige angezettelt und in die übrigen Kreise der städtischen Bürgerschaft getragen hatten. Die beiden Hauptverantwortlichen hatten sich durch Flucht ins Elsaß der Strafe zunächst entzogen und mit Billigung ihres gräflichen Beschützers eine Fehde gegen die Stadt geführt. 9 Damals hatte sich eine besonders be- 6 Hagemann: Rechtsleben I (wie Anm. 5), 278 - 286; zur begrifflichen Unschärfe der Tötungsdelikte in den Quellen Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt; Claude Gauvard: »De grace especial«. Crime, état et société en France à la fin du Moyen Age, Paris 1991, 2 Bde.; Bd. II, 798 - 806; Esther Cohen: The Crossroad of Justice. Law and Culture in Late Medieval France, Leiden 1993; zur Gewaltdiskussion Philippa C. Maddern: Violence and Social Order, East Anglia 1422 - 1442, Oxford 1992, bes. 27 - 74; Brigitte Rath: »(...) und wolt das Schwert durch in stossen«. Zur physischen Gewalt in Südtirol um 1500, in: L’Homme 7 (1996), 56 - 69; allgemein Thomas Lindenberger/ Alf Lüdke (Hg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1995. 7 Die Basler Zünfte, die durch eine Verfassungsrevision und nicht durch einen Umsturz in den Rat gelangt waren, delegierten fortan zwei Vertreter pro Zunft, unabhängig von Status und Anzahl ihrer Mitglieder; Rudolf Wackernagel: Geschichte der Stadt Basel, 3 Bde., Basel 1907 - 1924, 2.I. 8 Dazu Katharina Simon-Muscheid: Konfliktkonstellationen im Handwerk des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: Medium Aevum Quotidianum 27 (1992), 87 - 108; zur Verfassung Knut Schulz/ Robert Giel: Die politische Zunft, eine die spätmittelalterliche Stadt prägende Institution? in: Wilfried Ehbrecht (Hg.): Verwaltung und Politik in den Städten Mitteleuropas. Beiträge zu Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit in altständischer Zeit (Städteforschung A 34), Köln/ Weimar/ Wien 1994, 1 - 20. Täter, Opfer und Komplizinnen 651 drohliche Situation ergeben durch die Allianz politischer Gegner außerhalb der Stadt, ihre Verbindung mit der innerstädtischen Opposition und der zwar anachronistischen aber dennoch energisch betriebenen Revindikationspolitik zweier Basler Bischöfe. 10 Aus diesen Gründen erwies sich der Fall von 1502 als politisch dermaßen brisant, daß er »mit den Waffen der Justiz« 11 , die den städtischen Gerichten sonst zur Verfügung standen, nicht geahndet werden konnte. Weder ließ sich die Verurteilung der beiden geflohenen Täter durchsetzen, noch konnten die eigentlichen Drahtzieher, auf deren Betreiben der Mord stattgefunden hatte, zur Rechenschaft gezogen werden. Zwar waren die Täter, die aus dem Kreis der metzgerzünftigen Meister stammten, leicht zu identifizieren, ihre Auftraggeber und Hintermänner hingegen zählten - laut Aussagen - zu den mächtigen und einflußreichen Patrons der Zunft, die im Rat, innerhalb ihrer Zunft, in der Stadt, in der Eidgenossenschaft sowie im Elsaß über einen nicht zu unterschätzenden Anhang verfügten. Diese verschiedenen Beziehungen ließen sich im Konfliktfall geschickt ausspielen. Aus den erwähnten strukturellen Gründen und in Erinnerung an 1482 verpflichteten sich die Ratsmitglieder durch einen Eid, die Strafverfolgung unerbittlich und gegen alle Widerstände - auch aus ihren eigenen Reihen - durchzuführen und dabei keine Mühen und Kosten zu scheuen. Weder die beiden geflohenen Täter noch alle, die ihnen mit Rat oder Tat beigestanden waren, sollten je begnadigt werden dürfen. In der Erkantnis, die dem eigentlichen Dossier mit den Zeugenaussagen vorangestellt wurde, hielten sie den Tatbestand folgendermaßen fest: Alsdenn Hanns Venninger und Claus Pfister, die metzgere, ein mortthandel an Uli Mörnach uff frytag nach Sant Martins tag [1502] in der statt Basel uff seyner keiserlichen strassen (...) leider begangen und den schantlich einem ersamen ratt zuo schand, smach und trotz mortlicherwise vom leben zum tod bracht haben (...), worauf die Ratsherren feierlich schwuren (...) ir lib, leben, ere und gutt zesammen setzen und getrulich in solchen sachen ze handlen und ze raten, und was in solichem einhelligklich oder durch den merenteil erkannt wirtt, daby bliben zelaßen, dawider nit zereden noch zehandlen, heimlich noch offenlich in keinenweg, sondern dieselbe erkantnuß stanthafftentlich ze handhaben. 12 9 Der erklärte Feind der Stadt Basel, Graf Oswald von Thierstein, war zu diesem Zeitpunkt gleichzeitig Landvogt der vorderösterreichischen Lande und Hauptmann der Niederen Vereinigung, der u.a. die elsässischen Städte, Basel, sowie der Markgraf von Baden angehörten; zu den Strategien des Adels im Umgang mit den Untertanen und den Städtern Dorothee Rippmann: Unbotmässige Dörfler im Spannungsverhältnis zwischen Land und Stadt: Pratteln im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Ulrich Pfister (Hg.): Stadt und Land in der Schweizergeschichte, in: Itinera 19 (1998), 110 - 156; zur Fehde als Disziplinierungsmittel gegen die bäuerliche Bevölkerung Gadi Algazi: »Sie würden nach hinten so gail«. Vom sozialen Gebrauch der Fehde im 15. Jahrhundert, in: Thomas Lindenberg/ Alf Lüdke (Hg.): Physische Gewalt (wie Anm. 6), 39 - 77. 10 Zu dieser gefährlichen Konstellation in den 1470er Jahren und zum Aufstandsversuch von 1482 Katharina Simon-Muscheid: Basler Handwerkszünfte im Spätmittelalter. Zunftinterne Strukturen und innerstädtische Konflikte (Europäische Hochschulschriften 348), Frankfurt a.M./ New York/ Paris 1988, 267 - 291; eine prominente Rolle spielten die Metzger/ Viehhändler bei städtischen Unruhen allgemein (in Lübeck, Nürnberg, Paris, Lyon etc.) 11 Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1993. 12 Staatsarchiv Basel Criminalia 21, P1. Katharina Simon-Muscheid 652 Mit diesem programmatischen Vorspann beginnt das Dossier. Es enthält detaillierte, mehrfache Aussagen von zwölf Männern und sieben Frauen aus dem engeren Kreis der Familienangehörigen und des Gesindes der beiden Mörder und einem weiteren Kreis von Zunftbrüdern und Geschäftspartnern. In ihren Aussagen verweisen sie auf eine Reihe weiterer, wenn nicht involvierter, so doch in die Mordpläne eingeweihter Personen. Durch die Aussagen und Querbezüge entsteht so ein umfassendes vertikales und horizontales Beziehungsnetz um die Mörder und ihre Familien sowie um den Ermordeten herum. Dabei zeichnen sich komplizierte, sich überschneidende Beziehungsgeflechte ab, in die die aussagenden Männer, Frauen und Jugendlichen aktiv oder passiv eingebunden waren. Es handelt sich um Beziehungen familialer Art, um Zunftsolidaritäten und innere Antagonismen, die die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Zunft nur oberflächlich überdeckten, um Nachbarschaften 13 , um auswärtige Beziehungen über Viehhandelsgeschäfte sowie Klientelbeziehungen, die die zünftige Struktur durchdrangen und überlagerten. Die Nebenrollen spielten bäuerliche Beobachter und städtische Zwischenträgerinnen. II Verhörprotokolle, Geständnisse und Zeugeneinvernahmen sind mehrdeutige, mehrschichtige und widersprüchliche Texte. Sie können auf mehreren Ebenen sowie unter verschiedenen Fragestellungen analysiert werden. Sie dokumentieren als »Ergebnis einer (straf-)rechtlichen Sanktionierung von Handlungen, die von der Justiz potentiell als strafwürdig befunden wurden, oder die von den Konfliktgegnern vor die Schranken des Gerichts gebracht wurden« 14 , die Recherchen, die der Erfassung von Tatbeständen, Tathergängen und dem Umfeld der Täterschaft dienten. Aus dem von der Norm »abweichenden Verhalten« lassen sich jedoch gleichzeitig geschlechtsspezifische Normen, Wertvorstellungen und Ehrkonzepte einer Gesellschaft rekonstruieren 15 und untersuchen, wo für welches Geschlecht oder für welche Sozialgruppe die Grenzlinie zwischen Norm und strafwürdiger Normübertretung verlief, und wie diese Normübertretungen wahrgenommen wurden. 16 Schließlich liefern sie auf der Ebene der kollektiven Vorstellungen, des »Imaginaire«, und der Mentalitäten, die gleichermassen als handlungsleitende oder handlungsauslösende Momente in die Analyse einbezogen werden müssen, Aufschlüsse, die Reaktionsweisen und Verhaltensmuster erklären können. 17 Mit der nötigen methodischen Behutsamkeit lassen sich diese Quellen auch als »Ego-Dokumente« 18 oder für die Alltagsgeschichte 19 nutzbar machen. So wie die einzelnen Personen, auf die sich das Interesse der Untersuchungsbehörde richtete, in einem Span- 13 Die Häuser und Wohnungen der Metzgerzünftigen gruppierten sich mehrheitlich um das städtische Schlachthaus, in dem sich ihre Verkaufsbänke auf obrigkeitliche Anordnung konzentrierten; zur Sozialtopographie und den feinen, sehr bezeichnenden Unterschieden Simon-Muscheid: Handwerkszünfte (wie Anm. 10). 14 Blauert/ Schwerhoff: Mit den Waffen (wie Anm. 11), 10. 15 Klaus Lüderssen/ Fritz Sack (Hg.): Seminar: Abweichendes Verhalten I. Die selektiven Normen der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1974; Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff: Verletzte Ehre. Überlegungen zu einem Foschungskonzept, in: dies. (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in den Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Köln/ Weinmar/ Wien 1995, 1 - 28. Täter, Opfer und Komplizinnen 653 nungsverhältnis zu einem weiteren Personenkreis stehen, der das Beziehungsfeld der aussagenden Personen absteckt, so bildet auch das eigentliche Delikt einen Fluchtpunkt, von dem aus Hintergründe und Erklärungsmuster rekonstruiert werden müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Voraussetzungen und Begleitumstände einerseits eng verwoben sind mit der Person des Täters, der Täterin oder des Zeugen und der Zeuginnen, daß sie andererseits aber auch an überindividuelle, geschlechts- und statusspezifische Lagemerkmale gebunden sind. Von zentraler Bedeutung für die Analyse sind die Kategorie Geschlecht und die Beziehung zwischen den Geschlechtern. 20 Entscheidende Impulse für die Textanalyse allgemein hat der sog. »Linguistic Turn« 21 der letzten zwanzig Jahre erbracht. Ihm kommt das Verdienst zu, auch den Historikerinnen und Historikern wieder ins Bewußtsein gerufen zu haben, daß sich mit unterschiedlich montierten Versatzstücken des gleichen Materials auch verschiedene plausible Geschichten (re-)konstruieren lassen. Dies ist meines Erachtens der Schlüssel zum Umgang mit Gerichtsdokumenten. Natalie Davis hat in ihrer Untersuchung über die französischen Lettres de rémission des 16. Jahrhunderts auf die Schwierigkeit der Angeklagten hingewiesen, die, um ihre 16 Mit Kritik an der Bezeichnung »weibliche Kriminalität« Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität« in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995, 39 - 61; Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität« - ein fruchtbarers Verhältnis? , in: Rudolf Jaun/ Brigitte Studer (Hg.): weiblich-männlich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz: Rechtssprechung, Diskurs, Praktiken (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 13), Zürich 1995, 23 - 31 mit weiterführender Literatur; siehe auch den Forschungsbericht von Gabriela Signori: Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, Sozialgeschichte. Forschungsfelder-Forschungslücken: eine bibliographische Annäherung an das Spätmittelalter, in: Annette Kuhn (Hg.): Lustgarten und Dämonenpein: Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, Dortmund 1997, 29 - 53, bes. 41f. 17 Zu Begriff und Konzept von »Imaginaire« Evelyne Patlagean: L’histoire de l’imaginaire, in: Jacques Le Goff/ Roger Chartier (Hg.): La Nouvelle Histoire, Paris 1979, 249- 269; zur Diskussion und Rezeption der Mentalitätsgeschichte František Graus (Hg.): Mentalität - Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung, in: ders. (Hg.): Mentalitäten im Mittelalter: Methodische und inhaltliche Probleme (Vorträge und Forschungen XXXV), Sigmaringen 1987, 9 - 48. 18 Claudia Ulbrich: Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft,in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 207 - 226; Wolfgang Behringer: Gegenreformation als Gegnerationenkonflikt, oder: Verhörsprotokolle und andere administrative Quellen zur Mentalitätsgeschichte, ibidem 275 - 294; Helga Schnabel-Schüle: Ego-Dokumente im frühneuzeitlichen Strafprozeß, 295 - 318; Winfried Schulze: Zur Ergiebigkeit von Zeugenbefragungen und Verhören, ibidem 319 - 326. 19 Dorothee Rippmann/ Katharina Simon-Muscheid/ Christian Simon: Arbeit-Liebe-Streit. Texte zur Geschichte des Geschlechterverhältnisses und des Alltags, 15. bis 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Basel-Landschaft 55), Liestal 1996. 20 Grundlegend Joan W. Scott: Gender: A Usefull Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), 1053 - 1075; Heide Wunder: Überlegungen zum Wandel der Geschlechterbeziehungen im 15. und 16. Jahrhundert aus sozialgeschichtlicher Sicht, in: Heide Wunder/ Christina Vanja (Hg.): Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1991, 12 - 26. 21 Hayden White: Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism, Baltimore 1990, 4. Auflage; mit Kritik an White’s Aufhebung von Fiktion und Geschichte Gabrielle M. Spiegel: History, Historicism, and the Social Logic of the Text in the Middle Ages, in: Speculum 65 (1990), 59-86; übersetzt in: Christoph Conrad/ Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne, Stuttgart 1994, 161 - 202 und Roger Chartier: L’Histoire Culturelle entre »Linguistic Turn« et Retour au Sujet, in: Hartmut Lehmann (Hg.): Wege zu einer neuen Kulturgeschichte (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 1), Göttingen 1995, 31 - 58. Katharina Simon-Muscheid 654 Begnadigung zu erwirken, möglichst überzeugend zwischen Fiktion und überprüfbaren Tatsachen lavieren mußten. Um die königliche Begnadigung zu erwirken, die ein Todesurteil oder eine lebenslängliche Verbannung aufheben konnte, mußte der Täter (in sehr seltenen Fällen die Täterin) eine kohärente Geschichte vorbringen können, die die Tat als unbeabsichtigt oder als Folge einer unglücklichen Verquickung von Umständen und den Täter als eigentliches Opfer darstellte. Bezeichnenderweise hat sie ihre Studie »Fiction in the Archives« genannt. 22 Auch wenn wir es nicht mit »Lettres de rémission« zu tun haben, die von ihrer Definition her eine literarisch stilisierte Fassung zu Gunsten des Täters sind, gehe ich von der Voraussetzung aus, daß sämtliche Aussagen vor Gericht ein starkes fiktionales Element aufweisen. Betrachten wir Verhörprotokolle und Zeugeneinvernahmen als »récit organisé« 23 , in dem sich bestimmte Strategien niederschlagen, so ist es nur sinnvoll, danach zu fragen, wie diese Erzählungen konstruiert und stilisiert sind. Mit diesem Ansatz geht es nicht darum, Verhörprotokolle und Zeugeneinvernahmen nach Entfernung fiktiver Elemente auf einen »wahren Kern« zu reduzieren, sondern zu versuchen, sowohl die überprüfbaren Fakten als auch die Dimension des Fiktiven in die Analyse miteinzubeziehen. Die - einmal akzeptierte - tendenzielle Fiktionalität der Texte tut ihrem Informationsgehalt keinen Abbruch, auch wenn sie als solche »entlarvt« wird. Verhörprotokolle und Zeugeneinvernahmen sind zunächst einmal Dokumente, die in der spezifischen Kommunikationssituation vor Gericht in einer von psychischem und emotionalem Streß, von Angst, Scham und Mißtrauen geprägen Atmosphäre entstanden. 24 Was die Angeklagten, die Zeuginnen und Zeugen aussagten, wurde vom Gerichtsschreiber aufgezeichnet, so daß die Untersuchungsbehörde sie bei weiteren Verhören mit ihren eigenen Aussagen und denen Dritter konfrontieren konnte, um auf Ausflüchte, Widersprüche und Ergänzungen durch Dritte zurückkommen zu können. Wo Leben, Gut und Ehre der eigenen Person auf dem Spiel standen, war Reden und Schweigen von existentieller Bedeutung. Es galt also aus taktischen Gründen, sein Reden und Schweigen gut abzuwägen und, wenn irgend möglich, die Aussage auf ein gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten oder ein vorgegebenes Rollenmuster zuzuspitzen. Die überlieferten Aussagen sind somit immer auch unter dem fiktionalen Aspekt der Stilisierung, der Entlastungs-, Verteidigungs- oder Ausweichstrategien zu betrachten und weniger als Reflex einer absoluten, faktischen Realität. Auf dieser Ebene der Analyse, die von der kriminalistischen Logik und damit auch dem Wunsch nach »Puzzle Solving« absieht, ergeben sich neue Fragestellungen, unter denen die Texte gelesen werden können. Lohnenswert ist deshalb eine Lektüre, die nach Stilisierungen, Stereotypen, Bildern und (literaturgeschichtlichen) Motiven sowie nach den Versatzstücken einer Erzählung und ihren abrufbaren Elementen im Bereich von realen Fiktionen und fiktionaler Realität sucht. 25 Zu unterscheiden sind somit die folgenden Untersuchungsebenen, auf denen Verhörprotokolle und Zeugeneinvernahmen zu analysieren sind: 22 Natalie Z. Davis: Fiction in the Archives. Pardon Tales and their Tellers in Sixteenth-Century France, Stanford 1987 (Deutsch: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Frankfurt a.M. 1991). 23 Chartier: L’Histoire Culturelle (wie Anm. 21), 53. 24 Dazu Ludger Hoffmann: Kommunikation vor Gericht, Tübingen 1983; Jean-Claude Vigueur/ Agostino Paravicini Bagliani (Hg.): La parola all’accusato, Palermo 1991; Rippmann/ Simon-Muscheid/ Simon: Arbeit-Liebe-Streit (wie Anm. 19). Täter, Opfer und Komplizinnen 655 - Die erste bezeichne ich als Ebene des intentionalen taktischen Diskurses. Ich gehe dazu von der Voraussetzung aus, daß sich Männer und Frauen als Angeklagte, Zeuginnen und Zeugen grundsätzlich bemühten, vor Gericht zu überzeugen, um als Angeklagte mildernde Umstände geltend zu machen oder ihre Unschuld zu beweisen beziehungsweise als glaubwürdige Zeuginnen und Zeugen auszusagen, ohne sich Repressalien auszusetzen. Zu diesem Zweck suchten sie, ihre Aussagen entsprechend zu gestalten oder sich durch Schweigen aus der Affäre zu ziehen. Auf der Ebene dieser individuellen taktischen Diskurse lokalisiere ich einen ersten Bereich von Fiktionalität. - Auf einer zweiten Diskursebene wird ein kollektiver Diskurs angesprochen. Es handelt sich zum einen um die im kollektiven »Imaginaire« vorhandenen, abruf- und in der Rede einsetzbaren Vorstellungen, Bilder und Stereotypen, zum andern um die gesellschaftlichen, kirchlichen und geschlechtsspezifischen Normen. Sie gaben als weiterer Bereich von Fiktionalität und Semifiktionalität den Fundus ab, auf den Männer und Frauen in ihren individuellen strategischen Aussagen zurückgriffen, wenn sie ihr Verhalten nach einem vorgegebenen, allgemein verständlichen und gesellschaftlich akzeptierten Verhalten oder nach geschlechtsspezifischen Normen und Stereotypen modellieren wollten, um es als vernünftig, passend oder notwendig darzustellen. - Eine dritte Untersuchungsebene mit alltagsgeschichtlicher Ausrichtung stellt die Mikro-Beziehungsgeflechte in den Vordergrund, die sich aufgrund der Aussagen abzeichnen. Die Rekonstruktion solcher vertikal und horizontal verwobener Beziehungsgeflechte gewinnt an Tiefenschärfe, wenn es gelingt, auch die Qualität der Beziehungen in die Analyse miteinzubeziehen. Damit werden klientelartige Strukturen, Abhängigkeitsbeziehungen sowie weibliche Nachbarschafts-, Informations-, Kontroll- und Solidaritätsnetzwerke sichtbar. Damit schließt die dritte Untersuchungseben wieder an die erste an, denn Verschweigen oder Preisgeben von Namen bildeten einen wesentlichen Teil der taktischen Überlegungen, besonders in Klientel- und anderen Abhängigkeitsverhältnissen, wo die Namen einflußreicher Hintermänner möglichst lange verschwiegen wurden. Daß der Gender-Ansatz als Dimension für die Analyse von grundsätzlicher Bedeutung ist, muß hier nicht mehr diskutiert werden. Diesen kombinierten Ansatz werde ich im folgenden auf die Analyse des Mortthandels anwenden, um sowohl das Komplott und die Akteure im konkreten politischen und sozialen Umfeld der Stadt Basel im 15. und im beginnenden 16. Jahrhundert zu situieren 26 , als auch die Aussagen der verhörten Männer und Frauen auf den verschiedenen skizzierten Ebenen untersuchen zu können. 27 25 So z.B. das Stereotyp der »diebischen Magd«, dem auf der anderen Seite die ebenso stereotypen Klagen um vorenthaltenen Lohn bzw. vorenthaltene Unterstützung durch den Kindsvater entgegengesetzt werden können, zu dieser Problematik Gerd Schwerhoff: Geschlechtsspezifische Kriminalität im frühneuzeitlichen Köln. Fakten und Fiktionen, in: Ulbricht (Hg.): Von Huren (wie Anm. 16), 83 - 115; Rippmann/ Simon-Muscheid/ Simon: Arbeit-Liebe-Streit (wie Anm. 19); Katharina Simon-Muscheid: Kleidung, Lohn und Norm - Objekte im Beziehungsfeld zwischen Mägden, Knechten und Meistersleuten in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch Krems an der Donau (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Diskussionen und Materialien 2); Wien 1997, 55 - 74. 26 Siehe dazu die Abschnitte III und IV. Katharina Simon-Muscheid 656 III 1502 verschwor sich eine Gruppe metzgerzünftiger Männer in der Absicht, den einflußreichen, ebenso gefürchteten wie verhaßten Viehhändler und Metzger Ulman Mörnach, dessen Familie seit dem 14. Jahrhundert eine prominente Rolle in der städtischen Politik gespielt hatte, zu ermorden. 28 Der Anschlag wurde sorgfältig geplant; denn Ort und Termin mußten auf die Aktivitäten des Opfers abgestimmt werden, damit das Vorhaben glückte. Dabei wurden die Mordpläne keineswegs geheim gehalten. Um weitere Mörnach-Gegner auf ihre Seite zu bringen und sich auf diese Weise die nötige Rückendeckung innerhalb der Zunft zu verschaffen, loteten die Verschwörer zunächst die allgemeine Stimmung aus, bevor sie offen weitere Mitglieder anwarben. Diskutiert wurde der Mordplan über Wochen hinweg in einer erstaunlich breiten Öffentlichkeit: Dazu nutzten Mörnachs Feinde nicht nur den abendlichen Umtrunk in ihren Häusern, wo Nachbarn und Freunde unter sich waren, sondern sie scheuten sich nicht (oder brauchten sich nicht zu scheuen), sogar beim gemeinsamen abendlichem Imbiss im Zunfthaus über ihre Absichten zu sprechen. So wurde beispielsweise auch im Haus des Zeugen namens Spiegler offen im Beisein seiner Hausgenossen über die Mordpläne gesprochen. Auf die Bemerkung seiner Hausgenossin Elsi Kuttler, es werde nicht lange dauern, dann werde ihm [Mörnach] einer den Hals abstechen, habe der Zeuge gefragt, wer denn sein Leib und Gut an den Mann hängen wolle, worauf die offensichtlich wohl informierte Frau gesagt habe, man werde wohl in acht Tagen sehen, wie es getan werde. Nach dem Anschlag habe sie seine Magd, wie sie lachend eingetreten sei, gefragt, warum sie lache; Elsi Kuttler habe erwidert, sie lache, weil ihre Rede wahr geworden sei, und habe auf seine Frage zugegeben: Ja, sy es wol gewist, daz es also gan wurd. 29 Als zweites Beipiel sei der Zeuge Jacob Bratteler angeführt, der beim gemeinsamen Essen von Hans Venniger direkt gefragt worden sei: Jacob, kannst du heling halten? und zu dem Venniger in Gegenwart der später als Drahtzieher denunzierten Patrons gesprochen haben soll: Wir haben vereinbart, Uli Mörnach, dem schelm, am banck [an seiner Metzgerbank] ze tod zu schlagen. 30 Eine weitere, ebenso wichtige Gelegenheit, die Sympathien der Kollegen auszukundschaften, boten die üblichen gemeinsamen Viehkäufe im »Welschland«, im Gebiet von Freiburg i.Ü., im Berner und Solothurner Gebiet sowie die regelmäßigen Besuche in den umliegenden Dörfern und im benachbarte Elsaß, wo die Basler Metzger über enge familiale und wirtschaftliche Beziehungen 31 verfügten und wo sie auch Handel 32 trieben. Diese Phase scheint über Wochen gedauert zu haben. Obwohl zahlreiche Männer und Frauen mittlerweile Bescheid wußten, denunzierte niemand die namentlich be- 27 Siehe dazu Abschnitt V. 28 Ein eigentliches Mordmotiv wird nicht genannt; Hinweise in den Aussagen deuten auf ausstehende Schulden bei Zunftkollegen und das Ausscheren aus der (nach der Fleischsteueraffäre? ) ausgehandelten Schlachtordnung; zum Vorleben Mörnachs Rippmann/ Simon-Muscheid/ Simon: Arbeit-Liebe-Streit (wie Anm. 19), 73 - 80. 29 Staatsarchiv Basel, Criminalia 21, P1; des weiteren erklärte sie Spiegler, sie gehe im Haus Claus Pfisters (des einen Mörders) ein und aus und habe Pfister ermahnt, er solle der dinge müssig gan; zu diesem Motiv ausführlicher in Abschnitt V. 30 Der Zeuge betont, er habe die Verschwörer vor den Folgen ihrer Tat für sich selbst und ihre Kinder gewarnt; zu diesem Motiv mehr in Abschnitt V. Täter, Opfer und Komplizinnen 657 kannten Mörder oder warnte das Opfer. Die Obrigkeit griff nicht ein; Mörnachs gleichrangige Zunftbrüder und Konkurrenten ließen den Mord an einem der Ihren geschehen. Da der eine der beiden vorbestimmten Mörder im letzten Moment zurücktrat 33 , mußte erneut ausgelost werden, wer die Tat zu vollbringen hatte. Das Los traf den jungen Venninger und den jungen Pfister, beides Familienvorstände und Zunftmitglieder. Nach dem Mord flohen die beiden ins elsässische Habsheim, wo sie vor der Strafverfolgung sicher waren und den Verlauf der Untersuchung abwarten konnten. 34 Zurück blieben ihre Ehefrauen mit den unmündigen Kindern, ihre Väter, Schwestern, Töchter und Schwägerinnen als direkt Betroffene. Was die Obrigkeit nach dem Mord ebenso widerwilig wie ängstlich - wie die eingangs erwähnte Erkanntnis zeigt - unternahm, war eine systematische Befragung des engeren und weiteren »Umfelds« der beiden Mörder, um die Hintergründe des Anschlags aufzudecken. Der Kreis derjenigen Personen, die direkt in den Mord involviert oder zumindest über die Pläne informiert war, reichte freilich noch weit über den Kreis der Verhörten hinaus: er umfaßte den größten Teil der männlichen Zunftmitglieder bis in die unangreifbaren Zunftspitzen hinein. Was sich auf einer ersten Ebene als ein Kriminalfall im politisch-zünftigem Kontext präsentiert, in den ausschließlich die männliche, um nicht zu sagen männerbündische Gemeinschaft zünftiger Meister 35 involviert war, wird auf einer zweiten Ebene durch den Einbezug der Frauen und Kinder und ihres »häuslich-privaten« Bereichs aufgebrochen. Dieser Wechsel von einer männlichen zu einer weiblichen Sphäre bringt nicht nur eine andere Dimension, sondern Aussagen mit einem andern Informationsgehalt ins Spiel. Denn die Verteidigungsstrategien und Argumentationsmuster der Frauen waren an andere Loyalitäten gebunden als die der männlichen Zünftigen. Sie verfolgten andere Interessen als ihre Ehemännern und Väter, sie waren durch die Ereignisse auf eine andere Art in ihrer Existenz bedroht. Was den geographischen Raum anbelangt, so stand die städtische »Schol« mit dem Schlachthaus und den offiziellen Verkaufsbänken im Zentrum des öffentlichen Interesses. Hier boten die Metzger ihre Ware feil, hierher kamen Frauen und Männer, um 31 Zur gängigen Praxis der »Viehverstellung« (Halbpachtverträge zur Viehaufzucht) der Basler Patrizier, Kaufleute und vor allem Metzger in den angrenzenden Dörfern der Basler Landschaft und des Elsaß Dorothee Rippmann: Bauern und Städter: Stadt-Land-Beziehungen im 15. Jahrhundert. Das Beispiel Basel, unter besonderer Berücksichtigung der Nahmarktbeziehungen und der sozialen Verhältnisse im Umland (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 159), Basel/ Frankfurt a.M. 1990, 203 - 230 mit weiterführender Literatur. 32 Durch Viehandel in der Innerschweiz, dem schweizerischen Mittel- und Oberland, waren die Metzger/ Viehhändler eng mit den eidgenössischen Produzenten verbunden; Einkäufe im großen Stil fanden ebenso in Schwaben und im Elsaß statt. 33 Auf Druck seines Vaters, wie er angab; zu diesem Motiv in AbschnittV. 34 Am 23.11.1502 schickte der Basler Rat einen Steckbrief der beiden Geflohenen, die über ettlich barschafft verfügten, mit der Bitte, sie zu verhaften, an den Landtag im Elsaß, den Vogt zu Pfirt, die elsässischen Städte Landser, Altkirch, Colmar, Schlettstatt, Türkheim und Kaisersberg, den Herrn von Rappoltstein, sowie die Städte Breisach und Neuenburg, Staatsarchiv Basel Missiven A 22. 35 Merry E. Wiesner: Guilds, Male Bonding and Women’s Work in Early Modern Germany, in: Gender and History 1 (1991), 125 - 137; Katharina Simon-Muscheid: Frauenarbeit und Männerehre. Der Geschlechterdiskurs im Handwerk, in: dies. (Hg.): Was nützt die Schusterin dem Schmied? Frauen und Handwerk (14. bis 19. Jahrhundert); Frankfurt/ Main, 1998, 13 - 33. Katharina Simon-Muscheid 658 Fleisch zu kaufen und sich über die Situation zu informieren. Im Zunfthaus, dem Ort der offiziellen zünftigen Soziabilität, fanden sich die zünftigen Männer zur abendlichen Ürte und die Feinde Mörnachs zum Schmieden des Mordkomplotts zusammen. Den weiteren Radius definierten die Aktivitäten der Viehhändler, die regelmäßig in der Umgebung der Städte Grandson und Solothurn und im Elsaß Handel trieben und unterwegs und in den Gaststätten Informationen austauschten. Zentrum reger weiblicher Aktivitäten bildeten die beiden Häuser der beiden Mörder bereits vor der Tat, wo die Ehefrauen mit ihren kleinen Kindern und ihren Schwiegervätern den weiteren Verlauf der Ereignisse abwarteten. Besucht wurden sie vor und nach dem Mord von ihren weiblichen Verwandten und Freundinnen, denen sie ihr Leid klagten und die gekommen waren, um sie zu trösten und dieselben guten frowen in irem zu o gevallenen leid ze clagen. Weibliche und männliche Verwandte (als Kollegen ihrer Männer) fungierten überdies als »Go-between« zwischen den Informationszentralen »Schol« und Zunfthaus, anderen involvierten Metzgerzünftigen sowie den beiden »verdächtigen« Häusern und versorgten ihre Insassen mit Informationen über den Stand der Untersuchung und die vorgenommenen Verhaftungen. 36 In diesem familiären Bereichen fand die schon erwähnte Konfrontation mit den Vertretern der Obrigkeit statt, die ein Inventar des gesamten Hauses erstellten und die heftige Reaktionen von Seiten der Frauen und der Väter auslöste. Damit läßt sich der Mordhandel von 1502 aus dem Blickwinkel der darin verwickelten Männer und Frauen beleuchten, die alle als potentielle Mittäter, als Komplizen und Mitwisserinnen verhört wurden. IV Wenn auch der Mortthandel ein singulärer Fall bleibt, was die Dramaturgie des Vorgehens und die politische Dimension des Delikts anbelangt, so sind doch zwei Aspekte besonders aufschlußreich und führen über das Einzelbeispiel hinaus in allgemeinere gesellschaftliche Zusammenhänge. Erstens lassen sich Mechanismen von Klientelstrukturen 37 aufzeigen, in die nicht nur wie erwartet die Männer, sondern auch deren Familien eingebunden waren. Zweitens lassen sich die Aussagen unter geschlechtergeschichtlichem Aspekt 38 analysieren. In ihnen scheinen nicht nur männliche und weibliche Handlungsräume auf, sondern auch geschlechtsspezifische Argumentationsmuster. Ein besonderes Schlaglicht fällt dabei auf das weibliche Beziehungsnetz, das sich aus Familienangehörigen, Patinnen, Freundinnen, Nachbarinnen und Ehefrauen von Kollegen (oft in mehrfacher Funktion) zusammensetzte. 36 Als »solidarités limités« bezeichnet Gauvard: »De grace« (wie Anm. 6), II, 663 - 700 die Gesamtheit der patenschaftlichen, bruderschaftlichen, nachbarschaftlichen, freundschaftlichen und parteigebundenen Beziehungen; siehe auch Claude Gauvard: Violence citadine et solidarités au Moyen Age à la fin du Moyen Age, in: Annales E.S.C. 48 (1993), 1113 - 1126. 37 Zum Begriff der Klientel: Christopher Clapham (Hg.): Private Patronage and Public Power. Political Clientelism in the Modern State, London 1982; Antoni Maczak (Hg.): Klientelsysteme im Europa der frühen Neuzeit (Schriften des historischen Kollegs 9), München 1988; zuerst für die Antike entwickelt hat diesen Begriff Numa Denis Fustel de Coulanges: Histoires des institutions de l’ancienne France, 5, Paris 1891; anregend Christian Giordano: Von der Familie zur Klientel. Die Aktivierung personalisierter Netzwerke in mediterranen Gesellschaften, in: Traverse 1996/ 3, 33 - 51. 38 Scott/ Wunder: Überlegungen (wie Anm. 20). Täter, Opfer und Komplizinnen 659 Die regelmäßig in Aussagen und Zeugeneinvernahmen aufscheinenden Klientelverhältnisse und die Formen weiblicher Netzwerke bildeten Teile alltäglicher Macht-, Abhängigkeits- und Kommunikationsstrukturen. Die übliche Klientelbeziehung, wie sie sich für die Metzgerzunft fassen läßt, basierte auf materieller Unterstützung, die das Wohlergehen der Frauen und Kinder, deren Ernährer temporär oder definitiv ausfielen, miteinschloß 39 , und Protektion vor Gericht auf der einen Seite versus Solidarität, Beteiligung an den Unternehmungen des Patrons und Diskretion auf der andern Seite. Der vorliegende Fall bietet einen Einblick in weiterreichende gegenseitige Verpflichtungen. Dieser Aspekt des Mortthandels wurde allerdings erst im Verlauf der Untersuchung preisgegeben und zwar in dem Moment, als städtische Beamte in den Häusern erschienen, um - wie üblich in solchen Fällen - im Namen des Gerichts Hab und Gut der geflohenen Totschläger zu konfiszieren. Nach geltendem Recht hatten in solchen Fällen die Erben keinen Anspruch darauf. Ausgenommen von dieser Bestimmung war vermutlich nur das eigene Vermögen der Ehefrau, das ihr auch zustand, wenn ihr Ehemann wegen eines Verbrechens hingerichtet worden war. 40 Der Einbruch der Beamten in ihren häuslichen Bereich und die drohende Konfiskation von Hab und Gut veranlasste die Frauen dazu, ihr Schweigen zu brechen, das ihnen die Verpflichtung den Patrons gegenüber auferlegt hatte. 41 Das Eingreifen der Frauen an diesem Punkt der Untersuchung, an dem ihr eigener Bereich, ihre kleinen Kinder und ihr Haus auf dem Spiel standen, und sich die Gefahr abzeichnete, ihr Erbe zu verlieren, scheint mir bezeichnend für das Handeln der Frauen in derartigen Konfliktsituationen. 42 In dieser für sie und die Zukunft ihrer Familie entscheidenden Situation waren die Frauen bereit, die abstraktere, »vertikale« Loyalität gegenüber den Patrons aufzugeben, um ihre eigenen konkreten Interessen und die ihrer Kinder zu verteidigen. Denn ihnen und ihren Kindern drohten als weitere Folge der Tat nicht nur Konfiskation, Wegfall des väterlichen Erbes und Verlust ihrer sozialen Stellung, sondern auch der Wegfall der gesicherten materiellen Existenz und das Stigma der Armengenössigkeit. Angesichts dieser Schreckensvision, die sie und ihre unmündigen Kinder direkt betraf, denunzierten sie lieber die mächtigen Drahtzieher und deckten auf diese Weise die direkte Verbindung zwischen den Anstiftern und den Ausführenden auf. 43 Ihre Aussagen untermauerten sie durch konkrete Hinweise auf die versprochene, ihrer Befürchtung nach jedoch ausbleibende materielle Absicherung, die als Gegenleistung der Patrons für die Ehefrauen und unmündigen Kinder der beiden geflohenen Täter vorgesehen war. Damit durchbrachen sie als erste das traditionale Gefüge männlicher Solida- 39 Z.B. Vermittlung einer Schlachtbank unter Umgehung des Rats, der das Monopol der Verleihung beanspruchte, Vorstrecken des geschuldeten Steuerbetrags, Gewährung von Darlehen, Beteiligung am Viehhandel. 40 Hagemann (wie Anm. 5), I, 223f. Zur Ächtung flüchtiger Totschläger bzw. Mörder und Konfiskation ihres Guts. 41 Zum »Gesetz des Schweigens« in der dörflichen Gesellschaft Rippmann: Unbotmässige Dörfler, 131f.; Peter Burke: Randbemerkungen zu einer Sozialgeschichte des Schweigens, in: ders.: Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität, Berlin 1994, 65 - 90; Brigitte Bönisch-Brednich et al. (Hg.): Erinnern und Vergessen, Göttingen 1991; Erving Goffman: Forms of Talk, Oxford 1981. 42 Dazu auch Gauvard: »De grace« (wie Anm. 6), I, 340 - 346. 43 Durch diese Art von Informationen erlitt allerdings das Bild der unwissenden, gänzlich unbeteiligten Ehefrau, daß die Frauen vor Gericht zu vermitteln suchten, einen Riß; dazu mehr im folgenden Abschnitt. Katharina Simon-Muscheid 660 ritäten, Abhängigkeitsbeziehungen und gegenseitiger Verpflichtungen in klientelartigen Strukturen, in denen besonders vor Gericht Schweigen gewahrt und auch erwartet wurde. Der zweite angesprochene Problemkreis betrifft die weiblichen Kommunikationsformen 44 und -orte 45 und die als spezifisch weiblich geltenden Themen. Aus den Verhören und Zeugeneinvernahmen (»Kundschaften«) zeichnen sich die zentralen Gesprächsthemen von allgemeinem Interesse und darunter die Bereiche ab, die als typische Frauenthemen galten. Die mit »Weibergeschwätz« und »Klatsch« assoziierten Gesprächsthemen kreisten um Kinder, Verwandschaft, Eheprobleme, Krankheiten und Hausrat und die vielfältigen Aspekte menschlicher Beziehungen, während Männern »ernsthafte Dinge« wie Politik, Wirtschaft und religiöse Themen, die mit ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit zu tun hatten, zugeordnet wurden. 46 Auch die für harmloser und weniger gewichtig befundenen weiblichen Reden ließen sich als scharfe Waffe gegen unliebsame Männer und Frauen sowie als Mittel für solidarische Aktionen zur Verteidigung von Ehre, Ruf und Unschuld einsetzen. Ehre und Leumund hingen somit zu einem guten Teil von diesen Informations- und Klatschnetzwerken ab; sie konnten durch Reden konstruiert, bestätigt oder völlig zerstört werden. »Gerede« und »Klatsch« 47 sowie kolportierte Gerüchte flossen - gezielt oder unabsichtlich - auch in die Reden vor Gericht ein. Sie bildeten einen Teil jenes Konglomerats, aus dem sich Zeugenaussagen zusammesetzten. Zeuginnen (und Zeugen) konstruierten aus Bruchstücken einer Handlung oder eines Gesprächs, deren Augen- oder Ohrenzeugen sie geworden waren oder die sie bloß durch die Erzählung Dritter kannten, chronologisch und kausal verknüpfte Handlungsabläufe, in die sie eigene Beobachtungen und Schlüsse einfügten. Auf diese Weise skizzierten sie implizit oder explizit, durch Wortwahl und Auslassungen ein Bild des Charaktes und des Leumunds derjenigen Personen, über deren Handlungen sie aussagten. 48 44 Verstanden als weibliche Kommunikationsnetzwerke mit ihren ambivalenten Funktionen Sozialkontrolle, Nachbarschaftshilfe, Soziabilität, Informationsaustausch, die mit der männlichen Welt interagieren; siehe dazu auch Lyndal Roper: Gendered Exchanges: Women and Communication in Sixteenth- Century Germany, in: Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 15), Wien 1992, 199 - 217, bes. 205f.; siehe auch die Beiträge in Hans-Werner Goetz/ Hedwig Röckelein (Hg.): Frauen-Beziehungsgeflechte im Mittelalter (Das Mittelalter 2), Weinheim 1996. 45 Gegenseitige Besuche in ihren Häusern, gemeinsames Essen, gemeinsam getätigte Einkäufe in der Stadt oder gemeinsam unternommene Kirchgänge und Wallfahrten, gemeinsames Arbeiten im Freien, abendliche Spinnstuben. 46 Zur weiblichen Rede und ihrer negativen Bewertung mit einschlägigen Sprichwörtern der frühen Neuzeit Pia Holenstein/ Norbert Schindler: Geschwätzgeschichte(n). Ein kulturhistorisches Plädoyer für die Rehabilitierung der unkontrollierten Rede, in: Richard van Dülmen (Hg.): Dynamik der Tradition (Studien zur historischen Kulturforschung IV), Frankfurt a.M. 1992, 41 - 108; allgemein zu den »Sünden des Mundes« in der christlichen Tradition Carla Casagrande/ Silvana Vecchio: Les péchés de la langue. Discipline et éthique de la parole dans la culture médiévale, Paris 1991. 47 Dazu Steve Hindle: The Shaming of Margaret Knowsley: Gossip, Gender and the Experience of Authority in Early Modern England, in: Continuity and Change 9 (1994), 391 - 419; Holenstein/ Schindler (wie Anm. 46); Regina Schulte: Bevor das Gerede zum Tratsch wird, in: Karin Hausen/ Heide Wunder (Hg.): Frauengeschichte-Geschlechtergeschichte, Frankfurt a.M./ New York 1992, 67 - 73. 48 Dazu Rippmann/ Simon-Muscheid/ Simon: Arbeit - Liebe - Streit (wie Anm. 19), 17 - 39. Täter, Opfer und Komplizinnen 661 V In Erinnerung zu rufen sind für die Analyse der Texte die folgenden Umstände: Das auffälligste Merkmal aller Zeugenaussagen in diesem Fall ist der unbestreitbare und unbestrittene Tatbestand, daß alle Männer und Frauen von Anfang an über den geplanten Mord informiert waren und die Täter mit Namen kannten. Es konnte in den Verhören also nicht darum gehen, abstreiten zu wollen, von dem von langer Hand geplanten Anschlag Kenntnis gehabt zu haben und völlige Unkenntnis der Dinge vorzutäuschen, was leicht widerlegt werden konnte. Den verhörten Frauen und Männern stand somit nur ein enger Spielraum zur Verfügung, nämlich der, unter der Voraussetzung der bestehenden Mitwisserschaft Argumentationsmuster und Entlastungsstrategien zu entwikkeln und durchzuhalten. Es stellt sich die Frage, wie die verhörten Männer und Frauen ihre Aussagen auf diese klare Ausgangslage abstimmten und welches Bild ihrer Rolle sie dem Gericht zu vermitteln suchten. Trotz des engen Spielraums gehe ich von einem starken fiktionalen Element in den Aussagen der verhörten Personen aus. 49 Der Rückgriff auf geschlechts- und altersspezifische Stereotypen erwies sich hinsichtlich der Ausweich- und Verteidigungsstrategien vor Gericht für die Frauen und Männer im Umfeld der Täter als hilfreich für die Modellierung ihres Verhaltens nach gesellschaftlich akzeptierten und erwarteten Rollenmustern. 50 So wurde beispielsweise die den Frauen qua Geschlecht attestierte »imbecillitas sexus«, der Kontrast zwischen weiblicher (physischer und geistiger) Schwäche und männlicher Stärke, der die Asymmetrie der Geschlechterordnung theologisch, juristisch, biologisch und gesellschaftlich begründete, von den Frauen selbst vor Gericht instrumentalisiert und in ihren Bittschriften und Entlastungsstrategien miteinbezogen. 51 Um die Stilisierungen in eigenen (und abgesprochenen) Aussagen besser sichtbar machen zu können, konfrontiere ich sie mit den Aussagen Dritter, die ihrerseits wieder ein eigenes Bild der Geschehnisse zeichneten. In der Konfrontation dieser beiden Arten von »Texten«, den direkten Aussagen mit den von Zeuginnen und Zeugen referierten Gesprächen und Beobachtungen, werden Brüche und Widersprüche in der Darstellung der Ereignisse und in der angestrebten Selbststilisierung sichtbar. Das Bild, das die verhörten Männer und Frauen in ihren direkten Aussagen zu vermitteln suchten, deckt sich nur zum Teil mit den Verhaltensweisen, Reaktionen und Gesprächsfetzen, die über sie berichtet wurden. Diese Bruchkanten, an der die Selbststilierungen und die Aussagen Dritter aufeinandertreffen, sind für unsere Fragestellung von besonderem Interesse, da sie verschiedene 49 Siehe dazu die methodischen Überlegungen in Abschnitt II. 50 Zur weiblichen Argumentation und Rede vor Gericht Silke Göttsch: Zur Konstruktion schichtenspezifischer Wirklichkeit. Strategien und Taktiken ländlicher Unterschichten vor Gericht, in: Brigitte Bönisch- Brednich u. a. (Hg.): Erinnern und Vergessen (Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses, Göttingen 1991), Göttingen 1991, 443 - 451; Lyndal Roper: »Wille« und »Ehre«: Sexualität, Sprache und Macht in Augsburger Kriminalprozessen, in: Heide Wunder/ Christina Vanja (Hg.): Wandel (wie Anm. 20), 180 - 197; dies.: Gendered Exchanges (wie Anm. 44); Claudia Ulbrich: Zeugen und Bitstellerinnen(wie Anm. 18), 207 - 226; Susanna Burghartz: Geschlecht-Körper-Ehre. Überlegungen zur weiblichen Ehre in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Basler Ehegerichtsprotokolle, in: Schreiner/ Schwerhoff (Hg.): Verletzte Ehre (wie Anm. 15), 214 - 134; Simon-Muscheid: Kleidung (wie Anm. 25). 51 Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität« (wie Anm.16); Claudia Ulbrich: Zeuginnen und Bittstellerinnen (wie Anm. 18); Davis: Fiction (wie Anm. 20). Katharina Simon-Muscheid 662 Schichten freilegen: An der Oberfläche der eigenen Aussagen lassen sich innerfamiliale und geschlechtsspezifische Strategien erkennen, die darauf angelegt waren, daß die mit der angestrebten Stilisierung verbundenen Handlungensweisen vor Gericht und in der Wahrnehmung der Betreffenden als selbstverständlich und notwendig akzeptiert wurden. Auf einer weiteren Ebene werden die Taktiken deutlich, mit denen die Beteiligten ihre komplizenhafte Mitwisserschaft zu verbergen suchten. Das Aufbrechen der verschiedenen, sich überkreuzenden Loyalitäten legt eine weitere Schicht frei, auf der innerfamiliale und innerzünftige Konfliktlinien zum Vorschein kommen. Als besonders gute Beispiele, an denen sich dies demonstrieren läßt, eignen sich die Familien der Täter, die Ehefrauen 52 und Väter, auf die sich das besondere Interesse des Gerichts konzentrierte. Die Rolle, in die die Venningerin, die Ehefrau des einen Mörders, schlüpfte, entsprach dem geschlechtsspezifischen Stereotyp der mahnenden Ehefrau, die ihren Mann von einer Gewalttat abzubringen sucht, ihm die Folgen für ihre kleinen Kinder vor Augen hält, ihn flehentlich bittet, den Stadtfrieden zu wahren und die dabei selbst zum Opfer ehemännlicher Gewalttätigkeit wird. 53 In dieser Rolle bestätigten sie vor allem ihre weiblichen Verwandten. Die Schwester (oder Schwägerin? ) der Venningerin, Agnes Menli, referierte ihre Gespräche mit den Frauen des Hauses Venninger vor und nach dem Anschlag. Als Vertraute und Ratgeberin war sie von ihnen frühzeitig in ihre häuslichen Probleme und Befürchtungen hinsichtlich des Mordplans eingeweiht worden. 54 Daß eine Strategie abgesprochen wurde, ist zu vermuten, denn in den Aussagen der wohl informierten Agnes Menli, die die Befürchtungen, an den Bettelstab gebracht zu werden, die vergeblichen Überredungsversuche der Ehefrau sowie ihre eigene Rolle als kluge Ratgeberin in den Vordergrund stellte, widerspricht kein Element dieser Stilisierung. Auf ihren Rat hin, sie solle ihrem Mann den Plan gütlich ausreden und ihm das Schicksal seiner Kinder vor Augen führen, damit er die Hände nicht an einem unnützen menschen, der ihm nichts getan habe, beflecke, schilderte die Venningerin der Zeugin ihr bisheriges Verhalten. Dieses entsprach genau dem Rat, den ihr Agnes geben wollte. Agnes sagte weiter aus, die Venningerin habe ihr geklagt, ihr Mann habe sich trotz ihrer flehentlichen Bitten der Kinder wegen um keinen Preis davon abbringen lassen wollen, er habe sie ins Gesicht geschlagen und sei sogar willens gewesen, sie totzuschlagen. Die versuchte Friedenswahrung ist jedoch kein ausschließlich weibliches Argument zur Entlastung, auch wenn sich hier der Gegensatz von weiblicher Schwäche, die sich für Recht und Friedenswahrung vergeblich einsetzt, und männlicher Stärke, die Gewalttätigkeiten begeht, deutlicher ausspielen läßt. 55 Während die Zeugin in ihrer Aussage das Bild der Venningerin und ihrer Schwägerin weder durch drohende noch denunziatorischen Worte »befleckte«, scheute sie sich nicht, den Kommentar einer anderen, 52 Von der Ehefrau des zweiten Mörders, Claus Pfister, existieren weder eine Aussage noch Berichte über ihre Worte und Reaktionen. Beim Auftritt der mit der Inventarisierung beauftragten Amtleute sitzt sie zusammen mit ihren Kindern und ihrem Schwiegervater in der Stube, bleibt jedoch im Unterschied zu diesem stumm; Claus Pfisters metze, die auch verhört wird, weiß nichts außer der Tatsache, daß die Metzger informiert waren. 53 Zur Realität dieser Stereotypen in der Argumentation der Frauen Davis: Fiction (wie Anm. 20), bes. 93 - 122, und Gauvard: »De grace« (wie Anm. 6), I, 299 - 346; zum Bild der Frau Carla Casgrande: La femme gardée in: Georges Duby/ Michelle Perrot (Hg.): Histoire des femmes en Occident, I: Le moyen âge, Paris 1991, 83 - 116; Silvana Vecchio: La bonne épouse, ibidem 117 - 145. 54 Laut Aussage erfuhr sie zunächst von der jüngeren Schwester des Mörders, warum sie und ihre Schwägerin gross leid und beschwerd an irem hertzen trügen. Täter, Opfer und Komplizinnen 663 weniger direkt betroffenen Frau aus dem Umfeld der Metzgerzunft wiederzugeben, die mit klarem Durchblick das Mordkomplott auf einen schlichten Machtkampf zwischen den einflußreichen Clans reduzierte, der auf Kosten der »Kleinen« geführt worden sei. 56 Das Bild der Venningerin und der Frauen ihrer Familie, das auf eigenen Aussagen und Aussagen ihrer weiblichen Verwandten beruht, erhält durch zusätzliche, nicht von den vertrauten Frauen referierten Gesprächsfetzen weitere Facetten, die die erstrebte Stilisierung aufbrechen. Sie vermitteln das Bild einer verzweifelten, zornigen Frau, die bereit war, die eigentlichen Drahtzieher und Profiteure des Mortthandels, die ihre Familie ins Unglück gestürzt hatten, zu denunzieren, und die sich über das Ausbleiben der versprochenen Hilfeleistungen beklagte, nachdem die Täter geflohen waren und die Obrigkeit mit einer großangelegten Verhaftungswelle auf die Ermordung Mörnachs reagiert hatte. Während die Venningerin selbst und ihr Umfeld ihre Rolle im Drama auf ein Minimum an passiver Mitwisserschaft und Klagen über die Zukunft ihrer Kinder zu reduzieren gesucht hatten 57 , scheint nun so etwas wie eine konkrete Abmachung auf, die von vornherein als Gegenleistung die materielle Versorgung der Ehefrau und ihrer unmündigen Kinder vorsah. Ganz offensichtlich wußte die Frau Bescheid darüber. Der Metzger Jacob Bratteler, der sich rechtzeitig mit Hilfe seines Vaters aus der Affäre gezogen hatte, 58 berichtete über ein Gespräch, das er mit der Venningerin am Mordtag selbst geführt hatte. In seiner Aussage verband sich die übliche Klage um das Schicksal der Kinder mit der Klage um die von den Patrons versprochenen Unterstützungsmassnahmen, d.h. jenem Teil der Venningerinschen Reden, der von ihr selbst und ihren Verwandten tunlichst verschwiegen wurde. Die Frau soll gejammert haben: Ach Maria, gotz mutter, mine cleine kind, wie hat min man mich hüt uff disen tag so zuo einer armen frowen gemacht und mine cleine kind. Wo sind nu die, die ir silbergeschirr, ir guot und anders für mine kind hand wellen versetzen? Nu muß ich ab dem huß und wurd verstossen. 59 55 Nach der Tat wirft die Zeugin ihrem Vetter vor, Venninger nicht von seiner Tat abgehalten zu haben; auch er betont seine vergeblichen Bemühungen und erklärt laut Zeugin: (...) der böswicht hatt uns alle zu uneeren und geschrey bracht und er möcht liden, das er darumb gestrafft werd; es fällt auf, daß sämtliche Zeuginnen und Zeugen, die nachweislich vor dem Mord mit Venninger sprachen, betonten, sie hätten sich bemüht, den Mord zu verhindern, dieser rechtlich relevante Aspekt wird auch in den Reden Dritter wiedergegeben. 56 Zur dieser Interpretation des Mortthandels weiter unten mehr. 57 In ihrer Aussage bestätigt sie die Angebote ihres Gevatters und eines anderen Metzgers, die Erziehung ihrer Knaben zu übernehmen. 58 Auch die Bratteler bildeten eine einflußreiche Dynastie; Jacob Bratteler d.Ä. hatte als Schultheiss am Grossbasler Gericht die Konfiskation vorzunehmen; siehe auch Hans Füglister: Handwerksregiment. Untersuchungen und Materialien zur sozialen und politischen Struktur der Stadt Basel in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 143), Basel/ Frankfurt a.M. 1981; Simon-Muscheid: Zünfte (wie Anm. 10); zur generationsspezifischen Strategie der Väter siehe weiter unten. 59 In einem früheren Verhör sagt er aus, sie habe erklärt, mit Gottes Hilfe werde sie das eine selbst erziehen können, ihr Gevatter habe ihr versprochen, für das andere aufzukommen, worauf ihr Bratteler aus reinem erbarmen und sunst keinem andern grund angeboten habe, das zweite selbst aufzuziehen. Katharina Simon-Muscheid 664 Laut Bratteler nannte sie dabei die Namen zweier einflußreicher metzgerzünftiger Patrons 60 , die ihrem Mann vor der Tat zugesagt haben sollen, ihre Kinder nicht ungegessen lassen zu wollen. Wie sie jedoch mit Brattelers Aussage, die den Hinweis auf diese Abmachung und die Namen enthielt, konfrontiert wurde, wollte sie sich an diesen Teil ihrer Klage nicht mehr erinnern. 61 Sie bestätigte nur, daß ihr zwei andere Metzger zugesichert hätten, für die Erziehung ihrer zwei Knaben aufzukommen. Dieses Beispiel läßt auf die erwähnte tiefere Schicht von Mitwissen schliessen, und hier erkennen wir einen Bruch zwischen der Selbststilisierung als unwissende, ausschließlich auf Kinder und Haus bezogenen Ehefrau, die die Hintergründe des Handels nicht durchschaute, und ihrer genauen Informationen über die ausgehandelte finanzielle Versorgung durch die Auftraggeber als Gegenleistung. Über ihren Ehemann sagte die Venningerin aus, er sei vierzehn Tage vor der Tat vom jungen Bratteler, den sie als eigentlichen Bösewicht betrachtete, angestiftet worden und habe sich zum Mitmachen verpflichtet. 62 Was sein Verhalten am Abend vor dem Mordtag betraf, gab sie zu Protokoll, er sei mit halb geschorenem Bart 63 nach Hause gekommen und habe auf ihre Frage, was er damit bezwecke, geantwortet, er wolle eine Wallfahrt nach Einsiedeln unternehmen. Daraus habe sie geschlossen, daß er die Tat vollbringen werde. Die Väter der (potentiellen) Mörder erzählten die Geschichte auf verschiedene Weise. Bratteler d. Ä., einflußreiches Mitglied der Metzgerzunft und damals Schultheiss am Großbasler Gericht, der Vater des zurückgetretenen Mörders 64 , hatte allen Grund, den Fall zu einem innerfamilialen Generationenkonflikt um väterliche Autorität und Respekt vor den Gesetzen zu stilisieren. Er spielte die Rolle des zürnenden, gesetzestreuen Vaters, der seinem Sohn drohte, ihn mit seinem Degen zu durchbohren, falls er den Mord begehe. Damit ermöglichte er es seinem in den Mortthandel verstrickten Sohn, sich dem väterlichen Druck zu beugen und sich auf diese Weise aus den eingegangenen Verpflichtungen gegenüber den Kollegen zurückzuziehen. Dies ging zwar nicht ohne Gesichtsverlust und böse Reden über seinen »Verrat« vonstatten 65 , dafür blieb ihm als gehorsamem, die Autorität des Vaters und der Gesetze respektierendem Sohn ein weiteres gerichtliches Nachspiel erspart. Bratteler d. J. referierte vor Gericht das (fiktive? ) Gespräch mit seinem Vater. Er gab offen zu, bei der Ürte im Zunfthaus von Hans Ven- 60 Caspar David aus der wohlhabenden und mächtigen Dynastie der David und Zesslin; Füglister (wie Anm. 58); Simon-Muscheid: Handwerkszünfte (wie Anm. 10). 61 Dazu Brigitte Bönisch-Brednich u. a. (Hg.): Erinnern und Vergessen, Göttingen 1991; siehe auch Thomas Butler (Hg.): Memory: History, Culture and the Mind, New York 1989. 62 Aufschlußreich sind die verschiedenen Auffassungen über die Verbindlichkeit der eingegangenen Verpflichtung den Mitverschörern gegenüber: Er habe es wegen der eingegangenen Verpflichtung tun müssen, betont Venningers Tochter. Mit dem Ausdruck, er habe seinen schuh daruf gepletzt, umschreibt Venningers Schwester die Abmachung; die Venningerin und Metzgerkollegen halten den jungen Bratteler, der sich aus eben dieser Verpflichtung davongestohlen hatte, für ebenso schuldig wie den eigentlichen Täter. 63 Die Artikel »Bart« in Lexikon des Mittelalters 1, 1490f., Schweizerisches Idiotikon 4, 1611 - 1617, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1, 930f. und der Artikel »Haar« in Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1, 1880 - 1887 liefern keinen Hinweis auf die Bedeutung des halbseitigen Bartabscherens. 64 Zur Familie Bratteler siehe Anm. 58. 65 Was ihm von Seiten seiner Kollegen und den Familien der beiden Mörder Schimpfwörter wie böswicht, schisser, fertzer, und zilenbruoch eintrug. Täter, Opfer und Komplizinnen 665 ninger für den Mord angeheuert worden zu sein und sich verpflichtet zu haben, die Tat auszuführen. Er erklärte jedoch, sofort seinen Vater darüber informiert zu haben, der gedroht habe, ihn zu erstechen. Er habe sein Versprechen bald schwer bereut und seinen Komplizen auf der »Schol« mitgeteilt, er wolle nichts mehr mit dem Komplott zu tun haben. Brattelers Rückzieher, der eine zweite Auslosung nötig machte, war den Beteiligten bekannt; er trug ihm den Zorn der Venningerischen Familie und all derer ein, die diese kluge Taktik der beiden Brattelers durchschauten. Eine weitere, bedrohlichere Dimension nimmt der Mortthandel in den zornigen Reden der älteren Männer, wie Claus Pfister (dem Vater des zweiten Mörders) und anderer Männer seiner Generation an. Sie beruhte auf ihrer konkreten Erfahrung mit dem Aufstandsversuch von 1482, den sie zwanzig Jahre vorher selbst miterlebt hatten, und gehörte gleichzeitig seit Generationen zum rhetorischen Repertoire aufgebrachter, der Obrigkeit drohender Männer. 66 Zum einen suchten sie die Frauen mit dem ominösen Hinweis zu trösten, daß manches Gut konfisziert, aber noch lange nicht verkauft werde und daß die geflohenen Täter nach wenigen Wochen wieder zurückkämen, zum anderen fiel verschiedentlich die Drohung, es müsse noch mehr lüten kosten. Diese Hinweise auf ein bedrohliches Aufstandsszenario mit bereitstehenden Verschwörern, auf deren Liste eine Reihe weiterer prominenter, potentieller Mordopfer stehe, kumulierten in den Aussagen des Vaters des einen Mörders, Martin Pfister, der den Ermordeten und dessen Vater in Gegenwart des Schultheissen und der Amtleute verfluchte 67 : (...) Und aber angefangen und Ulin Mörnach und sinem vatter vast übel geflucht (...) mit den wortten: daz sy Gotz plut schend, haben sy im ein schol [Schlachthaus] gebuwen; man weist wol, wer schuld daran und im gehandhab hat. sind noch zen oder zwelff, daz sy Gotz blutt schend. ich wolt, daz sy da legen, Ulin Mörnach ligt, und solt ich des um min lib und kopff kommen (...) und man weist wol, wer sy sind, wie müßen nochme am reyen tantzen. Aus den referierten Gesprächsfetzen von Männern und Frauen geht hervor, daß nach allgemeiner Auffassung die beiden jungen Männer, Venninger und Pfister, als Werkzeug in einem Machtkampf zwischen den rivalisierenden Metzgerdynastien benutzt worden waren und in ihrem Auftrag die Schmutzarbeit geleistet hatten, während die Drahtzieher in ihrer unangreifbaren Position als einflußreiche Patrons ungestraft ausgingen. Die Einbindung in die Klientel der einflußreichen Patrons und die daraus folgenden Abhängigkeiten wurden von den Frauen durchaus wahrgenommen und thematisiert. Die Frauen, die einander besuchten, brachten ihr Wissen um die Hintergründe auf die folgende doppeldeutige Formel: 66 Simon-Muscheid: Handwerkerzünfte (wie Anm. 10) und dies.: Konfliktkonstellationen mit weiterführender Literatur zu diesem Aspekt (wie Anm. 8). 67 Seine Worte wurden vom Schultheissen Jacob Bratteler und seinen Amtleuten, die die Inventarisierung von Pfisters Haus vorzunehmen hatten, bei ihrem Amtseid wiedergegeben. Katharina Simon-Muscheid 666 Das mueß Gott erbarmen, warumb vacht man die armen und laßt die richen gan. Caspar David, der hatt den gedachten Venninger und Clausen Pfister [die beiden Mörder] schoff [Schafe] fürgesetzt, die haben sy vermetziget und das gelt in den seckel genommen und sich damit hinweg getan, denselben Caspar laßt man aber gan. 68 VI Mein Ansatz, der die Diskrepanz zwischen dem vermittelten Rollenstereotyp in den eigenen Aussagen und dem modifizierten Bild aufgrund der Zeugenaussagen in den Vordergrund der Analyse stellt, erweist sich als aufschlußreich für die Rekonstruktion geschlechtsspezifischer Ausweich- und Verteidigungsstrategien vor Gericht. Darauf griffen Männer und Frauen zurück, weil sie auf diese Weise ihre Aussagen am leichtesten nach einem kohärenten, den gesellschaftlichen, kirchlichen und geschlechtsspezifischen Normen entsprechenden Modell gestalten konnten. Diese Strategie setzten Männer und Frauen ein, um sich von der Anklage der Mittäterschaft bzw. Mitwisserschaft zu entlasten, wie im Fall der Frauen des Hauses Venninger und des Vater des (zurückgetretenen) Mörders: Als aufopfernde Mutter, mahnende und passiv duldende, sich nicht um die Geschäfte des Mannes kümmernde, auf Kinder und Haus bezogene Ehefrau, als unerbittlich gesetztestreuer Vater oder ungehorsamer Sohn. In diesen Versuchen, die eigene Rolle auf solche Stereotypen hin zu stilisieren und auf die passenden Facetten zu reduzieren, steckt ein hoher Gehalt an Fiktionalität. Letztere wird erreicht durch Weglassen oder Umgruppieren bestimmter Fakten in der Schilderung der eigenen Verhaltensweisen und des Handlungsablaufs sowie durch Rückgriffe auf die im kollektiven »Imaginaire« gespeicherten gängigen Bilder, Motive und Normen. Die Stilisierung konsequent durchzuhalten, war jedoch nur möglich, wenn sie von Dritten bestätigt wurde, die ihrerseits kompromittierende Reden und Handlungen nicht an das Gericht weitergaben, sondern sich auf die vorgegebenen Züge beschränkten oder pauschale Beschreibungen lieferten wie hat sich vast übel gehept, ohne jedoch den genauen Wortlaut anzugeben. Aufgebrochen und »auskorrigiert« werden diese personenbezogenen Stilisierungsversuche immer wieder durch die Aussagen Dritter, die vertrauliche Gespräche vor Gericht preisgaben oder nicht rollenkonforme Reaktionen schilderten. Dadurch wurden weitere Facetten der Charaktere und der Hintergründe versehentlich oder zur eigenen Entlastung enthüllt, die das auf Stereotypen reduzierte Bild erweiterten oder ihm widersprachen. In solchen Fällen blieb nur der Rekurs auf die Erinnerungslücke wie im Fall der Venningerin, die sich weder an die genannten Namen noch das Versprechen der Auftraggeber, ihr Silbergeschirr zu versetzen, erinnern wollte, nachdem Bratteler diesen Aspekt des Handels enthüllt hatte. Die bestehenden geschlechtsspezifischen Normen und die den Geschlechtern zugewiesenen Räume boten Männern und Frauen auch in dieser spezifischen Situation den Rahmen, innerhalb dessen sie handelten und den sie in ihre Stilisierungen miteinbezogen: So legitimierte beispielsweise die übliche weibliche Tätigkeit des Besuchens und 68 Die doppelte Bedeutung von »Schol« [städtisches Schlachthaus], »Schafe vorsetzen« und »metzgen« konnte ebenso gut in der direkten wie in der übertragenen Bedeutung verstanden werden; im Klartext lautete dies, daß David die beiden jungen Metzger für den Mord an Mörnach angeheuert hatte. Täter, Opfer und Komplizinnen 667 Trostspendens in Leid und Krankheit auch die wiederholten Besuche in den Häusern der betroffenen Metzgerfamilien. Das gemeinsame Klagen über ein Unglück, das von weiblichen Verwandten, Nachbarinnen und Freundinnen erwartet wurde, ließ sich mit dem Austausch von Informationen über den neuesten Stand der Ermittlungen und dem Absprechen des weiteren Vorgehens kombinieren. Den Männern lieferte ihre Verpflichtung, für die unmündigen Kinder ihrer Zunftbrüder aufzukommen, den Vorwand, die betroffenen Häuser aufzusuchen, um aus erbarmen ihre Hilfe anzubieten. Als fiktionale Realität läßt sich schließlich die Stilisierung des Mortthandels auf ein umfassendes Mordkomplott hin insofern bezeichnen, als in der Erinnerung der älteren Generation die gefährliche Allianz, die zum Aufstandsversuch von 1482 geführt hatte, als reales, datierbares Ereignis gespeichert war, das in einer ähnlichen Situation wieder abgerufen und verbal zumindest reaktiviert werden konnte. Wie die eingangs erwähnte Ratserkanntnis zeigt, waren die Ratsmitglieder durchaus bereit, an eine mögliche Wiederholung zu glauben. Immer wieder in irgendeiner Form thematisiert wurde das Problem der doppelten und mehrfachen Loyalitäten. Als verzweifelter Versuch, durch einen speziellen Eid und eine Erkanntnis Loyalität auf der Ebene des Rats zu beschwören, erwies sich der Vorspann zum »Mortthandel«. Die Zerrissenheit der fiktiven Einheit »Zunft« bildet ein weiteres durchgehendes Motiv, das sich durch Erkanntnis und Aussagen zieht. Das Bild der Metzgerzunft präsentiert sich danach als ein von Klientelstrukturen überlagertes Gebilde, das durch die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Familien und durch langwierige Konflikte auf mehreren Ebenen geprägt und von mehrfachen Loyalitätssträngen durchzogen wird. Auf der Ebene der Familie widerspiegeln sich die grundsätzlichen Loyalitätskonflikte als (fiktiver? ) Generationenkonflikt innerhalb der Familie Bratteler, der sich durch die vorrangige Gehorsamspflicht gegenüber dem Vater entschärfen und in rechtskonforme Bahnen zurückleiten ließ. Das Problem der doppelten Loyalität scheint ein spezifisches Männerproblem gewesen zu sein, das sich für die involvierten Frauen in dieser Form nicht stellte. Ihre erste Loyalität gehörte ihren Kindern und ihrem Haus, sobald diese bedroht waren. In den Aussagen verbinden sich somit nachprüfbare Tatsachen, Semifiktionalität und Fiktionalität zu einem mehrschichtigen Gebilde, dessen einzelne Schichten abgetragen werden können. Dadurch entstehen verschiedene Bilder des geplanten und durchgeführten Anschlags, der Rolle der beteiligten Männer und Frauen sowie des politischen Stellenwerts, den sie dem Mortthandel zuschrieben, verdeutlicht. 669 Joachim Eibach Böse Weiber und grobe Kerle Delinquenz, Geschlecht und soziokulturelle Räume in der frühneuzeitlichen Stadt 1. Ein Tumult auf dem Frankfurter Markt und die Untersuchung durch die Justiz Ein Fallbeispiel zum Einstieg: Die kaiserliche Hofküche in Frankfurt verlangte nach Eiern. Der Hofküchenamtsoffizier Ignatius Siegel schickte deshalb am 26. September 1742 Anna Sophia Lützelin auf den Markt der Wahl- und Krönungsstadt. Früh morgens ging die Beisassin mit einigen sog. Hockenweibern über den Grünmarkt und kaufte bei den Bauern aus dem Frankfurter Umland Eier. Um ca. 6.30 Uhr gelangten sie mit ihren Körben an den Stand von Johannes Martin. Der Hühnerbauer bot seine Erzeugnisse vor dem Haus des zu dieser Zeit seinen Laden aufschließenden Krämers Eckel an. Die Frauen wurden mit dem Bauern schnell handelseinig und kauften ihm sämtliche Eier zum Preis von fünf Stück à einen Batzen ab. Als Martin gerade dabei war, seine Produkte den Marktfrauen auszuhändigen, erschien der 27jährige Krämersohn Carl Ludwig Eckel auf der Bildfläche, um den Bauern ebenfalls nach dem Preis seiner Eier zu fragen. Bis zu diesem Zeitpunkt deutet nichts darauf hin, daß aus der auf dem Markt gewöhnlichen Situation ein Tumult und Auflauff entstehen sollte, wie es später der Syndikus Johann Simon Seyfried in einem Rechtsgutachten nannte. 1 Aus den Darstellungen der insgesamt 23 vom Frankfurter Verhöramt zu dem Vorfall befragten Personen geht hervor, daß Carl Ludwig Eckel seinerseits Eier kaufen wollte und sechs statt fünf Stück für einen Batzen verlangte. Bauer und Marktweib gaben dem Bürgersohn aber zu verstehen, daß die Eier bereits verkauft seien. Ob sie dabei den hohen Auftraggeber erwähnten, blieb umstritten. Eckel gab vor der Justiz an, er habe den Bauern auch schon in der Judengasse Eier verkaufen sehen und um den Käufer in der kaiserlichen Küche nicht gewußt. Sicher ist, daß er verärgert den Stock des Bauern nahm und damit in dessen Eier schlug. Daraufhin kam es zwischen dem Krämer einerseits, sechs Marktweibern anderseits zuerst zu verbalen, dann zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, in die später auch einige Ehemänner der Frauen und ein in der Gasse logierender Forstreiter intervenierten. Vor Gericht kam das Ereignis noch am selben Tag durch Ignatius Siegel, der im Römer mit der Bitte um Satisfaktion erschien. Der Hofdiener war nach dem Tumult in den Krämerladen gegangen und hatte den jungen Eckel zur Rede gestellt. Dieser habe ihm aber nur mit trutzigen, mehr noch mit ehrenrührigen Worten geantwor- 1 Frankfurter Institut für Stadtgeschichte, Crim. 5445 (1742), ebenso die weiteren Quellenzitate. Allgemeine Fragen der Frankfurter Gerichtsverfassung und des Prozeßrechts werden im folgenden weitgehend ausgespart. Diesbezüglich interessierte (Rechts-)historiker seien auf meine in Arbeit befindliche Monographie zur städtischen Kriminalität im 18. Jahrhundert verwiesen. Das Thema Kriminalität und Geschlecht erlebt derzeit zweifellos eine Hausse auf dem Markt geschichtswissenschaftlicher Publikationen. Nicht mehr im einzelnen berücksichtigt werden konnte Ulinka Rublack: Magd, Metz’ oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt/ Main 1998. Für Anmerkungen zu diesem Artikel danke ich meiner Kollegin Raingard Eßer (Gießen). Joachim Eibach 670 tet und versetzt: Ich habe so wohl zu kauffen als der Kayser auch, und wolle Er es seinen Weibern inskünfftige noch besser machen, als Er es anjetzo gethan. Reichspolitischer Kontext des Vorfalls am Frankfurter Neuen Tor war die Anwesenheit des Wittelsbacher Kaisers Karl VII., der Frankfurt aufgrund der Kriegslage 1742 provisorisch als Residenz nutzte. Der Aufenthalt des Hofstaates eröffnete den Frankfurtern nicht nur Aussichten auf Geschäft und Gewinn, sondern belastete auch die örtliche Marktökonomie. Auf dem Einkaufszettel der Frauen für die Hofküche stand die tägliche Lieferung von nicht weniger als 900, an Wochenenden sogar von 1.800 Eiern. Die Folge war, daß Eier und andere Lebensmittel auf dem Markt bereits früh morgens ausverkauft waren, ehe sich die Einwohner der Stadt versorgt hatten. Marktrechtlicher Hintergrund des Konflikts war der Umstand, daß der Frankfurter Rat den einheimischen Hockenweibern untersagt hatte, vor 10 Uhr auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Die entsprechende, mehrmals wiederholte Verordnung sollte preistreibenden Zwischenhandel verhindern. 2 Bekanntlich wurde vor Gericht viel gelogen. Für Kriminalitätshistoriker ist es in den meisten Fällen eine unlösbare Aufgabe, den Tathergang von A bis Z zu rekonstruieren. Dies gilt besonders dann, wenn kein Geständnis erfolgte und alle Zeugen den beiden streitenden Parteien angehörten. So auch hier: Zugunsten der Marktfrauen sagten auf dem Verhöramt die Frauen selbst, der Hühnerbauer, der Hofkücheneinkäufer und einige Familienangehörige der Frauen aus; für den Händlersohn ergriffen dessen Vater sowie Nachbarn und Kunden Partei. In keiner Beziehung zu den Kontrahenten standen lediglich der Mainzer Forstreiter Johannes Wilcken, der schlichtend eingriff, und der Schuhflicker Johann Georg Hüttner, der sich während der Händel zufällig vor dem Haus gegenüber aufhielt. Mit dem Versuch der Klärung des Vorfalls ist der methodische Zugriff auf die Aussagen der Beteiligten verbunden. Auf welche Weise von den Akteuren im Diskurs vor Gericht versucht wurde, Wahrheit zu konstruieren, ist auch bei einem primär sozial- oder kulturgeschichtlichen Interesse keineswegs Nebensache. Anna Sophia Lützelin sagte aus, Eckel habe sie, nachdem er mit dem Stock auf die Eier eingeschlagen, so fort bey dem Kopff angepackt, ihr die Haube abgerissen, und Sie übel geschlagen, daß Sie noch unter dem Kinn blau seye davon (...) worüber dann (...) [ihre] Schwester abzuwehren gekommen, welcher Er nebst seinem auch dazu gekommenen jüngern Bruder, es aber eben also wie ihr gemacht und die Haube abgerissen, auch sie auff der Erde herum geschleiffet. Ähnlich sagten auch die anderen Frauen aus. Die Brüder hätten ihnen mehr oder weniger grundlos die Hauben von den Köpfen und sie selbst zu Boden gerissen. Sie seien im Straßendreck herumgeschleift, an den Haaren gezogen, geschlagen und getreten worden. Selbst auf die Schwangerschaft der Beisassin Maria Barbara Schmidtin hätten die Brüder Eckel keine Rücksicht genommen. Auch zwei Ehemänner der Frauen, beide sog. Schubkarcher, seien attackiert worden. Überraschen kann es nicht, wenn sich das Geschehen aus der Sicht der Eckelschen Partei ganz anders darstellte. Demnach hatten die Hockinnen oder Hockenweiber - so genannt, weil die Frauen auf dem Markt neben ihren Waren kauerten 3 - den Krämersohn am Kauf der Eier gehindert und dabei selbst mit Schmähen Schelten und Schänden begonnen. Die Brüder hätten die Beleidigungen zunächst geduldig ertragen. Der Post- 2 Alexander Dietz: Frankfurter Handelsgeschichte, Bd. 1, ND Glashütten im Taunus 1970, 130. 3 Siehe die Abbildung bei Dietz: Handelsgeschichte (wie Anm. 2), 118. Böse Weiber und grobe Kerle 671 knecht Conrad Geist, der zur Tatzeit früh morgens im Laden der Eckels Branntwein trank, sagte aus, Eckel habe die Frauen lediglich aufgefordert wegzugehen, die Hocken Weiber aber ihn so gleich einen Spitzbuben, Huren Kindmacher, und sonsten alles gescholten, da dann endlich der ältere Eckel Sohn heraus gelaufen und die eine Hockin, so beständig fortgescholten, bey dem Kopff bekommen, und ihr die Haube abgerissen, worauff dann noch mehrere Hocken Weiber dazu gelaufen gekommen. Beim Übergang von Verbalzu Realinjurien sei es jedoch nicht geblieben. Die Marktfrauen und deren Männer hätten den Eckelschen Laden schließlich mit Kot und Steinen regelrecht bombardirt und die Auslagen des Krämers durch das Fenster zu Boden geworfen. Erst jetzt seien die beiden Brüder, um ihre Waren vor dem Ansturm der Hockenweiber zu schützen, energischer zu Werke gegangen. Die Parteien rekurrierten vor dem Verhöramt auf zwei Stereotype im Hinblick auf weibliches Verhalten, die in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander standen. Die Partei der Krämer Eckel, inklusive Nachbarn und Kunden eine rein männliche Partei, versuchte, den Topos von den ›zänkischen Weibern‹ zu nutzen. 4 Danach führte die Streitsucht, das unablässige Schelten der Hockenweiber zu der Auseinandersetzung. Die Marktfrauen seien nicht zu beruhigen gewesen und hätten - quasi hysterisch - dem besonnen agierenden Krämersohn, der alles dieses einsweilen in Gedult ertragen und angehöret, so lange zugesetzt, bis dieser gar nicht mehr anders gekonnt habe, als handgreiflich zu werden. Die Gewalt kam in dieser Sichtweise einer legitimen Züchtigung der schimpfenden, wütenden Frauen gleich. Der Topos von der ›bösen‹, Unfrieden stiftenden Frau besaß in der Frühen Neuzeit weite Verbreitung und scheint sich durch einen vergleichsweise hohen Anteil von Frauen an Beleidigungsklagen zu bestätigen. 5 Im Frankfurt des 18. und 19. Jahrhunderts konzentrierte sich dieser Topos besonders auf die Marktfrauen, also die von den Eckels beschuldigten Hockinnen. 6 Frankfurter Literaten und Reiseschriftsteller waren sich einig, daß mit den Hockinnen aufgrund ihrer Scharfzüngigkeit nicht zu spaßen sei. Was bei ihren Männern die Faust, ist bei ihnen die Zunge, bemerkte etwa Karl Julius Weber. 7 Anders als die streitenden Akteure auf dem Verhöramt betrachtete das gebildete Publikum die verbale Kompetenz der Marktfrauen 4 Vgl. zur langen Geschichte dieses Topos Claudia Ulbrich: Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Richard van Dülmen (Hg.): Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn (Studien zur historischen Kulturforschung II), Frankfurt/ Main 1990, 13 - 42. 5 Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn und Berlin 1995, 91 und 98; zum spätmittelalterlichen Zürich Susanna Burghartz: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990, 80; skeptisch zum Realitätsgehalt des Topos Heide Wunder: ›Weibliche Kriminalität‹ in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 1995, 54. 6 Auch das Klischee von der streitenden Marktfrau war kein Frankfurter Spezifikum: zur Wahrnehmung der Pariser Marktfrau Arlette Farge: Frauen in der Stadt - Paris im 18. Jahrhundert, in: L'Homme H 7 (1998), 25. 7 Deutschland oder Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen, Stuttgart 1828, 4. Bd., 486. Der Literat fährt fort: Eine ächte Sachsenhäuserin gibt den grünen Weibern Nürnbergs, den Oebstlerinnen Berlins, den Standel- oder Fratschel-Weibern Wiens, und den Damen auf den Fischmärkten zu Paris und Billingsgate durchaus nichts nach, ja selbst den Fischhändlerinnen der Hansestädte noch 24 auf die Parthie vor. (ebd.); zum folgenden auch Robert Diehl (Hg.): Frankfurt am Mayn im Spiegel alter Reisebeschreibungen vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, ND Würzburg 1984, 67; Anton Kirchner: Ansichten von Frankfurt am Main und seiner Umgegend, 2 Bde., Frankfurt/ Main 1818, Bd. 2, 145; Paul Quilling: Sagen und humoristisches Allerlei aus Sachsenhausen, Frankfurt/ Main 1883, 57. Joachim Eibach 672 allerdings distanziert, eher amüsiert. Der Pfarrer Anton Kirchner rühmte zudem ihren ausdauernden Fleiß und ihre Zähigkeit. Die Frauen sorgten mit dem Verkauf von Gemüse und Obst nicht nur für den Unterhalt ihrer Familien, sondern waren auch ein wichtiger Faktor der städtischen Ökonomie. Die Bürgerfamilien lebten - sofern sie nicht selbst über einen Gemüsegarten verfügten - von den Produkten der Bauern aus dem Umland und der städtischen Gärtnerfamilien, die kleine Parzellen auf der Frankfurter Gemarkung bewirtschafteten. Im Gegensatz zum Topos vom scharfzüngigen Marktweib inszenierten sich die Hockinnnen vor Gericht als ›schwache Weiber‹, als Opfer männlicher Gewalt, die in typischer Weise malträtiert worden waren. Das hier wie in vielen anderen Fällen immer wieder vorgebrachte Handlungsrepertoire reicht vom Herunterschlagen der Hauben, über das Ziehen an den Haaren bis zum Schleifen durch den Straßendreck. Weder auf ihre Armut noch auf ihre Schwangerschaft sei von den Brüdern Eckel Rücksicht genommen worden. Der Topos von der schwachen Frau, die aufgrund ihrer Disposition nicht zur Gewalt neige, ist besonders aus der älteren kriminologischen Literatur bekannt. 8 Mit dem Hinweis auf eine quasi naturgegebene Passivität und Friedfertigkeit im Konfliktverhalten wurde versucht, den geringen Anteil von Frauen in Statistiken zur Gewaltkriminalität zu erklären. Die Geschlechtergeschichte hat diese soziobiologischen Erklärungskategorien aus guten Gründen in Frage gestellt. Entsprechende Stereotype finden sich jedoch möglicherweise nicht erst im kriminologischen Diskurs ab Ende des 19. Jahrhunderts, sondern bereits im Strafrechtsdiskurs und in Gerichtsakten des Zeitalters der Aufklärung. Die Frankfurter Justiz berief sich bei ihren Urteilen nicht nur auf die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. von 1532, sondern auch auf Lehrbücher und Abhandlungen zeitgenössischer Juristen. In den häufig zu Rate gezogenen Grundsätzen des teutschen peinlichen Rechts von Johann Christian Quistorp heißt es z. B., daß eine genuine Leichtsinnigkeit und Schwäche des weiblichen Geschlechts in bestimmten Fällen Grund für Strafmilderung sein kann. 9 Die forensische Strategie der Frankfurter Marktfrauen entsprach diesem Denkmuster. Sie setzte auf Schwäche und Wehrlosigkeit gegenüber den Bürgersöhnen. Damit verzichteten die Frauen auf andere Argumentationsweisen, die ebenfalls strafrechtskompatibel gewesen wären, etwa daß sie sich gegen die gewalttätigen Brüder verteidigen und zur Wehr setzen mußten oder nur schlichtend in den Konflikt zwischen Krämer und Bauer eingreifen wollten. Notwehr war als Strafmilderungsgrund allgemein akzeptiert 10 , wurde aber in der Praxis vor allem von Männern geltend gemacht. Das soziokulturelle Rollenstereotyp erwartete vom Mann, daß er sich zur Wehr setzte. Frauen neigten demgegenüber dazu, im Fall von gewalttätigen Streitigkeiten eigenes aktives Handeln völlig zu verschweigen. Vernehmungen wegen illegitimer Schwangerschaft weisen, wie Rebekka Habermas und 8 Vgl. dazu Wunder: ›Weibliche Kriminalität‹ (wie Anm. 5), 40f.; Otto Ulbricht: Einleitung, in: ders. (Hg.): Von Huren (wie Anm. 5), 21; Claudia Ulbrich: Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie, in: Ulbricht (Hg.): Von Huren (wie Anm. 5), 282f.; Carol Wiener: Sex Roles and Crime in late Elizabethan Hertfordshire, in: Journal of Social History 8, 1975, 38. 9 Johann Christian Quistorp: Grundsätze des teutschen peinlichen Rechts, 2 Teile, 2. Aufl., Rostock und Leipzig 1776, 1. Teil, 163; vgl. auch die geschlechtsspezifische Abstufung der Strafmilderung bei Karl Grolman: Grundsätze der Criminalwissenschaft, Art. 152, Abs. 2 b: Ausführung von Straftaten bei Drohung und Gewalt, Gießen 1798 (ND Glashütten im Taunus 1970), 73. 10 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), Art. 140, hg. von Arthur Kaufmann, Stuttgart 1991, 92; Quistorp: Grundsätze (wie Anm. 9), 368. Böse Weiber und grobe Kerle 673 Ulrike Gleixner gezeigt haben, ähnliche Argumentationsmuster auf. Ohne Zweifel waren Frauen als Dienstmägde, Ehefrauen und Töchter häufig brutaler körperlicher Gewalt ausgesetzt. Indessen fällt auch bei gerichtlichen Untersuchungen vorehelicher Schwangerschaften auf, daß Frauen sich formelhaft als verführt und wehrlos darstellten, obwohl ein aktives, zum Geschlechtsverkehr führendes Handeln von ihrer Seite ebenfalls denkbar ist. 11 Zum Verständnis des Konflikts ist es notwendig, neben der Kategorie Geschlecht die Kategorie der sozialen Schichtbzw. Standeszugehörigkeit einzuführen. Zwischen den Kontrahenten beim Tumult am Neuen Tor klafften erhebliche Standesunterschiede. Einheimische Bürgersöhne gerieten mit Beisassinnen und einem fremden Bauer aneinander. Ständisches Denken war bei Richtern selbstverständlich und wurde auch von den streitenden Parteien unbefangen zu Protokoll gegeben. Ein Nachbar der Eckels, der Advokat Johannes Speicher, erklärte zum Beginn des Konflikts, der ältere Eckel hätte nicht glauben mögen oder können, daß denen so genannten Hocken Weibern einige prerogativ im Kauffen vor einem Bürger zustehen möge. Eckels Vater bemerkte, sein Sohn habe den Bauern einen püffel, also einen Büffel, genannt und ihn von seiner Haustür weggeschickt. Carl Ludwig Eckel selbst konstatierte nach einer Gegenüberstellung mit einer der Marktfrauen vor den Richtern, er nähme alle diese Hockinnen nicht vor tüchtige Zeugen an. Das Bürgerrecht war mit zahlreichen Privilegien gegenüber Beisassen, den Bürgern zweiter Klasse, und Fremden verbunden. 12 Carl Ludwig Eckel war nicht der einzige Bürger(sohn), der aus seinem Status Vorrechte in strafgerichtlichen Untersuchungen ableiten wollte. Neben dem Stand spielten überständisch-soziale Zugehörigkeiten für Grenzziehungen innerhalb der städtischen Lebenswelt eine entscheidende Rolle. Unter den beteiligten Hockenweibern befand sich mit Anna Ohlenschläger auch eine Bürgerin. Die Dominanz des Beisassenstatus unter den klagenden Marktfrauen ist eher zufällig. Viele Frankfurter Hockenweiber waren Ehefrauen von Gärtnern, die zwar in der Regel über den Bürgerstatus verfügten, aber dennoch - einhergehend mit durchgängiger Armut - auf einer fiktiven Rangliste des symbolischen Kapitals weit unten rangierten. Die Frau eines Kaufmanns setzte sich nicht mit Gemüse auf die Gasse. Im 11 Rebekka Habermas: Frauen und Männer im Kampf um Leib, Ökonomie und Recht. Zur Beziehung der Geschlechter im Frankfurt der Frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hg.): Dynamik der Tradition (Studien zur historischen Kulturforschung IV), Frankfurt/ Main 1992, v.a. 110f.; näher zum rechtlichen Hintergrund Ulrike Gleixner: ›Das Mensch‹ und ›der Kerl‹. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700 - 1760), Frankfurt/ Main und New York 1994, 83ff. Klagen von Männern auf Einhaltung des Eheversprechens erwähnt Silke Lesemann: Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen. Zur sozialen und wirtschaftlichen Stellung von Frauen im frühneuzeitlichen Hildesheim, Hildesheim 1994, 110ff.; der Rekurs auf Schwäche und Wehrlosigkeit korrespondiert mit der allgemeinen Anerkennung einer Hilfsbedürftigkeit armer Witwen und Ehefrauen, dazu Robert Jütte: Dutzbetterinnen und Sündfegerinnen. Kriminelle Bettelpraktiken von Frauen in der Frühen Neuzeit, in: Ulbricht: Huren (wie Anm. 5), 117 - 37, v.a. 118f. 12 Zu den Implikationen des Bürgerrechts zuletzt Ralf Roth: Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760 - 1914, München 1996, 65ff.; vgl. auch allgemein zu Frankfurt Rainer Koch: Grundlagen bürgerlicher Herrschaft. Verfassungs- und sozialgeschichtliche Studien zur bürgerlichen Gesellschaft in Frankfurt am Main 1612 - 1866, Wiesbaden 1983. Helga Schnabel-Schüle hat jüngst darauf hingewiesen, daß die Carolina keine eingeschränkte Zeugnisfähigkeit von Frauen kannte und Frauen allgemein im Strafprozeß dieselbe Stellung hatten wie Männer: Helga Schnabel-Schüle: Frauen im Strafrecht vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 185 - 98, hier: 191f. Joachim Eibach 674 Handel wurde auf Gärtner, Marktfrauen und Bauern trotz ihrer wichtigen Funktion bei der Versorgung der Stadt mit kaum verhohlener Verachtung herabgeblickt. Interessant wäre hier die Perspektive auf die Hockenweiber von seiten anderer Frauen der Stadtgesellschaft. Gedruckte Zeugnisse stammen leider ausschließlich aus der Feder von Männern. Die Tatsache, daß Frauen aus dem Gärtnermilieu laut Gerichtsakten vorwiegend mit ihresgleichen aneinander gerieten, läßt zumindest auf lebensweltliche Distanz zu Frauen aus anderen Berufsgruppen schließen. Zwischen Frau und Frau und Mann und Mann bestanden grundsätzliche Unterschiede, sowohl in puncto Rang und Alltag als auch was die Behandlung durch die Justiz anbelangt. Auffällig ist z. B., daß nach Ausweis des Frankfurter Strafenbuchs von 1562 bis 1696 im Gegensatz zu Frauen aus unteren Schichten keine einzige Patrizierin verurteilt wurde. 13 Angesichts der ausgeprägten ständisch-sozialen Binnendifferenzierung der Stadtgesellschaft kommt der Begriff ›weibliche Kriminalität‹ ebenso wie sein männliches Pendant einem Konstrukt gleich. Wenn Frauen von Stand Anklage erhoben, gingen sie nicht selber in den Römer, sondern schickten einen Notar. So trat 1742 ein Notar im Namen von Goethes Großmutter, der Schöffenfrau Anna Margaretha Textor, mit der Anzeige auf, daß der seine Auftraggeberin transportierende Kutscher auf offener Straße verprügelt worden sei. 14 Das Verhöramt begnügte sich in solchen Fällen meistens mit dem Vortrag des Notars und zitierte die klagende Frau nicht persönlich vor Gericht. Die Marktfrauen hatten allerdings ebenfalls Zugang zur Arena der Justiz, benannten im skizzierten Fall Zeuginnen und Zeugen und schickten diese zur Vernehmung. 15 Der Habitus der Hockenweiber entsprach jedoch nicht den informellen Regeln auf der Verhörstube. Der Syndikus Seyfried bemängelte nach Einsicht der Akten mit den Angaben der Verhörer, daß die Frauen ihre Zeugen mit Ungestüm vorgebracht hätten und stellte deren Glaubwürdigkeit angesichts des in dergleichen Begebenheiten und strafbaren Aufläuffen einander beyzustehen und überzuhelfen pflegenden gemeinen Pöbels in Abrede. Die Seilschaft aus dem Quartier der Krämer übersah der rechtsgelehrte Mann dagegen völlig. Hier trifft die Beobachtung der Kriminologin Marlene Stein-Hilbers zu, daß bei der Strafverfolgung von Frauen heute deren Rollenverhalten Bedeutung zukommt. Legt die Beschuldigte ein rollenkonformes Verhalten an den Tag, kann Nachsicht die Folge sein; agiert sie ›unweiblich‹, greifen Polizisten und Richter eher schärfer zu. 16 Die Juristen nahmen den Hockenweibern ihre Opferrolle nicht ab. Obwohl für Seyfried feststand, daß Eckel sich unter diese böse Weiber begeben und seinerseits Gewalt angewandt hatte, sah er in den Frauen die Hauptschuldigen. Statt den Marktweibern oder Ignatius Siegel die verlangte Satisfaktion zu gewähren, forderte er eine achttägige Arbeitsstrafe - das sog. Traßklopfen - für die Hockinnen, eine Sanktion, die keine hochgestellte Bürgerin fürchten mußte. Ganz so unsozial oder frauenfeindlich, wie es Seyfrieds Gutachten nahelegt, war die Frankfurter Justiz jedoch nicht. 13 Maria R. Boes: Women and the Penal System in Frankfurt am Main, 1562 - 1696, in: Criminal Justice History H 13 (1992), 61 - 73, hier: 62. 14 Crim. 5362 (1742). 15 Zumindest im Spätmittelalter war dies für den Bereich der Strafjustiz keineswegs selbstverständlich: Susanna Burghartz: Kein Ort für Frauen? Städtische Gerichte im Spätmittelalter, in: Bea Lundt (Hg.): Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991, 49 - 64. 16 Marlene Stein-Hilbers: Zur Frage der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Strafverfolgung, in: Kriminologisches Journal H 10 (1978), 281 - 91, hier: 285 und 288; vgl. dazu auch Wunder: ›Weibliche Kriminalität‹ (wie Anm. 5), 42. Böse Weiber und grobe Kerle 675 Die Syndici Johann Jacob Lucius und Johann Ludwig Burgk, beide im Gegensatz zu Johann Simon Seyfried Frankfurter Bürger und in der Stadt geboren bzw. lange wohnhaft, hatten mehr Verständnis für die Marktfrauen. 17 Sie plädierten dafür, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Über die erlittenen Schläge hinaus sollten die Hockinnen nicht noch zusätzlich bestraft werden. Der Rat folgte diesem Votum mit seinem Urteil. Nicht alle Aussagen vor Gericht waren stereotype Wiederholungen, taktisch determiniert und von geringem Erkenntniswert hinsichtlich der außersprachlichen Realität des Konflikts. Daß die Händel auf dem Markt nicht bloße Fiktion waren, erhält immerhin Evidenz durch die Tatsache, daß die Akten auch das Attest eines Chirurgus über einen starken Bluterguß am Arm einer Marktfrau enthalten. Die Aussage der Lützelin über ihre Verletzung am Kinn kommentierte der Protokollant mit der Randbemerkung: Dieses hat sich auch also befunden. Die handgreifliche Auseinandersetzung zwischen einem Bürger- und Händlersohn und Marktfrauen war an sich bereits untypisch und keineswegs stereotyp. Sie entsprach nicht der Herausforderungslogik im Sinne von Pierre Bourdieu. 18 Denn Eckel konnte bei einer Rauferei mit Hockenweibern, egal wie die Sache ausging, kein symbolisches Kapital gewinnen. Darauf machte bereits der Mainzer Forstreiter Wilcken aufmerksam, indem er ihm zurief, er solle doch nacher Haus gehen und sich mit denen Hocken-Weibern nicht weiter einlassen, weilen er keine Ehre davon habe. Mehrere Carl Ludwig Eckel nahestehende Zeugen bestätigten, daß dieser die Frauen geschlagen habe. Ebenso wird keine stereotype Erwartungshaltung durch die Feststellung bedient, die Frauen hätten den Kramladen mit Dreck- und Steinwürfen eingedeckt. Im Frankfurter Topos vom scheltenden Marktweib war diese Aktion eigentlich nicht vorgesehen. Deren Erfindung wäre für die Vernommenen zudem risikoreich gewesen, da das Ereignis auf offener Straße, unter den Augen einer Vielzahl potentieller Zeugen stattfand. Mittels Gegenüberstellung und Eidleistung von Zeugen konnte das Gericht den Wahrheitsgehalt von Aussagen überprüfen. Der forensischen Einbildungskraft waren also Grenzen gesetzt. Alles spricht dafür, daß beide Geschlechter bei dem Streit aggressiv agierten. Weder war Carl Ludwig Eckel ein vorbildlicher Bürgersohn, noch waren die Marktfrauen passive Opfer. 2. Gewalt gegen Personen Im folgenden soll es um zwei Kategorien der Kriminalität gehen, die in einer gängigen Unterteilung von der Forschung Delinquenz gegen Personen und Delinquenz gegen Eigentum genannt werden. Diese moderne Begrifflichkeit findet Entsprechungen im zeitgenössischen Rechtsdenken. So unterscheidet die nicht nur in Fankfurt als Gerichtsordnung maßgebliche Carolina Tötungs- und Diebstahldelikte. 19 In den Städten stellte die gegen Personen gerichtete Gewalt- und Eigentumsdelinquenz einen hohen Anteil der gerichtlich registrierten Kriminalität und scheint nach Ausweis quantifizierender Aufarbeitungen im Gegensatz zur Delinquenz gegen Sittlichkeit und dem Son- 17 Zu den Lebensläufen Frankfurter Syndici das biographische Repertorium Barbara Dölemeyer: Frankfurter Juristen im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt/ Main 1993. 18 Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/ Main 1976 (zuerst franz. 1972), 12 und 15ff. 19 Peinliche Gerichtsordnung (wie Anm. 10), 87 und 103. Joachim Eibach 676 derfall Kindsmord eine primär männliche Praxis gewesen zu sein. Im Köln des 16. Jahrhunderts z.B. lag der Anteil der Männer an Mord, Totschlag und anderen Gewaltdelikten bei über 90%. In Nürnberg sollen Männer sogar 100%, also sämtliche Körperverletzungen, verübt haben. 20 Diese Befunde sind auf den ersten Blick so eindeutig, daß sie geradezu nach einem genaueren, zweiten Blick rufen. So hat Susanna Burghartz am Beispiel des Zürcher Ratsgerichts im Spätmittelalter konstatiert, daß Klagen von Frauen zwar rechtlich möglich, aber ebensowenig rechtsrelevant waren wie gewaltsame Konflikte zwischen Frauen. 21 Die Definitionsmacht der männlichen Richter entschied über die Bedeutung sozialer Praktiken und ließ den Gerichtssaal zu einem Öffentlichkeitsraum der Männer werden. Auf Selektionsprinzipien in den Köpfen von Policeydienern und Richtern hat auch Heide Wunder hingewiesen. 22 Händel zwischen Frauen wurden möglicherweise als weniger bedrohlich für die Bürger und den Stadtfrieden eingestuft und deswegen gar nicht bzw. nicht durch die Obrigkeiten bestraft. Evident ist zudem, daß im Bereich des ›ganzen Hauses‹ der formellen Strafpraxis der staatlichen Obrigkeit informelle Sanktionen des Hausvaters vorgeschaltet waren. Der Rechtsbereich des Hauses entzog sich damit ein Stück weit dem richterlichen Zugriff. Das quantitativ gestrickte Muster männlicher Affinität zu physischer Gewalt und weiblicher Passivität bzw. Friedfertigkeit ist durch einige Studien zu alltäglichen Konflikten im Paris des 18. Jahrhunderts in Frage gestellt worden. Martin Dinges kommt in seiner Untersuchung von Beleidigungsklagen zu dem Ergebnis, daß Händel um Ehre keine geschlechtsspezifische Praxis darstellten. Frauen waren bei den vornehmlich in der Öffentlichkeit der Wohnquartiere ausgetragenen Streitigkeiten stark präsent, in unterschiedlichen Rollen aktiv und agierten dabei durchaus gewalttätig. Der Begriff des ›Männlichkeitsrituals‹ verliert mit diesen Befunden im Hinblick auf Raufhändel und Schlägereien an Überzeugungskraft. 23 Arlette Farge betont in ihren Arbeiten zur Lebenswelt der Pariser Unterschichten zwar einerseits, daß Frauen in einem Klima der Gewalt, das Gassen, Wohnhäuser und Werkstätten durchdrang, häufig nur die Opferrolle blieb. Anderseits verweist sie auf den aktiven Part von Frauen bei Unruhen, Arbeitskonflikten und - anlog zum Tumult der Frankfurter Hockenweiber - auf dem Marktplatz. Die »gewalttätige Frau« scheint mehr als nur ein »verbreiteter Topos der Volksliteratur« gewesen zu sein. 24 Die deutschsprachige Forschung zur Geschichte der städtischen Kriminalität hat bislang vor allem das Spätmittelalter und das 16. Jahrhundert thematisiert. 25 Wesentli- 20 Robert Jütte: Geschlechtsspezifische Kriminalität im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Zs. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abt. H 108 (1991), 96. 21 Burghartz: Kein Ort (wie Anm. 15), 63f. 22 Wunder: ›Weibliche Kriminalität‹ (wie Anm. 5), v.a. 43. 23 Martin Dinges: ›Weiblichkeit‹ in ›Männlichkeitsritualen‹? Zu weiblichen Taktiken im Ehrenhandel in Paris im 18. Jahrhundert, in: Francia H 18 (1991), 71 - 98; physische Gewalt als weitgehend männliche Domäne konstatiert dagegen Pieter Spierenburg: How violent were women? Court cases in Amsterdam, 1650 - 1810, in: Crime, History & Societies H 1 (1997), 9 - 28. 24 Farge: Frauen in der Stadt (wie Anm. 6), 25; vgl. auch allgemein dies.: Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts, Berlin 1989 (zuerst franz. 1986); Ulbrich: Unartige Weiber (wie Anm. 4). 25 Außer den bereits genannten Titeln v.a. Peter Schuster: Der gelobte Frieden. Täter, Opfer und Herrschaft im spätmittelalterlichen Konstanz, Konstanz 1995; zum 18. Jahrhundert jetzt Joachim Eibach: Städtische Gewaltkriminalität im Ancien Régime. Frankfurt am Main im europäischen Kontext, in: Zeitschrift für historische Forschung H 25 (1998), 359 - 82. Böse Weiber und grobe Kerle 677 che Strukturen der politischen und gesellschaftlichen Verfassung der alten Stadt blieben zwar bis Anfang des 19. Jahrhunderts erhalten. Von einer Konstanz im Bereich der Strafjustiz bzw. der Kriminalität kann jedoch a priori keineswegs ausgegangen werden. Robert Jütte hat beispielsweise bei der Zusammenstellung von Zahlenmaterial über einige Städte vom 16. zum 18. Jahrhundert eine Zunahme des Anteils der Delinquentinnen konstatiert. Dieser Befund ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein erstes, zu reflektierendes Indiz. Die folgenden Ausführungen orientieren sich weiterhin am Beispiel Frankfurt am Main des Ancien Régimes. Trotz eines imposanten Quellenbestands an Verhörprotokollen ist die Frankfurter Kriminalität bislang wenig erforscht. 26 Frankfurt kam als Reichsstadt, Messestandort und Schauplatz der Kaiserkrönungen überregionale Bedeutung zu. Die Stadt war Ziel für Fremde unterschiedlichster sozialer Provenienz: Wahlbotschafter und Diplomaten, Kaufleute und Händler, Gesellen und Dienstmägde, Vaganten und Almosensuchende. Jüttes internationaler Städtevergleich weist den Anteil der Frauenkriminalität im Frankfurt des 17. Jahrhunderts mit 28,4% als hoch aus. 27 Anzumerken ist hier, daß sich dieser Wert auf Richard van Dülmens Auswertung des 1696 endenden Frankfurter Strafenbuchs bezieht. Das Strafenbuch verzeichnet jedoch nicht die gesamte registrierte, sondern nur die peinlich bestrafte Delinquenz. Viele ›petty crimes‹ wie Körperverletzungen und kleine Diebstähle sind damit durch das Raster der Quantifizierung hindurchgefallen. Ein größeres Spektrum wird durch die Auswertung der sog. Criminalia, der für das 18. Jahrhundert fast geschlossen überlieferten Verhörprotokolle, erhellt. Die Statistik der Frankfurter Gewaltdelinquenz legt für das 18. Jahrhundert, was das Geschlecht der Delinquenten anbelangt, eine scheinbar eindeutige Interpretation nahe. In rund 180 untersuchten Fällen - im einzelnen: Körperverletzungen, Schlägereien, Totschlag und Mord - waren insgesamt 93% der beschuldigten Täter männlich, 7% weiblich. 28 Auf der Seite der Opfer stellten Männer dagegen 76%, Frauen 24% der Vernommenen. 29 Verurteilungen wegen Totschlags wurden ausschließlich gegen Männer ausgesprochen. Ergo: war die Gewalt männlich? Zweifel weckt bereits die Lektüre der Carolina, denn die Gerichtsordnung bedenkt auch den Fall, daß eyn grawsam weib eynen weychen mann, zu eyner notweer tringen mocht. 30 Versehen wir das Gerüst der Zahlen aber zunächst mit sozialem Baustoff. Die Frankfurter Gewalttäter stammten vor allem aus den Reihen von Handwerk, Militär und Gärtnerei. Sowohl die Eliten der Stadtgesellschaft als auch Marginalisierte wurden dagegen kaum registriert. Die soziale Zugehörigkeit der verhörten Täterinnen ist oft nur über den Beruf des Mannes zu er- 26 Die Frankfurter Verhörprotokolle, die sog. Criminalia, sind bisher nur in Aufsätzen von Rebekka Habermas: Frauen (wie Anm. 11), genutzt worden; näher zum Inhalt der Protokolle Joachim Eibach: Mehr als Mord und Totschlag. ›Verbrechen‹ und städtische Lebenswelt in den Frankfurter Criminalia, in: Archivbrief des Frankfurter Instituts für Stadtgeschichte 1/ 1997, 3 - 15. Völlig außer acht gelassen werden die Protokolle von Maria R. Boes: Crime and Punishment in the City of Frankfurt am Main 1562 - 1696, New York 1989; dies.: Women (wie Anm. 13); vgl. zur Frankfurter Strafjustiz Karl-Ernst Meinhardt: Das peinliche Strafrecht der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main im Spiegel der Strafpraxis des 16. und 17. Jahrhunderts, Frankfurt/ Main 1957. 27 Jütte: Geschlechtsspezifsche Kriminalität (wie Anm. 20), 93f. 28 Die Prozentzahlen beziehen sich auf die Auswertung von 13 Auswahljahren zwischen 1740 und 1806; 93% entsprechen 249 männlichen, 7% 19 weiblichen Tätern. 29 76% entsprechen 163 männlichen, 24% 52 weiblichen Opfern. 30 Carolina (wie Anm. 10), Art. 144, 95. Joachim Eibach 678 schließen. Hier mußten sich besonders Frauen aus dem Gärtnermilieu, dem auch die Hockenweiber zuzuordnen sind, vor Gericht verantworten. Frauen von Handwerkern, der schlagkräftigsten Tätergruppe, sind dagegen kaum vertreten. Die relativ hohe Präsenz von Frauen aus der städtischen Landwirtschaft kann unterschiedlich gedeutet werden. Möglicherweise wurden sie, wie es der Topos von der streitenden Marktfrau nahelegt, schneller handgreiflich als z. B. Kaufmanns- oder Handwerkerfrauen. Sicherheitskräfte und Richter können auf die Gärtnerinnen ein besonderes Auge geworfen haben. Ihr Habitus entsprach in der von Handel und Handwerk geprägten Stadt nicht den normativen Vorstellungen vom Verhalten einer Frau. Er war vielmehr ständig Gegenstand von Schmunzeln oder Gespött. Zu bedenken ist auch, daß die Gärtnerinnen im 18. Jahrhundert stärker in der Öffentlichkeit außerhalb des Hauses wirkten als die Frauen in anderen städtischen Berufsgruppen. 31 Die Bestellung und Ernte der Obst- und Gemüsegärten war nicht allein Sache der Männer. Auf dem Markt waren die Frauen wie gesehen in großer Anzahl vertreten. Kontakte im allgemeinen und Konflikte im besonderen fanden damit häufiger als bei Frauen aus höher stehenden Berufsgruppen auf der Straße statt. Vernehmungsprotokolle erlauben Einblicke in die soziokulturellen Räume der alten Stadt. Die Delinquenz der beiden Geschlechter verteilt sich dabei spezifisch. 32 Bevorzugte Orte für die Schlägereien der Männer waren die Straße und das Wirtshaus. Sowohl bruderschaftlich organisierte Gesellengruppen als auch Tagelöhner und Transportarbeiter, die allein auf der Bildfläche erschienen, gerieten in den zahlreichen Wirtshäusern der Messestadt aneinander. Grund genug für Streit waren oft sog. ›Kleinigkeiten‹ wie ein zufälliges Anrempeln oder eine provozierende Anrede. Die symbolische Bedeutung des Wirtshauses als Schmiede eines maskulinen Habitus ließ daraus ernsthafte Konfrontationen um die Ehre werden. Alltägliche Kneipenkonflikte, die von Dinges bei seinen Pariser Untersuchungen weitgehend ausgespart wurden 33 , lassen eine männlich dominierte Öffentlichkeit erkennen. Über Rituale wie das Trinken, Rauchen, Spielen und Tanzen wurde hier Männlichkeit ›produziert‹. 34 Ursächlich für die zahlreich registrierten Wirtshaushändel in Frankfurt und anderen Städten war der Widerspruch zwischen zwei Normsystemen: einerseits die Ordnungsprinzipien der Obrigkeiten, die jegliche Unruhe vermeiden wollten; anderseits der ›second code‹, die ungeschriebenen Regeln der Akteure, für die Saufen und Raufen keine Devianz, sondern Bestandteil der tradierten Geselligkeit waren. In der Schenke war es kein Makel, ein ›grober Kerl‹ zu sein. Gesellen und Soldaten sahen es entgegen allen Strafandrohungen als ihr gutes Recht an, auf direkte Art Satisfaktion zu suchen. In keinem einzigen untersuchten Fall wurde eine Frau wegen Gewalttätigkeit im Wirtshaus beschuldigt. Auch auf der Opferseite finden sich Frauen in der Regel nur unter dem Wirtshauspersonal als Wirtin, Köchin oder Magd. 35 Die eingesehenen Akten 31 Zur Verlagerung der Tätigkeiten von Frauen ins Haus Heide Wunder: ›Er ist die Sonn', sie ist der Mond‹. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, 114. 32 Vgl. zu geschlechtsspezifischen Räumen auch einige Beiträge in Karin Hausen und Heide Wunder (Hg.): Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte, Frankfurt/ Main und New York 1992. 33 Dazu aber Thomas Brennan: Public Drinking and Popular Culture in Eighteenth-Century Paris, Princeton 1988; vgl. auch B. Ann Tlusty: The Devil's Altar. The Tavern and Society in Early Modern Augsburg, University of Maryland 1994. 34 Vgl. zu männlichen Schwellenritualen in unterschiedlichen Kulturen David Gilmore: Mythos Mann. Rollen, Rituale, Leitbilder, München 1991. Böse Weiber und grobe Kerle 679 und Strafrechtshandbücher enthalten dabei keinen Hinweis auf selektive Zugriffe der Justiz, die ursächlich für diese Asymmetrie der Geschlechter sein könnten. Frauen, die sich ohne männliche Begleitung im Wirtshaus aufhielten, galten bei der Obrigkeit per se als verdächtig, allerdings vor allem in Sachen Prostitution. Auch wenn städtische Wachen vermutlich männliche Gewalt als bedrohlicher ansahen, kann davon ausgegangen werden, daß Frauen, die im Wirtshaus auf irgendeine Art für Unruhe sorgten, deswegen vor Gericht Rede und Antwort stehen mußten. So wurde nach einer Messerstecherei im Gasthaus zum Schwanen 1803 auch ein Weibsbild von Offenbach verhaftet. 36 Die Magd des Wirts und andere Zeugen beschuldigten sie, den Förstergehilfen Peter Bauer zu seinem Ausfall gegen einen Schreinergesellen angestiftet zu haben. Generell gilt: Gewalt im Wirtshaus war sowohl in größeren deutschen Städten wie Augsburg und Frankfurt als auch in der Metropole Paris Männersache. Die Geselligkeit im Wirtshaus hingegen war mehrheitlich, aber doch nicht exklusiv männlich. Zeugen berichten über die Anwesenheit von Frauen, und Frauen wurden als Zeuginnen von Händeln in Wirtshäusern vernommen. Peter Bauer z.B. wurde auf dem Verhöramt von seiner Schwester Margaretha entlastet, die bei dem Streit im Schwanen dabei gewesen war. Auch Fälle, in denen es überhaupt nicht um Delinquenz im Wirtshaus ging, zeigen, daß Frauen in Schankstuben einkehrten. Aussagen, die nicht in strategischer Absicht, sondern en passant gemacht wurden, sind im Hinblick auf die Lebenswelt von besonderem Wert. Die 63jährige Frankfurter Soldatenfrau Christina Armbrüsterin war z.B. sofort geständig, bei einem jüdischen Händler Tuch gestohlen zu haben. Während der Flucht, so berichtet sie dann, sei sie in ein Bierhaus auf der Zeil, der Frankfurter Flaniermeile, gegangen, um ein Glas Bier zu trinken. 37 Eine Frau, die sich im Römer als Sophia Mühlpfortin aus Dresden bezeichnete, ging nach einem Ladendiebstahl auf der Herbstmesse 1774 ebenfalls in ein Liqueur Häusgen, um dort Branntwein, den Alkohol der armen Leute, zu trinken. 38 Genügend Beispiele zeigen, daß Frauen aus Unterschichten an der männlich dominierten Geselligkeit im Wirtshaus teilnahmen, ohne sich in männliche Rituale aktiv einzumischen. Die Fälle, in denen Frauen als Gewalttäterinnen verklagt und verurteilt wurden, ereigneten sich fast ausschließlich im Kontext von Nachbarschaft, Familie und ›ganzem Haus‹. Frankfurt stellt hier keinen Sonderfall dar. John Beattie macht die gleiche Beobachtung am Beispiel der Delinquenz zweier englischer Grafschaften. 39 Auch Männergewalt gegen Frauen hatte ihren Tatort häufig im sozialen Nahbereich. Die Züchtigung der Ehefrau galt, anders als Händel mit fremden Frauen auf dem Marktplatz, als legitim. Obwohl die Dunkelziffer hier weitaus höher anzusetzen ist als bei Händeln im Wirtshaus oder auf dem Marktplatz, hatten Konflikte zwischen Nachbarn, Verwandten sowie Dienstherrschaft und Gesinde mit einem guten Drittel aller Frankfurter Fälle 40 ein starkes Gewicht unter der gerichtlich registrierten Gewalt. Eine Dichotomie zwischen einem unsicheren ›öffentlichen‹ und einem sicheren ›privaten‹ Raum ist also nicht feststellbar. 35 Crim. 10725 (1801), Crim. 10965 (1803). 36 Crim. 10903 (1803). 37 Crim. 8766 (1774). 38 Crim. 8795 (1774). 39 John Beattie: The Criminality of Women in Eighteenth-Century England, in: Journal of Social History H 8 (1975), 83ff. 40 58 von 167 registrierten Gewaltfällen, in denen die Nähe der Beziehung zwischen den Kontrahenten bestimmbar war. Joachim Eibach 680 Familien- und Nachbarschaftskonflikte unterstreichen, daß das Haus bzw. die Wohnung kein Refugium war. Die soziale Kontrolle der Nachbarn machte nicht an der Wohnungstür halt. Oft intervenierten Personen aus dem direkten Umfeld der Streitenden, indem sie für eine der beiden Parteien Stellung bezogen. Frauen spielten hier eine aktive Rolle, die sich nicht auf verbale Meinungsäußerungen beschränkte. Die unmittelbare Nähe der Häuser und die Enge der Gassen in der alten Stadt bewirkten, daß direkte Einblicke in das Leben von Nachbarn ohne weiteres möglich waren. Frauen saßen auch häufig vor ihren Häusern auf Bänken und verfolgten das Geschehen auf der Straße. Es ist deshalb kein Zufall, daß Frauen bei Nachbarschaftskonflikten im Vergleich zu anderen Fällen weit häufiger als Zeuginnen auftraten. Nachbarschaftliche Kontrolle war in hohem Maße weiblich bestimmt. Bei Gewalt sowohl im Wohnquartier als auch in der Ehe waren Frauen zwar oft die Unterlegenen, aber nicht immer nur Opfer. Im letzten Stadium des Konflikts, beim Übergang zu grobem physischen Konfliktaustrag mußten Frauen sich meistens der Physis der Männer beugen. 41 Ihr Verhalten zuvor war jedoch in vielen Fällen kaum weniger aggressiv. Grundsätzlich stellt sich auch hier die Frage, welche soziale Praxis eigentlich vor Gericht kam. Nicht nur die Tätlichkeiten von Dienstherren, sondern auch diejenigen von Dienstherinnen blieben dem Zugriff der Justiz entzogen. Ehefrauen konnten zwar gegen grobe Gewalt von seiten der Ehemänner klagen, taten dies aber faktisch nur in Ausnahmefällen. 42 Die Justiz schützte die Frauen nur dann mit wirksamen Strafen, wenn die ›correctio domestica‹ deren Leben gefährdete. Nachdem der betrunkene Weingärtner Johann Georg Euler seine Frau in einer Nacht beinahe bewußtlos geschlagen hatte, verurteilte der Frankfurter Rat ihn zu sechs Wochen Arbeit bei Wasser und Brot. 43 Nicht allein das Züchtigungsrecht des Hausvaters bewirkt allerdings ein ausgeprägtes Dunkelfeld. Kein Mann gab - umgekehrt betrachtet - zu, von seiner Frau geschlagen worden zu sein. 44 Diese männlichen Ehrbegriffen gänzlich zuwider laufende Praxis wurde daher vertuscht, so gut es ging. 45 Das Dunkelfeld erstreckt sich also wahrscheinlich auch auf weibliche Gewalt. Viele Fälle kamen weder durch Unterlegene, noch durch Zeugen, sondern durch die Anzeige des die Verletzung versorgenden Wundarztes auf das Verhöramt. Große Relevanz kommt hier der Frage zu, welcher Typ von Gerichtsakten Grundlage der Forschung ist. In Anzeigen und Urteilen, die Basis der meisten quantifizierenden Studien sind, wird in der Regel nur auf die den Konflikt letztlich entscheidende 41 Vgl. zu der weitgehend akzeptierten, von Männern ausgeübten innerhäuslichen Gewalt auf dem Lande Michaela Hohkamp: Häusliche Gewalt. Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes im 18. Jahrhundert, in: Thomas Lindenberger/ Alf Lüdtke (Hg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt/ Main 1995, 276 - 302. 42 Crim. 10982 (1804). 43 Crim. 8635 (1772). 44 Bemerkenswert ist hier die Selbstanzeige der Frau eines Handlangers, die vor Gericht mit der Aussage erschien, nicht ein Kamerad ihres Mannes, sondern Sie selbsten habe Ihren Ehemann verwundet (Crim. 11084, 1805). Möglicherweise wollte sie mit dem Hinweis auf den innerehelichen Charakter des Konflikts die Intervention der Justiz verhindern. 45 Nachdem in einem hessischen Dorf bei einem Streit laut Zeugen die Frau über ihren Mann obsiegt hatte, vereinten sich die anderen Frauen des Dorfes, um das Dach des Hauses, in dem die Ordnung gestört worden war, abzudecken. Der Ehemann rechtfertigte sich vor Gericht, er habe seine Frau geschlagen und nicht umgekehrt: Christina Vanja: ›Verkehrte Welt‹. Das Weibergericht zu Breitenbach, einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts, in: Journal für Geschichte H 5 (1986), 22 - 29. Böse Weiber und grobe Kerle 681 Körperverletzung rekurriert, die meistens von seiten des Mannes erfolgte. Wer Vernehmungsprotokolle liest, kommt indessen näher an die Praxis der Konfrontation heran. Viele Händel zwischen Nachbarn erweisen sich dabei als Teamkonflikte von Männern und Frauen. 46 Fast die Hälfte der aktiv Beteiligten in 25 untersuchten Nachbarschaftskonflikten sind Frauen. 47 Die Handgreiflichkeiten konnten sich im Haus oder auf der Straße davor abspielen. Anlaß für die Auseinandersetzung zwischen zwei Ehepaaren in der Frankfurter Neustadt war der Verdacht der Frau des Bierbrauers Friedrich Ludwig Hunger, daß ihre Dienstmagd von der Nachbarin Anna Maria Wüstin zum Diebstahl angestiftet worden sei. 48 Bei dem darüber ausgebrochenen Streit kam es zunächst zu Handgreiflichkeiten zwischen den Frauen. Die Frau des Zimmermanngesellen Wüst schlug die hochschwangere Hungerin in deren Haus mit der Hand ins Gesicht. Der Bierbrauer griff daraufhin zum Stock und jagte damit die Nachbarin über die Straße. Mittels eines Notars brachten die Wüsts den Fall vor die Justiz. Der Rat verurteilte Hunger zur Begleichung der Arztkosten sowie zu einer Geldbuße von 10 fl. Der Wüstin wurde zunächst eine Buße von 5 fl. zuerkannt. Nach einem Bittgesuch des Zimmermanns erließ der Rat jedoch deren Strafe ganz. Insgesamt läßt sich das Auftreten von Frauen in Nachbarschaftkonflikten m. E. keineswegs auf eine beschwichtigende, im Hintergrund verharrende Rolle festlegen. 49 Hatte sich die Gewaltanwendung der Wüstin gegen ihre Nachbarin mehr oder weniger auf eine starke Ohrfeige beschränkt, so setzte die Gärtnerwitwe Susanna Kalesin in einem innerfamiliären Streit gegen Tochter und Schwiegersohn Fußtritte, Holzprügel und Messer ein. Auch hier mußte ein Arzt konsultiert werden. Die Kontrahenten lebten auf engstem Raum seit längerer Zeit in beständiger Uneinigkeit miteinander. 50 Was den ›Kampf um die Hosen‹ anbelangt, so gibt es in der Predigt- und Schwankliteratur zahlreiche, z.T. satirisch zu verstehende Hinweise auf eine aktive Rolle von Ehemann wie Ehefrau. 51 Frauen konnten im Ringen um das Sagen im Haus - entgegen allen normativen Ordnungsvorstellungen - auch die Oberhand gewinnen. Aus Hildesheim sind einige Fälle bekannt, in denen Ehefrauen ihre Männer nicht nur mittels Schlägen traktierten, sondern auch aus dem Haus vertrieben. In Frankfurt nutzte z.B. die 35jährige Bürgerin Elisabetha Mitmännin die Trunkenheit ihres gerade nach Hause gekommenen Mannes aus, um diesen mit einem Messerstich außer Gefecht zu setzen. 52 Aus den genannten Gründen führten derartige Konfrontationen jedoch selten zu Anzeigen. Die Frage ist, ob sich die Geschlechter im Ehekrieg unterschiedlicher Praktiken bedienten. 46 Diese Beobachtung macht anhand des Pariser Materials auch Martin Dinges: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. 47 34 von 78 vernommenen Personen. 48 Crim. 5535 (1743); vgl. zum Hausdiebstahl von Mägden im Auftrag anderer Otto Ulbricht: Zwischen Vergeltung und Zukunftsplanung. Hausdiebstahl von Mägden in Schleswig-Holstein vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Von Huren (wie Anm. 5), 139 - 70. 49 Arlette Farge: Frauen im Aufstand, in: Dies./ Natalie Z. Davis (Hg.): Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, Frankfurt/ Main und New York 1994, 513, hat einen Gegensatz zwischen der aktiven Rolle von (Pariser) Frauen in Revolten und einer eher passiven Rolle in »privaten« bzw. Nachbarschaftskonflikten konstatiert. 50 Crim. 8707 (1772). 51 Vgl. abgesehen von den Frankfurter Quellen und der bereits genannten Literatur die Abbildungen bei Wunder: Er ist die Sonn (wie Anm. 31), 105; Norbert Schindler: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt/ Main 1992, Titelbild und 7. 52 Crim. 10731 (1801); zu Hildesheim Lesemann: Arbeit (wie Anm. 11), 115 und 119ff.; vgl. auch Beattie: Criminality (wie Anm. 39), 86. Joachim Eibach 682 Eine Opposition von verbaler - weiblicher - Gewalt und physischer - männlicher - Gewalt trifft hier nur sehr bedingt zu. Frauen und Männer hatten sich vielmehr gegenseitig in den Haaren, schlugen zu und griffen zu (behelfsmäßigen) Waffen. Auffällig ist allerdings eine größere Neigung der Männer zu demütigenden Gesten wie dem Herunterreißen an den Haaren. Diese Praxis reproduzierte als symbolische Erniedrigung die patriarchalische Vorstellung vom Hausvater, der über seinen Untergebenen stand. Beim Einsatz von Gewalt ist insgesamt auch eine stärkere Bereitschaft der Männer zur Anwendung lebensgefährlicher Mittel zu beobachten. Ein geschlechtsspezifisch selektiver Blick der Justiz kann bei den Kapitalverbrechen Mord und Totschlag nur sehr eingeschränkt geltend gemacht werden. Hier kam es unabhängig vom Geschlecht des Verdächtigen zu einer Untersuchung und Registrierung der Tat. Die Fallstatistik erweist den Totschlag in Frankfurt zwischen 1740 und 1806 als ein cum grano salis männliches Delikt. In 16 Fällen war nur einmal eine Täterin am Werke. 53 Der Blick hinüber nach Köln zeigt, daß wir es mit keinem Frankfurter Spezifikum zu tun haben. Nur knapp 6% der wegen Totschlags Verhafteten waren dort Frauen. 54 Ob hier eine soziobiologische Disposition des Mannes zu diagnostizieren ist, bleibt dennoch fraglich. Männer trugen aufgrund ihres Berufs oft waffenähnliche Gegenstände wie Messer bei sich. Einen weiteren Hinweis gibt auch hier der soziokulturelle Raum des Geschehens. Totschläge ereigneten sich fast ausschließlich in der männlichen Öffentlichkeit des Wirtshauses oder auf der Straße. Für Männer bedeutete die Niederlage in einer Schlägerei unter den Augen der ›Peer Group‹ eine sehr viel größere Ehreinbuße als für Frauen. Die Gefahr des Gesichtsverlustes ließ sie zu letzten Mitteln greifen. 3. Gewalt gegen Eigentum Der Anteil der Frauen an der registrierten Eigentumskriminalität lag in den Städten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit fast durchweg über ihrem Anteil bei der Kriminalität gegen Personen. Infolge quantitativer Untersuchungen wurden Frauen allerdings auch hier in höchstens einem Viertel der Delikte straffällig. In den großen Städten Köln und Nürnberg machte ihr Aufkommen Ende des 16. Jahrhunderts unter 20% der Straftaten bzw. der Verhörten aus. 55 Die bisher aufgearbeiteten Kriminalitätsziffern des 18. Jahrhunders weichen von diesem Schema nicht unwesentlich ab. In der Stadt Siegen zeichneten Frauen für 39% der Eigentumsdelikte verantwortlich. 56 In Frankfurt 53 Mordfälle wurden im Frankfurt des 18. Jahrhunderts selten registriert: Vier Urteilen in Mordprozessen gegen Männer steht ein Urteil gegen eine Mörderin gegenüber: Crim. 9419 (1783). Dabei handelt es sich um den Mord einer jüdischen Dienstmagd an ihrer Herrin; vgl. zum Mord durch Frauen Silke Göttsch: ›Vielmals aber hätte sie gewünscht, einen andern Mann zu haben‹. Gattenmord im 18. Jahrhundert, in: Ulbricht (Hg.): Von Huren (wie Anm. 5), 313 - 34. 54 4 von 71 Verhafteten laut Schwerhoff: Köln (wie Anm. 5), 178. 55 Jütte: Geschlechtsspezifische Kriminalität (wie Anm. 20), 96. Im spätmittelalterlichen Zürich wurden Frauen etwas öfter wegen physischer Gewalt als wegen Eigentumsdelikten angeklagt. Insgesamt lag der Frauenanteil in der Täterkategorie jedoch bei nur 3%: Burghartz: Leib (wie Anm. 5), 70 und 80; Beattie: Criminality (wie Anm. 39), 81, errechnet für die Städte und Land umfassenden englischen Grafschaften Surrey und Sussex zwischen 1663 und 1802 einen weiblichen Anteil von 24% an der Eigentumskriminalität. 56 Bernd D. Plaum: Strafrecht, Kriminalpolitik und Kriminalität im Fürstentum Siegen 1750 - 1810, St. Katharinen 1990, 207. Böse Weiber und grobe Kerle 683 war ein Drittel (33%) aller Angeklagten im Deliktfeld Eigentumskriminalität weiblich. 57 Besonders wegen gewöhnlichen Diebstahls wurden viele Frauen (37%) in den Römer geführt. Geringer war die Präsenz der Frauen bei Hehlerei (6%), Einbruch (28%) und Betrug (29%). Bei Straßenraub und Bandendiebstahl stellten Frauen genau ein Drittel (33%) der Verhörten. 58 Wie verhielten sich die Frankfurter Richter gegenüber Dieb und Diebin? Wie argumentierten die Angeklagten vor Gericht? Ein Blick auf die Relation Angeklagte - Verurteilte anhand der Criminalia des 18. Jahrhunderts zeigt, daß Frauen nicht geschont, sondern sogar etwas öfter (69%) bestraft wurden als Männer (67%). 59 Auch die Anwendung der Folter im Frankfurt des 16. und 17. Jahrhunderts unterstreicht, daß die Justiz auf den Faktor Geschlecht in der Praxis wenig Rücksicht nahm. Frauen wurden relativ zur Zahl der Verurteilten gesehen nicht viel seltener gefoltert als Männer (65% Frauen, 75% Männer). 60 Männer und Frauen galten den Richtern also in vergleichbarem Maße als verdächtig. Auch hier ermöglicht die Lektüre der Vernehmungsprotokolle ein Bild mit größerer Tiefenschärfe. Bei unsicherer Beweislage wurden Verdachtstrafen, und zwar unabhängig vom Geschlecht, besonders gegen fremde Bettler und Bettlerinnen, Vaganten und Vagantinnen ausgesprochen. Der Faktor der rechtlichen Zugehörigkeit zur Stadtgesellschaft besaß größeres Gewicht bei der Formulierung des Urteils als das Geschlecht. War es zu einem Geständnis gekommen, versuchten die Angeklagten, die Richter milde zu stimmen. Armut als Motiv wird von Männern wie Frauen häufig genannt. Delinquentinnen begegneten dem Verdacht darüber hinaus, indem sie versuchten, einem positiv besetzten, weiblichen Rollenstereotyp zu entsprechen. Die häufige Angabe, an einem anderen Ort verheiratet zu sein, ist wahrscheinlich vor allem taktisch zu verstehen. Die Überprüfung mittels Amtsschreiben durch die Richter erwies die Aussagen in manchen Fällen als falsch. Einige Frauen verwiesen zudem auf Schwangerschaft oder Mutterschaft, um längerer Inhaftierung zu entgehen. Manchmal, keineswegs durchgängig, ließen sich die Richter davon beeinflussen. Soweit aus den wenigen Fällen ersichtlich, beschränkte sich die Anwendung der Folter bei schwangeren Frauen - schlimm genug - auf das Zeigen der Instrumente oder vergleichsweise geringe Schmerzzufügung. 61 Kein einheitliches Bild ergibt der Blick auf die Strafpraxis. Schonend verfuhr man z. B. mit der 23jährigen Vagantin Catharina Hartmännin, die wegen eines Messediebstahls bei einem italienischen Händler inhaftiert worden war. Sie kam an einer Arbeits- oder Schandstrafe vorbei, weil sie Mutter eines Säuglings war. Das Verhöramt erkannte deswegen explizit nur auf Stadtverweis. 62 Kein solches Glück hatte die 32jährige Soldatentochter Esther Heßlerin, die zu sechsmonatigem Steinklopfen verurteilt wurde. Ihr Kind gab der Rat während dieser Zeit in städtische Obhut. 63 57 71 von 218 Angeklagten aus acht Auswahljahren zwischen 1740 und 1775. 58 Die führende Frauenrolle in einer Bande beleuchtet Andreas Blauert: Sackgreifer und Beutelschneider. Die Diebesbande der Alten Lisel, ihre Streifzüge um den Bodensee und ihr Prozeß 1732, Konstanz 1993. Straßenraub und Bandendiebstahl wurden allerdings in Frankfurt selten registriert. 59 Verurteilt wurden 49 von 71 beschuldigten Frauen, 99 von 147 Männern. Auch auf normativer Ebene, in den Reichs- und territorialen Kodifikationen, findet sich kein Hinweis auf ein Prinzip der milderen Strafe für Frauen; dazu Schnabel-Schüle: Frauen (wie Anm. 12), 193. 60 Boes: Women (wie Anm. 13), 64ff. 61 Ebd. 62 Crim. 8854 (1775). Vgl. zur Frage der Kinderversorgung und deswegen geringerer Strafen für Frauen Nicole Castan: Straffällige Frauen, in: Farge/ Davis (Hg.): Geschichte (wie Anm. 49), 502; aus kriminologischer Sicht Stein-Hilbers: Frage (wie Anm. 16), 289. Joachim Eibach 684 Strafmildernde Bestimmungen für Frauen, wie sie Quistorps Grundsätze vorsahen, spielten in der Praxis der Strafjustiz eine sehr zurückgesetzte Rolle. Frauen profitierten höchstens partiell von dem Hinweis auf ›weibliche Schwäche‹. Die Strafart konnte zwar innerhalb einer Kategorie wie z.B. den Arbeits- oder Schandstrafen durchaus in Beziehung zum Geschlecht stehen. Inwieweit sich die Urteile gegen Frauen aber insgesamt in eine ständisch-partikulare Strafpraxis einfügten oder davon mit einer geschlechtsspezifischen Logik abhoben, wäre eine eigene Untersuchung wert. Vorderhand gilt, daß die Justiz Diebstahl von Frauen genauso ernst nahm wie Diebstahl von Männern. Delinquentinnen und Delinquenten hatten harte Strafen wie gemeinnützige Arbeit oder den Pranger zu gewärtigen. Ob Zeugen ertappte Diebinnen eher laufen ließen als Diebe, ist auch anhand der Verhörprotokolle kaum zu sagen. Oft intervenierten Anwohner, wenn sie einen fremden Dieb im Nachbarhaus bemerkten. Auffällig ist indessen, daß im Frankfurt des 18. Jahrhunderts, anders als im spätmittelalterlichen Zürich, kaum einmal ein Nachbarsdiebstahl zur Anzeige kam. 64 Möglicherweise zögerten hier die Bestohlenen aufgrund der Nähe der Beziehung mit einer Anzeige. Anderseits konnten Nachbarn auch verfeindet sein und brachten tätliche Übergriffe durchaus vor Gericht. Eigentum an sich stellte nicht erst in der bürgerlichen Gesellschaft einen Grundwert dar, und die Opfer von Dieben waren häufig selber alles andere als wohlhabend. Das für die Anzeigenquote relevante Interesse an einer Restitution des Diebesguts war also verbreitet und allgemein. Eine grundlegende Ablehnung von Eigentumsverletzungen nicht nur im Strafrecht, sondern auch im ›second code‹ der ansässigen Stadtbevölkerung wird durch die Häufigkeit des Diebstahlvorwurfs in der Beleidigungspraxis bestätigt. 65 Die recht häufige justitielle Registrierung von Frauen wegen Eigentumsverletzungen steht dabei in einem auffallenden Kontrast zum popularen Diskurs mit seiner Konzentration der Diebstahlsbeleidigung auf den Mann. Während die Ehre von Männern v.a. mit Begriffen wie Spitzbube oder Dieb attackiert wurde, diente bei Frauen v.a. der Hurereivorwurf als Angriffsmittel. Der Beleidigungsdiskurs reflektiert also weniger die soziale Praxis der Geschlechter als normative Rollenvorstellungen, laut denen der Mann auf rechtmäßige Art für den Unterhalt der Familie zu sorgen hatte. Generell dürfte die Dunkelziffer bei Eigentumsdelikten niedriger gewesen sein als bei Raufhändeln, die weithin als legitimer Streitaustrag galten und deswegen nicht angezeigt wurden. Ein Delikt mit ausgeprägtem Dunkelfeld war dagegen zweifellos der Hausdiebstahl. Die Züchtigung von Knechten und Dienstmägden durch den Hausvater bedeutete keinen Ausnahmefall. Als Sanktion für abweichendes Verhalten war sie neben Anzeige und Dienstentlassung der Normalfall. Wenn der Hausvater nach Einleitung einer Untersuchung anzeigte, daß er die Sache im Rahmen seiner Kompetenz selber geregelt hatte, zog sich die Justiz umgehend zurück. 66 Die Frankfurter Hausväter 63 Crim. 8594 (1771); weitere Beispiele, in denen Frauen mit ihrer Mutterschaft argumentierten: Crim. 5301 (1741), Crim. 5554 (1743), Crim. 8709 (1773), Crim. 8863 (1775). 64 Zu Zürich Burghartz: Leib (wie Anm. 5), 157. 65 Zur Beleidigungspraxis in Zürich ebd., 127f.; in Paris Dinges: Maurermeister (wie Anm. 46), 236; in München Wolfgang Behringer: Weibliche Kriminalität in Kurbayern in der Frühen Neuzeit, in: Ulbricht (Hg.): Von Huren (wie Anm. 5), 67; zum folgenden auch Lyndal Roper: ›Wille‹ und ›Ehre‹: Sexualität, Sprache und Macht in Augsburger Kriminalprozessen, in: Heide Wunder / Christina Vanja (Hg.): Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt/ Main 1991, 191ff. 66 Crim. 5284 (1741). Böse Weiber und grobe Kerle 685 nutzten die Justiz via Anzeige häufig. Rund 20% aller verhörten Eigentumsdelikte waren Hausdiebstähle. In französischen Städten betrug ihr Anteil demgegenüber nur 5 bis 8%. 67 Sowohl in Frankfurt als auch in anderen deutschen Städten scheinen Mägde zudem deutlich öfter gestohlen zu haben als männliche Dienstboten. 68 Ein Grund liegt wohl darin, daß das Gesinde in den größeren Städten mehrheitlich weiblich war. Zieht man die Dunkelziffer der von Hausmägden begangenen, aber nirgendwo registrierten Diebstähle ins Kalkül, so tritt die Präsenz von Frauen im Bereich der Eigentumsdelikte um so deutlicher hervor. Nicole Castan hat den Diebstahl aufgrund französischer Gerichtsakten des 18. Jahrhunderts sogar als »das weibliche Delikt par excellence« bezeichnet. 69 Für Städte und Territorien des Deutschen Reichs im 18. Jahrhundert mangelt es bislang noch an Untersuchungen, die ähnliche Aussagen zuließen. 70 Der Vergleich Frankfurts und Siegens mit den Befunden von Nürnberg und Köln aus dem 16. Jahrhundert deutet jedoch wie gesehen einen starken Anstieg weiblicher Delinquenz an. 71 Ein Wandel der Strafjustiz kann hier kaum die primäre Ursache sein, da Diebstahl, Einbruch und Raub vom 16. zum 18. Jahrhundert kriminalisiert, also auch grundsätzlich registriert blieben. Plausibler ist, daß mit der Zunahme von Armut und Marginalisierung als Massenphänomen im 18. Jahrhundert auch das patriarchalische Ordnungskonzept in eine Krise geriet. Viele Frauen fanden im Rahmen der traditionellen Ökonomie nicht mehr Dienst und Auskommen. Die von der Obrigkeit geforderten, für viele unerfüllbaren Vermögensnachweise als Voraussetzung für Eheschließungen erhöhten die Gefahr des Abstiegs ins Bettlermilieu. Denn vom Waschen, Stricken und Nähen allein konnten die wenigsten leben. Zudem war Ehelosigkeit für die Frau stärker als für den Mann mit einem sozialen Makel behaftet. Integration versprach am ehesten noch die Annahme als Magd. Anlaufstellen für vagierende Dienstwie Almosensuchende waren die als wohlhabend geltenden Städte. Die Gerichtsakten des Bamberger Malefizamts sind voller Vernehmungen von Mägden ohne Dienst. 72 Peter Wettmann-Jungbluts Vermutung, daß die Diebstahlrate in Städten über derjenigen in ländlichen Gebieten lag, ist wahrscheinlich zutreffend. 73 Frauen, die sich auf der Straße irgendwie durchschlugen, mußten stehlen, um zu überleben. Anders als bei Schlägereien und Körperverletzungen stammte das Gros der Beschuldigten bei Ei- 67 Castan: Straffällige Frauen (wie Anm. 62), 502. 68 Vgl. Ulbricht, Vergeltung, 145ff.; allgemein zum normativen Bild und zur Lebenswelt der Dienstmägde Renate Dürr: Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/ Main und New York 1995. 69 Castan: Straffällige Frauen (wie Anm. 62), 501. 70 Zum ländlichen Bereich zuletzt Michael Frank: Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650 - 1800, Paderborn u.a. 1995. 71 Zur quantitativen Zunahme der Kriminalität und zum folgenden anhand ausgewählter Städte auch Jütte: Geschlechtsspezifische Kriminalität (wie Anm. 20), 94. 72 Claus Kappl: Die Not der kleinen Leute. Der Alltag der Armen im 18. Jahrhundert im Spiegel der Bamberger Malefizamtsakten, Bamberg 1984, 131ff.; vgl. zu Armut und Vagantentum im 18. Jahrhundert allgemein Ernst Schubert: Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt a. d. Aisch 1983; Carsten Küther: Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1983. 73 Peter Wettmann-Jungblut: ›Stelen inn rechter hungersnodtt‹. Diebstahl, Eigentumsschutz und strafrechtliche Kontrolle im vorindustriellen Baden 1600 - 1850, in: Richard van Dülmen (Hg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle (Studien zur historischen Kulturforschung III), Frankfurt/ Main 1990, 146; vgl. auch den Stadt-Land-Vergleich am Beispiel der Grafschaft Surrey von Beattie: Criminality (wie Anm. 39), 96f. Joachim Eibach 686 gentumsverletzungen aus den Reihen beschäftigungsloser, nicht-integrierter Unterschichten. Tatorte und Diebesgüter geben Hinweise auf geschlechtsspezifische bzw. -unabhängige Kommunikationsfelder in der Stadt. Wegen Diebstahl in Haus, Familie und Nachbarschaft wurden in Frankfurt mehr Täterinnen als Täter registriert. Besonders in puncto Hausdiebstahl mußten sich Dienstmägde im Römer verantworten. Bemerkenswert ist, daß auch der umgekehrte Fall, der Diebstahl eines Hausherren bei seiner Magd, vorkommen konnte. Selten geschah dies schon deswegen, weil es für Hausväter elegantere Möglichkeiten der Bereicherung gab wie z.B. die Nichtauszahlung von zuvor versprochenem Lohn. Zudem fiel die Eigentumsverteilung bei aller Armut auch im Handwerk und Handel dennoch klar zugunsten der Bürger und Beisassen aus. Immerhin war es trotz der besonderen rechtlichen Verhältnisse im Haus möglich, daß eine Magd ihren Dienstherren wegen Diebstahl anzeigte. 74 Analog zu den Befunden bei der Delinquenz gegen Personen fällt also ein starker Anteil von Frauen bei Entwendungen im sozialen Nahbereich auf. Damit scheint sich vorderhand die These von Nicole Castan zu bestätigen, daß sich die »gewöhnliche Kriminalität« von Frauen »in erster Linie auf die häusliche Welt« beschränkte. 75 Das Feld der Eigentumsverletzungen belegt jedoch - aufs Ganze gesehen - eher das Gegenteil. Diebstahl und Betrug auf der Messe oder in Krämerläden wurden von Frauen ebenso wie von Männern verübt. 76 Die Teilnahme am Messe- und Marktgeschehen stand beiden Geschlechtern offen. Unter den die Waren anbietenden Händlern waren Frauen zahlreich vertreten. Nur bei den von auswärts anreisenden Messekaufleuten handelte es sich in der Regel um Männer. Auch auf der Seite der Käufer waren Frauen wie Männer gleichermaßen aktiv. Spezifisch weibliche Techniken der Entwendung waren das Verbergen der Ware in einer fest installierten Tasche unter den weiten Röcken und der Ladenbetrug: das Mitnehmen von Produkten auf falschen Namen. Die Abholung von Waren auf Kredit nutzte den Usus aus, daß Bürgerinnen ihre Mägde mit entsprechenden Aufträgen ohne Bargeld in die Läden schickten. Männlich war demgegenüber die offene Gewaltanwendung, z.B. beim Straßenraub. Auch der Diebstahl bzw. der Einbruch in Wirts- und Gasthäuser war eine Sache der Männer. Die Eigentumsdelinquenz bestätigt hier noch einmal die männliche Dominanz in den Schankstuben. Diebstähle und Betrügereien zielten auf Wertgegenstände aller Art, jedoch nicht im heutigen, sondern im zeitgenössischen Sinne. Was wurde konkret gestohlen? Das Diebesgut umfaßte von alten Schuhen bis zu kostbaren Juwelen alles, was sich zu Geld machen ließ. Mehrere Untersuchungen der Eigentumsdelinquenz im ländlichen Bereich haben in puncto Objekte geschlechtsspezifische Unterschiede festgestellt. In einer märkischen Gutsherrschaft des 17. Jahrhunderts stahlen Frauen eher Kleinigkeiten im Umfeld von Haus und Hof, Männer eher wertvolle Dinge wie Vieh und herrschaftliches Eigentum. Auch in Lothringen konzentrierten sich die Diebstähle von Frauen auf deren Arbeitsbereich in Gärten, Feldern und Wäldern. Im Rentamt München wiederum waren Viehdiebstahl und Wilderei eine männliche Domäne. 77 Die enge Verbindung kleiner Städte zum agrarischen Umland findet in der Zusammensetzung des Diebesguts deutlich Resonanz. In dem protoindustriell geprägten, rund 3.500 Einwohner zäh- 74 Crim. 5452 (1742). 75 Castan: Straffällige Frauen (wie Anm. 62), 494. 76 Zu dieser Einschätzung kommt auch Blauert: Sackgreifer (wie Anm. 58), 23. Böse Weiber und grobe Kerle 687 lenden Siegen war der gleichermaßen von Frauen wie Männern begangene Forstfrevel mit Abstand das häufigste Eigentumsdelikt. 78 Im zehn mal größeren Frankfurt spielte der Wald-, Feld- und Viehdiebstahl dagegen eine deutlich geringere Rolle (7% der Eigentumsdelikte). Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich indessen auch bei Entwendungen im städtischen Kontext. Frauen stahlen vor allem Wäsche, Kleidung, Tuch und Haushaltsgegenstände. Männer ließen zwar ebenfalls gerne Hemden oder Geschirr mitgehen, konzentrierten sich aber auf Bargeld, Uhren und mit Silber oder Gold beschlagene Gegenstände. Handwerksinstrumente und Waffen - in einigen Fällen Beute von Dieben - waren im Sack von Diebinnen gar nicht zu finden. Lebensweltliche Handlungsräume von Männern und Frauen wirken sich hier entsprechend aus. Die Zusammensetzung des Diebesguts ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, als sich an diesem Beispiel die Auswirkung von Rollenbildern auf geschlechtsspezifische Delinquenz aufzeigen läßt. Nicht nur bestimmte der alltägliche Handlungsraum - Gelegenheit macht Diebe - die Art des Diebstahls. Unmittelbar nach einer Entwendung stellte sich das Problem, die verdächtige Ware wieder los zu werden, also zu veräußern. Mit gestohlenem Gut die Torwache zu passieren, bedeutete ein hohes Risiko. Deswegen wurde versucht, die Beute möglichst schnell zu verkaufen. Die zahlreichen kleinen Händler in der Stadt boten sich zwar als Käufer billiger Waren an, hatten aber von der Obrigkeit Anweisung, verdächtige Angebote sofort zu melden. Eine Frau, die Wäsche oder Kessel offerierte, erweckte bei Wachen und Händlern weniger Mißtrauen als eine, die silberne Tabakdosen mit sich führte. 4. Schlußbemerkung: Delinquenz, Rolle und Raum Der hohe Anteil von Frauen in der Sparte Eigentumsdelinquenz zeigt, daß Zahlenreihen, die aus Gerichtsakten erstellt werden, keineswegs nur Rollenklischees reproduzieren. Als Einstiegsmethode ist eine mit flankierender Reflexion vorgenommene Quantifizierung weiterhin nützlich. Die Aussagen der Vernommenen verweisen in einer komplexen Gemengelage sowohl auf stereotype Rollenbilder als auch auf Praktiken, die überraschend und untypisch erscheinen mögen. Geschlechtsspezifische Erwartungen konnten beim Diebstahl im Laden oder Haus instrumentalisiert werden. Bei Händeln im Wirtshaus verursachten sie sogar die Delinquenz. 79 Der Zwang zum (Über-)leben auf der Straße machte das Außerachtlassen vor allem weiblicher Rollenerwartungen zu einer Existenzfrage. Das Vagieren an sich widersprach bereits patriarchalischen Vorstellungen von Bindung, Unterordnung und Herrschaft. Auch das hemdsärmelige Vorgehen vieler Frauen in Haus- und Nachbarschaftskonflikten paßt nicht in das patriarchalische Ordnungsmodell. Männliche Haushaltsvorstände sahen sich demgemüber zum 77 Jan Peters: Frauen vor Gericht in einer märkischen Gutsherrschaft (2. Hälfte des 17. Jahrhunderts), in: Ulbricht (Hg.): Von Huren (wie Anm. 5), 242f.; zu Lothringen Ulbrich: Weibliche Delinquenz (wie Anm. 8), 299; zum Rentamt München Behringer: Weibliche Kriminalität (wie Anm. 65), 74; vgl. zur Wilderei als männliche Praxis, psychoanalytisch gedeutet, Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts - Oberbayern 1848 - 1910, Reinbek bei Hamburg 1989. 78 Plaum: Strafrecht (wie Anm. 56), 207. 79 Vgl. dazu Lyndal Roper: Männlichkeit und männliche Ehre, in: Karin Hausen/ Heide Wunder (Hg.): Frauengeschichte (wie Anm. 32), 154 - 72. Joachim Eibach 688 Einsatz physischer Gewalt veranlaßt, um auf ihrer beanspruchten Stellung unter den Augen der Nachbarn zu insistieren. Männer wie Frauen wandten sich mit Klagen an die Justiz. Die Situation vor Gericht verlangte geradezu, eigenes Verhalten mit feststehenden Klischees und juristisch definierten Begriffen zu rechtfertigen. Die Richter ließen sich jedoch keineswegs immer von einer Argumentation mit Notwehr, Wahrung der Ehre, Mutterschaft oder Schwangerschaft etc. beeindrucken. Indem die Urteile keine Rücksicht darauf nahmen, durchkreuzte die Rationalität der Justiz oft genug die rollenspezifischen Strategien der Vernommenen. Betrachtet aus der Perspektive der Delinquenz weist die soziokulturelle Topographie der alten Stadt eine weitgehende Präsenz beider Geschlechter auf. Männer und Frauen waren in Haus, Hof und Nachbarschaft ebenso wie auf Straßen, Plätzen und Märkten anzutreffen. Männlich dominiert war die Straße nur nach der Polizeistunde, wenn ›Nachtschwärmer‹ in alkoholisiertem Zustand die Wachen provozierten, um auf diese Weise männliche Ehre zu demonstrieren. Dominant männliche Räume waren ferner das Wirtshaus, die Werkstatt und nicht zuletzt die Amtsstuben der Obrigkeit. Einen dominant weiblichen Raum, dem bei der Ausübung sozialer Kontrolle eine ausgesprochen wichtige Funktion zukam, bildete dagegen die Nachbarschaft. Der Zutritt zu den jeweiligen Räumen stand allerdings abgesehen vom Faktor Geschlecht nicht allen Schichten und Ständen im gleichen Maße offen. Gewöhnliche Wirtshäuser und Schenken wurden z.B. vor allem von Männern aus Unterschichten besucht; Gasthöfe und Abendgesellschaften dagegen von höheren Ständen. Die in den lebensweltlichen Räumen herrschenden Regeln bargen in unterschiedlicher Weise Möglichkeiten und Gefahren von Normverstößen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Dichotomien wie aktiver Mann vs. passive Frau oder kriminelle Männlichkeit vs. friedfertige Weiblichkeit in der betrachteten Praxis der Delinquenz keinen Widerhall finden. 689 Sylvie Steinberg Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt: Frauen in Männerkleidern vor der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert Am Anfang steht eine Verfügung des Königs, datiert vom 8. Dezember 1745, gegen eine nicht näher bekannte Frau namens Marie-Joseph Barbier. Eine Verfügung, der ein gewissenhafter Pariser Polizeiinspektor bereits vorgegriffen hat. Inspektor Poussot, so sein Name, greift auf das Schnellverfahren einer königlichen Verfügung zurück, um einen Skandal zu beenden, der bereits allzulange andauert: Ich habe besagte Marie-Joseph Barbier, gebürtig aus Mignarts in der Herrschaft Mons, verhaftet und nach For L’Eveque gebracht. Besagte Barbier hat sich seit ungefähr einem Jahr als Mann verkleidet. 1 Ein schlichter Name in einem Register, eine Verwechslung des grammatischen Geschlechtes bei der Verwendung des französischen Adjektivs natif (gebürtig) - der Inspektor wählt die männliche statt der korrekten weiblichen Form -, und ein Verhaftungsgrund, der neugierig macht. Die Neugier wird erneut angestachelt, als diese Frau zu verschiedenen Zeitpunkten in anderen Registern Inspektor Poussots wieder auftaucht. 2 Vor allem aber, als ihr persönliches Dossier, das im Archiv der »Lieutenance de police« überliefert ist, 3 auch die Stimme Marie-Joseph Barbiers selbst, die in einem ihrer Briefe behauptet, allein wegen des Verbrechens, sich verkleidet zu haben, verfolgt zu werden, zu Gehör bringt. Marie-Joseph Barbier ist keineswegs die einzige Frau, die im 18. Jahrhundert wegen des Tragens von Männerkleidern verhaftet wird: Im Archiv der Pariser »Lieutenance de police« stößt man auf die Spur von rund hundert Frauen, die mit der gleichen Begründung verfolgt worden sind. Ihre Verhaftung ist das Ergebnis gewissenhafter Bemühungen, dieser Art von Verkleidung oder Maskerade, wie sich die Inspektoren ausdrücken, Einhalt zu gebieten. In der Tat stellt Transvestieren ein Verbrechen dar, das die königliche Gesetzgebung im Namen religiöser ebenso wie bürgerlicher Prinzipien unter Strafe stellt. Dem Bereich der Religion entstammt das Gesetz aus dem Buch Deuteronomium 22: 5 : Männergewand soll eine Frau nicht tragen, und ein Mann soll keine Frauenkleider anziehen; denn ein Greuel vor dem Herrn, deinem Gott, ist jeder, der solches tut. 4 Diese Regel wurde von den Theologen, Juristen und Moralisten des 16. und 17. Jahrhunderts beständig wiederholt, ganz gleich ob sie damit die von kirchlicher und staatlicher Seite erlassenen Verbote von Maskierungen und Karnevalsverkleidungen zu rechtfertigen 1 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 10136, f° 120. Dieses Register wird im Inventar der ›Archives de la Bastille‹ fälschlicherweise dem Inspektor Roussel zugeschrieben. Über den Inspektor Poussot und seine Gründlichkeit siehe Arlette Farge: Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts, Berlin 1989, 161 - 180. 2 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 10137, f° 4 und Ms 10140, f° 25. Bei dem zuletzt genannten Manuskript handelt es sich um ein Register, das eine Zusammenstellung aller von Inspektor Poussot behandelten Fälle enthält. 3 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 11564, f°68 - 122. 4 Zitiert nach: Die Heilige Schrift, Aschaffenburg 1966, 18. Auflage, 217. Sylvie Steinberg 690 suchten oder aber die - vermeintlich zunehmende - Effeminierung der Männerkleidung anprangerten. Die Grundlage eines solchen Verbotes war indes keineswegs einfach auszulegen. Jean Calvin, der sie 1576 in seiner Predigt über das Deuteronomium zu erklären versucht, gelangt schließlich zu der Behauptung: denn es ist wohlbegründet, daß man die Männer von den Frauen unterscheidet. Und gäbe es kein geschriebenes Gesetz, würde nicht die Natur selbst uns solches lehren? Eine kulturelle Selbstverständlichkeit wird hier als naturhaft dargestellt. Auf tautologische Weise wird so das Transvestier- Verbot als selbstverständlicher Ausdruck einer anderen Selbstverständlichkeit, nämlich der des Unterschiedes zwischen Männern und Frauen, dargestellt. Gleichzeitig zeugt dieses Verbot von dem Willen, die Sittlichkeit zu bewahren und sich jeglichen Ausschweifungen entgegenzustellen. Jean Savaron etwa, der 1608 einen Traktat wider die Maskeraden (Traité contre les masques) verfaßt, ist der Meinung, daß das Transvestieren noch weitere Grenzüberschreitungen mit sich bringt: man hält sich nicht an die Grenzen des Anstandes, man überschreitet sie und stürzt sich in alle Arten von hemmungsloser Unsittlichkeit, die Frauen legen mit ihren Kleidern auch die Scham ab und maskieren sich als Männer, der Mann, der Frauenkleider anlegt, ist ganz genauso schamlos. Hier zeigt sich, wie sehr der Kleidertausch zwischen Mann und Frau mit Unzucht konnotiert ist: Hat nicht schließlich Gott Adam und Eva befohlen, ihre Scham zu bedekken? Und, so fügen die Theologen und Juristen des Ancien Régime hinzu, mit streng unterschiedlichen Kleidern? Hervorzuheben ist auch, daß der Dimorphismus der Kleidung von Männern und Frauen in gewisser Weise das zentrale Element des Systems äußerer Erscheinungen bildet, das im Ancien Régime durch die Kleider- und Aufwandsordnungen geregelt wird. Der Jurist Jérôme de Chastillon hatte 1577 ein kurzes Traktat über die Aufwandsordnungen verfaßt, in dem er von der Notwendigkeit sprach, daß Ehrungen und Schmuck der Würde, Autorität, dem Adel, Alter, Geschlecht und den Verdiensten der Person angemessen sein müssen. Seine gesamte Argumentation fußt darauf, die im Deuteronomium 22: 5 enthaltene Regel in Erinnerung zu rufen und zu kommentieren. In der Privilegiengesellschaft des Ancien Régime wird das biblische Verbot somit als Grundlage der Hierarchie äußerer Erscheinungen interpretiert, deren wesentliche Funktion darin besteht, die einen von den anderen unterscheiden zu können. 5 In diesem Sinne präfiguriert die Hierarchie von Mann und Frau die gesamte Gesellschaftspyramide und muß unbedingt in der Kleidung zum Ausdruck kommen. Die Verhaftung von Frauen, die sich als Männer verkleiden, stützt sich überdies auf eine klare juristische Grundlage in der königlichen Gesetzgebung, da es sich um einen Sonderfall des Deliktes Fälschung (faux) handelt. So steht das Verbergen der Geschlechtszugehörigkeit gesetzlich unter Strafe und wird, dem Juristen Jousse zufolge, der Kategorie Fälschung durch Taten 6 (faux par fait) zugerechnet. 7 Jousse erläutert: es ist ebenfalls eine Fälschung, sich zu verkleiden und die Geschlechtszugehörigkeit zu wechseln 5 Aufwandsordung, verkündet im Edikt vom 16. Mai 1547, zitiert bei Isambert: Recueil général des anciennes lois françaises, Bd. XIII, 101. 6 Im Unterschied zu Fälschung durch Reden (faux par parole) und schriftlicher Fälschung (faux par écriture), die von den Juristen des Ancien Régime weitaus häufiger genannt werden, wenn es sich beispielsweise um Falschaussagen von Zeugen, Fälschung von Schriftstücken, Geldfälschung usw. handelt - alles Verbrechen von außerordentlicher Schwere, die Gegenstand einer besonderen Ordonnance über Fälschungen vom Juli 1737 sind. 7 Jousse: Traité de la Justice criminelle en France, 4 Bd., Paris 1771, Bd. III, 341ff.: »sur le crime de faux«. Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt 691 um andere Menschen zu täuschen, und führt das Beispiel eines jungen Mädchens an, das als Mann verkleidet im Jahre 1570 eine andere Frau heiratete und vom Richter von Cadillac zum Tode verurteilt wurde, wobei die Strafe jedoch vom »Parlement« von Bordeaux im Berufungsverfahren abgemildert wurde. Die Schärfe des erstinstanzlichen Urteils - wie auch des Berufungsurteils, denn die Angeklagte wurde ausgepeitscht und verbannt - erklärt sich offensichtlich aus der Schwere der Verbrechen, die sie als Mann verkleidet begangen hatte: Die abscheuliche Unzucht sexueller Beziehungen zu einer anderen Frau und die Verletzung des Sakraments der Ehe. Frauen können aber auch einzig und allein dafür verurteilt werden, daß sie sich als Männer verkleidet haben, wie etwa in einem von Jousse ebenfalls erwähnten Fall: Am Dienstag, dem 16. Mai 1680 wurde ein etwa achtzehnbis neunzehnjähriges Mädchen festgenommen, das angab, aus Gent zu stammen, und mit der Kutsche von Paris nach Orleans gekommen war. Sie war als Mann verkleidet und befand sich in Begleitung eines Edelmannes, mit dem sie gemeinsam verhaftet wurde. Sie wurden vor Gericht gestellt, und sie [die Frau] wurde zu einer Rüge im Ratssaal des Kriminalgerichts von Orleans verurteilt. 8 Der Rechtsgelehrte Muyart de Vouglans reduziert allerdings 1780 die Schwere des Vergehens Transvestieren, indem er es als bloße Ordnungswidrigkeit und nicht als Verbrechen behandelt. Seiner Darstellung zufolge ist das Vortäuschen einer anderen Person mittels Verkleiden nur dann ein Verbrechen im eigentlichen Sinne, wenn es dazu dient, weitere Verbrechen zu begehen, so etwa wenn man sich maskiert oder die Kleider des anderen Geschlechts anlegt, um Morde oder Diebstähle zu begehen oder aber anderen Schaden zuzufügen. 9 Muyart nimmt hier freilich eine Zusammenfassung und Rationalisierung der königlichen Gesetze am Ausgang des 18. Jahrhunderts vor. Wenn auch zu seiner Zeit die Kriminalisierung des Transvestierens scheinbar im Rückgang begriffen war - während man im 16. und 17. Jahrhundert auf als Männer verkleidete Frauen stößt, deren Berufungsverfahren bis vor das Pariser »Parlement« gelangen -, so reichte doch im letzten Jahrhundert des Ancien Régime für eine Frau die bloße Tatsache, Männerkleider zu tragen, immer noch aus, um mittels einer königlichen Verfügung eingesperrt zu werden oder zumindest in Verdacht zu geraten. Die Pariser Polizei legt große Entschlossenheit an den Tag, wenn es gilt, die Verkleidung von Frauen als Männer zu bekämpfen. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an sind es offenbar vor allem die Inspektoren des Sittenbüros 10 , die in besonderem Maße damit beauftragt sind, den »Absichten des Magistrats«, wie die offizielle Formulierung lautet, Geltung zu verschaffen. Das Sittenbüro war 1747 zum Zwecke der Überwachung und Repression von Unzucht gegründet worden. Inspektor Meusnier sowie von 1757 an Inspektor Marais, die das Büro nacheinander leiten, sind demnach die Hauptverantwortlichen dieses Kampfes. Als beispielsweise Inspektor Poussot im Jahr 1750 eine junge Frau von 21 Jahren namens Barbe Wartel verhaftet, benachrichtigt er Meusnier, der, so Poussot, üblicherweise mit dieser Sache befaßt ist. 11 Die betroffenen Frauen scheinen über die Schwere ihres Vergehens nicht informiert zu sein. So erklärt etwa die sechzehnjährige Marie Voiselle, nachdem sie 1764 beim Verlassen der »Comédie Italienne« von Inspektor Marais verhaftet worden war, daß sie die Folgen davon nicht kannte (...) und sehr über- 8 Jousse: ebd., 820: »sur les masques et déguisement de sexe«. 9 Muyart de Vouglans: Les Lois criminelles de France dans leur ordre naturel, Paris, 1780, 271. 10 Das Sittenbüro wurde 1747 unter dem Lieutenant Nicolas-René Berryer gegründet. Zwei Inspektoren hatten dieses Amt nacheinander inne: Meusnier bis 1757 und Marais bis 1777. Zu ihrer Tätigkeit siehe Marie-Erica Benabou: La Prostitution et la police des moeurs au XVIIIème siècle, Paris, 1987. 11 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 11728, F°266. Sylvie Steinberg 692 rascht war, auf der Straße verhaftet zu werden, daß sie nicht glaubte, eine Missetat begangen zu haben. 12 Der Mann, der ihr die Kleider, die sie trug, geborgt hat, scheint genauso überrascht und beteuert seine Unschuld. 13 Manche Frauen ändern im übrigen radikal ihr Verhalten, wenn sie erst einmal darauf aufmerksam gemacht worden sind, was sie damit riskieren. So etwa das adelige Fräulein Thierry, das, nachdem es von Marais verwarnt wurde, am darauffolgenden Tag sofort sein Gewand an seinen Schneider verschenkte. 14 Die Inspektoren wachen in der Tat aufmerksam über das Verhalten der Pariser Dirnen und weisen sie zurecht, damit diese ihr Verhalten ändern sollen. Inspektor Meusnier notiert 1752 über eine gewisse Marguerite Martiel, eine jungen Frau von 18 Jahren, die bereits bei den Kupplerinnen der Hauptstadt verkehrt und häufig in Männerkleidung anzutreffen ist: sie hat die gleiche Maskierung fortgesetzt, der ihr gegenüber ausgesprochenen Ermahnung, sich nicht länger als Mann zu verkleiden, zum Trotz. 15 Unser Inspektor bedient sich bisweilen einer pittoresken Ausdrucksweise, um die als Männer verkleideten Prostituierten zu bezeichnen und rechnet sie etwa zu der Klasse derjenigen die sich zugunsten ihrer Nächsten humanisieren. 16 All diese Aufzeichnungen, so flüchtig sie auch sein mögen, sind deutliche Anzeichen für die Schärfe polizeilicher Überwachung im 18. Jahrhundert und das ihr zugrundeliegende Streben nach einer Reglementierung der Verhaltensweisen. Die Inspektoren sind unablässig auf der Jagd nach allem, was verdächtig erscheint, und überwachen persönlich bestimmte strategische Orte wie etwa Theatersäle und Wirtshäuser. Für ein Verhalten, das harmlos erscheint und mitunter nichts weiter als eine Karnevalsposse ist, sind die verhängten Strafen bisweilen sehr streng. Während MarieVoiselles Abend in der »Comédie Italienne« lediglich mit einer Nacht im Polizeigefängnis endet, werden andere Frauen schwer bestraft. So nützt es etwa der Soldatendirne Marie-Louise Deschamps, die an einem Augustnachmittag des Jahres 1753 in einem Wirtshaus aufgegriffen wird, nichts, daß sie erklärt, ihre Verkleidung sei nur ein Spiel und sie habe mit ihren Nachbarinnen gewettet, sie werde in diesem Aufzug bis zur Kirche Saint-Eustache gehen - ihr Verhalten bringt ihr nicht weniger als zehn Monate Haft ein. 17 Das Ungleichgewicht der Strafen verweist auf die Willkür, die dem Verfahren königlicher Verfügungen, dem diese Frauen unterworfen sind, innewohnt. Dieses zügige und summarische Verfahren erlaubt der Polizei, Verdächtige unter der Bezeichnung »Polizeiangelegenheit« (»affaires de police«) festzunehmen, ohne dafür auf reguläre Gerichte zurückgreifen zu müssen und ohne die königliche Justizmaschinerie in Gang zu setzen. Meistens werden die königlichen Verfügungen nachträglich unterzeichnet und bestätigt, wenn die Verhaftung bereits stattgefunden hat. Die Entscheidungsgewalt über die Strafe liegt somit gänzlich in Händen des Generalleutnants der Polizei. 18 Es läßt sich daher fragen, was genau die Polizei in diesen Fällen, die in ihre Zuständigkeit fallen und die sie so offensichtlich zu beunruhigen scheinen, bekämpft. Da die Normvorstellungen mit dem Verweis 12 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 12221, f° 330. 13 Ibid., f° 333 - 334. 14 Journal de l’inspecteur Marais, zitiert bei Larchey, Documents inédits sur le règne de Louis XV. Journal des inspecteurs de M. de Sartine, Première Série, 1761 - 1764, Brüssel/ Paris, 1763, 187f. 15 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 11793, f° 214. 16 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 11807, f° 254, Dossier Marie Marguerite Villers, 1752. 17 Archives de la Préfecture de Police de Paris, AB 363, f° 33 und Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 11822, f° 15 - 24. 18 Über dieses Verfahren siehe Arlette Farge/ Michel Foucault: Familiäre Konflikte: Die »Lettres de cachet«. Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, 11 - 18. Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt 693 auf die gesetzlichen Grundlagen nicht vollständig zu erfassen sind, soll nunmehr versucht werden, diese Vorstellungen anhand der in den Akten anzutreffenden diskursiven und narrativen Logiken zu erschließen. Wenden wir uns also wieder Marie-Joseph Barbier zu. Aus Flandern kommend, wo sie ein Jahr lang dem Regiment von Brancas folgte, quartiert sie sich in Paris bei einem gewissen Narbonne ein, der eine Pension in der Rue du pot-aux-vins besitzt. Nach achtzehn Tagen bemerkt der Wirt, daß der vermeintliche Ritter von Mérins, der bei ihm wohnt, eine verkleidete Frau ist und zeigt diese beim Kommissar Lecomte an. In der Zwischenzeit hat sich die Barbier aus dem Staub gemacht, so daß die Polizei sie erst eineinhalb Monate später verhaften wird. Narbonne hat aber außerdem einen Brief an den Geliebten Marie-Joseph Barbiers - den Ritter de La Barthe, der ihr nach Paris nachkommen sollte - geschrieben, in dem er die Schandtaten des falschen Offiziers anprangert. 19 Das Leben, das Barbier in Paris führt, besteht demnach nur aus Vergnügungen und Ausschweifungen: Die Schöne in Männerkleidern zieht durch die Kneipen und sorgt für Lärm und Aufsehen. Sie besucht das Theater und die Oper, wo sie die Herren aufgabelt, die in ihrem Zimmer ein- und ausgehen. Von einer ihren nächtlichen Eskapaden hat sie eine goldene Uhr mitgebracht. Eine Ballnacht in Begleitung dreier Musketiere bringt schließlich das Faß zum Überlaufen und die Eheleute Narbonne, die die als Frau entlarvte bereits zuvor gebeten haben, ihr Verhalten zu ändern, fordern sie zum Auszug auf. Die dicke, goldene Uhr behalten sie als Bezahlung für das Zimmer. Auch die Reaktion des Ritters de la Barthe auf das Schreiben des Wirtes Narbonne läßt nicht auf sich warten: Er schreibt Barbier, aus der mittlerweile der Baron von Sekendorff geworden ist, einen Trennungsbrief und warnt sie, daß sie einem unedlen Gewerbe nachgeht, das sie an den Galgen bringen wird, goldene Uhren zu stehlen. 20 Ein weiterer, anonymer Brief vervollständigt den Bericht der Pariser Abenteuer Barbiers. 21 Nachdem sie bei Narbonne ausgezogen ist, hat sie - neben anderen Erlebnissen - rechtschaffene Leute kennengelernt, die sie beherbergt und ihr geraten haben, Frauenkleider anzuziehen. Sie aber ist diesem neuen Domizil zusammen mit zwei jungen Leuten entflohen - sie ist nichts als eine Hure, eine Schuftin und ein liederliches Weib, das sich nicht im Zaume halten konnte. Der Verfasser des Briefes zieht die Angaben Barbiers in Zweifel: sie will ihre Herkunft nicht angeben, obgleich sie diese als vornehm bezeichnet, sie ließ sich überall mit Herr Baron anreden (...) aber man weiß mit Sicherheit daß sie die Tochter einer flandrischen Marketenderin ist und daß sie der Armee seit dem Alter von zehn Jahren folgt und dies seit zwei oder drei [Jahren] in Männerkleidern, was man weder dulden darf noch kann, da es gegen alle Regeln ist. Die gleiche anonyme Hand hat noch einen dritten Brief verfaßt - solche Briefe unterzeichnet man nicht, erläutert sie -, als Marie-Joseph Barbier bereits seit einem Monat im Gefängnis For L’Evêque eingesperrt ist. 22 Ein weiteres Mal wird sie als Lotterweib geschildert: es ist nicht die Gesellschaft der Frauen, die sie sucht, sie klebt gewissermaßen im Männersaal fest, wo sie von einer Dreistigkeit und Unverschämtheit ohnegleichen ist, sie küßt hier den einen, streichelt da einen anderen und stets sieht man sie mit diesem oder jenem der Gefangenen auf dem Bett herumliegen. Der 19 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 11564, f° 72 - 73. Diesen Brief muß Marie Joseph Barbier bei ihrer Verhaftung bei sich gehabt haben. 20 Ibid., f° 74. La Barthe fügt seinem Brief das Schreiben Narbonnes bei, um Barbier zu beweisen, daß er über alles informiert ist. 21 Ibid. f° 83. 22 Ibid., f° 85 - 86. Sylvie Steinberg 694 zuständige Beamte nimmt die Bezichtigungen zur Kenntnis und entscheidet, die Dame vom Gefängnis For l’Evêque in die Salpétrière zu verlegen, wo keine Gefahr mehr besteht, daß sie noch irgendeinen Mann behelligen wird, da es sich um ein reines Frauengefängnis handelt. Für die Zeugen von Barbiers Umtrieben besteht kein Zweifel, daß diese Frau den Teufel im Leib hat. Daß sie etwa in die Armee eintrat, geschah nicht, um zu kämpfen, sondern um das liederliche Leben zu führen, an das sie seit ihrer zartesten Kindheit gewohnt ist. Angesichts des Ausmaßes der Prostitution in der Armee haben die Zeugen vermutlich allen Grund, einen solchen Verdacht zu hegen. So sehen die Militärgesetze ausdrücklich Strafen für Frauen vor, die im Gefolge der Truppen angetroffen werden. Die Militärordonnance vom 1. Juli 1727 verbietet den Soldaten sämtlicher Dienstgrade unter Androhung von Gefängnisstrafe, ein Verhältnis mit einem liederlichen Weib zu unterhalten. Offizieren droht darüber hinaus eine Degradierung. In den Armee-Einheiten angetroffene Frauen werden davongejagt und können zur Strafe des Auspeitschens verurteilt werden. 23 Eine Ordonnance vom 1. März 1768 sieht vor, daß Frauen, die mit Kavalieren oder Dragonern angetroffen werden, drei Monate an Ort und Stelle gefangengehalten werden, bevor sie ins Zuchthaus oder, in Ermangelung eines solchen, ins Armenhaus gesperrt werden. Angesichts der geringen Zahl von Fällen, die vom Zeitpunkt der Ordonnance an in den verschiedenen Provinzen registriert wurden, 24 ist es keineswegs sicher, daß die Strafen für in Militärlager eingedrungene Frauen von der Militärjustiz tatsächlich mit entsprechender Strenge angewandt wurden. Immerhin wird aber die Pariser Polizei zu Hilfe gerufen, um Frauen, die in der Armee entdeckt werden, festzunehmen. So wird beispielsweise im Oktober 1752 eine gewisse Louise Françoise Masson als liederliches, als Mann verkleidetes Weib, das sich einem Offizier des Nizzaer Regiments vorgestellt hat, um in den Armeedienst einzutreten, 25 verhaftet und bleibt über zwei Jahre im Gefängnis, um ihr Verbrechen zu büßen. Viele Prostituierte benutzen Männerkleider, um sich unbemerkt unter Soldaten zu bewegen oder in Männermilieus einzudringen - ein Umstand, der nicht neu ist. Mindestens seit dem Ende des Mittelalters sind Fälle von Prostituierten bekannt, die sich verkleiden, um in Badehäuser oder Männerklöster hineinzugelangen. Eine gewisse Jeanne Saignant etwa wird Ende des 15. Jahrhunderts in Dijon beschuldigt, Frauen und Mädchen, die wie Kleriker angezogen und verkleidet sind, in ihrem Badehaus zu empfangen. 26 De facto stellt das Transvestieren für Prostituierte einen strafverschärfenden Umstand dar: Es gibt Fälle, wo man die Prostitution schärfer bestraft. So zum Beispiel wenn ein Mädchen ihre Geschlechtszugehörigkeit verbergen und in ein Mönchskloster ziehen würde, um diese zu verführen. Aus diesem Grund wurde 1557 ein sehr hübsches junges Mädchen, das man in Männerkleidern in einem Pariser Franziskanerkloster entdeckt hatte, zur Strafe des Auspeitschens verurteilt, erläutert der Jurist Guyot in seinem Artikel über die Prostitution. 27 Das Tragen von Männerkleidern ist folglich in den Köpfen der Polizisten, die für die Überwachung der Sitten zuständig sind, häufig mit unzüchtigem Verhalten und 23 Jousse: Traité de la Justice criminelle en France, op. cit., Bd. IV, 305. 24 Der Karton F15 2811 der Archives Nationales enthält gerade einmal einige Dutzend Fälle von Prostituierten, die von 1768 bis zur Revolution aufgrund der Militärdisziplin verhaftet wurden. 25 Archives de la Préfecture de Police de Paris, AB 362, f° 173. 26 Siehe Jacques Rossiaud: Dame Venus. Prostitution im Mittelalter, 1989, 268. 27 Guyot: Répertoire universel et raisonné de jurisprudence civile, criminelle, canonique et bénéficiale, 17 Bd., Paris, 1784 - 1785, Bd. XIV, 53. Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt 695 öffentlicher Prostitution verknüpft. Als Kommissar Chastelus 1753 den Bericht über die Verhaftung der bereits erwähnten Marie-Louise Deschamps abfaßt, einer Prostituierten, die von Wachsoldaten ausgehalten und in Männerkleidern in einem Wirtshaus angetroffen wurde, 28 betont er, daß Inspektor Meusnier sie in Anbetracht der Unschicklichkeit ihrer Verkleidung verhaftet habe, und daß die daraus resultierenden Laster von Übel sein können. 29 Was Marie-Joseph Barbier angeht, so reagiert der Wirt Narbonne, als er gewahr wird, daß er es mit einer als Mann verkleideten Frau zu tun hat, darauf sofort, indem er ihr nahelegt, niemanden zu treffen und nicht auszugehen. Viele der in Männerkleidern festgenommenen Frauen werden von den Inspektoren auch dann als leichte Mädchen (filles de débauche) bezeichnet, wenn im Verhör nicht von Prostitution die Rede ist. Gewiß kennen die Polizisten - insbesondere diejenigen, die für die Überwachung der Sitten zuständig sind - die Frauen, die der Prostitution nachgehen, recht gut. Es scheint jedoch auch, daß jede in Männerkleidern angetroffene Frau unmittelbar mit einer Hure gleichgesetzt wird. Was ist zum Beispiel von der achtzehnjährigen Marguerite Michèle Perrin zu halten, einer kleinen Händlerin, die an einem Abend im Mai 1758 in einem Wirtshaus aufgegriffen wird, als sie gemeinsam mit einem erst siebzehnjährigen arbeitslosen Hutmachergesellen Lärm schlägt. Die beiden haben ihre Kleider getauscht, um die ganze Nacht durch die Straßen zu ziehen. Dieser Vorfall erscheint der Polizei so schwerwiegend, daß Marguerite Perrin und ihr Gefährte dafür verurteilt werden, sich einer wie der andere der Unzucht hingegeben zu haben. Das Mädchen wird für mehr als ein Jahr ins Gefängnis gesteckt, der Junge gezwungen, sich einem Regiment anzuschließen. 30 Um sich der von den Zeugen erhobenen Unzuchtsvorwürfe zu erwehren, muß Marie-Joseph Barbier eine Verteidigung entwickeln, die mehrere Arten von Verschleierung verwendet: Erstens Leugnen, zweitens die Lüge, die sich vor allem an die Personen richtet, mit denen sie außerhalb der Polizei zu tun hat, sowie drittens eine ausgefeilte narrative Rekonstruktion, die sie in jeder Etappe ihres Lebens als makellose Romanheldin darstellt. Die Sprache, der sich Marie-Joseph Barbier gegenüber den sie verhörenden Polizisten bedient, ist nicht etwa, wie man meinen könnte, eine Sprache der Enthüllung. Ihre Geständnisse folgen vielmehr der Absicht, einer Verurteilung zu entkommen, zumal die verhängten Strafen in diesem Fall der polizeilichen Entscheidungsgewalt unterliegen. Die Aussage Marie-Joseph Barbiers ist daher auf Effizienz angelegt und läßt sogar eine Strategie erkennen. Die mehr oder weniger naive und bewußte Verschleierung bildet den Kern ihrer Lebensgeschichte, 31 die sie in dieser Situation rekonstruiert. Die Angeklagte greift so zu einer doppelten Verschleierung der Wirklichkeit: der Verschleierung ihrer Identität und der ihres Lebensweges. Ihre Erzählung zeugt freilich noch von einer dritten Ebene der Realitätsverhüllung, nämlich der der literarischen Erzählung. Wie Arlette Farge am Beispiel verführter und sitzengelassener Mädchen, die sich an die Polizei wenden, um ihre Ver- 28 Archives de la Préfecture de Police, AB 363, f° 33. 29 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 11822, f° 22. 30 Archives de la Préfecture de Police de Paris, AB 364, f° 37 und Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 12016, f° 98 - 108. 31 Vgl. dazu die Habilitationsschrift von Yves Castan: ›Honnêteté et Relations sociales en Languedoc‹, wo dieser aufgezeigt hat, wie Zeugen und Angeklagte mehr oder weniger geschickt versuchen, Dinge zu verbergen, indem sie lügen, ausweichend antworten oder Erinnerungslücken vorschützen. (Yves Castan: Honnêteté et Relations sociales en Languecoc, 17 1 5 -1780, Paris, 1974, 9 0 -94.) Sylvie Steinberg 696 führer anzuzeigen, dargelegt hat, 32 lassen sich bestimmte Motive der Volksliteratur, beispielsweise der Erzählung, einsetzen, um einen Polizisten zu überzeugen. Als Subtext läßt sich in diesem Zusammenhang die Geschichte des im Schlaf geschwängerten Dornröschens ausmachen, die in den sittsamen Erzählungen der von ihren Liebhabern verlassenen Klägerinnen ein häufig wiederkehrendes Motiv darstellt. Im Fall des Verbrechens Transvestieren ergeben sich die Anleihen bei der Literatur gewissermaßen von selbst, da bereits die Tat selbst als ausgesprochen romanhaftes Ereignis wahrgenommen wird: Schließlich betont selbst Rousseau, als er Madame d’Houdetot in der Ermitage »zu Pferd und in Männerkleidern« auftauchen sieht, daß die Dame einen Anblick »wie aus einem Roman« biete. 33 Das romanhafte Element taucht in den Erzählungen der Beschuldigten im übrigen keineswegs nur als Motiv auf. Wie jede Erzählung übernimmt die polizeiliche Aussage von der literarischen Erzählung Erzähltechniken und bestimmte Formen der Inszenierung, wenn diese auch in einem Verhör vermutlich weniger ausgeprägt sind als in den von Natalie Davis untersuchten Gnadenbriefen. 34 Die Erzählung der Angeklagten wird hier nicht durch einen professionellen Rechtsbeistand vermittelt, wie es bei den Gnadenbriefen der Fall ist. Sie wird jedoch durch die Fragen des Polizisten gesteuert, der nach Indizien forscht, anhand derer er die Schwere der Vergehen ermessen kann, die der Angeklagten zur Last gelegt werden. In gewisser Weise entwirft der Verhörende ein Szenario, in das sich die Antworten der Angeklagten einfügen, wobei diese ihrerseits eine chronologische und lineare Konstruktion ihres eigenen Lebens entwirft. Als erstes soll nun anhand der Transvestie-Fälle, bei denen der literarische Bezug nie sehr weit entfernt ist, der Frage nachgegangen werden, inwiefern das Romanhafte den Kern der narrativen Logik dieser Gegenüberstellung bildet. Das Romanhafte liefert aber nicht nur Motive und Erzählstrukturen, sondern erfüllt darüber hinaus noch eine weitere Funktion, indem es der Erzählung der Angeklagten Wahrscheinlichkeit verleiht. Es mag paradox erscheinen, daß ausgerechnet so phantastische Geschichten wie die Berichte der als Männer verkleideten Abenteurerinnen die Wahrscheinlichkeit einer Geschichte untermauern können, die in einem Polizeiverhör erzählt wird. Indes orientiert sich die klassische fiktionale Literatur an dem aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriff (»vraisemblance«) 35 , der nicht die Entsprechung mit dem Wahren oder Wirklichen meint, sondern die Entsprechung mit dem, was sein soll, oder - wie es bei den Theoretikern der Klassik heißt -, mit dem, was sich schickt und der Auffassung des Publikums entspricht. So befindet der Theatertheoretiker La Mesnardière: gemäß der allgemeinen Beschaffenheit der Sitten [eines der wesentlichen Elemente der »vraisemblance«], muß der Dichter berücksichtigen, daß man niemals ohne zwingende Notwendigkeit eine tapfere Jungfer, eine gelehrte Frau oder einen gescheiten 32 Arlette Farge: La Vie fragile, op. cit, 37 - 54. 33 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions, Livre neuvième, Paris, 1959, 439. (In der deutschen Übersetzung der »Bekenntnisse« wird der Ausdruck »romanesque« eher unglücklich mit »romantisch« wiedergegeben. [Rousseau: Bekenntnisse, Frankfurt am Main, 1971, 613.] Rousseau hat jedoch bereits einige Seiten zuvor einen Besuch Madame d’Houdetots in pittoresken Farben geschildert und die abenteuerlichen Umstände ihres Auftauchens explizit mit einem Roman verglichen. Anm. d. Ü.) 34 Natalie Zemon Davis: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin, 1988. 35 In der französischen Klassik wird der aristotelische Begriff der Mimesis, der im deutschsprachigen Kontext in der Regel übernommen und als »Nachahmung« ausgelegt wird, meist unter dem französischen Terminus »vraisemblance«, also Wahrscheinlichkeit, diskutiert. (Anm. d. Übers.) Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt 697 Knecht auf die Bühne bringen darf. 36 Im 17. und 18. Jahrhundert tritt eine tapfere - oder auch als Mann verkleidete - Frau in einem Theaterstück wie auch in der Romanliteratur nur dann in Erscheinung, wenn dafür eine zwingende Notwendigkeit gegeben und bestimmte Umstände erfüllt sind. Die fiktionalen Werke beziehen sich somit auf Wahrscheinlichkeits-Stereotypen und stellen gleichzeitig Verhaltensnormen auf, die sowohl auf ein Wertesystem als auch auf eine bestimmte Weltsicht verweisen. Anhand der Fälle von Frauen in Männerkleidern läßt sich daher des weiteren der Frage nachgehen, inwiefern der Umweg über die Fiktion es dem- oder derjenigen, der darauf zurückgreift, ermöglicht, seine odere ihre Geschichte als wahrscheinlich darzustellen und dabei gleichzeitig zu verstehen zu geben, daß sein oder ihr Verhalten den geltenden Verhaltensnormen entspricht. Die erste Taktik, die Marie-Joseph Barbier anwendet, um die Wirklichkeit zu verschleiern, ist, wie gesagt, das Leugnen. Im Verhör, das der Kommissar Rochebrune vornimmt, 37 ist Marie-Joseph Barbier nach Kräften bemüht abzustreiten, jemals ein unzüchtiges Leben geführt zu haben. Von den Zeugen wird ihr ungeregeltes Leben als ein einziger Wirbel von Vergnügungen, Treffen, Wohnungswechseln und falschen Namen beschrieben. Doch die Fragen des Kommissars geben Barbier die Möglichkeit, Ordnung hineinzubringen und eine kohärente Geschichte zu entwerfen, die mit der ständigen Instabilität kontrastiert, von der ihr Leben geprägt ist. Der Polizist versucht, das Sexualverhalten der Verdächtigen zu erfassen: Hat sie nicht, nachdem sie ihrer Mutter in Mignot entlaufen ist, in den verschiedenen Städten, in denen sie sich aufgehalten hat, Männerkontakte unterhalten - in Brüssel, Valenciennes, Courtrai, Tournai? Barbier wird nicht müde, auf Verleumdung zu pochen. Sie besteht darauf, daß sie sich während der ganzen Zeit, die sie bei dem Wirt Narbonne verbracht hat, sittsam betragen habe. Dieser sei der Schurke, weil er von ihr die goldene Uhr verlangt habe, die ihr Geliebter, der Ritter de la Barthe ihr geschenkt hatte, obgleich doch die Bezahlung für ihr Zimmer weit unter dem Wert des Schmuckstückes lag. Ganz am Ende des Verhörs besteht sie noch darauf, ihre Rechtschaffenheit unter Beweis zu stellen: die Befragte fügt hinzu, daß sie sich in Paris sittsam betragen hat und wenn sie kriminell erscheint, so ist es mehr dem Anschein nach als in Wirklichkeit; und daß sie dreimal mit dem Fräulein La Voisiere, wohnhaft in der rue des Cordeliers, auf dem Opernball war und bisweilen bei ihr zum Spiel war. Mehr noch, ihr gesamtes Verhalten ist angeblich von der Furcht bestimmt gewesen, ihre Ehre zu verlieren. Den Leuten, die sie nach ihrem Auszug aus dem Hause Narbonne unter ihre Fittiche genommen hatten, ist sie beispielsweise nur deshalb davongelaufen, weil sie Angst hatte daß diese sie an einem unguten Ort unterbringen könnten. Marie-Joseph Barbier bedient sich hier einer Verteidigungsstrategie, die auch bei anderen Frauen anzutreffen ist, die des gleichen Deliktes angeklagt sind. So wird 1760 ein Mädchen namens Marie-Madeleine Bonnefoy nach ihrer Festnahme durch den Inspektor Marais von einem befreundeten Maler mit der Behauptung verteidigt, ihr Verhalten sei niemals skandalös gewesen. Daß sie einen Teil ihrer Frauenkleider verkauft habe, um Männerkleider anzulegen, sei im Gegenteil geschehen, um der Prostitution zu 36 Zitiert nach Gérard Genette: Vraisemblance et motivation, in: Ders.: Figures II, Paris 1969, 7 1 -99. Diesem Aufsatz sind auch die hier verwendeten Hinweise auf den Begriff der »vraisemblance« entnommen. Zur »vraisemblance« in der Literaturtheorie der französischen Klassik, siehe auch René Bray: La Formation de la doctrine classique, Paris 1927 und Jacques Schérer: La Dramaturgie classique en France, Paris 1962. 37 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 11564, f° 79 - 82. Sylvie Steinberg 698 entgehen, und sich von den Frauen zu entfernen, die ihr unentwegt nachstellten, um sie zu prostituieren. 38 Die Verkleidung als Mann wird hier nicht mehr als Anzeichen von Unzucht dargestellt, sondern ganz im Gegenteil als eine Art Schutzschild gegen die Angriffe auf die weibliche Ehrbarkeit. In ihrer Studie über Frauen in Männerkleidern im frühneuzeitlichen Holland haben Rudolf Dekker und Lotte van de Pol die These aufgestellt, daß das Verkleiden für manche der ärmsten Frauen eine Alternative zur Prostitution darstellte. 39 Ergänzend ist hier anzumerken, daß sie in den Archiven der Vereinigten Ostindischen Compagnie, die sie hauptsächlich konsultiert haben, nur auf sehr wenige Frauen gestoßen sind, die der Prostitution nachgingen. Die Archive der Pariser »Lieutenance générale de police« dagegen fördern unter den als Männern verkleideten Frauen eine große Zahl von Prostituierten zutage, so daß man hier nicht von einer tatsächlichen Alternative zur Prostitution sprechen kann. Allerdings ist bei einigen dieser Frauen durchaus ein strategisches Manöver zu beobachten, das sich eben dieser Vorstellung - daß nämlich das Tragen von Männerkleidern das genaue Gegenteil von Prostitution bedeutet - bedient, um sich gegen den Vorwurf der Unzucht zu verteidigen. Daß Männerkleidung unter Umständen der beste Schutz der Keuschheit, die dem Ancien Régime als höchste »Zierde« der Frau galt, sein konnte, wird auch dadurch bestätigt, daß manche Frauen sich als Männer verkleiden, um den Gefahren des Reisens zu begegnen. So nimmt der Inspektor Meusnier 1758 eine junge Frau aus der Provinz fest, die sich als Mann verkleidet hat und ihm erklärt, sie sei gemeinsam mit ihrem Freund von zuhause fortgelaufen und wollte die Beleidigungen vermeiden, denen sie unterwegs ausgesetzt gewesen wäre. 40 Die Risiken einer Reise konnten zweifacher Art sein. Es konnte sich dabei zum einen um Beleidigungen oder schwerwiegende Angriffe, bis hin zur Vergewaltigung, handeln. Ein Beispiel dafür findet sich in dem Tagebuch Ménétras: Ein als Mann verkleidetes Mädchen, das seinen Geliebten begleitet, taucht inmitten einer Bande von Handwerkergesellen auf, die bei ihrer »Mutter« in Montpellier einquartiert sind. Solange die junge Frau als Mann durchgeht, geschieht ihr nichts. Doch Ménétra erkennt bald in ihr eine Ware für Männer, und vergewaltigt sie, seinen eigenen Worten zufolge, halb gewaltsam, halb freiwillig, ohne daß der Schneidergeselle, der sie begleitet, sich in irgendeiner Weise darüber beklagen könnte, da er mit Spott überhäuft wird. 41 Zum anderen kann auch die Polizei selbst zu einer Bedrohung für reisende Frauen werden, wenn man den Aussagen einer als Mann verkleideten Bettlerin Glauben schenkt, die 1754 von einer Brigade de Maréchaussée der Ile de France verhaftet wird, und zu ihrer Verteidigung vorbringt, daß sie gehört habe, daß man vagabundierende Frauen eher verhafte als Männer. 42 Die Lüge stellt die zweite Verschleierungstaktik dar und Marie-Joseph Barbier versteht sich auch darauf. Man muß wissen, daß diese Frau eine wahre Leidenschaft für Geschichten hat. Während ihrer Zeit im Gefängnis For l’Evêque unterhält sie ihre Schicksalsgenossen, indem sie ihnen ihre Abenteuer erzählt. Eine ihrer Manien besteht darin, sich für adelig auszugeben. Als sie nach Paris kommt, nimmt sie den Titel eines 38 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 12063, f° 132. 39 Rudolf Dekker/ Lotte van de Pol: Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte, Berlin 1990. 40 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 12005, f° 106, Dossier Françoise Voyer. 41 Jacques-Louis Ménétra: Journal de ma vie, herausgegeben und kommentiert von Daniel Roche, Paris 1982, 87. 42 Archives nationales: Greffe de la Prévôté d’Ile de France, Y 18 639-9, 16. Dezember 1754, keine Pagination. Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt 699 Ritters an, dann gibt sie sich als Graf von Skehendorf 43 aus, später als Graf von Doisy. Diese Gewohnheit legt sie auch nicht ab, als Inspektor Dadvenel sie im Februar 1746 - immer noch unter dem Namen Baron von Skehendorf - verhaftet. Inspektor Poussot, der sie im Mai 1747 erneut festnimmt, zählt die Namen all der ausländischen Adeligen auf, die sie angenommen oder erfunden hat: Baron von Winsfeld, von Landeau, Christmare, Courtobois und dergleichen mehr. Marie-Joseph Barbier besteht hartnäckig darauf, als adelig angesehen zu werden - sogar noch im Gefängnis, wozu der anonyme Zeuge, der an die Polizei schreibt, um ihre Schandtaten zu denunzieren, vermerkt: sie gibt an, aus vornehmer Familie zu stammen, die sie nicht nennt, und läßt sich Baron nennen. Vermutlich setzte Marie-Joseph Barbier hauptsächlich auf diese Lüge, um der Anklage wegen Unzucht zu entgehen. Eine solche Zuordnung zum Adel erlaubt ihr, auf glaubwürdige Weise an die Tradition kämpfender Frauen anzuknüpfen, welche die Kriegsmemoiren des Ancien Régime durchzieht. Alles in der Geschichte der Angeklagten ist dazu angetan, sie mit einer jener Kriegerinnen gleichzusetzen, die sich seit dem 15. Jahrhundert in den Bürger- oder außenpolitischen Kriegen hervorgetan haben: Jeanne d’Arc, die Heldinnen der Religionskriege, die »Amazonen« der Fronde, Madame de Saint-Balmont, Phylis de la Charce - sie alle zitiert Barbier unausgesprochen herbei, um ihre eigene Verkleidung zu rechtfertigen. Wie diese herausragenden Frauen, deren Loblied die »Sammlungen berühmter Frauen« und die feministischen Pamphlete der »Querelle des femmes« singen, hat unsere Angeklagte das Männergewand aus weit erhabeneren Motiven angelegt, als bloß zum Zwecke der Unzucht. Dies führt mitten hinein in die Mythologie der als Mann verkleideten Frau, mit Hilfe derer die Angeklagte dem Bild zu begegnen sucht, das Zeugen und Polizisten von ihr entwerfen. Damit wären wir bei der dritten Verschleierungstaktik angelangt: der romanhaften Erzählung. Das Verhör zwingt Marie-Joseph Barbier dazu, ausführlicher von sich zu erzählen. Und so paßt sie ihre kurze Lebensgeschichte in eine stereotypisierte Erzählung ein, die ihr Verhalten rechtfertigt und entschuldigt. Marie-Joseph stammt aus Flandern, einem Land, das häufig von Kriegen überzogen wurde. Ihr Vater war Hauptmann, aber er ist gestorben und ließ sie und ihre Mutter, deren Mittel für ihren Unterhalt nicht ausreichten, in Armut zurück. Nachdem sie von zuhause fortgelaufen ist, versucht sie zunächst, sich der flandrischen Armee anzuschließen, wo sie den König sehen will. Sie fährt nach Brüssel, um ihren Onkel um Geld zu bitten, und dient anschließend in der Armee als Gouvernante bei einem Offizier, dem bereits erwähnten Ritter de La Barthe. So, wie sie selbst diese Stellung beschreibt, vermeidet sie es insbesondere, die Liebesbande zwischen ihr und La Barthe kenntlich zu machen. Alles in ihrer Erzählung ist vielmehr darauf angelegt, die Ungewißheit über ihre Stellung im Heer aufrecht zu erhalten. Demnach gab der Ritter de la Barthe, der nicht wollte, daß man ihm die Dienste neidete, die sie ihm zukommen lassen konnte, sie als seinen Neffen aus und nannte sie kleiner Baron. Darüber hinaus versucht sie den Eindruck zu erwecken, daß sie an der Front war: immer, wenn besagter Herr de la Barthe zur regulärenWache oder zuPatrouillen eingeteilt war, ließ er sich von der Befragten begleiten, die ihm zu Pferd folgte, wie es auch ein Kavalier getan hätte. Der Festnahmebericht des Inspektors Poussot erwähnt zudem, daß sie am Flandernfeldzug teilgenommen hat. 44 Er erwähnt auch, daß Marie- Joseph Barbier aus den Händen Madame de Lowenthals, der Gattin eines Kommandan- 43 Die Schreibweise dieses Namens variiert in den Akten. 44 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 10136, f° 120. Sylvie Steinberg 700 ten der französischen Truppen, eine Auszeichnung - den Orden der Glückseligkeit (ordre de la félicité) - entgegengenommen hat. Es ist, als sei die Geschichte der Barbier vollständig mit einer anderen Geschichte unterlegt, die konventionell und mythisch zugleich ist, und die eher aus dem Munde einer als Mann verkleideten Heldin zu erwarten wäre. Vergleicht man die Erzählung Marie-Joseph Barbiers mit der 1695 erschienenen fiktiven Autobiographie des Ritters Baltazard, 45 so stößt man auf eine verblüffende Ähnlichkeit der Geschehnisse: keine Handlungsetappe, die sich nicht auch bei Barbier fände. Wie Barbier ist Madeleine Delfosses, so der ursprüngliche Name Ritter Baltazards, eine Frau aus dem Norden (geboren in Valenciennes) und Soldatentochter. Wie Barbier lernt sie ihren Vater praktisch nicht kennen (und wird von einer Amme mit kriegerischer Gesinnung großgezogen). Wie Barbier schließt sie sich sehr jung - im Alter von zehn bis zwölf Jahren - dem Heer als Page eines Offiziers, des Prinzen von Mamines, an, der beim Durchzug durch Valenciennes auf sie aufmerksam geworden ist, und sie in Unkenntnis ihres wahren Geschlechtes zu sich nimmt. Eine andere, 1703 erschienene Autobiographie, die vom Leben Geneviève Prémoys handelt, die ebenfalls Ritter Baltazard genannt wurde, 46 führt mit der Flucht aus dem Elternhaus ein weiteres typisches Ereignis im Leben einer als Mann verkleideten Heldin ein. In diesem Fall sieht sich die junge Kriegerin genötigt, vor einer zornigen Mutter zu fliehen, nachdem sie ihren kleinen Bruder etwas zu heftig geschlagen hat. Wie diese Vergleiche exemplarisch deutlich machen, entspricht jeder Abschnitt im Leben Marie-Joseph Barbiers dem, was man von einer als Mann verkleideten Heldin erwartet: Romanhaft lautet denn auch das Adjektiv, mit dem ihr anonymer Verleumder die Abenteuer belegt, die sie im Gefängnis For l’Evêque jedem, der sie hören will, erzählt, und mit denen sie die Häftlinge unterhält, die versuchen, die Zeit ihres Unglücks totzuschlagen. All dies bedeutet im übrigen nicht, daß Marie-Joseph Barbier diese Art von Romanen gelesen haben muß, ebensowenig wie die anderen Frauen, die des gleichen Delikts angeklagt sind. Es ist nichtsdestoweniger wahrscheinlich, daß derartige Geschichten, die in der Tat ein literarisches Motiv darstellten, auf dem Umweg über die Volksliteratur, die diese Stereotypen aufgriff, bekannt waren. So erzählt die 1685 erschienene Neuauflage der Histoires tragiques von François de Rosset, einer Anekdotensammlung, die vorgibt, auf verschiedenen zeitgenössischen Vorfällen zu beruhen, mit einigen Zeilen die Geschichte eines Mädchens aus vornehmem Hause, der einzigen Nachfahrin des Geschlechts der Préville, die bei der königlichen Marine anheuert und erst dann als Frau erkannt wird, als sie in der Schlacht stirbt. 47 Die Heldinnenromane können somit als verdeckter Subtext der Erzählung der Angeklagten, die ihre Abenteuer schildert, gelten. In diesem Sinne enthalten die Ellipsen in der Erzählung Marie-Joseph Barbiers alle hier erwähnten Handlungsetappen, und noch einige andere mehr. Das Romanhafte dient, folgt man der Terminologie Gérard Genettes, 48 als »Begründung« (»motivation«), die der Erzählung Wahrscheinlichkeit verleiht. Hier läßt sich in der Tat die Unterscheidung dreier Arten von Erzählungen aufgreifen, die Gérard Genette im Hinblick auf deren Wahrschein- 45 Le Noble, L’Héroïne travestie ou Mémoires de la vie de Mademoiselle Delfosses ou le chevalier Baltazar, Paris, 1695, Nachdruck London (? ) 1742. 46 Histoire de la Dragonne, contenant les actions militaires et les aventures de Geneviève Prémoy, sous le nom de Chevalier Baltazar, Paris, 1703. 47 François Rosset: Les Histoires Tragiques de nostre temps [1619], erweiterte Neuausgabe, Lyon 1685, 573 - 574. 48 Vgl. Gérard Genette: Vraisemblance (wie Anm. 36). Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt 701 lichkeit trifft: Die willkürliche Erzählung (»récit arbitraire«) besitzt keinerlei Wahrscheinlichkeit, wie beispielsweise im Falle folgender Aussage: »Die Marquise verlangte nach ihrem Wagen und begab sich zu Bett«. Die begründete Erzählung (»récit motivé«) enthält eine im Text explizit mitgelieferte Begründung (»Die Marquise verlangte nach ihrem Wagen und begab sich zu Bett, denn sie war sehr eigenwillig«), und die wahrscheinliche Erzählung (»récit vraisemblable«) enthält eine implizite Begründung (»Die Marquise verlangte nach ihrem Wagen und fuhr spazieren«). Die wahrscheinliche Erzählung unterscheidet sich von der willkürlichen Erzählung nicht durch die Form der Aussage, sondern durch eine textfremde Bewertung - sei diese psychologischer oder sonstiger Natur - die Zusammenhänge herstellt, von denen anzunehmen ist, daß sie für jeden Leser logisch erscheinen. Für jeden Leser einer bestimmten Epoche, könnte man wohl hinzufügen. Im Falle der Geschichte Marie-Joseph Barbiers wird die Wahrscheinlichkeit der Erzählung in der Tat durch eine solche textfremde Bewertung hergestellt, die auf dem beschriebenen Roman-Stereotyp beruht. Daß ihre Geschichte keine willkürliche oder phantastische Erzählung darstellt - wie es uns, den Lesern des 20. Jahrhunderts, erscheint -, liegt darin begründet, daß sie aus den Verweisen auf die zeitgenössische Romanliteratur eine gewisse Wahrscheinlichkeit gewinnt. Auf diese Weise schreibt sich die Erzählung überdies in eine bestimmte Normativität ein. Die Komplexität des Verhältnisses von Realität und Fiktion wird noch dadurch gesteigert, daß es sich bei den hier angesprochenen literarischen Werken ohne Zweifel um Romane handelt, die sich als vollkommen wahre Geschichten ausgeben. Die dabei eingesetzten Mittel der Authentifizierung sind im 18. Jahrhundert überaus geläufig und finden sich in einer Vielzahl berühmter Werke, wie beispielsweise den Liaisons dangereuses, die als ein Bündel angeblich echter Briefe daherkommen. Auch bei der Verkleideten Heldin (L’Héroïne travestie) handelt es sich um eine Briefsammlung, die als authentisch ausgegeben wird. Im ersten dieser Briefe erhöht die Schreiberin noch die Glaubwürdigkeit ihrer tatsächlichen Existenz, indem sie die Leser davor warnt, sie mit »einem gewissen Geschöpf aus Köln« zu verwechseln, das ebenfalls den Namen Ritter Baltazar angenommen hat. (Das macht bereits den dritten Ritter Baltazar - eine echte Modeerscheinung an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert.) Die dem König gewidmete Geschichte der Dragonerin (L’Histoire de la Dragonne) enthält ebenfalls eine ganze Reihe Wahrheitsbeteuerungen, darunter folgende überaus geschickte (und in einer Widmung durchaus geläufige): alles, was wir über diese neue Heldin sagen werden, gliche mehr einem Roman als einer wahren Geschichte, wüßte man nicht, daß sie auf Anordnung eines Fürsten geschrieben wurde, der nicht duldet, daß man die Lüge an Stelle der Wahrheit setzt. Paradoxerweise erweckt jedoch dieses literarische Vorgehen, das die Fiktion mit Nachdruck als erwiesene Wahrheit darstellt, weit eher den Verdacht, daß es sich um einen Roman handelt, als die autobiographische Erzählung, die sich nur selten dieser Art von Authentifizierungsstrategie bedient. Wir haben es hier also mit zwei Erzählverfahren zu tun - einem auf der Ebene der Realität, wo Marie-Joseph Barbier unablässig Anleihen bei literarischen Stereotypen macht, und einem auf der Ebene der Fiktion, wo die Romanautoren mit Nachdruck die Fälschung als Wahrheit ausgeben. Diese beiden Verfahren verschmelzen in verwirrender Weise miteinander, denn sie bilden ein Wahrscheinlichkeits-Paradigma, das sowohl die Realität als auch die Fiktion prägt. Besonders bemerkenswert ist es, daß offenbar auch der Polizist im Verhör die Kohärenz der Erzählung anhand des gleichen Paradigmas zu überprüfen versucht. So bemüht sich der Kommissar Rochebrune ganz genau herauszubekommen, wie die Flucht Sylvie Steinberg 702 Barbiers aus dem Elternhaus ablief: Ist sie in Männerkleidern geflüchtet? Hat sie ihre Mutter um Einwilligung gebeten? Hier ist anzumerken, daß die Flucht in Männerkleidern im 18. Jahrhundert nicht nur ein literarischer Topos ist, sondern daß es sich dabei auch um ein religiöses Motiv handelt, wie Marie Delcourt dargelegt hat. 49 Sechzehn hagiographische Legenden verklären Heilige, die sich als Männer verkleidet haben, um ein beispielhaftes Leben zu führen, darunter Pelagia, Margarete, Marina, Eugenie und die Ägyptische Maria, deren Geschichten aus der Legenda aurea bekannt sind. Die Existenz dieser Legenden stellt im übrigen die Rechtfertigung dafür dar, daß das kanonische Recht Ausnahmen der im Deuteronomium 22: 5 vorgenommenen Verurteilung zuläßt und die Formulierung Thomas von Aquins aufgreift, der zufolge Männer und Frauen sich bisweilen verkleiden können, ohne zu sündigen, wenn die Notwendigkeit sie dazu zwingt, entweder um ihren Feinden zu entkommen, oder in Ermangelung schicklicher Kleider, oder aus ähnlichen Gründen. 50 Unter den Heiligen in Männerkleidern sind einige, die gegen ihren Vater aufbegehren: Eugenie, eine alexandrinische Patrizierin, die ihre Eltern verheiraten wollen, flieht als Mann verkleidet zusammen mit ihren beiden Eunuchen und findet Zuflucht in einem Männerkloster. Zu den bemerkenswerten Vorkommnissen im Leben solcher Heiligen gehört es auch, daß man sie gelegentlich der Vergewaltigung oder der Unzucht bezichtigt: Margarete, die als Mann verkleidet Prior eines Frauenklosters geworden ist, wird von der Pförtnerin beschuldigt, der Vater des Kindes zu sein, das diese erwartet. Sie weigert sich, ihre Identität zu enthüllen, flüchtet in eine Höhle und gibt ihr wahres Geschlecht erst am Tag ihres Todes preis. Das Aufbegehren gegen die Autorität der Eltern und selbst das Übertreten sexueller Grenzen sind also Bestandteil der Figur der Heiligen in Männerkleidern. Dies scheint der Vorstellungshintergrund zu sein, vor dem der Kommissar Rochebrune seine Fragen stellt. Barbiers Ungehorsam gegenüber ihrer Mutter könnte somit ihre Unschuld - gerade auch im Sinne ihrer Jungfräulichkeit - glaubhaft machen. Umgekehrt ist die Tatsache, daß sie in Frauenkleidern von zuhause fortgelaufen ist, eher dazu angetan, die gesamte Konstruktion ihrer Geschichte in Frage zu stellen. Dies wird umso ersichtlicher, vergleicht man die Version der Flucht aus dem Elternhaus, die Barbier dem Kommissar Rochebrune gegenüber entwirft, mit derjenigen, die sie dem Wirt Narbonne erzählt hat. Als sie von diesem entdeckt wird, erklärt sie ihm, ihre Mutter sei von allererstem Rang und der Ritter de La Barthe habe sie von zuhause entführt. Auch diese Version der Flucht aus dem Elternhaus besitzt eine gewisse Glaubwürdigkeit, denkt man an die zahlreichen Romane und Theaterstücke, die Entführungen dieser Art schildern. Zugleich aber ist diese zweite Version erheblich weniger effizient, wenn es darum geht, das Bild eines jungen Mädchens zu zeichnen, dessen erste Sorge der Verteidigung seiner Jungfräulichkeit mit allen Mitteln gilt. Hier läßt sich ermessen, wie sehr derartige Wahrscheinlichkeitsvorstellungen im Zentrum nicht nur der Selbstdarstellung der Angeklagten, sondern auch des polizeilichen Verhörs stehen. Der Kommissar beurteilt offenbar die Wahrheit der Erzählung nicht so sehr anhand einer Überprüfung der Indizien, als vielmehr im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit einer paradigmatischen Erzählung. Gewiß handelt es sich hier um eine Sittenangelegenheit, bei der materielle Beweise eine 49 Marie Delcourt: Le complexe de Diane dans l’Hagiographie chrétienne, in: Revue d’Histoire des Religions 153 (1958), 1 - 33. 50 Das Argument spielt im Rehabilitierungsprozeß Jeanne d’Arcs eine Rolle. Siehe dazu Jules Quicherat: Procès de Condamnation et de réhabilitation de Jeanne d’Arc dite la Pucelle, Bd. II, 439. Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt 703 untergeordnete Rolle spielen. Doch scheint der Polizist nicht einmal die Absicht zu haben, die Tatbestände und Umtriebe zu überprüfen, sondern sich stattdessen auf eine narrative Wahrscheinlichkeit stützen zu wollen. Seine Fragen dienen dazu, ganz bestimmte Szenarien zu bestätigen oder zu verwerfen, mit denen die Schuld oder Unschuld der Angeklagten anhand vorgegebener Muster hergestellt wird. Die Wirkungsmacht des Paradigmas von dem Mädchen, das sich als Mann verkleidet, um seine Jungfräulichkeit zu bewahren, läßt sich am Gegenbeispiel einer vorbildlichen Frau in Männerkleidern nachprüfen, die ebenfalls in den Registern des Inspektors Poussot auftaucht. 51 Françoise Fidele, so ihr Name, wird 1748 verhaftet, weil sie in der Pariser Miliz diente. Sie erfreut sich indes der wohlwollenden Fürsprache des Inspektors der Pariser Markthallen, der sich dafür verwendet, daß sie nicht zwischen die übrigen Häftlinge von Sankt Martin gesteckt wird. Er vermerkt: dieses Mädchen scheint mir, aufgrund der Fragen, die ich ihr gestellt habe, über Bildung zu verfügen. Sie spricht und schreibt drei Sprachen, Französisch, Italienisch und Spanisch, und sie gibt an, die Tochter des seligen Herrn von Macarty, einem Iren und ehemaligen Hauptmann im Regiment von Dylon zu sein, daß ihre Mutter Engländerin war und daß sie beide im Alter von vier Jahren verloren hat und von einem spanischen Arzt aufgezogen wurde, daß zu ihrem Unglück der Mann und die Frau gestorben sind, daß sie Verwandte hat, die im Dienste Frankreichs und Spaniens stehen. Sie habe aber niemals Nachricht von ihnen erhalten und daß sie sehr glücklich sei, wenn sie in ein Kloster eintreten und Nonne werden könnte, und dies umso mehr als sie angibt, sittsam zu sein und niemals irgend etwas getan zu haben, was ihrer Ehre Schaden zufügen könnte, daß es die Not sei, die sie dazu getrieben habe, besagte Entscheidung zu treffen und daß sie hoffte, in Flandern Offiziere zu finden, die ihr jemanden von ihrer Familie hätten nennen können (...) sie hat auch gesagt, daß sie nicht die erste in ihrer Familie ist, die sich als Mann verkleidet hat, um in den Militärdienst einzutreten. Françoise Fidele scheint im Grunde all das zu sein, was Marie-Joseph Barbier versucht glauben zu machen, daß sie sei: adelig und von ausländischer Herkunft, Kriegerin aus Berufung und Notwendigkeit, keusch von Natur aus. Obgleich einige von ihnen abstreiten, die Gesetze zu kennen, scheinen die Frauen, die wegen des Tragens von Männerkleidern verhaftet werden, doch sehr genau zu wissen, wo die Grenze zwischen Verbotenem und Toleriertem verläuft. Wenn auch nicht alle so erfindungsreich sind wie Marie-Joseph Barbier, so spielen doch etliche von ihnen mit dem Stereotyp der kämpferischen Frau, die sich als Mann verkleidet, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren. Selbst bei den »leichten Mädchen« ist das bevorzugte Männergewand offenbar das des Offiziers, was vermutlich nicht allein der Notwendigkeit, sich unerkannt in Männerkreisen zu bewegen, entspringt. Die Verwendung dieses Stereotyps durch die festgenommenen Frauen ermöglicht eine Annäherung an die von ihnen verlangten Verhaltensnormen, die in den Gesetzen nur unvollkommen und in abstrakter Weise zum Ausdruck kommen. Die Verbreitung dieses Stereotyps bestätigt einmal mehr die Bedeutung, die der Vorstellung von weiblicher Ehre im Ancien Régime zukommt. Unter diesem Blickwinkel läßt sich die These aufstellen, daß in dieser Gesellschaft das Tragen von Männerkleidern ein besonders markantes Zeichen der Verweigerung einer Frau gegenüber dem ihr zugedachten Frauenschicksal darstellt. Ob das Männergewand benutzt wird, um einer Verheiratung zu entgehen, das Leben eines Mannes zu führen, oder der Prostitution nachzugehen - immer ist es das Zeichen einer 51 Archives de la Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 10136, f° 143 - 144 und Ms 10140, f° 138. Sylvie Steinberg 704 Abweichung von der weiblichen Bestimmung in ihren aufeinanderfolgenden »Ständen« 52 , der zu verheiratenden Jungfer, der Ehefrau und treusorgenden Mutter sowie bisweilen der keuschen Witwe. Ein Abweichen von dieser Bestimmung wird sanktioniert, wenn die Frau die erkennbare Absicht an den Tag legt, sich der Norm zu entziehen - eine Absicht, die systematisch als Unzucht eingestuft wird. Im Gegenzug ist die Sache dann akzeptabel, wenn die Ehre der Frau bedroht ist, sei es, daß diese der männlichen Gewalt und dem Machtmißbrauch eines Vaters oder eines Verehrers ausgesetzt ist, sei es daß sie sich in einer wirtschaftlichen Lage befindet, die sie in die Prostitution zu treiben droht. Diese zweite Möglichkeit wird durch ausgesprochen detaillierte Szenarien begründet, die Romane, Theaterstücke und auch biblische Geschichten in stereotypisierter Form verbreiten. Sie tragen auf diese Weise dazu bei, Verhaltensnormen und gelegentlich auch Weiblichkeitsideale zu errichten, wie sie in den frauenfreundlichen Traktaten der Zeit zum Ausdruck kommen. Am bemerkenswertesten ist wohl, daß diese literarischen Normen nicht nur Verhaltensmodelle für die Einzelnen darstellen, sondern auch als Bezugsparadigma dafür dienen, aus polizeilicher Sicht zu beurteilen, was wahrscheinlich ist und was nicht. Es drängt sich der Eindruck auf, daß die Literaturtheoretiker des 17. Jahrhunderts nicht die einzigen waren, die meinten, daß nicht die Fiktion, sondern die Wirklichkeit phantastisch und daß die Realität chaotisch und das Imaginäre wahrscheinlich ist. In dieser Hinsicht weist der Vergleich realer Geschichten und wahrscheinlicher Romane eine irritierende Übereinstimmung auf und zeigt, daß unter den Kategorien Fiktionalität, Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit in der Frühen Neuzeit offenbar nicht das Gleiche verstanden wurde, wie heute. Die romanhaften »Begründungen« der Erzählung Marie- Joseph Barbiers zeugen von einer Weltsicht, in der die Kategorien des Romanhaften die Wahrheit wiedergeben können. Heute dagegen sind wohl in den Gerichtssälen häufiger soziologische und psychoanalytische Begründungen anzutreffen. Doch ist nicht gerade dies ein Anzeichen dafür, daß eine naturalistische Weltsicht jene frühere Art, die Wirklichkeit zu erzählen, abgelöst hat, daß die »aufrichtige Lüge« der Introspektion oder der soziologischen Wahrscheinlichkeitsberechnung die romanhafte Wahrscheinlichkeit verdrängt hat? (Übersetzung aus dem Französischen von Dorothea Nolde) 52 Den Ausdruck »Stände der Frau« (états de femme) benutzt Nathalie Heinich in ihrer Studie über die Szenarien, welche die Romane des 19. und 20. Jahrhunderts ihren Leserinnen anbieten. Siehe dazu Nathalie Heinich: Etats de Femme. L’identité féminine dans la fiction occidentale, Paris 1996. VIII. »Social Crimes« - Imagination und Realität 707 Winfried Freitag Das Netzwerk der Wilderei Wildbretschützen, ihre Helfer und Abnehmer in den Landgerichten um München im späten 17. Jahrhundert 1 1. Forschungsstand und Quellen Die Wilderei ist ein beliebtes Thema. Sie hilft nicht nur, die Regale der Bavaricaliteratur zu füllen, sondern hat immer wieder auch die Aufmerksamkeit von Historikern und Volkskundlern gefunden, die sich für Mentalität, Rechtsempfinden, Normen, Brauchtum und Alltagsleben der ländlichen Bevölkerung interessieren oder nach Formen sozialer Kriminalität und bäuerlichen Widerstands suchen. Wie neuere Arbeiten 2 zeigen, vermag die Wilderei bei der Erforschung der genannten Aspekte eine Schlüsselrolle zu übernehmen. Um so verwunderlicher erscheint es daher, daß für das vormoderne Bayern keine eingehende Untersuchung zu diesem Thema vorliegt. 3 Der Grund dafür ist einfach. Wilderei oder Wilddiebstahl zählte zu den Malefizdelikten, und hierzu gibt es - so scheint es zumindest - keine geeigneten Quellen. Denn die aus einigen Pfleggerichten erhaltenen Verhörsprotokolle erstrecken sich nur auf Fälle der niederen Gerichtsbarkeit. 4 Was jedoch die schweren Vergehen, die sogenannten 1 Für Anregung und Kritik danke ich Rainer Beck, Stefan Breit, Otto Feldbauer, Norbert Schindler und Gerd Schwerhoff. Die Aufbereitung und Auswertung des umfangreichen Datenmaterials hätte ich ohne die fachliche Hilfe von Yvonne Anders kaum bewältigt. Auch ihr sei dafür und für das Aufspüren von Schwachstellen im Text gedankt. 2 Vgl. Hans Wilhelm Eckardt: Herrschaftliche Jagd, bäuerliche Not und bürgerliche Kritik. Zur Geschichte der fürstlichen und adeligen Jagdprivilegien vornehmlich im südwestdeutschen Raum, Göttingen 1976. Vgl. hier insbesondere den Abschnitt ›Wilderei als Widerstand‹, 126 - 141; E. P. Thompson: Whigs and Hunters. The Origin of the Black Act, London 1990 (erstmals 1975); Douglas Hay: Poaching and the Game Laws on Cannock Chase, in: Albion’s Fatal Tree. Crime and Society in Eighteenth-Century England, London 1975, 189 - 253; Norbert Schindler: The Mill at Bluntau: A Family of Poachers in the late Eighteenth-Century Salzburg Countryside, in: German History 17 (1999), 57 - 89; ders.: Die Spirale der Gewalt. Wildereikonflikte am Ende der erzbischöflichen Herrschaft (1785 - 1800), (unveröffentlichtes Manuskript); Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayern 1848 - 1910, Reinbek bei Hamburg 1989; Roland Girtler: Wilderer. Soziale Rebellen im Konflikt mit den Jagdherren, Linz 1988. 3 Die einzigen mir bekannten Arbeiten hierzu sind entweder sehr kurz oder gehen nur neben anderen Verbrechen auch auf die Wilderei ein: Reinhard Heydenreuter: Zur Bestrafung der Wilderei im Herzogtum und Kurfürstentum Bayern im 16. und 17. Jahrhundert, in: Egon Gundermann u. Roland Beck (Hg.): Forum Forstgeschichte. Ergebnisse des Arbeitskreises Forstgeschichte in Bayern 1996, München 1996 (=Forstliche Forschungsberichte 161), 54 - 65; Wolfgang Behringer: Mörder, Diebe, Ehebrecher. Verbrechen und Strafen in Kurbayern vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Studien zur historischen Kulturforschung III, Frankfurt a. M. 1990, 85 - 132, 287 - 293. 4 Vgl. hierzu Reinhard Heydenreuter: Gerichts- und Amtsprotokolle in Altbayern. Zur Entwicklung des gerichts- und grundherrlichen Amtsbuchwesens, in: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern, 25/ 26 (1979/ 80), 11 - 47. Siehe auch Stefan Breit: ›Leichtfertigkeit‹ und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit, München 1991, 12. Winfried Freitag 708 Malefizfälle, 5 betrifft, steht die historische Kriminalitätsforschung vor dem schier unüberwindlichen Hindernis, daß die Akten fast aller Prozesse vor 1800 vernichtet wurden. 6 Angesichts dieser Situation lohnt sich die Mühe zu überprüfen, inwieweit solche Delikte in anderen Quellen zur Sprache kommen. Eine Möglichkeit, die sich hier anbietet, sind die Protokolle des Hofrates in München. In der Gerichts- und Verwaltungsorganisation Bayerns nahm der Hofrat 7 eine Doppelstellung ein. Er war sowohl Mittelals auch Zentralbehörde. Als sogenannte Regierung des Rentamtes München ist er auf derselben Ebene anzusiedeln wie die anderen Mittelbehörden, nämlich die Regierungen in Burghausen, Landshut und Straubing. Wie zu deren, so zählte auch zu seinen Aufgaben die Kontrolle der Beamten in den einzelnen Pfleggerichten, die Überwachung von Handel und Gewerbe und die Bestätigung der in den Gemeinden gewählten Räte und Bürgermeister zu seinen Aufgaben. Kam es in den lokalen Selbstverwaltungsorganen zu Unstimmigkeiten, so hatte der Hofrat einzugreifen. Auch als Hofgericht des Rentamtes Münchens bewegte er sich auf der mittleren Verwaltungsebene und war den Hofgerichten in Landshut, Straubing und Burghausen gleichgestellt. Wie diese in ihrem, so entschied er in seinem Bereich über Klagen gegen privilegierte Untertanen (Adel und höhere Beamte), über Berufungen aus den Untergerichten und über Malefizsachen. Obwohl der Hofrat um das Jahr 1582 seine Stellung als allen anderen übergeordnete Behörde an den neugebildeten Geheimen Rat hatte abtreten müssen, blieb er bis ins späte 18. Jahrhundert oberstes Hofgericht, d.h. Appellationsinstanz für die Hofgerichte der anderen Rentämter, und behauptete auch eine Schlüsselstellung in der landesherrlichen Polizeigesetzgebung: Die unzähligen Mandate, mit denen Maximilian I. und seine Nachfolger das Leben der Untertanen bis ins Detail zu reglementieren beanspruchten, wurden in der Regel vom Hofrat redigiert und in Umlauf gebracht. Für Malefizsachen im Rentamt München war also der Hofrat in erster Instanz zuständig. Kam es in einem der 35 Landgerichte des Rentamts zu einem solchen Vergehen oder wurde ein Untertan eines solchen verdächtigt, so mußte der Pfleger beziehungsweise Pflegsverwalter darüber nach München berichten. Dort fiel die Entscheidung über Verhaftungen, Verhöre, Folterungen, Hausdurchsuchungen und anderes mehr. Der Hofrat kontrollierte von seiner ersten Benachrichtigung bis zum Endurteil alle wesentlichen Stationen eines Malefizverfahrens. Den lokalen Gerichtsbeamten blieb nur 5 Vgl. hierzu Behringer: Mörder (wie Anm. 3), 88. 6 Dies ist kein festes Stichjahr, sondern eine ungefähre Zeitangabe, die je nach Gericht und Zeitpunkt der Aktenabgabe an das zuständige Archiv variiert. Grund der Vernichtung der älteren Strafrechtssachen ist, daß von ihnen im Gegensatz zu Zivilklagen keine juristischen Folgewirkungen, also keine zukünftigen Rechtsansprüche mehr zu erwarten waren. Ganz vereinzelt gibt es noch Kriminalakten älteren Datums; nämlich dann, wenn ein Verurteilter, seine Angehörigen oder Nachkommen Beschwerde oder Realinjurienklage gegen die Höhe der Strafe einlegten und die Hofkammer den Akt deshalb vom Gericht zur Überprüfung einforderte. Solche Akten sind in den Beständen der Hofkammer verblieben. Da die Repertorien sie nicht ausweisen, sind sie einer systematischen Suche nicht zugänglich. - So die mündliche Auskunft, die ich im Januar 1993 von Archivdirektor Dr. Wild, zuständig für die alte Abteilung des Bay. Hauptstaatsarchivs, erhalten habe. 7 Zum Hofrat vgl. Eduard Rosenthal: Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Bayerns, 2 Bde, Würzburg 1889/ 1906; Maximilian Lanzinner: Fürst, Räte und Landstände. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern 1511 - 1598, Göttingen 1980; Reinhard Heydenreuter: Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern 1598 - 1651, München 1981; Theresia Münch: Der Hofrat unter Kurfürst Max Emanuel von Bayern 1679 - 1726, München 1979. Das Netzwerk der Wilderei 709 die Rolle von Ausführungsorganen. Sie hatten nach jedem Schritt einen Bericht einzuschicken und weitere Befehle abzuwarten. 8 Da diese Berichte zusammen mit den Prozeßakten vernichtet wurden, sind für uns die Hofratsprotokolle von ganz besonderem Interesse. Bei ihnen handelt es sich allerdings nicht, wie man vom heutigen Wortgebrauch her erwarten würde, um Mitschriften der Beratungen. Es sind vielmehr bis auf wenige Ausnahmen 9 Bescheidprotokolle, also Auszüge und manchmal auch vollständige Abschriften der Bescheide, die das Gremium an die beteiligten Parteien und Behörden schickte. Bevor die fertigen Schreiben die Hofratskanzlei verließen, hatte ein Protokollant sie ins Bescheidbuch einzutragen. Mit den so entstehenden, in der Regel quartalsweise gebundenen Protokollen führte der Hofrat Buch über die eigenen Entscheidungen und verschaffte sich die Möglichkeit, diese durch Abschrift jederzeit in rechtlich verbindlicher Form zu erneuern und zu bestätigen. Die Einträge liefern - dies gilt nicht nur für die Wilderei, sondern für sämtliche Malefizsachen - meist nur wenige punktuelle Informationen. Was man fast immer erfährt sind das Verbrechen, der Name des Beschuldigten und die verhängte Strafe. Ebenso, ob und in welchem Ausmaß gefoltert wurde. Schon die Angaben von Beruf und Wohnort fehlen häufig. Näheres zur Tat, den Umständen der Verhaftung, den Verhören und Nachforschungen und zu eventuellen Mittätern wird nur hin und wieder bruchstückhaft erwähnt. Der Einzelfall ist also nur knapp dokumentiert, dafür dürften aber die Malefizfälle fast vollständig verzeichnet sein, 10 so daß sich ein quantifizierendes Vorgehen geradezu anbietet. In seinem Aufsatz über »Verbrechen und Strafen in Kurbayern« 11 hat sich Wolfgang Behringer auf dieses Angebot eingelassen und dabei dem Wilddiebstahl einige Aufmerksamkeit gewidmet. Er stellt fest: drastischer Anstieg der Zahl der Fälle um die Mitte, ihr höchster Anteil an der Gesamtkriminalität im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, anschließend zurückgehende Bedeutung des Deliktes, ab etwa 1740 Verschwinden der Malefizfälle aus den Hofratsprotokollen, so daß die Entwicklung der Wilderei anhand dieser Quelle nicht weiter verfolgt werden kann. Gründe für den Anstieg seien die starke Verbreitung von Schußwaffen nach dem Dreißigjährigen Krieg sowie die verstärkte Kriminalisierung des Deliktes. Um die Motive der Wilddiebe in Kurbayern herauszuarbeiten, geht Behringer nicht von seiner Quelle, den Hofratsprotokollen, aus. Er überspringt vielmehr einbis zweihundert Jahre und resümiert Ergebnisse, die Regina Schulte für Oberbayern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewonnen hat: »Wilderei (war) nicht irgendein peripheres Delikt, sondern eines, das in der Volkskultur der bayerischen Unterschichten 8 Vgl. Heydenreuther: Hofrat (wie Anm. 7), 227 - 230; Münch: Hofrat (wie Anm. 7), 56f. Siehe auch Rosenthal: Gerichtswesen (wie Anm. 7), 7ff.; W. Leiser: Strafgerichtsbarkeit in Süddeutschland, Formen und Entwicklungen, Köln/ Wien, 1971, 93ff.; Renate Blickle: Rebellion oder natürliche Defension. Der Aufstand der Bauern in Bayern 1633/ 34 im Horizont von gemeinem Recht und christlichem Naturrecht, 61ff., in: van Dülmen: Verbrechen (wie Anm. 3), 56 - 84, 281 - 286. 9 Vgl. Behringer: Mörder (wie Anm. 3), 89. 10 Zusätzlich zu den Hofratsprotokollen könnten noch die Gerichtsrechnungen herangezogen werden. Sie bieten, soweit sie erhalten sind, ähnlich bruchstückhafte, nur selten ausführlicher werdende Informationen, sind mit denen der Hofratsprotokolle aber nicht völlig deckungsgleich. Mit ihrer Hilfe ließe sich also das aus den Hofratsprotokollen gewonnene Material anreichern und vielleicht noch um den einen oder anderen Wilderer ergänzen. 11 So der Untertitel von Behringer: Mörder (wie Anm. 3). Zum folgenden vgl. 102ff. Winfried Freitag 710 eine große Rolle spielte: Es war das Männerdelikt par exellence. Über den ökonomischen Anreiz hinaus waren damit elementare Männlichkeitsrituale verbunden, die von der notwendigen Mutprobe zur Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen bis hin zu erotischen Phantasien reichten, die das zu jagende Wild mit der zu gewinnenden Geliebten gleichsetzten.« 12 Behringer schließt daran gleich die Sichtweise der strafenden absolutistischen Obrigkeit an. Diese übernimmt er aus E. P. Thompsons Buch »Whigs and Hunters«, in dem es um die verschärfte Verfolgung der Wilderei im England des frühen 18. Jahrhunderts geht: »Die Jagd auf Hochwild war der Aristokratie vorbehalten, die Verletzung dieses Jagdmonopols stellte gleichzeitig eine Verletzung der sozialen Schranken der Gesellschaft dar. Ein von Bauern erlegter Hirsch konnte wohl die Gemüter nur deshalb so erregen, weil dieses Tier als König des Waldes mit dem absolutistischen Herrscher assoziiert wurde. Wie von E. P. Thompson erkannt, war Wilderei einer jener Sektoren, wo die Ansichten über den Verbrechenscharakter des Tatbestandes zwischen Bevölkerung und Aristokratie weit auseinandergingen. Die Gesetzgebung der absolutistischen Staaten wies hier echten ›Klassencharakter‹ auf (...)« 13 Behringer sucht nicht nach den Beweggründen der Wilderer, ihrer Mit- und Gegenspieler in seinem Untersuchungsraum. Er unterschiebt ihnen vielmehr Weit-Hergeholtes, das entweder einer viel späteren Zeit oder einer anders gearteten gesellschaftlichen und politischen Ordnung entstammt. Was eigentlich zu leisten wäre, nämlich ein Sich- Einlassen auf die Akteure, mit denen er es in Kurbayern zu tun hat, unterbleibt. Ein solches wäre auch, das sei zugegeben, mit einem Aufwand verbunden, den er bei der Vielzahl von Delikten, um die es in seiner Untersuchung geht, gar nicht leisten kann. Zu dem geforderten Aufwand gehört neben dem Heranziehen weiterer Quellen eine bessere Nutzung der Möglichkeiten, die die Hofratsprotokolle selbst bieten. Dazu ist ihrer Auswertung, ein Arbeitsgang vorzuschalten, der die darin enthaltenen Informationen verdichtet. Im Prinzip ist dies einfach. Man muß ›nur‹, was zusammengehört, auch zusammen betrachten, also bei der Auswertung die Bescheide, in denen es um ein- und dieselbe Person geht, zusammenfassen; ebenso die, die im Verlauf ein- und desselben Prozesses ergingen. In einem dritten Schritt schließlich sind eventuell bestehende Verbindungen zwischen verschiedenen Personen und Prozessen aufzuspüren. Was so einfach klingt, stößt in der Praxis auf erhebliche Schwierigkeiten. Ganz erhebliche Mühe kann bereits die Identifizierung einer Person bereiten. Namen wie Huber, Lechner und Müller sind häufig. Klarheit ist bei ihnen nur zu gewinnen, wenn nähere Bestimmungen wie Wohnort oder Beruf hinzutreten. Auch variiert die Schreibweise von Personen- und Ortsnamen hin und wieder so stark, daß sie allein keine eindeutige Zuordnung erlauben. Schließlich werden an Stelle des »richtigen Namens« 14 häufig noch der Hofname, der Spitzname oder Umschreibungen wie der Brot- und Brandweinfeilhaber zu Lohen 15 verwendet. Will man alle Bescheide zu ein- und demselben Wilderer ermitteln, dann sind all jene Stellen von entscheidender Bedeutung, an denen alternative Namen nebeneinander stehen, also etwa Georg Sternegger, Wirt zu Feldkirchen, oder Michael Schaffner, insgemein Wildbretmichl am Stocka. 16 Mit ihrer Hilfe lassen sich Einträge zusammenführen, die man sonst verschiedenen Personen zuordnen würde. Schwierigkeiten bereitet auch das Ermitteln von Wiederholungstätern. Denn auf diese wird, wenn überhaupt, meist nur in recht vager Form hingewie- 12 Ebd. 105. Resümiert wird Schulte: Dorf im Verhör (wie Anm. 2), 179 - 275. 13 Behringer: Mörder (wie Anm. 3), 105. Das Netzwerk der Wilderei 711 sen. 17 Um sie nicht durch die Maschen schlüpfen zu lassen, sind sämtliche Namen nicht nur für die Dauer der einzelnen Prozesse, sondern über den gesamten Untersuchungszeitraum zu erfassen und abzugleichen. 18 Zu beachten sind schließlich auch Rollenwechsel, wie sie etwa vom Zeugen zum Angeklagten stattgefunden haben. Um in solchen Fällen keine Informationen zu verlieren, müssen in den Protokolleinträgen sämtliche Namen, auch die von Randfiguren, erfaßt werden. Schaltet man den beschriebenen Arbeitsgang der eigentlichen Auswertung vor, dann lassen sich Irrtümer vermeiden, die neben der qualitativen auch die quantitative Auswertung stark belasten würden. Denn wer mal unter seinem Hofnamen, mal seinem Spitznamen und mal unter seinem richtigen Namen auftritt, würde ansonsten mehrfach gezählt und, falls es sich um einen Wiederholungstäter handelt, nicht als solcher erkannt werden. Zudem blieben eine Reihe von Querverbindungen zwischen verschiedenen Wilderern und Prozessen unentdeckt. Die unmittelbaren Kontrahenten der Wildbretschützen waren die Jagd- und Forstbedienten des Landesherrn auf lokaler Ebene. Die Berufs- oder Amtsbezeichnungen, denen man hier begegnet, lauten Überreiter, 19 Forstknecht, Förster, manchmal auch »venator electoralis« (kurfürstlicher Jäger). Eine klare Unterscheidung zwischen diesen 14 In den ländlichen Regionen Oberbayerns war zwar der Übergang zur Doppelnamigkeit, also zur Verwendung von Vor- und Familienname, in Steuerbeschreibungen und Herdstättenverzeichnissen schon zwischen der Mitte des 15. und des 16. Jahrhunderts erfolgt. Zudem war die Beibehaltung des einmal gewählten Familiennamens in Bayern 1677 gesetzlich vorgeschrieben worden (vgl. Norbert Schindler: Die Welt der Spitznamen. Zur Logik der populären Nomenklatur, in: ders.: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M., 78 - 120, 329 - 343, hier: 82). Dennoch gewann in den Bescheiden der Sprachgebrauch der Bevölkerung, in dem Hof- und Spitznamen noch lange bevorzugt wurden, immer wieder die Oberhand. Dieser behördliche Verstoß gegen die eigenen Normen erklärt sich wohl daraus, daß man auf die Auskünfte der Delinquenten, Zeugen und Lokalbeamten angewiesen war und kaum Möglichkeiten hatte, diese anhand eigener Unterlagen zu überprüfen. Geradezu augenfällig wird dies in folgendem Beispiel: Als der im Dienst der Frau von Schrenck zu Egmating stehende Richter wegen Verwicklung in einen Wildereifall vom Hofrat vernommen werden soll, sieht sich der Schreiber gezwungen, in der Vorladung ein wenig Raum zu lassen, damit der Name später noch nachgetragen werden kann (vgl. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Kurbayern Hofrat 487 fol. 94. Künftig abgekürzt: BayHStA, KHR). - Der Versuch, sich durch Angabe eines falschen Namens der Bestrafung zu entziehen, scheint allerdings selten gewesen zu sein. Ich habe dafür nur einen Beleg gefunden; und zwar im Gericht Haag, also außerhalb meines eigentlichen Untersuchungsgebietes (vgl. BayHStA, KHR 479 fol. 37). 15 BayHStA, KHR 487 fol. 48. Gemeint ist das etwas nördlich von Dietramszell gelegene Lochen. - S. a. den ›Pfannenflicker von Maurn‹ (BayHStA, KHR 463 fol. 38) oder den ›einaugeten Weißgerber unter der Hochbruggen‹ (BayHStA, KHR 503 fol. 62). 16 BayHStA, KHR 463 fol. 48 u. 466 fol. 45. Ein weiteres Beispiel ist Emeran Huber, Kreitterer von Visslen (BayHStA, KHR 477 fol. 202f.). 17 So wird etwa der Pflegsverwalter von Starnberg angehalten, den Hans Nagel zu verhören, ob er Zeit seiner letzten Gefangenschaft nit wiederum, wieviel und was für Wildbret geschossen. (BayHStA, KHR 453 fol. 292). 18 Da beim Zusammenführen von Bescheiden nicht nur sämtliche Namensalternativen, sondern auch deren wechselnde Schreibweisen zu berücksichtigen sind, ist der Einsatz eines Computers unverzichtbar. 19 Vgl. Jakob Grimm/ Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1936ff., Bd. 11/ II, 470: Überreiter (...), der über land reitet, als amtstitel, besonders im süden allgemein vom 15. (...) bis 19. jahrhundert, seit der mitte des 19. jahrhunderts auszer gebrauch (...) in Schwaben und Bayern für forstschutz wächter (...). - Johann Andreas Schmeller: Bayerisches Wörterbuch, München 1983 (=4. Neudruck der 2. Ausgabe München 1872 - 77), Bd. II, 177: Einen Straßen-, Flur-, besonders aber einen Forst- oder Jagd-Bezirk überreiten, denselben besichtigen, unter seiner Aufsicht haben. Der Ueberreiter, der unmittelbare Aufseher über solch einen Bezirk. - Neben den Jagd- oder Jaidsüberreitern gab es in Bayern auch Commercii- und Mautüberreiter. Winfried Freitag 712 Ämtern ist kaum möglich. Die Quellen belegen oft ein und dieselbe Person mal mit der einen, mal mit der anderen Bezeichnung. Lediglich die Jägerjungen lassen sich eindeutig zuordnen. Bei ihnen handelt es sich um Gehilfen, die die Überreiter, Forstknechte oder Förster in ihr Haus aufnahmen und für deren Unterhalt sie aus eigener Tasche aufkamen. Bis ins späte 18. Jahrhundert blieb die Betreuung der Forste Anhängsel der Jagdverwaltung. Die hier tätigen Personen waren dem Obristjägermeister 20 unterstellt und wurden häufig unter der Benennung Jaidsbediente (Jaid oder Gejaid=Jagd) zusammengefaßt. Von den näheren Umständen ihrer Arbeit und ihres Alltags erfahren wir aus den Akten, die sich zu einer Reihe von Überreiter- und Försterstellen erhalten haben. 21 Eine weitere Quellengruppe, auf die ich mich stütze, sind die Wilderei- und Jagdmandate. Mandate, das sind in diesem Fall Weisungen, mit denen sich der bayerische Herzog bzw. seit 1623 der Kurfürst entweder an das ganze Land oder an die jeweils betroffenen Beamten, Stände und Untertanen wandte. Diese Weisungen wurden seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert im Druck veröffentlicht und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Gesetz- und Verordnungsblätter abgelöst. Anordnungen, die heutzutage an eine Verwaltung ergehen, werden weitgehend umgesetzt. Daß dem damals so war, davon kann keine Rede sein. Erstens ließen die Präsenz des absolutistischen Zentralstaates und die Effektivität seiner Verwaltung um so stärker nach, je weiter sie nach unten durchdringen sollten. Zweitens waren viele der Mandate, insbesondere die zu Jagd und Wilderei, weit entfernt davon, Ausdruck damals gültiger und anerkannter Normen zu sein. In ihnen sind vielmehr Bekundungen landesherrlicher Ordnungsvorstellungen und »Anspruchsbehauptungen« 22 zu sehen. Dennoch beschränkt sich ihr Wert als Quelle nicht darauf, Sichtweise, Standpunkt und Ansprüche des Landesherrn und seiner Räte darzulegen. In ihrer unaufhörlichen Kritik an bestehenden Praktiken und Zuständen und in ihrem unermüdlichen Bestreben, diese zu verändern, gewähren die Mandate auch Einblick darin, wie sich die Dinge - aller Normen und Wünsche zum Trotz - tatsächlich verhalten haben. Insbesondere werfen sie Schlaglichter auf die Rolle, die die Beamtenschaft und der landsässige Adel in den Auseinandersetzungen um Wald und Wild spielten. Bevor ich mit der Präsentation meiner Ergebnisse beginne, noch ein paar Worte zu meinem engeren Untersuchungsgebiet und -zeitraum. Ich habe für die Jahre 1686 bis 1700 sämtliche Einträge in den Hofratsprotokollen durchgesehen, welche Wilderer, ihre Helfer und Abnehmer betreffen. Räumlich habe ich mich dabei auf die Ermittlungen beschränkt, die von den Landgerichten Schwaben, Wolfratshausen, Starnberg und Landsberg geführt wurden. Durch diese Gerichte zieht sich jener Waldgürtel, der München von Osten über Süden bis hin nach Südwesten umgibt. 23 Da Wilderer Verwal- 20 Zur Tradition dieses Amtes im Mittelalter vgl. Wilhelm Störmer: Hofjagd der Könige und der Herzöge im mittelalterlichen Bayern, 305ff., in: Werner Rösener (Hg.): Jagd und höfische Kultur im Mittelalter, Göttingen 1997, 289 - 324 (=Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 135). 21 Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München unter der Signatur FA=Forstakten. Über Dienstvergehen und andere Delikte der Jaidsbedienten ist diesen Akten allerdings nur wenig zu entnehmen. Hierfür ist wiederum auf die Hofratsprotokolle zurückzugreifen. Zusätzliche Quellen zu diesem Personenkreis sind die Forstordnungen und Akten der Hofkammer in München. 22 So in Bezug auf Forstordnungen Joachim Allmann: Der Wald in der frühen Neuzeit. Eine mentalitäts- und sozialgeschichtliche Untersuchung am Beispiel des Pfälzer Raumes 1500 - 1800, Berlin 1989, 70. S. a. 72 u. 347. Das Netzwerk der Wilderei 713 tungs- und Herrschaftsgrenzen häufig überschritten und für ihre Zwecke ausgenutzt haben, war es immer wieder nötig, benachbarte Pfleggerichte, insbesondere Dachau, Weilheim, Aibling, Wasserburg und Haag einzubeziehen. Erfaßt habe ich 223 Delikte, begangen von 197 Wilderern (vgl. Tabelle 1). Das Wildereigeschehen, das mit dieser Beispielmenge greifbar wird, dürfte, soviel sei vorweggenommen, in vielem typisch für das vormoderne Bayern gewesen sein. Denn was in ihm zum Vorschein kommt, paßt sehr gut zusammen mit den indirekten Zustandsbeschreibungen, die die an das ganze Land gerichteten Mandate liefern, indem sie bestimmte Verhältnisse als untragbar anprangern und auf Abhilfe sinnen. Tabelle 1: Wildereidelikte in den Landgerichten um München, 1686 - 1700 Wildereidelikte insgesamt 223 100% von Wiederholungstätern begangene Delikte 48 22% Delinquenten insgesamt 197 100% Wiederholungstäter 22 11% davon dreimal zur Rechenschaft gezogen 4 2% 2. Hemmnisse und Erfolge der Ermittlungen Der Erfolg der Ermittlungen, die bei Wildereiverdacht geführt wurden, schwankte sehr stark. Oft führten die Anstrengungen der Behörden zu keinen oder nur geringen Ergebnissen, manchmal gelang es, über die Wildbretschützen hinaus tief in das Umfeld von Helfern und Abnehmern vorzudringen. Die erste Frage lautet daher: Welche Personen und Umstände standen den Nachforschungen hindernd entgegen, welche trugen zu ihrem Erfolg bei? Die Beispiele, die im folgenden vorgestellt werden, dienen der Beantwortung dieser Frage, und sie vermitteln zugleich eine erste Vorstellung vom damaligen Wildereigeschehen. Über einzelne Wilderer, die sich nur einmal erwischen ließen und deren Vergehen nicht besonders gravierend erschienen, erfahren wir wenig. Bei ihnen verfügte der Hofrat in einem knappen Bescheid eine milde oder mäßige Strafe. Da in einem solchen Fall auf gründliche Nachforschungen verzichtet wurde, ist nicht auszuschließen, daß der Betreffende sich mehr als dieses eine Vergehen zu Schulden kommen ließ und daß es noch Komplizen gab, er also in Wirklichkeit gar kein Einzeltäter war. 24 Doch auch wenn den kurfürstlichen Beamten mehrere Verdächtige ins Netz gingen, Häuser durchsucht, Verhöre unter Androhung der Folter geführt und Aussagen verglichen wurden, blieben die Ermittlungen häufig stecken. 25 Kaum nennenswert ist der Einblick ins Umfeld der Wilderer, den die Untersuchung gegen drei Verdächtige 26 aus nicht genannten Ortschaften 23 Zu den traditionellen Jagdrevieren der bayerischen Herzöge in diesem Waldgürtel vgl. Störmer: Hofjagd (wie Anm. 20), 303 u. 309f. 24 Der Georg Offner aus dem zwei Kilometer östlich von Ebersberg gelegenen Altmannsberg dürfte hierfür ein Beispiel sein. Vgl. zu ihm BayHStA, KHR 480 fol. 53 u. 483 fol. 151. 25 So etwa bei den drei verschreiten (berüchtigten) Wildbretschützen aus der Gegend südlich von Grafing und Ebersberg, mit deren Aussagen sich der Hofrat zunächst nicht kontentieren wollte. Vgl. zu ihnen BayHStA, KHR 495 fol. 155 u. 495 fol. 331. 26 Zu ihnen siehe BayHStA, KHR 493 fol. 227 u. 494 fol. 49f. Winfried Freitag 714 des Landgerichts Schwaben erbrachte. Zwei von ihnen sollten, weil sich ihre Aussagen in fast allem widersprachen, miteinander konfrontiert werden. Daraus ergab sich der Hinweis auf einen Münchner Weißgerber, der eine Wildhaut in die Arbeit genommen hatte. Da der Gerber Münchner Bürger war, mußte die landesherrliche Behörde seine Bestrafung der Stadt überlassen; und diese bewies darin, wie ein mahnendes Schreiben des Hofrates belegt, keinen übermäßigen Eifer. Eine zweite Spur führte überhaupt nicht weiter. Ein Mann, der einem der Schützen die Waffe verkauft hatte, behauptete, diese von seinem Bruder geerbt zu haben. Dem Hofrat erschien dies zwar nit glaublich, er hatte den Mann aber, weil dieser auf seiner Aussage beharrte, mit einem Verweis davonkommen zu lassen. Anstatt einen Büchsenmacher oder Schlosser, von dem die Waffe wahrscheinlich stammte, belangen zu können, mußten sich die Ermittler mit einer unglaubwürdigen Geschichte begnügen. Ein längeres Beispiel führt in ein paar kleine Weiler im Südosten des Landgerichtes Schwaben nur wenige Kilometer westlich des Klosters Rott am Inn. Es eröffnet über die Dauer von sieben Jahren mehrere Einblicke in das Wildereigeschehen. Der Schlüssel dazu sind zwei Wiederholungstäter. Einer von ihnen ist der Georg Eggl, Fischer zu Angelsbruck. 27 Ihm wurden 1684 zwei Büchsen abgenommen, und 1685 geriet er anläßlich eines angeblich im Streit mit seinem Bruder Heimeran nächtlicher Weil getanen Schusses erneut in Verdacht. Im April 1688 wurden er und zwei Komplizen schließlich verhaftet. Der Eggl hatte sich ungeachtet des vorigen unerlaubten Waffenbesitzes unterstanden, neben einem Waidmesser erneut zwei Gewehre zu erhandeln und seinem eigenen Geständnis nach einen Fuchs und einen Marder geschossen. Die kurfürstlichen Räte waren jedoch davon überzeugt, daß er mehrere Hirsche und weiteres Wildbret gefällt hatte. Sie wiesen den Pflegsverwalter an, ihn in loco torturae sub metu proximo mit Anschlagung des Hakens zu examinieren. 28 Falls er nichts Neues bekennen würde, sollte er - so der Eventualschluß - für zwei Wochen ins Zuchthaus. 29 Da im weiteren vom Eggl nicht mehr die Rede ist, dürfte ihn die unmittelbar drohende Folterung nicht so beeindruckt haben, daß er zu weiteren Aussagen bereit war. Die Komplizen, mit denen zusammen der Eggl vielfältigen Wildbretschießens bezichtigt wurde, waren der Kazmair und der Hueber aus Wolkerding. 30 Der Überreiter von Ebersberg, der bei beiden eine Hausdurchsuchung vornehmen sollte, wurde vom einen gar nicht, vom anderen erst nach langem Klopfen eingelassen und konnte dann noch einen dürren Fuchskern finden. Der Pflegsverwalter in Markt Schwaben erhielt Anweisung, den Hueber allen Ernstes zu examinieren, woher er den Fuchskern genommen, und den Kazmair zu befragen, warum er zu des verhaften Fischers bei der Hintertür Be- 27 Vgl. zu ihm BayHStA, KHR 447 fol. 332 und 457 fol. 26f. 28 Die Grade der Folter faßt Behringer: Mörder (wie Anm. 3), 92, folgendermaßen zusammen: »Bei starken Verdachtsmomenten konnte der Hofrat Tortur anordnen. Dabei wurden verschiedene Grade unterschieden. Der einfachste Grad des peinlichen Verhörs war die Befragung in loco (torturae), der durch die Androhung des Einsatzes der vorgezeigten Folterwerkzeuge verschärft werden konnte (territio). Von der tatsächlichen physischen Tortur wurde noch das Verhör cum proximo metu torturae unterschieden, bei dem den Verdächtigen die Folterwerkzeuge angelegt, aber nicht angewandt wurden. Die physische Folter erfolgte meist durch das Aufziehen: Dem Häftling wurden die Arme auf den Rücken gebunden, mittels einer Seilzugvorrichtung wurde er dann vom Erdboden aufgehoben. Da das Seil (corda) an den Handgelenken befestigt wurde, verursachte diese Tortur starke Schmerzen in den Schultergelenken.« 29 Wenn der Hofrat weitere Schritte anordnete, damit aber keine großen Hoffnungen auf weitere Erkenntnisse verband, lieferte er gleich einen Eventualschluß mit. 30 Vgl. zu ihnen BayHStA, KHR 457 fol. 26f. Das Netzwerk der Wilderei 715 hausung so oft gangen, was sie alle miteinander abgeredet, welches lauter verdächtige Konventikula und Anzeigungen sind. 31 Der Eventualschluß für die beiden lautete: fünf Tage Arrest im Amtshaus bei geringer Aztung, ernstlicher Verweis und Bezahlung der Aztungskosten. Unter den Bescheiden des Jahres 1691 findet sich erneut ein Hueber aus Wolkerding oder genauer: es finden sich gleich drei, nämlich der Vater Jakob und die Söhne Melchior und Balthasar. 32 Wer von ihnen vor dreieinhalb Jahren bereits mit einer Strafe belegt wurde, ist nicht zu ersehen. Die Tatsache, daß sich der alte Hueber durch Flucht der Festnahme zunächst entzog, macht wahrscheinlich, daß er der Rückfalltäter ist. Denn als solcher mußte er eine härtere Strafe befürchten. Neben den beiden Söhnen wurden noch ein Bauer und sein Knecht verhaftet. Daß auch letzterer rückfällig war, offenbart die Urteilsbegründung: Weil er sich die vorgehende Korrektion kein Warnung sein lassen, sei der Knecht auf vier Wochen ins Zuchthaus zu liefern. Die Hueber Söhne kamen hingegen mit ein paar Wochen Haft im Amtshaus davon. 33 Bei ihrer Entlassung wurden ihnen jedoch schärfere Strafe nicht nur bei Wiederholung angedroht, sondern insbesondere für den Fall, daß sie die abgehörten Erfahrungspersonen mit Wort oder Werken bedrohten. Der Hofrat sah sich also genötigt, Vorkehrungen gegen Racheakte an den Zeugen zu treffen. Auffällig ist, daß trotz Verhaftung und Verhör von mindestens sieben Wildbretschützen das Umfeld im Dunkeln blieb. Abnehmer des Wildfleisches und der Häute konnten nicht ermittelt werden. Ebensowenig, wer den Eggl, nachdem ihm zwei Büchsen abgenommen worden waren, erneut mit solchen versorgt hat. Die Begebenheiten um Eggl, Hueber und Konsorten rücken gleich eine ganze Reihe von Hindernissen ins Blickfeld, die dem Erfolg der Ermittlungen nicht nur in diesem Fall entgegenstanden: Da ist eine Hausdurchsuchung, die gar nicht, und eine andere, die erst mit Verzögerung, also höchst wahrscheinlich nach Beseitigung wichtigen Beweismaterials, durchgeführt werden konnte; da sind häufige Treffen (conventicula) der Beschuldigten und damit Absprachen zu den Aussagen, welche man machen wollte; da sind Zeugen, die sich vor Racheakten fürchten mußten, und da gibt es die Verteidigungsstrategien der Delinquenten. 34 Die Geschichte vom Streit zwischen den Brüdern, bei dem ein Schuß gefallen sei, könnte der Vertuschung anderer Geschehnisse gedient haben. Und das Geständnis des Eggls scheint sich nicht nur auf das Allernotwendigste beschränkt zu haben, sondern auch insofern ganz defensiv gewesen zu sein, als sich das Erlegen von Fuchs und Marder gut mit dem Schutz des eigenen Kleintier- und Geflügelbestandes rechtfertigen ließ. Denkt man an seine Ausrüstung und die Tatsache, daß er sie rasch wieder ergänzte, dann ist nur schwer vorstellbar, daß er sich mit der Jagd auf Fuchs und Marder begnügte. Insgesamt entsteht der Eindruck, daß nur ein kleiner Ausschnitt aus einem viel umfassenderen Geschehen sichtbar wurde, - und auch dieser nur, soweit es die Wilderer und ihre Helfer zuließen. 35 31 BayHStA, KHR 457 fol. 26f. 32 Vgl. BayHStA, KHR 471 fol. 143 u. 203. 33 BayHStA, KHR 472 fol. 22. 34 Siehe dazu auch Schindler: Mill at Bluntau (wie Anm. 2), 67ff. 35 Zu dieser Überzeugung gelangt auch Schindler: ebd, 85: »The authorities were left with a glaring sense of the court’s frequent helplessness in the face of poaching, and the unpleasant consciousness of the world of difference that existed between what had really happened and what could be proven in court.« Winfried Freitag 716 Deren Ausreden waren zahlreich und mitunter recht phantasievoll. Ein Untertan, der Wildfleisch gekauft hatte, gab vor, er habe geglaubt, gemein und ordinari Fleisch einzutauschen. Ein anderer behauptete, er habe das Wildstück nicht geschossen, sondern bereits tot aufgefunden. 36 Stießen die Beamten bei Hausdurchsuchungen auf Wildbret, so war eine gängige Antwort, man habe dieses von fremden Durchreisenden erstanden. Im Wald mit Schußwaffen angetroffene Männer erklärten, sie führten ihre Gewehre nur mit, um sich zu schützen, z.B. vor den gefährlichen Wilderern. 37 Dies könnte neben einer Ausrede auch eine Verhöhnung der Wildereimandate gewesen sein. Denn in ihnen stellten die Landesherrn unablässig die Behauptung auf, Wilderer seien nicht nur dem Wild und den Jaidsbedienten, sondern allen, auch den einfachen Untertanen, gefährlich. Man habe sich vor ihnen wie vor andern gemeinen Landstürzlern und Müssiggängern der Mörderei, Räuberei und anderer Untaten zu besorgen. 38 Weitere Hemmnisse für die Ermittlungen treten bei einem zweiten Längsschnitt hervor. Sein Schauplatz ist das um den Ammer- und den Starnberger See gelegene Gebiet, das sich von Oberfinning im Westen bis hin zum Kloster Dietramszell im Osten und damit quer durch die Landgerichte Landshut, Weilheim, Starnberg und Wolfratshausen sowie die adelige Herrschaft Törring-Seefeld erstreckt. Wie der vorige, so erschließt sich dieser Längsschnitt ebenfalls durch zwei Wiederholungstäter. Balthasar Schropp, Zimmermann in dem am westlichen Ufer des Ammersees gelegenen Utting, begegnet uns vier Jahre, Melchior Barth, Bader in dem ein paar Kilometer westlich von Utting gelegenen Oberfinning, acht Jahre lang immer wieder in den Hofratsprotokollen. Zum ersten Mal in Wildereiverdacht gerieten die beiden im Juli des Jahres 1687; und zwar durch Hinweise eines Überreiters und eines Oberjägers. Mit ihnen verdächtigt wurden zwei Männer, von denen der eine mit einer Büchse im Wald betreten (ertappt) worden war und daher sofort mit acht Tagen Gefängnis abgestraft wurde. Die restlichen drei Komplizen waren, so die Anweisung des Hofrats, zu verhaften und zu verhören. Zudem sollte der Landrichter von Landsberg Nachforschungen über sie anstellen. 39 Er war damit nicht sonderlich erfolgreich. Die Verhafteten wiesen, so sein Bericht, jeden Vorwurf energisch von sich, und der Verdacht ließ sich auch nicht durch eidlich eingeholte Erfahrung, also durch Verhören und Vereidigen von Zeugen, erhärten. 40 Der Hofrat teilte daher dem Obristjägermeister mit, daß die drei, sofern er keine Einwände erhebe, wieder entlassen werden sollten. Außerdem wurde der Obristjägermeister aufgefordert, seinem Überreiter und Oberjäger zu bedeuten, daß sie die Leut nit also füreilend und ohne begründete Wissenschaft für verdächtig angeben und in Verhaft bringen sollten. Der Obristjägermeister war jedoch nicht gewillt, dies hinzunehmen und die Verdächtigen so leicht davonkommen zu lassen. Er veranlaßte seinen Übereiter zu Utting, Zeugen zu benennen, und erreichte, daß die Rüge nicht seine Untergebenen, sondern den Landrichter ereilte: dieser hatte, so der Hofrat, nur unzureichend nachgeforscht, und zudem, so stellte sich jetzt heraus, die drei Verdächtigen vor Eingang der entspre- 36 Vgl. BayHStA, KHR 478 fol. 36 u. 482 fol. 237. 37 Vgl. Behringer: Mörder (wie Anm. 3), 105. 38 Vgl. BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1657 I 25 u. 1663 III 28. Siehe auch unten, 65. Die Signatur der Mandate besteht aus dem Datum des Tages, an dem das Mandat erlassen wurde, in der Reihenfolge Jahr, Monat, Tag. 39 BayHStA, KHR 454 fol. 40f. 40 BayHStA, KHR 454 fol. 103 (hier auch das folgende Zitat). Das Netzwerk der Wilderei 717 chenden Anweisung von sich aus freigelassen. 41 Nach erneuten Festnahmen und weiteren Untersuchungen konnte zwei der Verhafteten nichts nachgewiesen werden. Verurteilt wurde schließlich nur der Baltasar Schropp; und auch dieser nicht allzu streng. Ihm wurden sein Gefängnisaufenthalt von gut einem Monat als Strafe angerechnet und die in dieser Zeit aufgelaufenen Atzungskosten, so er’s im Vermögen, auferlegt. Zudem wurde er, sollte er sich rückfällig zeigen, mit exemplarischer Strafe bedroht. 42 Ihre erste Berührung mit der Justiz vermochte den Schropp und den Barth nicht von weiterem Wildern abzuhalten. Auch scheint zu ihrem Unglück der Obristjägermeister seither ein Auge auf sie gehabt zu haben. Auf seine Veranlassung wurden die beiden 1689, also zwei Jahre später, erneut verhaftet und zu strenger Strafe, nämlich auf eine gewisse Zeit in das Zuchthaus kondemniert. 43 Wiederum zwei Jahre später erscheint der Schropp ein letztes Mal. 44 Er hat seinen Wohnsitz mittlerweile in das Utting gegenüber auf dem östlichen Seeufer gelegene Breitbrunn und damit aus dem Gericht Landsberg in die Törringsche Herrschaft Seefeld verlegt. In deren Gehülzen wurde er jetzt zusammen mit neuen Konsorten, drei bislang nicht genannten Wilderern, angetroffen. Der Melchior Barth findet in den Hofratsprotokollen erst 1695 wieder Erwähnung; und zwar, weil er im Gericht Weilheim auf der Gart betreten, 45 also wegen Landstreicherei festgenommen wurde. 46 Den Verdacht, daß er als Wilderer rückfällig war, weckten bei ihm gefundene bleierne Kugeln. Es stellte sich heraus, daß er zusammen mit drei in Ortschaften östlich des Starnberger Sees ansässigen Konsorten gepirscht und diese kleine Gruppe häufig das Kloster Dietramszell mit Wildbret beliefert hatte. Barths Karriere als Wilderer dürfte mit seiner Bestrafung zu Ende gewesen sein: er wurde den Venezianern als Soldat überlassen. 47 Die beiden zeitlichen Längsschnitte sprechen dafür, daß die Wilderer keine festen, sondern lockere, immer wieder wechselnde Gruppen gebildet haben. Beim ersten Längsschnitt war anfangs nur vom Eggl die Rede, drei Jahre später wurde er zusammen mit dem Kazmair und Hueber verhaftet. Wieder drei Jahre später war der Eggl nicht mehr anzutreffen, aber noch der Hueber. Ins Blickfeld gerückt oder neu hinzugekommen waren dafür die zwei Hueber Söhne und zwei weitere Konsorten, von denen einer schon früher, wahrscheinlich wieder in anderer Konstellation gepirscht hatte. Beim zweiten Längsschnitt trennten sich die Wege von Schropp und Barth nach gemeinsamem Wildern in der Gegend westlich des Ammersees. Schropp fand im Seefeldischen 41 BayHStA, KHR 454 fol. 168. Daß auch der Schropp gleich wieder freigelassen wurde, geht aus BayH- StA, KHR 454 fol. 281 hervor. 42 BayHStA, KHR 455 fol. 8; s. a. 454 fol. 281. - Die Aztungskosten entstanden durch die Verpflegung der Delinquenten während der Haft im Amtshaus. Wenn sich die Hofräte nicht sicher waren, ob der Betreffende zu einer solchen Zahlung überhaupt fähig war, fügten sie ein so er’s im Vermögen hinzu. Hatte es der Betreffende nicht im Vermögen, dann bekamen die Lokalbeamten das Geld vom Hofrat ersetzt. Der Hofrat hatte daher wenig Interesse daran, ohne das Vorliegen starker Verdachtsmomente Verhaftungen vorzunehmen und Verdächtige lange festzuhalten. Vgl. hierzu etwa BayHStA, KHR 495 fol. 285. 43 BayHStA, KHR 461 fol. 74f.; 461 fol. 281; 461 fol. 295. Zitat 461 fol. 295. Zu möglichen weiteren Konsorten, mit denen die beiden damals zusammenarbeiteten, vgl. BayHStA, KHR 460 fol. 26. 44 BayHStA, KHR 470 fol. 16f. 45 BayHStA, KHR 486 fol. 338f. 46 Garten, auf die Gart gehen, bedeutet laut Schmeller: Wörterbuch (wie Anm. 19), Bd. 1, 939, das Herumgehen herrenloser Kriegsknechte oder auch anderer Wandersleute von Haus zu Haus, um sich da Nahrung, Herberge und wohl auch manches andere zu erbetteln oder zu erzwingen. 47 BayHStA, KHR 487 fol. 48f. Winfried Freitag 718 Anschluß an neue Konsorten und Barth Jahre später im Gericht Wolfratshausen. Schützen, die sich in ihrem angestammten Revier nicht mehr blicken lassen konnten, hatten anscheinend keine allzugroße Mühe, anderswo ein neues Betätigungsfeld zu finden. Erleichtert wurde dies dadurch, daß man schon voneinander gehört hatte und sich manchmal auch schon kannte. Gerade zwischen den Wilderern östlich und westlich des Ammersees, also zwischen denen im Gericht Landsberg und denen in der Herrschaft Seefeld, müssen rege Kontakte bestanden haben. Denn der ledige Fischersohn Georg Thallmayer aus dem am östlichen Seeufer gelegenen Breitbrunn wurde auf zwei Monate ins Zuchthaus überbracht, weil er den bekannten Wildbretschützen Unterschleif 48 gegeben, auch selbige hin- und wieder übern See gefiehrt und also mit ihnen sich interessiert gemacht hatte. 49 Dafür, daß die Wilderer Rückhalt in der Bevölkerung genossen, finden sich weitere Hinweise. Zur ersten Verhaftung von Barth, Schropp und ihren beiden Konsorten kam es nur durch Anzeigen kurfürstlicher Überreiter und Jäger. In der Bevölkerung Belastungszeugen zu finden, war anscheinend so schwierig, daß zwei der Verhafteten straflos und die anderen beiden glimpflich davonkamen. Als Schropp das zweite Mal verhaftet wurde, boten, um ihn freizubekommen, sogleich zwei Fischhändler aus seinem Wohnort Utting dem Hofrat genügsame Porgschaftsleistung an. 50 Schließlich und endlich reichte die Unterstützung für die Wilderer bis in die lokale Beamtenschaft hinein. Beim Verhalten des Landrichters zu Landsberg dürfte es sich um mehr als Nachlässigkeit handeln. Er gab sich rasch mit den Unschuldsbeteuerungen der Verdächtigen zufrieden, bequemte sich erst auf Drängen des Hofrats und des Obristjägermeisters zu sorgfältigeren Ermittlungen und ließ die Verhafteten frei, ohne den Befehl des Hofrats abzuwarten. Ganz klar liegen die Dinge beim Gerichtsschreiber von Rauhenlechberg. Er mußte sich vom Hofrat Konnivenz, also Nachsicht oder Duldung strafbarer Handlungen, vorhalten lassen, weil er einem der Konsorten von Schropp ein nicht für seine Ohren bestimmtes Schreiben des Seefeldschen Richters verlesen und ihm zur Flucht verholfen hatte. 51 Neben Ermittlungen, die scheiterten oder frühzeitig stockten, gab es auch Erfolge zu vermelden. Beispiele dafür liefern die drei großen Prozesse, zu denen es in meinem engeren Untersuchungsraum gekommen ist. Im kleinsten dieser Verfahren führte der Landrichter zu Landsberg die Nachforschungen; und er tat dies, wie schon gegen Schropp, Barth und Konsorten, nicht mit besonderem Eifer. 52 Auf eine erste Anzeige durch den Überreiter und den Pfleger, beide zu Mering, reagierte er gar nicht. Erst als der Kurfürst darüber sein ungnädigstes Mißfallen bekundete, kam es zur Verhaftung der drei Brüder Andre, Martin und Leonhard Müller. Sie hatten sonntags während der Got- 48 Auch Unterschlauf oder Unterschluff geben=Unterschlupf bieten einschließlich Essen und Trinken. Vgl. Hermann Fischer: Schwäbisches Wörterbuch, Bd. 6, Tübingen 1924, 248f.; s. a. Grimm: Wörterbuch (wie Anm. 19), Bd. 11,3, 1789f. 49 BayHStA, KHR 470 fol. 16f. - Die Quelle ist hier nicht ganz eindeutig. Einerseits wird gesagt, der Thallmayr sei zusammen mit anderen Wilderern in den Seefeldischen Wäldern angetroffen worden, andererseits scheint sich nach der Urteilsbegründung seine Rolle auf die des Helfers beschränkt zu haben. Vom Thallmayr ergibt sich die Verbindung noch zu einem weiteren Wilderer, dem nur einmal erwähnten Georg Glassl aus dem Gericht Weilheim (vgl. BayHStA, KHR 473 fol. 58). 50 BayHStA, KHR 461 fol. 183f. 51 Vgl. BayHStA, KHR 470 fol. 16f. 52 Vgl. zum folgenden BayHStA, KHR 483 fol. 234f., 484fol. 44 u. 104. Das Netzwerk der Wilderei 719 tesdienstzeit auf der Merchinger Au den Überreiter mit sehr groben Streichen traktiert. Alle drei trugen eine Büchse bei sich. Da die Aussagen, zu denen die Delinquenten gütlich bereit waren, dem Hofrat nicht genügten, verordnete dieser Folterung: Aufziehen mit einem angehängten Gewicht von 25 Pfund für den Andre Müller, leeres Aufziehen für den Martin, Verhör in loco torturae sub metu proximo für den Leonhard. Der Landrichter zögerte erneut. Ihm mußte wiederum ausdrücklich befohlen werden, endlich zu vollziehen, was ihm zuvor zu tun gebührt hätte. Doch auch jetzt kam er seinen Pflichten nur unvollkommen nach. Er unterließ es, Aussagen zu protokollieren und einzuschikken, die den Pfarrer von Moorenweis belasteten. Dieser hatte, wie sich später herausstellte, nicht nur zwei gewilderte Tiere aufgekauft. Er hatte auch die Müllerschen Söhne nachdrücklich zum Leugnen ihrer Taten animiert und stand im Verdacht, selber gejagd zu haben. 53 Die Angelegenheit wäre wahrscheinlich ausgegangen wie die meisten anderen auch, nämlich glimpflich für die Angeklagten und ohne Ausweitung auf ihr Umfeld, hätte nicht ein leitender Beamter am Münchner Hof unerwartet eingegriffen. Der Herr von Hegnenberg, Kämmerer, Kriegsrat und im Besitz von Ländereien südöstlich von Mering, reichte ein Memorial, das sein Jäger verfaßt hatte, an den Hofrat weiter. Dadurch erweiterte sich der Kreis der Verstrickten auf zwölf Personen, darunter ein Gerber, zwei Wirte und drei Pfarrer. 54 Beim zweiten großen Prozeß 55 (Januar bis November 1693) ging es nicht allein um Wilderei, sondern noch um zwei weitere Delikte, nämlich um abigeatus (Viehdiebstahl) und furtum (Diebstahl). Wie bei Anklage und Verurteilung wegen mehrerer Verbrechen üblich, 56 haben die Räte in München auch hier jeweils eines als Hauptdelikt herausgegriffen und nennen nur dieses in ihren Betreffs. Da es sich dabei fast immer um abigeatus oder furtum handelt, liegt die Vermutung nahe, daß sie darin die schwerer wiegenden Vergehen sahen. 57 Zu dieser ersten verfahrenstechnischen Gepflogenheit kommt eine zweite. Die Taten wurden in den Gerichten Schwaben, Haag und Erding begangen, die Täter zunächst auch dort in Haft gehalten und gegen sie ermittelt. Weil bei getrennter Prozeßführung viel Korrespondierens vonnöten wäre, 58 wurde dann jedoch der Pflegsverwalter zu Schwaben angewiesen, die in den Gerichten Haag und Erding verstrickten Personen zu übernehmen und ihnen zusammen mit den bereits bei ihm einsitzenden den Prozeß zu machen. Der Hofrat konzentrierte also, wie in solchen Fällen üblich, die Prozeßführung in einer Hand. Zählt man nicht nur die 19 Personen, bei denen Wilderei als Nebendelikt ausdrücklich genannt wird, sondern alle in dieses Großverfahren Verstrickten zusammen, so kommt man auf insgesamt 65 Personen. Grund für diese außerordentlich hohe Zahl dürfte sein, daß (Vieh-)Diebe und Wilderer, die zu solchen wurden, nicht mit der Solidarität der Landbevölkerung rechnen konnten, die Untersuchungen also durch eine viel höhere Aussagebereitschaft der Bevölkerung erleichtert wurden. Neben einem Wirt, 53 Vgl. BayHStA, KHR 484 fol. 374. 54 Zu dem Memorial und seinen Folgen siehe BayHStA, KHR 484 fol. 160f., 269f., 374 u. 486 fol. 272f. 55 Zu ihm vgl. BayHStA, KHR 476 fol. 203ff., 205f.; 477 fol. 202ff.; 479 fol. 145ff. 56 So auch die Beobachtung von Behringer: Mörder (wie Anm. 3), 95. 57 Auf Grund dieser Verfahrensweise sind einige Wildereidelikte in den Hofratsprotokollen so gut »versteckt«, daß sie sich einer gezielten Suche entziehen. Auf einen Großteil der Wilderer, um die es nun geht, bin ich nur durch Zufall gestoßen. 58 BayHStA, KHR 476 fol. 206. Winfried Freitag 720 zwei Beamten und zwei Pfarrern, also Beteiligten, wie wir sie bereits kennen, gerieten in diesem Prozeß auch Bedienstete des Adels, nämlich zwei Jäger, 59 in die Mühlen der Justiz. Ihre Beteiligung an Wildereidelikten scheint - folgt man den Hofratsprotokollen - eher die Ausnahme gewesen zu sein. Diesem Eindruck widersprechen allerdings die Mandate. Davon jedoch später. Schauplatz der Delikte, die im dritten großen Prozeß (Juni oder Juli bis Oktober 1689) verhandelt wurden, waren die Gerichte Schwaben, Aibling, Miesbach und Wolfratshausen sowie ein paar kleine, in diesen Gerichten liegende Herrschaften. Die Zahl der Beschuldigten betrug 23 Personen und war damit angesichts der Tatsache, daß es ausschließlich um Wilderei ging, außerordentlich hoch. Die Gründe dafür dürften die Bereitschaft eines der Delinquenten zu einem umfassenden Geständnis und die Entsendung zweier Beamter aus München, nämlich des Falkenturmschreibers und des Hofkanzlisten, gewesen sein. Diese und nicht der Pflegsverwalter hatten vor Ort die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Da dieser Prozeß von allen den besten Einblick in das Netzwerk der Wilderei gewährt, soll er ausführlich dargestellt werden. Zu dem Zeitpunkt, zu dem wir erstmals von ihm erfahren, ist er schon weit fortgeschritten. Die Angelegenheit wurde bereits in einer Hand, wiederum beim Pflegsverwalter in Schwaben, zusammengefaßt. Auch müssen bereits Berichte, Listen von Fragen, die den Delinquenten zu stellen waren, und Verhörsprotokolle zwischen Markt Schwaben und München hin und her geschickt worden sein. Am 18. August 1689 reagiert der Hofrat auf die Ergebnisse der jüngsten Verhöre wie folgt: 60 Der über sein bisheriges Geständnis hinaus belastete Balthasar Schneider soll mit zwei Zeugen konfrontiert werden. Beharrt er auf seiner vorigen Aussage, so ist er durch einmaliges leeres Aufziehen zu foltern und besonders hinsichtlich seiner complices zu examinieren. Große Hoffnung, daß der Inhaftierte geständig sein wird, hat man anscheinend nicht. Denn man fügt gleich den Eventualschluß bei, den Schneider, falls er weiters nichts bekennt, auf sechs Wochen in den Falkenturm zu liefern. Hans Lechner von Harthausen, bei dem um Pfingsten drei Männer über Nacht gelegen, ist nochmalen mit ernstlichem Zusprechen zur Red zu stellen, ob er von solchen Männern keinen erkennet und ob er nit etwa selbst ein Kompliz sei. Am 31. August, also dreizehn Tage später, folgt der nächste Eintrag in dieser Sache. 61 Die von der Zentralbehörde angeordneten erneuten Verhöre haben stattgefunden. Wider Erwarten, so darf man wohl sagen, war der Schneider zu einem umfassenden Geständnis bereit. Dieses löst nun eine Verhaftungswelle aus. Der Pflegsverwalter von Markt Schwaben erhält Befehl, dem bereits dorthin entsandten Falkenturmschreiber zur Hand zu gehen und bei den Ermittlungen mitzuwirken. Unter dem gleichen Datum gehen Briefe an den Probst zu Weyarn, die Gräfin von Aich ratione Falley und das Gericht Aibling. Sie alle werden aufgefordert, den Hofkanzlisten die ihm aufgetragenen Dinge, also wohl Verhaftungen und Verhöre, vollziehen zu lassen. Im folgenden Protokolleintrag vom 15. September 1689 62 geht es um den bisher nicht in Erscheinung getretenen Hans Stängl, Schneider von Forstinning, sein Eheweib 59 Zu den beiden Jägern, dem von Ottenhofen und dem von Aufhausen, vgl. BayHStA, KHR 459 fol. 44; 477 fol. 3, 39 u. 44; 479 fol. 151ff. 60 BayHStA, KHR 462 fol. 188f. 61 BayHStA, KHR 462 fol. 232. 62 BayHStA, KHR 462 fol. 291. Das Netzwerk der Wilderei 721 und seine Schwester. Die drei wurden eines nacher Haus gebrachten Hirschen halber verhaftet und sind nun nach vorgegebenen Fragstücken zu examinieren. 63 Sie sollen insbesondere bekennen, ob der Schneider oder jemand anderer geschossen, was sie nach Haus gebracht, verzehrt oder verkauft haben und wer sonst noch dabei mitgeholfen hat. Des weiteren werden von der Verhaftungswelle erfaßt Hans Köndler, Metzger von Weyarn, 64 Georg Sternegger, Wirt zu Feldkirchen, 65 und Georg Westner, Wirt zu Peiß. Der schon erwähnte Hans Lechner, der Wilderern Unterschlupf gewährt hat und nicht aussagewillig war, ist mittlerweile des Meineids überführt und soll, obwohl er das Fingerstoßen verdient hätte, lediglich öffentlich vorgestellt und auf ein Vierteljahr ins Zuchthaus geliefert werden. Der Herr von Maxlrain wird auf Wilderer in seiner Grafschaft hingewiesen und aufgefordert, bei den Weißgerbern Nachforschungen anzustellen, ob und was sie für Wildheut, auch wann und von wem in die Arbeit bekommen. 66 Am 24. Oktober, also gut zwei Monate nach dem ersten Eintrag, hat der Hofrat über den Großteil der Strafen entschieden. Diese reichen von Zuchthaus zwischen drei Wochen und einem Jahr bei den Männern bis hinab zu ernstlichen Verweisen und öffentlichem Herumführen in der Geigen bei den Frauen. 67 Es bleiben einige Verdächtige, bei denen die Ermittlungen fortgeführt werden. Der vom Köndler belastete Prunmayer zu Sauerlach, der sich als identisch mit dem in weiteren Einträgen genannten Hans Steurer erweist, 68 soll vom Pflegsverwalter in Aibling verhaftet und verhört werden. Ihm gelingt offensichtlich die Flucht, denn seine Verhaftung wird erst Anfang des nächsten Jahres aus Wolfratshausen gemeldet. 69 Am Ende des Bescheids mit dem Sammelurteil führt eine Spur erneut zur Geistlichkeit: Wegen dreier Pfarrer und eines Gesellenpriesters, die von den complicibus verbotenes Wildbret erkauft haben, sei bereits die Notdurft an das Generalvikariat zu Freising (...) abgangen. Indem diese Notdurft 70 die Beteiligung der Geistlichen im einzelnen nennt, öffnet sie den Blick auf einen gut funktionierenden Markt für gewildertes Fleisch und Häute. Auch wenn die Rollen nicht immer klar umrissen waren und sich häufig eine Person nicht auf eine einzige Rolle beschränken läßt, es etwa Pfarrer und Wirte gab, die gelegentlich selber auf die Pirsch gingen, und viele Wilderer, die ihre Beute direkt verkauften, so waren doch alle erforderlichen Positionen besetzt: Es gab Produzenten (Schüt- 63 BayHStA, KHR 463 fol. 84ff. 64 BayHStA, KHR 462 fol. 292ff. (ebenfalls vom 15.9.1689). 65 Das 13 km westlich von Bad Aibling gelegene Feldkirchen ist gemeint. 66 BayHStA, KHR 463 fol. 84ff. (ebenfalls vom 15.9.1689). 67 Der Schneider und der Köndler erhalten ein Jahr Zuchthaus, der bisher noch nicht erwähnte Paul Weindl, Krämer von Westerham, einen Monat Zuchthaus und einen Verweis, der ebenfalls noch nicht erwähnte Mathias Hueber, Zimmermann zu Aying, drei Wochen Zuchthaus und einen Verweis. Barbara Stängl ist mit einem ernstlichen Verweis zu entlassen, die Eva Stängl ebenfalls, davor jedoch in der Geigen öffentlich herumzuführen (BayHStA, KHR 463 fol. 84ff.). 68 BayHStA, KHR 463 fol. 174; 464 fol. 36; 473 fol. 169f.; 499 fol. 3. Bei dem Hans Steurer, Wirt zu Obermenzing, handelt es sich um eine andere Person gleichen Namens (vgl. zu ihm BayHStA, KHR 476 fol. 6 u. 467 fol. 223). 69 Im Mai 1692 ergeht die Anweisung, ihn in loco torturae sub metu proximo mit eingeschlagnem Haken weiter zu examinieren. Zum Fall er aber weiter nichts bekennen werde, ist er auf zwei Monat ins Zuchthaus zu liefern und ihm die Gutmachung der verkauften zwei Schwein und des erschlagenen Wildkalbs per sechs Rheinische Taler (...) aufzutragen. (BayHStA, KHR 473 fol. 169f.) Eine nachhaltige Wirkung hatte die Strafe allerdings nicht. Denn sechs Jahre später (vgl. BayHStA, KHR 499 fol. 3) tritt der Steurer als flüchtiger Wildbretschütz erneut in den Hofratsprotokollen in Erscheinung. Winfried Freitag 722 zen), Verarbeiter und Verteiler (Gerber, Metzger, Gastwirte, Kramer) und Konsumenten. Daß ein Gutteil der Mengen- und Preisangaben nicht in Stück, sondern in Pfund erfolgte, es neben ganzen und halben Tieren also auch kleinere Mengen zu kaufen gab, unterstreicht die Bedeutung der Verarbeitung und des Zwischenhandels. Geht man davon aus, daß gerade bei Wilderei die Dunkelziffer sehr hoch war und die Beschuldigten nicht sämtliche Taten, sondern nur das Allernotwendigste gestanden haben, dann muß man feststellen: es existierte ein regelrechter Markt für Wildfleisch und -häute, den die Schützen belieferten und der erwartete, von ihnen beliefert zu werden. Daß dies auch von der politischen Zentralgewalt so wahrgenommen wurde, belegt das Mandat von 1705: Mit der Schieß- und Fällung des roten und schwarzen Wildbrets werde, so heißt es da, gleichsam ein Handwerk getrieben, auch hieraus allein die Nahrung gesucht. 71 Wildfleisch war kein gewöhnliches Nahrungsmittel. Sein Verzehr hatte repräsentativen Charakter. In den Augen des Landesherrn stand es nicht jedem zu. Ein Mandat aus dem späten 16. Jahrhundert befiehlt, es nur Personen, so sich zu geben gebürt, zu reichen, und nit das Bauersvolk und Tagwerker damit zu speisen. 72 Die Nachfrage wurde sehr stark von dem Bedürfnis nach Repräsentation getragen. In den Fällen, in denen wir erfahren, auf welchen Tisch das Wildbret letztendlich gelangte, war es der der Geistlichen, Lokalbeamten und des landsässigen Adels, von Personen also, die ihren besonderen Status hervorheben wollten, 73 oder es war der Tisch, der zu besonderen Anlässen wie Primiz oder Hochzeit gedeckt wurde. 74 Mit dem Hinweis auf ein Wildbretfäßl in der Behausung des Schropp 75 haben wir aber auch einen Beleg dafür, daß ein Teil der Beute von den Wilderern und ihren Angehörigen selber verzehrt wurde. 70 Vgl. BayHStA, KHR 463 fol. 94f. (dat. 24.10.1689): Lieber Getreuer, in dem wider einige bei unserm Gericht Schwaben ingelegene Wildpretschützen geführten Prozeß ist unter anderm vorkommen, daß der verhafte Paulus Weindl, insgemein der Kramer von Westerham der Grafschaft Valley, neben dem Balthasar Schneider von Esterndorf und dessen Sohn ein kleines Wildstück dem Pfarrer von Feldkirchen, so ein Conventual von Weyarn ist, angefeilet und daraus 1 Gulden 12 Kreuzer empfangen. Dann habe ermelter Schneider eine Hirschhaut gedachtem Pfarrer zu Feldkirchen zugestellt, so er zu Miesbach arbeiten lassen. Nit weniger habe der Pfarrer zu Wahringen von des verhaften Hansen Köndler, Metzgers von Weyarn, Eheweib und dem Andre Jäger in der Thiereser 46 oder 48 Pfund Wildbret, jedes per 10 Schilling, erkauft. Sodann hat nach jetzt besagten Metzgers Aussag der Pfarrer von Ottendichel, Gerichts Wolfertzhausen, von ihme Metzger und beiden Schäflern zu Weyarn und Miesbach per 3 Gulden Wildbret erkauft. Ebenfalls habe um Lichtmeß dieser Pfarrer das von ihm, Schäffler von Miesbach, geschossene Wildstück und zwar das Pfund per 2 Kreuzer erkauft. Ferner habe mehrernannter Metzger das um nächstkommende Weihnachten 2 Jahr vom Schäffler von Miesbach geschossene Stück Wild dem Gsellenpriester von Ottendichel Malachiä, als er vom verrichten Gottsdienst heimgefahren, aufgelegt, warnach der Pfarrer daselbst dieses, das Pfund per 2 Kreuzer, die beiden Wildhäut aber berührter Gsellpriester per 1 Gulden 45 Kreuzer oder 2 Gulden erkauft. Werdet solchem nach gegen diese Geistlichen um desto mehr die Gebühr vorzukehren wissen, weilen sie durch dergleichen unzulässige Aufkaufung denen Wildbretschützen gleichsam Anlaß geben, dem hochverbotnen Wildbretschiessen nachzuhangen. Dann wann diese nit wüßten, wo sie des Wildbrets anbringen und ohn(=los)werden könnten, manicher solches unterlassen und deme nit nachgehen würde. - Zum Schäffler zu Weyarn, dem Bernhard Pichler, s. a. BayHStA, KHR 474 fol. 227 u. 474 fol. 288f. 71 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1705 VII 29. 72 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1578 IV 20 - 2. 73 Rainer Beck spricht von einem »Repertoire herrschaftlicher Machtmittel«, über die die Dorfpfarrer verfügten, und er betont: »Es gibt ohne Zweifel eine gewisse Neigung innerhalb des Seelsorgeklerus, seinen herrschaftlichen Stand - in wie außerhalb der Kirche - auf gefährliche Weise hervorzukehren, was sich zum Teil schon an äußeren Attitüden zeigte.« (vgl. ders.: Der Pfarrer und das Dorf. Konformismus und Eigensinn im katholischen Bayern des 17./ 18. Jahrhunderts, in: Richard van Dülmen (Hg.): Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a. M. 1988, 107 - 143, 283 - 287, hier: 143 u. 138). - Dazu, daß die Lokalbeamten und Landsassen sich weitgehend durch eigenes Jagen oder Leute, die sie zum Jagen schickten, mit Wildbret versorgten, s. u. 734ff. Das Netzwerk der Wilderei 723 Was am dritten Prozeß ebenfalls greifbar wird, sind die zum Teil recht weiten Entfernungen, die die Wilderer und ihre Helfer zurückgelegt haben. Das Gebiet, aus dem die 23 in diesen Prozeß verwickelten Personen stammen, ist erstaunlich groß. Die weiteste Entfernung in Nord-Süd-Richtung, die von Forstinning am Nordrand des Ebersberger Forstes bis nach Miesbach am Fuß der Alpen, beträgt 53 km, die weiteste Entfernung in Ost-West-Richtung, die von Aibling bis auf die Höhe von Sauerlach, 26 km. 76 Auch wenn nicht alle Konsorten direkt miteinander zu tun hatten, so gibt es z.B. jene drei Männer, die beim Lechner in Harthausen über Nacht lagen. Sie taten dies wahrscheinlich deshalb, weil ihr Anmarschweg zu weit war, um das Unternehmen an einem Tag durchzuführen. Und aus dem Brief an das Generalvikariat geht hervor, daß Beute, die die Schäffler zu Weyarn und zu Miesbach erlegt hatten, an Geistliche in Ottendichl - das liegt 38 km Luftlinie entfernt - geliefert wurde. Die Nachteile der weiten Entfernungen liegen auf der Hand: mühseliger Transport der oft schweren Lasten, hoher Aufwand, um Verabredungen zu treffen und Nachrichten zu übermitteln, Sich-Bewegen auf wenig vertrautem Terrain und Angewiesensein auf Hilfe vor Ort, auf Konsorten, die Unterkunft und Versteck boten oder beim Transport, Zerwirken und Verkauf der Beute halfen. Warum also diese Nachteile in Kauf nehmen, wenn es in nächster Umgebung genügend Wild und Abnehmer gab? Die Gefahr, vom landesherrlichen Jagdpersonal erkannt zu werden, war in entfernten Revieren viel geringer. Zudem bewegte man sich in verschiedenen Herrschaftsgebieten, nämlich in den vier Landgerichten Schwaben, Aibling, Miesbach und Wolfratshausen, in den beiden Grafschaften Valley und Maxlrain sowie in der Hofmark des Klosters Weyarn. Da die landesherrlichen Beamten nur unter besonderen Umständen in ein anderes Gericht oder in einen Hofmarksbezirk eindringen durften, 77 genügte oft das Zurücklegen weniger Kilometer, um sich in Sicherheit zu bringen. 78 Erst wenn, wie im vorliegenden Fall geschehen, Briefe an verschiedene Landgerichte sowie kirchliche und weltliche Herrschaften abgegangen, und Beamte mit besonderem Auftrag losgeschickt worden waren, und die lokalen Herrschafts- 74 Vgl. BayHStA, KHR 461 fol. 295: Zu Landsberg, wann alda Hochzeiten gehalten werden, speise man Wildbret. - Zu einer geistlichen Hochzeit oder ersten Mess, zu der von Wilderern Rehschlegl und Läufe sowie zweierlei Schwarzwildbret verkauft wurden, vgl. ebd. 486 fol. 304f. 75 BayHStA, KHR 461 fol. 281. Zur Verwendung von Fässern zum Einsuren (Einpökeln) von Fleisch vgl. Eva Habel: »Ein Tisch samt der Laden von hartem Holz«. Über die Verwendung von Holz im bäuerlichen Haushalt des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Kreissparkasse Ebersberg (Hg.): Nutzungen, Wandlungen und Gefährdungen des Ebersberger Forstes. Beiträge zur Geschichte unserer Umwelt, Ebersberg 1990, 30 - 37, hier: 30f. 76 Die drei Müller-Brüder und ihre Konsorten kommen aus dem Dreieck, das die Orte Landsberg, Fürstenfeldbruck und Mering bilden. Die größte Nord-Süd-Entfernung beträgt hier 23, die größte Ost- West-Entfernung 14 km. In dem Prozeß gegen die Viehdiebe aus den Gerichten Schwaben, Erding und Haag betragen diese Entfernungen 18 (Nord-Süd) bzw. 22 km (Ost-West). 77 Ein dem Obristjägermeister 1649 erteiltes und 1695 ausdrücklich bestätigtes öffentliches Patent erlaubte diesem und seinen Leuten nur bei konkreten Verdachtsmomenten Untertane in adelige oder geistliche Hofmarken hinein zu verfolgen und dort Hausdurchsuchungen und Verhaftungen vorzunehmen. Solche Maßnahmen sollten jedoch denen Herrschaften an ihrer hofmarklichen Jurisdiktion unvorgreiflich geschehen (vgl. BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1695 VI 3). 78 Vgl. hierzu Carsten Küther: Räuber, Volk und Obrigkeit. Zur Wirkungsweise und Funktion staatlicher Strafverfolgung im 18. Jahrhundert, in: Heinz Reif (Hg.): Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984, 17 - 42. S. a. Uwe Danker: Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1988, 412ff. Winfried Freitag 724 träger auch Interesse an einer wirksamen Verfolgung hatten, wurde es für die Gesuchten gefährlich. 79 Um dieses Kapitel abzuschließen, noch eine Beobachtung zur Aufklärungsquote von Wildereidelikten. Mein Untersuchungszeitraum fällt weitgehend zusammen mit dem Höhepunkt der sogenannten Kleinen Eiszeit (1688 - 1701), in der Europa von einem in den letzten 500 Jahren einmaligen Temperatursturz und zahlreichen, oft kurz aufeinander folgenden Mißernten sowie Preissteigerungen heimgesucht wurde. 80 Daß Ende des 17. Jahrhunderts auch Bayern hart getroffen wurde, zeigen die Entwicklung des Roggenpreises in München (vgl. Schaubild 1) sowie zahlreiche Einträge in den Protokollen des Hofrats, zu dessen Aufgaben ja die Überwachung von Handel und Gewerbe zählte. Die europaweite Krise von 1693/ 94 scheint in Bayern etwas früher begonnen und geendet zu haben. Ein erstes Zeichen für eine angespannte Versorgungslage ist hier die Ausfuhrsperre für Getreide, die der Hofrat im März 1690 verfügte. 1692, als der Roggenpreis mit 2.450 Denaren pro Scheffel seinen Höchstwert erreichte, erging die Anordnung, den Armen durch Verkauf von billigem Getreide auf der öffentlichen Schranne unter die Arme zu greifen. 81 Im Juni desselben Jahres fand im Jesuitenkloster Ebersberg eine Traidvisitation (Traid=Getreide) statt. Dabei wurden Vorräte gefunden, die nicht alle bis zur bevorstehenden verhoffentlich besseren Ährnzeit (...) vonnöten. 82 Der Pflegsverwalter zu Schwaben erhielt den Befehl, einiges davon zum Verkauf auf die Münchner Schranne schaffen zu lassen. Ein Mandat vom 17. Oktober 1693 ordnete an, daß kein gemästetes und kein mageres Schwein mehr außer Landes verkauft werden durfte. 83 Einen Monat später wurde der Pflegsverwalter von Wolfratshausen angewiesen, gegen Personen in seinem Landgericht vorzugehen, die ohne und mit habenden Fürkäufl Patenten die Viktualien außer Lands verkauften. 84 Die zweite Krise (1698 - 1702) erreichte mit der Mißernte von 1699 und einem Roggenpreis von 2.257 79 Manfred Rauh: Verwaltung, Stände und Finanzen. Studien zu Staatsaufbau und Staatsentwicklung Bayerns unter dem späteren Absolutismus, München 1988, 67f., stellt hierzu fest: War der »Gehorsam kurfürstlicher Landbeamter gegenüber Dienstbefehlen üblicherweise ziemlich lau, so verhielt es sich mit den ständischen Obrigkeiten noch weit schlimmer. Anordnungen des Monarchen, die auch sie betrafen, erfüllten sie durchschnittlicherweise noch lustloser und hinhaltender als fürstliche Unterbehörden, doch pflegte dies auch in eindeutigen Ungehorsam umzuschlagen, wenn durch Gebote oder Verbote ständische Rechte und Vorteile beschnitten wurden oder bloß gefährdet waren. Die Absichten der Zentrale wurden dann mit geeigneten Mitteln durchkreuzt.« - Ein Ausnutzen der Gerichts- und Herrschaftsgrenzen ist auch bei anderen Beispielen zu beobachten: Für Schropp, Barth und Konsorten war es wichtig, nicht nur zwischen verschiedenen Landgerichten, sondern auch zwischen diesen und der Herrschaft Törring-Seefeld hin und her wechseln zu können. Der Weg über den Ammersee spielte dabei, wie wir sahen, eine wichtige Rolle. Auch den Wilderern und (Vieh-)Dieben in den Gerichten Schwaben, Erding und Haag bot sich die Möglichkeit, in ein anderes Herrschaftsgebiet, nämlich in das zur bischöflichen Herrschaft Freising gehörige Burgrain, zu wechseln. 80 Zum Höhepunkt der Kleinen Eiszeit vgl. Christian Pfister: Klimageschichte der Schweiz 1525 - 1860, Bern u. Stuttgart 1988 (3. durchgesehene Auflage), 127 - 129. Zu den im folgenden erwähnten Krisen siehe Münch: Hofrat (wie Anm. 7), 65f., 83 u. 192f., u. Moritz J. Elsas: Umriss einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland, Bd. 1, Leiden 1936, 168. S. a. Pierre Goubert: Demographische Probleme im Beauvais des 17. Jahrhunderts, in: Claudia Honegger (Hg.): M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u. a. Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a. M. 1977, 198 - 219, hier: 207 - 212. 81 BayHStA, KHR 474 fol. 128. 82 BayHStA, KHR 473 fol. 258f. 83 BayHStA, KHR 483 fol. 191ff. Dieses Verbot wurde im November 1694 wieder aufgehoben. Das Netzwerk der Wilderei 725 Denaren ihren Höhepunkt. Bereits 1698 war in München eine Große Geheime Kommission eingesetzt worden, die sich mit den Ursachen des Getreidemangels und der großen Teuerung befassen sollte und die 1699 eine erneute Ausfuhrsperre für Getreide verhängte. Mißernten und Teuerung ließen in vormoderner Zeit in aller Regel die Zahl der Eigentumsdelikte stark ansteigen. Behringer hat in seiner Untersuchung diesen Zusammenhang bestätigt gefunden. 85 Durch die erste Agrarkrise sei der Anteil entsprechender Vergehen an der Gesamtkriminalität von 36% auf über 60% angestiegen. Allein die Häufigkeit des Diebstahldeliktes habe sich von 20% auf 38% fast verdoppelt. Nach 1693 sei es kurzfristig zu einer »Normalisierung« im Verhältnis der Deliktgruppen und dann wieder zu einem Anstieg der Eigentumskriminalität auf fast 50% gekommen. Wilddiebstahl, der ja zu den Eigentumsdelikten zählt und dazu beiträgt, ein knappes Nahrungsangebot zu vergrößern, müßte also in den Krisenjahren ebenfalls stark zugenommen haben. Diese Erwartung wurde von meiner quantitativen Auswertung nur zum Teil bestätigt. Die Notjahre 1698 bis 1700 stellen mit 2, 3 und 5 Delikten Tiefstwerte dar. Nur die Jahre 1691 bis 1694 passen gut ins Bild. Löst man sich jedoch aus der vorgegebenen Erwartung, so stößt man auf einen viel deutlicheren und direkteren Zusammenhang, nämlich den zwischen den drei großen Prozessen in meinem Untersuchungsgebiet und den Spitzen in der Deliktekurve. Mit 38 weist das Schaubild für das Jahr 1689 die höchste Zahl an Vergehen aus. Es ist dies das Jahr des mit 23 Beschuldigten größten Verfahrens, in dem es ausschließlich um Wilderei ging. Auch wenn der Prozeß bereits im Juni oder Juli und nicht erst im August begann, dürften doch fast alle in ihm verhandelten Vergehen 1689 verübt worden sein. 86 Die Delikte, für die die Brüder Müller und ihre Konsorten Anfang 1695 zur Rechenschaft gezogen wurden, fallen wahrscheinlich alle in das Jahr 1694. Beide Jahre, 1694 und 1695, gehören zu der kurzen Phase der Erholung nach der vorangegangenen Krise. In ihr ging, wie eben erwähnt, die Anzahl der Diebstahlsdelikte auf ein Normalmaß zurück. Der Großprozeß gegen insgesamt 65 Beschuldigte, darunter 19 Wilderer, dauerte von Januar bis November 1693. Ein Gutteil der Vergehen dürfte bereits 1692 verübt worden sein. Um die 28 bzw. 29 Wildereidelikte in diesen beiden Jahren zu erklären, ist man somit nicht allein auf die Krise, die damals ihren Höhepunkt erreichte, angewiesen. Andererseits bestätigt der völlig aus dem Rahmen fallende Umfang dieses Verfahrens den zu erwartenden engen Zusammenhang zwischen Eigentumsdelikten und allgemeiner Not. 84 BayHStA, KHR 479 fol. 106 u. 479 fol. 200. Zum Umgang des Hofrates mit Fürkaufpatenten vgl. Münch: Hofrat (wie Anm. 7), 65. - Nach Grimm: Wörterbuch (wie Anm. 19), Bd. 4, I,1, 754, ist Fürkauf ein aus gewinnsucht hervorgehender Kauf zu nachherigem oder späterem wiederverkaufe. 85 Vgl. Behringer: Mörder (wie Anm. 3), 108f. 86 Die zeitliche Zuordnung der Straftaten mußte anhand des Jahres erfolgen, in dem das Urteil gesprochen wurde. Dies ließ sich nicht umgehen, weil Tag oder Datum einer Tat nur selten genannt werden. Manchmal finden sich ungefähre, meist gar keine Angaben. Insgesamt entsteht der Eindruck, als seien die Urteile rasch ergangen: bei Einzeltätern und kleinen Prozessen ein paar Wochen, bei großen Prozessen ein paar Monate nach der Tat. Winfried Freitag 726 Schaubild 1: Roggenpreis pro Scheffel und Zahl der in Wildereidelikten ergangenen Urteile, 1686 - 1700 87 Die Höchstwerte der Kurve verdanken sich also in erster Linie ungewöhnlichen Umständen wie dem Eingreifen eines hohen Beamten, dem umfassenden Geständnis eines Verdächtigen, der Entsendung von Ermittlern aus München vor Ort oder einer ansonsten nicht anzutreffenden Aussagebereitschaft der Bevölkerung. Die starke Abhängigkeit der Kurve von solchen Besonderheiten und Zufällen spricht für eine hohe Diskrepanz zwischen der Zahl der aufgedeckten und der tatsächlich verübten Vergehen. Anders gesagt: was sich im Schaubild widerspiegelt, ist weniger die Zahl der tatsächlich verübten Delikte als die von Jahr zu Jahr stark schwankende Aufklärungsquote. 3. Wildererbanden oder Netzwerk? Im zeitgenössischen Sprachgebrauch konnte das Wort Bande zweierlei meinen: eine in konkreten Delikten zusammen agierende Kleingruppe oder ein übergeordnetes Geflecht »von zum Teil zahlreichen Delinquenten, die sich kannten und hie und da zu einzelnen Taten zusammenfanden. Vereinigung und fortgesetztes Verüben von gemeinschaftlichen Taten waren damals und sind heute die minimalen definitorischen Bedingungen für die Benutzung des Begriffs Bande«. 88 Legt man diese Minimaldefinition zu 87 Die Urteile pro Jahr sind die meines engeren Untersuchungsraumes, d.h. die in den Landgerichten Schwaben, Wolfratshausen, Starnberg und Landsberg abgeurteilten Fälle. - Die jährlichen Durchschnittspreise für Roggen stammen aus Elsas: Preise (wie Anm. 80), 544. Grundlage sind die Preise, zu denen die Stadt München Roggen aufkaufte, um diesen als Vorrat für Notzeiten zu speichern und auch als Teil der Entlohnung an städtische Bedienstete abzugeben (vgl. ebd. 211). Für die Jahre 1689 und 1690 enthält die Preisreihe bei Elsas keine Angaben. 88 Uwe Danker: Räuberbanden (wie Anm. 78), 278. Vgl. auch Andreas Blauert: Diebes- und Räuberbanden in Schwaben und in der Schweiz, an Bodensee und Rhein im 18. Jahrhundert, in: Harald Siebenmorgen (Hg.): Schurke oder Held? Historische Räuber und Räuberbanden, Sigmaringen 1995, 57 - 64, hier: 58 - 61. 0 500 1000 1500 2000 2500 1686 1687 1688 1689 1690 1691 1692 1693 1694 1695 1696 1697 1698 1699 1700 Denare 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Delikte Denare Delikte Das Netzwerk der Wilderei 727 Grunde und sieht die weitverbreitete Vorstellung von einem festen Hauptmann mit militärischer Kommandogewalt als verfehlt an, dann scheinen sich zumindest die drei großen Prozesse gegen Wildererbanden gerichtet zu haben. Denn in allen dreien entsteht der Eindruck eines Geflechts von Einzelpersonen und Kleingruppen, in denen man bei der Verarbeitung und beim Verkauf der Beute zusammenarbeitete, gelegentlich gemeinsam pirschte und sich durch Beherbergung und Versteck gegenseitig half. Ein solches Geflecht wurde nicht von einem Zentrum her, sondern von mehreren Knotenpunkten getragen. Obwohl der Begriff Bande gut zu passen scheint, bleibt bei seiner Verwendung ein Unbehagen. Er ist in den Hofratsprotokollen nirgends in Zusammenhang mit den hier behandelten Wilderern zu finden. 89 Die vorgegebenen Fragstücke richten sich nicht auf Banden, die zu zerschlagen, und auf Anführer, die zu ermitteln und zu verhaften sind, sondern auf Konsorten, Mithelfer und Verstrickte. Und in den Geständnissen gibt es keinen einzigen Hinweis, daß die Wilderer sich selber als Mitglieder einer Bande sahen, so wie Danker dies von Räuberbanden um 1700 berichtet. 90 Vorbehalte gegen den Begriff Bande ergeben sich auch aus der tiefen Verankerung der Wilderer, ihrer Abnehmer und Helfer in ihrem sozialen Umfeld. Die wenigen Wildschützen, die nicht der seßhaften Bevölkerung angehörten, scheinen nicht als Vagierende zu Wilderern, sondern gerade umgekehrt durch die erlittene lange Zuchthausstrafe oder Landesverweis erst entwurzelt worden zu sein. Am oben erwähnten Melchior Barth, Bader zu Oberfinning, läßt sich ein solches allmähliches Abgleiten veranschaulichen. Barth wurde acht Jahre nach seiner ersten Verhaftung und sechs Jahre nach seiner Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe auf der Gart betreten und schließlich den Venetianern als Soldat überlassen. 91 Eine ähnliche Karriere dürften der auf ewig ins Zuchthaus kondemnierte und von dort entflohene Hauptwildbretschütze Ruestorffer und der sogenannte Tekele oder Jägerbärtl durchlaufen haben. Letzterer sei, so erfahren wir, aus dem Land geschafft worden, halte sich jetzt aber wieder in unterschiedlichen Überreiterämtern auf und richte dort großen Schaden an. Demjenigen, dem es gelänge, diesen verschreiten Wildbretschützen handfest zu machen, wird ein Kopfgeld (taglia) von 50 Gulden in Aussicht gestellt. 92 Es gab also durchaus einzelne Wilderer, denen die kurfürstlichen Räte besonderen Rang zumaßen, dieser Rang erwuchs ihnen jedoch aus anderen Quellen als einer Anführerrolle: daraus, daß sie trotz erlittener schwerer Strafen auf ihrem Tun beharrten, daß ihr Wirkungsgebiet besonders groß und sie als Wildbretschützen besonders erfolgreich waren. Diese Hauptwildbretschützen agierten isoliert von den seßhaften, fest in ihrem sozialen Umfeld verankerten Wilderern. Wenn, dann haben sie sich nicht mit diesen, sondern untereinander zusammengetan wie etwa jene des Landes verwiesenen Delinquenten, die sich an dem Forst- und Thürnbuch im Pfalz-Neuburgischen wiederum niedergesetzt und sich erst recht auf das Wildbretstellen verlegt haben. 93 Wenn also die vom Hofrat so genannten Hauptwildbretschützen als zentrale Figuren für die Geflechte oder Banden von seßhaften Wilderern ausscheiden, gab es dann 89 Die einzige Stelle, an der ich in den Quellen auf den Begriff Bande gestoßen bin, ist ein Mandat von 1771 (BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1771 V 27 - 2). Vgl. hierzu unten 754. 90 Vgl. hierzu Danker: Räuberbanden (wie Anm. 78), 278. 91 S. o. 717ff. 92 Zum Ruestorffer und seinem Sohn vgl. BayHStA, KHR 454 fol. 206; zum Tekele BayHStA, KHR 466 fol. 186f. 93 BayHStA, KHR 473 fol. 85f. Winfried Freitag 728 andere, die führende Rollen übernommen haben? Waren solche überhaupt zu besetzen? Wenn ja, wie sahen sie aus? Um diese Fragen zu beantworten, muß man sich zunächst einmal die unterschiedlichen Anforderungen vergegenwärtigen, die sich beim Wildern auf der einen, bei größeren Einbrüchen und Raubüberfällen auf der anderen Seite ergaben. Letztere erforderten, wie die Aktivitäten der von Danker beschriebenen Räuberbanden zeigen, 94 ein hohes Maß an Spezialistentum und Arbeitsteiligkeit. Das Unternehmen mußte ausbaldowert, exakt geplant und bis in alle Einzelheiten sorgfältig vorbereitet werden. Die Aktion selbst bedurfte einer straffen Führung, die über die abgesprochene Rollenverteilung wachte, rasch Entscheidungen fällte und in entsprechende Anweisungen umzusetzen verstand. Für die Pirsch - auch auf Hochwild - war kein vergleichbarer Aufwand vonnöten. Sofern man eine Schußwaffe besaß, mit dem Revier, den Standplätzen des Wildes und den Gewohnheiten der zur Bekämpfung der Wilderer eingesetzten kurfürstlichen Jaidsbedienten vertraut war, konnte man sich auch ganz spontan auf den Weg machen. Dies schließt nicht aus, daß die Zusammenarbeit mit erfahrenen Konsorten, neue Reviere eröffnete und die Erfolgschancen beträchtlich erhöhte. Unbehagen daran, die aufgezeigten Geflechte oder Netzwerke der Wilderei unter den Begriff Bande zu subsumieren, verursacht schließlich auch der Blick auf Stand und Beruf der Beteiligten. Wie die Tabelle 2 zeigt, sind alle Gruppen der ländlichen Bevölkerung vertreten: wohlhabende und arme, Standespersonen und einfache Untertanen, Bauern, Handwerker, Händler, kleine Gewerbetreibende, Gesinde, kurfürstliche Beamte und Personen, die bei Adeligen Dienst taten. Die größte Gruppe bilden mit 124 Fällen allerdings diejenigen ohne Nennung eines Berufes. Bei ihnen ist zu berücksichtigen, daß in den Fällen, in denen der Hofstatt des Familiennamens verwendet wurde, jeder, der in der Nachbarschaft lebte, sofort Bescheid wußte, die Berufsangabe Bauer also überflüssig war. Da jedoch den Namen nicht anzusehen ist, ob es sich um Hof- oder Familiennamen handelt, bleibt ohne aufwendige Untersuchung lediglich die Feststellung: Die Zahl der Bauern muß deutlich höher als die fünf ausdrücklich als solche ausgewiesenen gelegen haben. 95 Stark unterrepräsentiert in der Tabelle dürften auch die dörflichen Unterschichten sein. Sie mußten, um sich durchzubringen, meist mehreren Tätigkeiten nachgehen: etwa einen kleinen Acker und einen Garten bebauen, ein wenig Kleingewerbe treiben und sich gelegentlich als Taglöhner verdingen. Ihnen einen bestimmten Beruf zuzuordnen, dürfte bereits damals den Beamten schwer gefallen sein. 94 Vgl. Danker: Räuberbanden (wie Anm. 78), 20ff. u. 220ff. 95 Diesen Hinweis verdanke ich Stefan Breit. Das Netzwerk der Wilderei 729 Tabelle 2: Beruf und Stand der Wilderer, ihrer Helfer und Abnehmer 96 Handwerker und Gewerbetreibende 44 Handwerker 30 Wirte 7 Bader 4 Händler 3 Kleriker 15 Pfarrer 11 Prälaten 2 Pfarrvikare 1 Gesellenpriester 1 Kurfürstliche Beamte 12 Pflegsverwalter/ Landrichter 7 Amtleute 3 Gerichtsschreiber 1 Überreiter 1 Häusler, Inwohner und Gesinde 10 Pfeifer 3 Feldhüter 1 Mesner 1 Tagwerker 1 Knechte 4 Adelige Bediente 9 Jäger 5 Richter 1 Baumeister 1 Kammerdiener 1 Kutscher 1 Bauern und Fischer 8 Bauern 5 Fischer 3 Landadelige 1 Angaben zum Beruf insgesamt 99 Gesamtzahl der Vergehen 223 Tabellen wie diese ließen sich auch für jene Teilmengen ins Wildereigeschehen Verstrickter erstellen, gegen die einer der drei großen Prozesse geführt wurde. Am Befund würde dies wenig ändern. Nicht nur die Gesamtmenge, auch diese drei Untergruppen präsentieren, wenngleich mit gewissen Einschränkungen, einen Querschnitt durch die ländliche Gesellschaft. Spätestens diese Beobachtung zwingt zu fragen: Haben sich tat- 96 Die Angaben erfolgen pro Delikt. Wenn also ein Wirt zweimal wegen eines Wildereideliktes vor Gericht stand, dann wurden in dieser Tabelle zwei Wirte gezählt. - In vielen Fällen finden sich keine genauen Angaben zum Delikt, in anderen hat ein und dieselbe Person gejagt, Wildfleisch aufgekauft und Konsorten Unterkunft geboten. Daher kann bei vielen Delinquenten eine klare Zuordnung zu einer bestimmten Rolle wie Schütze, Abnehmer, Helfer oder Anstifter nicht vorgenommen werden. Winfried Freitag 730 sächlich Menschen von so unterschiedlicher sozialer und beruflicher Stellung zum fortgesetzten Verüben von Straftaten vereinigt, so wie es die Minimaldefinition verlangt? Bei Entwurzelten, für die ihre frühere soziale Stellung an Bedeutung verloren hat, erscheint dies denkbar, kaum jedoch bei »Bandenmitgliedern«, die voll in die gesellschaftliche Ordnung integriert sind. Wenn nicht um Banden, worum handelt es sich dann? Was ist mit der in der Überschrift angedeuteten Alternative Netzwerk gemeint? Dazu zunächst ein Exkurs zu den lebenspraktischen Zusammenhängen und geographischen Räumen, in denen sich die Menschen auf dem Lande damals bewegten. 97 Von entscheidender Bedeutung für Intensität und Reichweite ihrer Kontakte war das Ausmaß an Autarkie der einzelnen Haushalte und Dörfer beziehungsweise ihre Abhängigkeit von Gütern, Zuerwerbsmöglichkeiten und qualifizierten Leistungen, die von außen kamen. Bei manchen Haushalten, die weder einen Acker noch eine Kuh besaßen, begann »die Abhängigkeit schon ganz weit ›unten‹, bei der schlichten Notwendigkeit, sich ihre Nahrung zu kaufen,« und - damit dies möglich wurde - Handwerksprodukte oder die eigene Arbeitskraft anderen, meist im Dorf Ansässigen, anzubieten. Es gab also einen »innerdörflichen Markt,« auf dem sich die Bewohner ein und derselben Gemeinde begegneten »in ihren unterschiedlichen Eigenschaften als Produzenten, Konsumenten, Arbeiter und Auftraggeber.« 98 Sehr stark auf sich selbst bezogen war das Dorf auch durch die landwirtschaftlichen Tätigkeiten. Da diese im Rahmen der Dreifelderwirtschaft erfolgten, mußte man sich hinsichtlich der Aussaat, Erntezeit, Viehweide und sonstigen Allmendenutzung zeitlich aufeinander abstimmen und dabei auftretende Konflikte beilegen. 99 Bei aller Selbstbezogenheit blieb das Dorf aber auch auf größere Welten angewiesen und in sie auf verschiedenste Weise eingebunden. Bestimmte Produkte wie Salz und Eisen mußten importiert werden, bestimmte Handwerke und Gewerbe gab es nur in einem der Nachbardörfer oder in der Stadt. 100 Von außen kommende Gerichtsinstitutionen sprachen Recht, Vertreter weltlicher und kirchlicher Obrigkeiten erhoben Abgaben, Pfarrer hatten nicht nur die religiösen Bedürfnisse ihrer Gemeinde zu befriedigen, sondern auch die sittlich-religiösen Ideale der Eliten durchzusetzen. 101 Indem die Landbewohner ihre Produkte in Marktflecken oder Städten anboten, indem sie Fuhrdienste und andere Arbeiten für Ortsfremde verrichteten, indem sie Amtsstuben, Adelssitze, Zehntscheunen und Kirchen aufsuchten und in Wirtshäuser gingen, trafen sie an zentralen Punkten mit Menschen aus anderen Orten zusammen. Dies änderte jedoch nichts daran, daß sich ihre Kontakte und Beziehungen auf die kleinen Welten ihres Haushaltes, ihrer Nachbarschaft und ihres Dorfes konzentrierten. 102 Das Agieren 97 Vgl. hierzu Rainer Beck: Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993. Beck untersucht die ganz kleinen und etwas größeren Welten, in denen die ländliche Bevölkerung agierte, am Beispiel des Gebietes zwischen Ammersee und Lech. In diesem Gebiet war auch ein Gutteil der von mir erfaßten Wilderer aktiv. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung von Beck entfernt sich mit dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht weit von meinem Untersuchungszeitraum. Ich stütze mich im folgenden außerdem auf Arthur E. Imhof: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren, München 1984; David W. Sabean: Die Dorfgemeinde als Basis der Bauernaufstände in Westeuropa bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hg.): Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1982, 191 - 205. 98 Beck: Unterfinning (wie Anm. 97), 513f. 99 Vgl. Sabean: Dorfgemeinde (wie Anm. 97), 192. S. a. Beck: Unterfinning (wie Anm. 97), 86ff. 100 Vgl. hierzu Beck: Unterfinning (wie Anm. 97), 301ff. 101 Vgl. Beck: Pfarrer (wie Anm. 73), 115ff. Das Netzwerk der Wilderei 731 in einem größeren, mehrere Marktorte oder gar Städte umfassenden Raum und die Wahrnehmung der Kontakte zu übergeordneten Märkten und zu Institutionen religiöser oder politischer Art blieb in der Hauptsache Handwerkern, Händlern, Beamten, Klerikern und Landadeligen überlassen, jener Personengruppe also, die Sabean Vermittler oder Broker nennt. 103 Ein erneuter Blick auf die Tabelle zu Beruf und Stand der in Wildereidelikte verwikkelten Personen zeigt: Die Broker sind hier außerordentlich stark vertreten. Daran würde sich auch dann nur wenig ändern, wenn unter den 124 Fällen ohne Angaben kein einziger mehr aus ihren Reihen wäre. Zum quantitativen Aspekt der Überrepräsentation kommt noch ein zweiter, ein qualitativer. In den Hofratsprotokollen ist über die meisten Delinquenten nur sehr wenig zu erfahren. Unter denen jedoch, über die etwas mehr gesagt wird und die auf Grund ihrer besonderen Rolle aus der Masse der Wilderer herausragen, dominieren eindeutig die Broker. Sie tun dies als Drehscheibe für Beute und für Nachrichten, als Anstifter oder als Warner und Beschützer. Unter den Brokern sind die Geistlichen besonders stark in Wildereidelikte verwikkelt. Sie bilden eine so wichtige Abnehmergruppe, daß der Hofrat in ihnen sogar eine der Ursachen für das Treiben der Wilderer sieht. Kennzeichnend dafür ist ein Schreiben, in dem die Räte das bischöfliche Ordinariat zu Augsburg zur Bestrafung von drei Pfarrern auffordern. Es gipfelt in der Feststellung, daß durch das Aufkaufen des auf unzulässige Weise gepirschten Wildbrets das ohne dem schon überhand genommene schädliche Wildbretschützengesindl noch mehrers angefrischt und gezieglet wird. 104 Zieglen bedeutet »aufziehen, erzeugen, züchten«! 105 Die Geistlichen stellen nicht nur die wichtigste Abnehmergruppe (vgl. Tabelle 3). Vier von ihnen gingen auch selber auf die Jagd und von vieren ist bekannt, daß sie andere ganz direkt zu verbotenem Tun anstifteten. Die Mengen an Wild, die sie aufkauften, lassen fragen, ob einige nicht sogar am Weiterverkauf beteiligt waren. Dafür würde sprechen, daß sich manche Dorfgeistlichen als Kommerzianten betätigten, sie auf dem 102 Vgl. Imhof: Verlorene Welten (wie Anm. 97), 56ff. 103 Vgl. hierzu Sabean: Dorfgemeinde (wie Anm. 97), 196 - 198. - Die hohe Bedeutung der Broker für die Außenbeziehungen der kleinen Welten trete, so Sabean, besonders deutlich hervor bei Revolten und anderen außergewöhnlichen Situationen, die die Bauern dazu zwangen, »in einem kurzen Zeitraum ein bestehendes Beziehungsnetz zu aktivieren« (ebd. 197). Eines der ins Auge springenden Merkmale der europäischen Bauernunruhen vom Ende des Mittelalters bis zur Französischen Revolution sei »die Tatsache, daß die Führer selten, wenn überhaupt, selbst Bauern waren« (ebd.). In Führungspositionen gewählt, oft gegen ihren Willen auch gedrängt, wurden Personen, die auf Grund ihrer Tätigkeit und gesellschaftlichen Position über Einfluß und Beziehungen verfügten und in der bäuerlichen Ökonomie oder in der Landgemeinde zuvor schon eine wichtige Rolle gespielt hatten. Ein Beispiel hierfür aus den Pfleggericht Schwaben bietet der langjährige Kampf, den Anfang des 17. Jahrhunderts ein paar Gemeinden um Nutzung und Besitzrechte an der sogenannten Ebersberg Gemain erst mit dem Kloster Ebersberg, dann mit dem Herzog führten. Diese Auseinandersetzung gipfelte in einer Klage der Gemeinden gegen ihren Landesherrn vor dem Reichskammergericht. Wichtigster Organisator des Kampfes auf Seiten der Gemeinden war ein Sautreiber (=Schweinehirte oder -händler), der Schweineherden aus dem Ebersberger Raum zum Verkauf bis in die Städte am Rhein, darunter Speyer, brachte und dort vom Reichskammergericht hörte. Vgl. hierzu Stefan Breit: Die ganze Welt in der Gemain, in: Stefan von Below/ Stefan Breit: Wald - von der Gottesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherrn und Untertanen um den Wald in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1998 (=Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 43), 57 - 236. 104 BayHStA, KHR 484 fol. 374. Ähnlich endet auch das Schreiben an das Generalvikariat zu Freising (vgl. oben Anm. 68). 105 Grimm: Wörterbuch (wie Anm. 19), Bd. 15, 913. Winfried Freitag 732 innerdörflichen Markt immer wieder durch den Verkauf von Getreide, Stroh, Wein und Fleisch aktiv wurden. Dafür, daß gelegentlich auch Wildbret und -häute Eingang in ihr Sortiment fanden, gibt es jedoch keine Belege. Die Mengen, die sie den Wilderern abnahmen, dürften sich aus der Gepflogenheit der Geistlichen, sich gegenseitig Wildbret zu verehren, und der Tatsache, daß sie große Esser waren, erklären. 106 Für die Rolle als Anstifter und Drehscheibe dürfte der Prälat von Dietramszell nicht untypisch gewesen sein. 107 Ihm wurde vorgehalten, vier seiner Leute, darunter seinen Kammerdiener und seinen Kutscher, zum Wildern geschickt zu haben. Die Ermahnungen, die ihm dies einbrachte, blieben ohne Wirkung. Weil Wildbretschützen ihre Beute häufig an das Kloster Dietramszell verkauft haben, mußte er sich ein paar Jahre später erneut verantworten. Daß Kleriker im Wildereigeschehen eine zentrale Rolle spielen konnten, hängt sicherlich auch mit dem Verhalten der geistlichen Obrigkeiten zusammen. Sie kamen dem Wunsch des Hofrates nach strenger Bestrafung von Delinquenten in den Reihen der Kirche nur sehr zögernd nach. 108 Bezeichnend hierfür erscheint ein Zufallsfund: Der Priester Jakob Doppler, 109 Sohn eines Bierbrauers aus Vohburg bei Ingolstadt, hatte 1686 in der Nähe seines Heimatortes zusammen mit einem Studenten zwei Wildschweine geschossen und dieselben bis nach Regensburg gebracht. Der Hofrat richtete daraufhin ein Ersuchen um angemessene Bestrafung des Täters an das dortige Domkapitel. Dieses Requisitionsschreiben blieb jedoch ohne Antwort. Der Priester pirschte weiter und war sogar denen Überreitern, Forstknechten, die ihn - und zwar in weltlichen Kleidern und zum öfteren - mit Pirschbüchsen angetroffen, nit weniger dem Wildmeister mit Totschießen stark bedrohlich. Auf ein erneutes Schreiben fand sich das Domkapitel bereit, den Doppler wenigstens zu versetzen. Doch auch in seiner neuen Pfarre erwies sich dieser als ganz incorrigibilis und ein Verachter der ihm schon zum öfteren beschehenen obrigkeitlichen Commination (Bedrohung). Dem Hofrat blieb daher nichts anderes, als 1692 resigniert festzustellen, daß der Doppler das Wildpirschen (...) nunmehr in ein eingewurzlete Gewohnheit gebracht und also kein Hoffnung zu machen, daß er darvon mehr ablassen wird. 106 So die mündliche Mitteilung von Rainer Beck am 3.XI.1998. Zum »Pfarrer als Kommerziant« vgl. Beck: Unterfinning (wie Anm. 97), 503ff. Von Handelsaktivitäten der Dorfpfarrer berichtet auch Otto Feldbauer: Pfarrklerus und katholische Reform am Beispiel der bayerischen Teile des Bistums Freising und des Hochstifts Freising. Ein Beitrag zur Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung in der frühen Neuzeit, Dissertation Uni. München, voraussichtl. Abschluß 1999. Weder Beck noch Feldbauer sind bei Pfarrern auf den Handel mit Wild gestoßen. 107 Vgl. zu ihm BayHStA, KHR 474 fol. 30 u. 487 fol. 49. Siehe auch oben, 717. 108 Diesen Eindruck hat - besonders was Wildereidelikte angeht - auch Feldbauer: Pfarrklerus (wie Anm. 106), gewonnen (mündliche Mitteilung vom 11.3.1998). 109 Siehe zum Doppler und den folgenden Zitaten: BayHStA, KHR 455 fol. 186; 473 fol. 46; 474 fol. 155. Das Netzwerk der Wilderei 733 Tabelle 3: Abnehmer Abnehmer insgesamt 33 100% Geistliche 110 14 42% Wirte 7 21% 1 Metzger, 1 Kramer, 1 Gerber 3 9% Beamter 1 3% Adeliger 1 3% Sonstige 7 21% Die zweitwichtigste Gruppe von Abnehmern bildeten die sieben Wirte, der Metzger, der Kramer und einer der Gerber. Was die Schützen bei ihnen absetzten, war nicht für den Eigenverzehr, sondern für die Verarbeitung und den Verkauf bestimmt. Daß der Metzger von Weyarn, unterstützt von seiner Frau, seine Ware auch über größere Entfernung vertrieb, und seine Kundschaft vor allem Kleriker waren, geht aus dem Brief an das Ordinariat in Freising hervor. Auch die Fäden, die der Sebastian Steurer, Wirt zu Sauerlach, 111 spann, reichten weit. Er hat denen Wildbretschützen Unterschlaif geben und mitgehalten, das heißt, er hat ihnen Unterschlupf geboten und ist mit ihnen auf die Pirsch gegangen. Was er aufkaufte und was er selber schoß, ging über den Bedarf seines Haushalts hinaus. Seinem Geständnis zufolge gab er einem Münchner Weißgerber elf Hirsch- und Wildhäute in die Arbeit und zahlte dafür ungefähr sieben Gulden Lohn. Seine Wirtschaft war also nicht nur Treffpunkt für die Schützen, sondern auch Drehscheibe für ihre Beute. 112 Obwohl für die Wilderer die Mithilfe von Gerbern und Büchsenmachern unentbehrlich war, ist über sie aus den Hofratsprotokollen wenig zu erfahren. Bis auf einen sollen die vier Gerber, auf die die Ermittler in meinem Untersuchungsgebiet gestoßen sind, Häute lediglich in die Arbeit genommen, nicht aber gekauft haben. Folgt man den Mandaten, so dürften sie doch stärker als Abnehmer aufgetreten sein. Denn das Verbot für Ircherer oder Weißgerber, von gemeinen Leuten rohe und ungegerbte Wildhäute aufzukaufen, wurde immer wieder ausgesprochen. 113 Die Büchsenmacher sind als Handwerker zwar ebenfalls den Brokern zuzurechnen, sie waren jedoch durch andere Handwerker ersetzbar und scheinen deshalb keine so wichtige Rolle gespielt zu haben. In dem mehrfach erneuerten Mandat von 1663 ergeht an Büchsenmacher, Büchsenschifter, 114 Schlosser und Schmied in Städten, Märkten und auf dem Land wie auch andere Stimbler (Pfuscher), dergleichen es bisweilen hin und wieder auf dem Land gibt, das Verbot, den gemeinen Leuten die Büchsen zu schiften, zuzurichten und zu verkaufen. Ingleichen sollen alle bürgerlichen Obrigkeiten darüber wachen, daß hinfürters auf den Tändelmärkten keine zum Pürschen taugliche Rohr mehr feil- 110 Ein weiterer Geistlicher trat nur als Schütze in Erscheinung. Insgesamt waren also 15 Geistliche in Wildereidelikte verwickelt. Hinzu kommen noch vier Personen, die bei Geistlichen als Kammerdiener, Kutscher oder Mesner dienten. 111 BayHStA, KHR 475 fol. 169f. 112 Ähnliches gilt vom Wirt zu Luttenwang (vgl. BayHStA, KHR 484 fol. 374). 113 Vgl. Kurbayern Mandatensammlung 1585 III 9; 1615 IX 4 - 1; 1657 I 25; 1663 III 28; 1705 VII 29. - Ircher=Weißgerber. Irch=bearbeitete Gams- oder Rehhaut. Vgl. Schmeller: Wörterbuch (wie Anm. 19), Bd. 1, 130f. 114 Schifter=Verfertiger von (Büchsen-)Schäften. Vgl. Fischer: Wörterbuch (wie Anm. 48), Bd. 5, 831. Winfried Freitag 734 gehalten oder wenigst den angedeuten Bauers- und andern gemeinen Leuten nit mehr verkauft (...) werden. 115 Die Tatsache, daß entsprechende Leistungen auf dem offenen Markt angeboten wurden, spricht dafür, daß die geforderte Überwachung der Märkte und Handwerker eher Postulat als Realität war. Für die Verstrickung von Beamten gibt es eine Fülle von Beispielen. Der Gerichtsschreiber von Rauhenlechberg und der Oberamtmann von Markt Schwaben verhalfen einsitzenden Delinquenten zur Flucht. Der Gerichtsschreiber zu Erding ließ einem Konsorten eine Warnung zukommen und bewahrte ihn dadurch vor der Verhaftung. Der Landrichter zu Landsberg und der Pflegsverwalter von Wolfratshausen gaben durch Amtssaumsal Verdächtigen Gelegenheit zu Absprachen, zum Beseitigen von Beweismitteln und zur Einschüchterung von Zeugen. Zudem ließen sie Inhaftierte eigenmächtig frei oder versäumten es, ein wichtiges Verhör zu protokollieren und einzuschicken. 116 Folgt man den Hofratsprotokollen, so traten Beamte vor allem als Beschützer, kaum jedoch als Abnehmer und Schützen in Erscheinung. Nur vom Amtmann von Söchering wurde bekannt, daß er zusammen mit seinem Sohn jagte. 117 Zieht man die Mandate hinzu, dann verschiebt sich das Bild. Pfleger, Richter, Kastner, Gerichtsschreiber und andere Beamte maßen sich, so heißt es dort, ungebührlicherweise das kleine Waidwerk an. 118 All denjenigen unter ihnen, die dessen nicht befugt sind, wird dasselbe 1663 bei hoher Straf abgeschafft. Jenen, denen die niedere Jagd zusteht, wird vorgeworfen, ihr Recht zu mißbrauchen, indem sie dem Federwildbret zu ungewöhnlicher und verbotener Zeit nachstellen, sich unzulässiger Leute bedienen und sonsten in viel Weg unwaidmännisch verhalten. 119 Die eben erwähnten unzulässigen Leute und die Beschützerrolle der Beamten wird man wohl zusammen sehen müssen. Es spricht alles dafür, daß die Sachwalter des Kurfürsten vor Ort zu ihren eigenen Aktivitäten jagderprobte Männer, also Wilderer, hinzugezogen haben und diese auch schützten, wenn sie in Schwierigkeiten gerieten. Daß ein solches Unter-einer-Decke-Stecken lediglich in den Mandaten, nicht aber in den Hofratsprotokollen seinen Niederschlag gefunden hat, braucht nicht weiter zu verwundern. Denn wer hätte besser Gelegenheit gehabt, die eigene Beteiligung zu vertuschen, als jene, die die Ermittlungen vor Ort leiteten? Und so erstaunt es nicht, daß der Landesherr ihnen mehrfach drohte, ohne allen Respekt zu verfahren, wenn er einige Konnivenz, Fahr- oder Nachlässigkeit den Wilderern gegenüber verspüren würde. 120 Vorwürfe gegen seine Beamten erhebt der Kurfürst auch in Sachen Hundsprügelung. Damit ist das Gebot gemeint, am Halsband der Hunde Prügel so zu befestigen, daß diese den Tieren beim schnellen Laufen gegen die Vorderbeine schlugen. Auf diese Wei- 115 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1663 III 28. 116 Zum Gerichtsschreiber von Rauhenlechberg s. o. 718; zum Oberamtmann von Markt Schwaben vgl. BayHStA, KHR 477 fol. 44 u. 479 fol. 151; zum Gerichtsschreiber von Erding vgl. ebd. 479 fol. 153; zum Landrichter von Landsberg s. o. 716f. u. 718f.; zum Pflegsverwalter von Markt Schwaben vgl. BayHStA, KHR 464 fol. 92f. 117 Vgl. BayHStA, KHR 470 fol. 165. 118 Zur Einteilung in kleines und großes Waidwerk bzw. hohe und niedere Jagd siehe Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 40: »Zur hohen Jagd gehörten das Rot-, Dam- und Schwarzwild, Auerhahn, Hasel- und Birkwild, Fasan, Schwan und Raubvögel, in Hessen, Württemberg und Bayern auch das Rehwild; zur niederen Jagd zählten vor allem Hasen, Füchse, Dachse, Rebhühner, Schnepfen, Enten.« 119 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1663 I 25. S. a. ebd. 1695 VI 3. 120 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1657 I 25; 1663 III 28. Die eben zitierte Drohung findet sich jeweils ganz am Schluß des Textes. Das Netzwerk der Wilderei 735 se sollten die Hunde der Untertanen daran gehindert werden, dem Wildbret nachzustellen. Die hierzu erlassenen Mandate würden, so 1673 der Landesherr, 121 schierist aller Orten gänzlichen außer Acht gelassen. Gerichts- und Amtleute würden der unterlassenen Hundsprügelung zusehen und denen klagenden Übereitern und andern Gejaidsbedienten die hülfliche Hand nit bieten. Grund dafür seien Amtssaumsal und etwan eigennutzige Konnivenz, also Bestechlichkeit. Die Rolle des Adels ist anhand der Hofratsprotokolle kaum zu erfassen. Wir erfahren lediglich von zwei wildernden Jägern im Dienste des Adels 122 und vom jungen Herrn von Schrenk zu Egmating (Landgericht Schwaben). Er, sein Richter und sein Jäger haben eine Wildsau, die letzterer geschossen hat, in einer Kutschen nachher Haus überbracht. Ungeachtet des Einschreitens des Hofrates und der Verurteilung des Jägers wurde ein Jahr später abmalen ein Schwein (...) geschossen. Und zwar von einem jener unzulässigen Leute, derer sich auch der Adel bediente, nämlich dem zu Egmating anstatt des Jägers wider unsere Gejaidsordnung zur Pürsch angestellt und brauchenden Bauern alldort Fischer genannt. Eben dieser Fischer wurde auch als Wilderer verurteilt. 123 Zieht man die Mandate hinzu, so zeigt sich, daß die Jagd und der Umgang mit den Wilderern ständig für Reibung zwischen dem landsässigen Adel und dem Landesherrn sorgen. Der Kurfürst gesteht zwar ein, daß den der Edelmannsfreiheit fähigen Landsassen das kleine Waidwerk auf den eigenen Hofmarksgründen und auf dem Boden der Landgerichte zusteht, sofern er sich dort nicht alle Jagdrechte vorbehalten habe. Im Jagdmandat von 1673 wirft er dem Adel jedoch vor, dieses Recht zu mißbrauchen. 124 Die Landsassen stellten gar zu viele, schlecht oder gar nicht besoldete Jäger auf und ließen auch durch allerhand anderes Gesindel die kurfürstlichen Wildfuhren und Lustbögen, die Bannforste, Vorhölzer und Auen durchlaufen (...) und alles, was sie nur antreffen, wegpürschen (...), also daß sich etliche öffentlich und ohne Scheu berühmen des kleinen Waidwerks zu exerzieren insoweit befugt zu sein, als sich das Blau am Himmel erstrecke. 125 Träfen diese Jäger und dieses Gesindel oder gar eine Standesperson mit kurfürstlichen Jaidsbedienten zusammen, so würden sie sich so verhalten, als stünde es nicht mehr in eines Landesfürsten Macht, seine Wildfuhren, Überreiter- und Forstämter durch seine Beamten besuchen zu lassen. Förster, Überreiter und Jägerjungen sähen sich Beschimpfungen und Bedrohungen ausgesetzt, ja man würde ihnen sogar die Büchsen abnehmen. 126 Der Landesherr sieht seine Jagdlust und Ergötzlichkeit auch dadurch schwer beeinträchtigt, daß der Adel sein Jagdpersonal durch ungenügende Entlohnung indirekt zum Wildern zwänge und dann seine schützende Hand über die Delinquenten halte. Von den Jägern des Adels und jenem Gesindel heißt es: Solche Gesellen müßten ihres geringen Auskommens wegen notwendig Wildbretschützen abgeben, und sie würden anderen hierzu alle Gelegenheit und Unterschluff bieten, allermaßen man solches schon vielfältig 121 Vgl. BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1673 VI 19 (hier auch die folgenden Zitate). - Zur Hundsprügelung s. a. Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 80f. u. 88. 122 S. o. 720. 123 Zur Frau Schrenk und ihren Jägern siehe BayHStA, KHR 487 fol. 25; 487 fol. 94; 491 fol. 126. 124 Vgl. hierzu die Beispiele in BayHStA, KHR 485 fol. 56f. u. 488 fol. 309. Zu weiteren Beispielen s. u. 745f. - Zu den Jagdrechten des Adels in Bayern s. a. die Hinweise bei Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 39f. 125 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1673 VI 19. 126 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1670 IV 4 u. 1673 VI 19. Das Mandat von 1673 wurde in dem vom 3. VI. 1695 ausdrücklich bestätigt. Winfried Freitag 736 im Werk erfahren hat. 127 Die einer gesonderten Jurisdiktion unterworfenen adeligen Hofmarken scheinen geradezu Operationsbasen für Wilderer gewesen zu sein. Diesen Eindruck erweckt jedenfalls das Jagdmandat von 1695. 128 Einer der Anlässe, es zu publizieren, waren Beschwerden von Hofmarksherren gegen den Obristjägermeister. Dessen Leute würden nämlich Wildbretschützen bis in die Hofmarksgründe hinein verfolgen und dort Visitationen und Verhaftungen vornehmen. Diese Praxis, die auf ein Patent von 1649 zurückgeht und nur bei besonderen Verdachtsmomenten erlaubt ist, wird von Max Emmanuel 1695 ausdrücklich bestätigt. Ergänzt man die Hinweise der Hofratsprotokolle durch die Aussagen der Mandate, dann zeigt sich: Neben den Geistlichen, Wirten, Handwerkern und anderen Gewerbetreibenden waren es vor allem Beamte und Adelige, deren Mittlerrolle sich auch auf das Wildbretschießen erstreckte. 129 Nicht zuletzt angesichts des Ranges und der gesellschaftlichen Funktionen vieler Broker muß die Antwort auf die Frage: Wildererbanden oder Netzwerk? lauten: Bandenbildung und eine das Licht der dörflichen Öffentlichkeit scheuende kriminelle Infrastruktur waren nicht vonnöten. Die die Wildbretschützen aus welchen Gründen auch immer begünstigenden, mit ihnen kooperierenden oder ihnen zugehörigen Broker boten einigen Schutz, und ihr Netzwerk reichte aus für den Informationsaustausch, die Organisation gemeinsamer Unternehmungen sowie die Verarbeitung und den Vertrieb der Beute. Ebensowenig wie auf überörtlicher Ebene Fremde erst zusammenfinden mußten, bestand dazu die Notwendigkeit bei den kleinen Gruppen, in denen die Wilderer vorzugsweise zusammenarbeiteten. Auch sie fielen weitgehend mit den ohnehin bestehenden sozialen Bindungen zusammen. Dazu wiederum ein paar quantitative Befunde: Bei 186 (83%) der insgesamt 223 Delikte richteten sich die Ermittlungen nicht gegen einen einzelnen, sondern gegen mehrere Verdächtige. 130 Und bei den verbleibenden 37 (17%) dürfte der Eindruck, es handle sich um Einzeltäter, oft nur deshalb entstanden sein, weil die Nachforschungen nicht besonders intensiv betrieben wurden, der Beschuldigte auf seinem Schweigen beharrte oder der Fall in den Hofratsprotokollen nur sehr spärlich dokumentiert ist. 127 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1673 VI 19. 128 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1695 VI 3. - Hierzu paßt auch gut die Verstrickung in den Handel mit gewildertem Fleisch, die in den Hofratsprotokollen (BayHStA, KHR 488 fol. 280) einigen adeligen Herrschaften aus dem Raum Aichach vorgeworfen wird. 129 Neben Mittlern, die auf Grund ihres Berufes oder Standes für diese Rolle prädestiniert waren, gab es auch »informelle Broker« (Sabean), d.h. Personen, die - aus welchen Gründen auch immer - über ein großes Beziehungsnetz und Einfluß verfügten. In diese Kategorie gehört offensichtlich der Jakob Hueber, der sich zweimal wegen Wildbretschießens verantworten mußte (s. o. 714ff.). Er war ein Mann, der verschiedene größere Geschäfte tätigte, immer wieder neue Projekte betrieb (vgl. BayHStA, KHR 480 fol. 130; 484 fol. 363; 494 fol. 74) und auch die Gerichte und den Hofrat anzugehen und zu nutzen verstand (vgl. ebd. 472 fol. 177f.; 475 fol. 245; 476 fol. 15; 489 fol. 220; 489 fol. 69f.; 491 fol. 211; 492 fol. 23). 130 Häufig nennt bereits der Betreff die Namen mehrerer Verdächtiger oder fügt dem Namen eines Delinquenten ein »et consortes« hinzu. Geschieht dies nicht, so erfährt man oft aus dem eigentlichen Protokolleintrag, daß das Vergehen nicht von einem einzelnen, sondern von »complices« begangen wurde. In einigen Fällen erschließt sich dies allerdings erst durch weitere Einträge zu dem zunächst allein genannten Delinquenten. - Auf Seiten des Hofrats herrschte auf alle Fälle die Erwartung vor, daß die Wilderer nicht für sich alleine handelten. Dort, wo wir von den Fragen erfahren, die die Räte für das Verhör vorgaben, ist fast immer die nach den Komplizen dabei (vgl. etwa BayHStA, KHR 453 fol. 292; 462 fol. 291; 483 fol. 151; 484 fol. 104; 484 fol. 160f; 493 fol. 44; 495 fol. 155). Das Netzwerk der Wilderei 737 Von den Gemeinsamkeiten, die die Konsorten miteinander verbanden, stehen enge Verwandtschaft und Zugehörigkeit zum gleichen Haushalt an erster Stelle: Sechsmal waren es Vater und Sohn bzw. Söhne, dreimal Brüder und wiederum sechsmal Mann und Frau, 131 zu denen noch ein Sohn, eine Tochter oder eine Schwester hinzukommen konnten. Fünfmal kann Verwandtschaft auf Grund der Gleichheit von Nachnamen, Wohnort und Delikt angenommen werden. Den insgesamt 20 Verwandtschaftsgruppen entsprechen 45 an Einzeldelikten beteiligten Personen oder 24% der Fälle. Der Beruf des Haushaltsvorstandes ist mit Wirt, Schneider und Metzger leider nur dreimal angegeben. Beim Wirt und beim Metzger dürfte die Wilderei ein wichtiger Bestandteil des Familienbetriebes gewesen sein. Auch nicht verwandte Mitglieder ein- und desselben Haushaltes, etwa Bauer und Knecht oder Herr und Bedienter, wilderten gemeinsam. Zählt man beide, die verwandten und nichtverwandten Haushaltsmitglieder, zusammen, so stellen diese mit 30% die wichtigste Gruppe der gemeinsamen Straftäter. Tabelle 4: Enge Verwandschaft und Zugehörigkeit zum selben Haushalt bei gemeinschaftlich begangenen Delikten Zahl der gemeinschaftlich begangenen Delikte 186 100% Von demselben Haushalt zugehörigen Personen (Verwandte und Nichtverwandte) begangene Delikte 55 30% davon enge Verwandte 45 24% Vater und Sohn/ Söhne 13 Brüder 7 Klein- oder Restfamilie 15 enge Verwandschaft vermutet 10 davon Nichtverwandte 10 5% Über die Rolle der Frauen war lediglich bei der Köndlerin, des Metzgers von Weyarn Eheweib, Näheres zu erfahren. Sie war am Verkauf des Wildbrets beteiligt. Darüber hinaus lassen sich nur Vermutungen anstellen. Die geringen Strafen für die Frauen und das damalige Rollenverständnis legen nahe, daß sie selber nicht gejagt haben. Sie dürften neben dem Verkauf eher häusliche Arbeiten wie das Abbalgen, Zerlegen und Einsuren (Einpökeln) von Fleisch vorgenommen haben. 132 Dafür spricht, daß sie in keinem Fall als Einzelperson, sondern stets zusammen mit einem männlichen Verwandten zu finden sind. In dieser Konstellation dürfte ihnen allerdings eine weitaus höhere Bedeutung zugekommen sein, als dies die Hofratsprotokolle mit 3% aller Delikte preisgeben. Gründe für die Unterrepräsentation sind, daß der Hofrat sich für die Rolle der Frauen nicht sonderlich interessierte und daß die beschuldigten Männer wahrscheinlich mit allen Mitteln versuchten, ihre Frauen »aus der Sache rauszuhalten«. 131 Eine Ausnahme dürften dabei der Mann und »sein Anhang« gewesen sein. Die beiden kamen »in favorem matrimonii,« also gegen die Zusicherung, sich zu verehelichen, mit einer milden Strafe davon (BayHStA, KHR 470 fol. 227). 132 Aufschlußreich hierzu: Schindler: Mill at Bluntau (wie Anm. 2), 67ff. u. 87ff. Winfried Freitag 738 Gemeinsames Wildern wurde auch dadurch begünstigt, daß man im selben Dorf oder Weiler lebte (28% oder 46 von 166 Fällen, in denen der Wohnort bekannt ist) 133 oder auf Grund seines Berufes viel miteinander zu tun hatte (16% oder 16 von 99 Fällen, in denen der Beruf bekannt ist). Gleich mehrere Gemeinsamkeiten wiesen zwei Pfeifer, also Berufskollegen, und ein Weber 134 auf. Alle drei wohnten in Gauting (Gericht Starnberg) und alle drei waren - was sie wohl im Krisenjahr 1692 zum Wildern zwang - sehr arm. 135 Geradezu ideale Möglichkeiten der Zusammenarbeit boten sich dem Melchior Merz, Feldhüter der Gemeinde Buch, 136 und dem Andreas Wiellertshamer, ebendort kurfürstlicher Überreiter. 137 Nicht nur, daß beide ihr Revier hervorragend kannten und beruflich reichlich Gelegenheit hatten, unauffällig zusammenzutreffen. Als Überreiter hatte Wiellertshamer auch die Aufgabe, Wild für den Zörgaden 138 in München zu erlegen. Da war es ein Leichtes, ein paar Tiere mehr zu schießen und unter der Hand zu verkaufen. Manchmal könnte auch Wildern die wichtigste oder einzige Gemeinsamkeit gewesen sein. So etwa bei den drei Schützen, die vom Förster von Grünwald gefangen genommen und - was nur in schweren Fällen geschah - in den Falkenturm gebracht wurden. 139 Einer von ihnen stammte aus dem Salzburger Land, der zweite aus Reichersbeuern bei Tölz und der dritte aus Garmisch. Bei ihnen dürfte es sich um drei der besagten Ausnahmen handeln, nämlich um Personen, die auf Grund von Zuchthausstrafe und Landesverweis ihre alten sozialen Bindungen weitgehend eingebüßt und sich tatsächlich am Rande der Gesellschaft zu einer kleinen Bande zusammengetan hatten. In Gefahr, in eine solche kriminelle Karriere abgedrängt zu werden, standen vor allem jene, die zu Landesverweis verurteilt worden waren. Mit Vollzug dieser Strafe verlor der Betreffende in der Regel seine ökonomische Basis und hatte in der Fremde niemanden, der ihn unterstützte. Er war dann zur Landstreicherei und zum Betteln oder gar zum Stehlen und Rauben gezwungen. Dieser Zwang ist einer der Gründe dafür, daß Landesverwiesene trotz aller landesherrlichen Drohungen so rasch wie möglich heimzukehren suchten. Sie befanden sich in einer ähnlichen Situation wie die Sozialrebellen des 19. und 20. Jahrhunderts, von denen Eric Hobsbawm berichtet. 140 Letztere hatten zwar - etwa durch Ausüben der Blutrache - gegen Gesetze, nicht aber die Normen der sozialen Gemeinschaft verstoßen und genossen daher die Unterstützung der Bevölkerung. Sie verloren diese allerdings, sobald sie eine Tat begingen, die in aller und nicht nur in den Augen der Obrigkeit ein Verbrechen war. Eine Methode der Behörden, An- 133 Nicht eingeschlossen in diese Zahl sind die engen Verwandten, die ja im selben Haushalt und damit auch im selben Ort gewohnt haben. Ebenfalls unberücksichtigt geblieben ist, daß viele Weiler und Orte, aus denen die Wilderer kamen, sehr nahe beieinander lagen. 134 Siehe zu ihnen BayHStA, KHR 473 fol. 269, 473 fol. 277, 474 fol. 10, 474 fol. 42f., 474 fol. 281f. 135 Beim Hausberger, dem Weber, wird ausdrücklich auf seine große Armut hingewiesen. Zudem heißt es von ihm und einem der beiden Pfeifer, sie seien nach Verbüßen ihrer Zuchthausstrafe ohne Entgelt zu entlassen, weil keiner nichts im Vermögen habe (BayHStA, KHR 474 fol. 10). Da der zweite Pfeifer Inwohner war (BayHStA, KHR 473 fol. 269), dürfte auch er sehr arm gewesen sein. 136 Heute zu Kirchseeon (Landkreis Ebersberg) gehörig. 137 Zu den beiden siehe BayHStA, KHR 483 fol. 234 u. 283. 138 Gaden=Gemach, Kammer. Zergaden=Speisekammer; am Münchner Hof das Gewölbe für die Lebensmittel. Vgl. Johann Andreas Schmeller: Wörterbuch (wie Anm. 19), Bd. II, 871 u. 1147. 139 BayHStA, KHR 462 fol. 204. 140 Eric. J. Hobsbawm: Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied u. Berlin 1971, 27ff. Das Netzwerk der Wilderei 739 sehen und Rückhalt der Sozialrebellen zu untergraben, bestand darin, sie aus der Umgebung ihres Heimatortes zu vertreiben und somit zum Stehlen und Rauben zu zwingen. Im Falle der landesverwiesenen Wilderer wurde eine solche Strategie vor allem von der Zentralgewalt, kaum aber den Pflegsverwaltern und Landrichtern verfolgt. Der Georg Schäffler aus Kaging (Gericht Schwaben) hatte sich bereits wieder ein Jahr zuhause aufgehalten und war ohne Scheu aus- und auch in die Kirche gegangen, bis dies dem Hofrat gemeldet wurde. Der Pflegsverwalter von Markt Schwaben erhielt daraufhin einen Verweis für seine Nachlässigkeit und den Befehl, den Schäffler erneut aus dem Land zu schaffen mit dem ausdrücklichen Bedeuten, (...) daß es ihm, wann er sich mehr im Land sollte betreten lassen, ohnfehlbar an das Leben gehen werde. 141 Mit seiner stillschweigenden Duldung des Rückkehrers erinnert der Pflegsverwalter an jenen korsischen Beamten, »der regelmäßig Weizen und Wein für die Banditen in seiner Landhütte ließ« und sagte: »Besser man gibt ihnen zu essen als daß man sie zwingt zu stehlen, was sie brauchen.« 142 Solche Nachsicht stand in krassem Gegensatz zu dem Bestreben der Herzöge und Kurfürsten, die Wilderer zu kriminalisieren. Die Mandate werden nicht müde, sie mit Dieben, Straßenräubern, Mördern und anderem Gesindel gleichzusetzen. Wilderer seien, so heißt es bereits 1567, gewöhnlich solche Leute, die sich auch anderes zu Schulden kommen ließen. Zu ihnen zählten Mörder, Totschläger, Räuber, Diebe und gemeiniglich müßiggehende Leute, die ihrer Güter und Arbeit nicht warten, allein dem Wein, Spiel und anderen leichtfertigen Sachen (...) obliegen. Wilderer, so läßt sich 1615 Herzog Maximilian vernehmen, seien landschädliche Leut, die nit allein dem Wildbret gefährlich (...), sondern auch alles Übel und Gefahr auf der Straßen, bei welcher sie des Wildbretschießens halber sich stetig und fast täglich aufhalten, von ihnen zu gewarten und dahero man sich gegen ihnen noch vielmehr als bei andern gemeinen Landstürzern und Müssiggängern der Mörderei, Räuberei und anderer Untaten zu versehen und zu besorgen hat. Eben dieses Bild entwirft auch das Mandat von 1663, 143 welches bis Ende des Jahrhunderts mehrfach bestätigt und erneuert wurde. Wie wenig die landesherrlichen Kriminalisierungsversuche fruchteten, verraten dieselben Quellen zwischen den Zeilen: 1585 wird bedauert, daß die Untertanen und auch Standespersonen die Wilderer hauseten, hofeten, atzeten, tränkten, daß sie dieselben nit anzeigten und sie niederwerfen zu helfen verweigerten. 1663 ist die Rede davon, daß die Wildbretschützen ihre Mißhandlungen so lang und so weit nit fortbringen könnten, wann ihnen nit von anderen Unterschleif und Vorschub, Essen und Trinken gegeben würde. Wie stark der Rückhalt war, läßt auch die Notwendigkeit zu folgendem Gebot erkennen: Der landsässige Adel und die Untertanen sollten die Wilderer nicht nur nicht unterstützen, sondern so oft sie deren einen oder mehr erfahren, den oder dieselben für sich selb 141 BayHStA, KHR 491 fol. 219f. Zu einem weiteren Beispiel für die Rückkehr eines Landesverwiesenen, bei der sich der Pflegsverwalter nachsichtig zeigte, siehe ebd. 480 fol. 14f. Auch die des Landes verwiesenen Andre und Martin Miller kehrten ohne Erlaubnis zurück (vgl. BayHStA, KHR 486 fol. 272f.). 142 Hobsbawm: Sozialrebellen (wie Anm. 140), 32. Hobsbawm zitiert P. Bourde: En Corse, Paris 1887, 218f. 143 Vgl. BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1567 X 24; 1615 IX 4 - 1; 1663 III 28. Siehe hierzu auch oben, 716. - Insbesondere durch die Formulierung von 1567 scheint die für das adelige Standesdenken typische Auffassung hindurch, Pirschen sei bei einem Adeligen Mutprobe und Ertüchtigung, bei einem einfachen Untertanen jedoch der Anfang aller Übel und des Abgleitens in ein verwerfliches und verbrecherisches Leben (vgl. hierzu Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 46 - 51). Winfried Freitag 740 oder auf Begehren unserer Amtleute alsbald niederwerfen und überantworten oder aber zum wenigsten unseren Amtleuten oder Förstern anzeigen. 144 Die Wildbretschützen erhielten Unterstützung aus der Bevölkerung. Sie wurden von Geistlichen durch beständiges Aufkaufen der Beute geziglet und von Beamten und Adeligen zu jagdlichen Aufgaben herangezogen, die häufig im Widerspruch zu den landesherrlichen Geboten standen. Bei drohender Gefahr konnten die Schützen auf Hilfe aus diesem Personenkreis rechnen. Angesichts dieser Situation kann kein Zweifel bestehen: In den Augen der ländlichen Bevölkerung sowie zahlreicher Beamter und Standespersonen war Wilderei kein Malefizvergehen, d.h. todeswürdiges Verbrechen, es war lediglich ein Kavaliersdelikt. 145 Ich habe keinerlei Hinweise gefunden, daß Wildern die Ehre und das soziale Ansehen einer Person beschädigt hätten. Eher das Gegenteil dürfte der Fall gewesen sein. Denn zum einen war Wilderei für die bäuerliche Bevölkerung Selbsthilfe gegen die Verheerungen, die das überhegte Wild auf den Feldern anrichtete, und die Schäden und Belastungen, die die höfischen Jagden mit sich brachten. 146 Zum anderen war für sie kaum einzusehen, warum das Wild, das Gott geschaffen hatte, das frei herumlaufend auf ihren Feldern und Wiesen und in Wäldern seine Nahrung suchte, nicht allen gehören sollte. 4. Das Verhalten der Beamten Bei den Beamten sind höchst unterschiedliche Verhaltensweisen zu beobachten. Die Rolle, die sie spielten, ist daher nicht einfach zu bestimmen. Erleichtern läßt sich die Aufgabe durch zwei Unterscheidungen: die zwischen unteren und oberen Chargen und die zwischen dem Personal der Pfleggerichte, das an die Weisungen des Hofrates gebunden war, und den kurfürstlichen Jaidsbedienten, die dem Obristjägermeister unterstanden. Ich beginne mit den unteren Chargen der Jägerei. Als im Landgericht Schwaben der Überreiter von Buch 147 in das benachbarte Zorneding verlegt werden sollte, wehrten sich die Zornedinger dagegen mit dem Argument, dieser sei ein Mann, der sich bis dato noch bei keiner Gmein oder Dorfschaft hat betragen können, wie er dann bereits bei uns zu Zorneding, ob er schon allda kein Inwohner, (...) den Leuten in die Krautgärten gestiegen, Rüben und anderes nach Belieben heraus und nach Haus getragen habe. Ganz ähnlich ließen die Dorfschaften Steinhöring und Kreith verlauten, der Überreiter von Eglharting, dessen Sitz in ihre unmittelbare Nachbarschaft verlegt werden sollte, sei ein so nachlässiger und unkomportierlicher Mensch, daß mit ihm fast niemand auskommen kann. 148 Die Ablehnung, die den unteren Jaidsbedienten aus der Bevölkerung entgegenschlug, mochte in manchen Fällen tatsächlich vom Charakter der Personen herrühren, die sich zu dieser Art von Tätigkeit bereitfanden. In der Hauptsache hat sie ihre Ursache jedoch in den Aufgaben, die diese zu erfüllen hatten, und in der Rolle, die ihnen in 144 Kurbayern Mandatensammlung 1585 III 9 u. 1663 III 28. 145 Vgl. hierzu auch Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 135 - 141. 146 Vgl. ebd., 83ff., 110ff. u. 138 - 141. 147 Heute zur Gemeinde Kirchseeon am Südrand des Ebersberger Forstes gehörig. 148 Zu Zorneding siehe Staatsarchiv München (künftig: StAM), HKA A62, Nr. 8; zu Steinhöring und Kreith BayHStA, FA 234, Nr. 18. Zu den Versuchen dieser Gemeinden, einen Überreiter aus ihrem Ort fernzuhalten, s. a. das fünfte Kapitel. Das Netzwerk der Wilderei 741 der ländlichen Gesellschaft zukam. Die meisten von ihnen waren gesellschaftliche Außenseiter. Sie oder ihr Vater 149 hatten als Jäger bei einem Adeligen gedient oder waren als Jägerjunge bei einem Überreiter in die Lehre gegangen und in dieser untergeordneten Stellung verblieben. Als sich dann die Gelegenheit bot, hatten sie sich auf eine freie Stelle beworben und waren zum Überreiter oder Förster aufgestiegen. Dieser Aufstieg brachte es mit sich, daß sie als unzureichend besoldete, landlose Fremde in ein bäuerliches Umfeld kamen, das keinerlei Wert auf die Anwesenheit eines landesherrlichen Aufpassers legte. In diesem Umfeld hatten sie nun die Wilderer zu bekämpfen, die Abgabe von Bau- und Brennholz an die Untertanen zu überwachen, Waldfrevler zu melden und die Wildbahn oder Wildfuhr 150 zu pflegen, d.h. den Wald in einem wildgerechten Zustand zu erhalten, dafür zu sorgen, daß die Wildwechsel unverstellt blieben und daß für die höfischen Jagden stets ein reicher Bestand an Hirschen, Wildschweinen, Rehen und Federwild vorhanden war. Ihnen kam also als Außenseiter große Macht über den Wald und damit über eine in vormoderner Zeit zentrale Ressource zu. 151 Und sie wurden eben deshalb in eine Vielzahl von Auseinandersetzungen, die nicht selten eskalierten, hineingezogen. 152 Das Konfliktpotential erhöhte sich noch dadurch, daß das überhegte Wild schwere Schäden auf den Feldern anrichtete und Jaidsbediente oft nur schlechtes Holz anwiesen, wenn ein Nutzungsberechtigter sie über die ohnehin zu entrichtenden Ausweisgelder hinaus nicht schmieren wollte oder konnte. Zudem stand es in ihrer Macht, Untertanen, die sie bei einem Wald- oder Wildfrevel ertappt hatten, tatsächlich anzuzeigen oder dies gegen Beteiligung an der Beute oder bares Geld zu unterlassen. Manche von ihnen verkauften auch unter der Hand Holz, um den Erlös in die eigene Tasche zu stekken, und verfuhren ähnlich mit dem Wild, das sie an den Zörbogen in München zu liefern hatten. 153 Besonders schwer wog, daß das Gros der Anzeigen gegen Wilderer von ihnen stammte. Ihre Aussagen führten allerdings nicht immer zu Ermittlungserfolgen. 149 Die Weitergabe der Stellen erfolgte vorzugsweise vom Vater auf den Sohn oder - wenn dies nicht möglich war - durch Einheirat. Dem Kandidaten wurde dann zur Bedingung gemacht, die Tochtes des alten Überreiters oder dessen Witwe zu ehelichen. 150 Wild-Bahn oder Wild-Führe (...) ist derjenige Ort in einem Forste oder Walde, wo das Wild seinen Stand und Lager zu haben pflegt; oder aber ein mit richtigen Gräntzen umschlossenes Forstrevier, da das Wild gehäget, und dessen Bahne, oderWechsel und Stege ungehindert gelitten und erduldet werden. Hierunter wird nicht allein der Wald verstanden, sondern es erstrecket sich auch weiter auf die umliegenden Felder und Wiesen, wo das Wildpret seine Nahrung, Wege und Stege unverwehret haben muß, da ihm gleichsam eine freye Bahne ohne jemands Hinderniß vergönnet wird. So die Erklärung in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 56, Leipzig/ Halle 1748, 723. 151 Vgl. hierzu Beck: Unterfinning (wie Anm. 97), 61 - 82; Allmann: Wald (wie Anm. 22). 152 Zu einem Raufhandel, an dem 1721 der Forstknecht von Forstenried beteiligt war, vgl. Bernhard Müller- Wirthmann: Raufhändel. Gewalt und Ehre im Dorf, in: Richard van Dülmen (Hg.): Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrundert, München 1983, 79 - 111, 225 - 232, hier: 97ff. u. 110. Zu Konflikten zwischen Untertanen und Jaidsbedienten s. a. Beck: Unterfinning (wie Anm. 97), 72ff. Für eine hohe Gewaltbereitschaft der Jaidsbedienten spricht auch die Notwendigkeit, ihnen ausdrücklich zu verbieten, geprügelte Hunde in Haus und Stall der Untertanen, wie es schon öfter unter dem Vorwand einer Wut geschehen ist, totzuschießen (BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1771 XI 2). - Zur Stellung, die die landesherrlich-salzburgischen Jäger hundert Jahre später in der ländlichen Gesellschaft hatten und ihrer hohen Konfliktbereitschaft vgl. Schindler: Spirale (wie Anm. 2), 8ff. 153 Zu all diesen auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts virulenten Mißständen vgl. Simon Rottmanner: Nothwendige Kenntniße und Erläuterungen des Forst- und Jagdwesens in Bajern, München 1780. Zur Veruntreuung von Holz durch herzogliches Jaidspersonal um 1600 vgl. Breit, Gemain (wie Anm. 103), 71ff. Winfried Freitag 742 Wenn innerhalb der ländlichen Gesellschaft die Mauer des Schweigens hielt und die Aussagen der Untertanen denen der Jaidsbedienten widersprachen, dann konnte es schon vorkommen, daß ein Förster, Überreiter oder Jägerjunge einen Verweis wegen haltloser Anschuldigungen einstecken mußte. 154 Die Kombination von schlechter Besoldung und konkreter Macht über die Bevölkerung ließ die Jaidsbedienten zu einem Personenkreis werden, bei dem der Einzelne viel durch Bestechung erreichen konnte und der seinerseits zum Einfordern von Leistungen, die ihm gar nicht zustanden, neigte. Da der Kurfürst nur für einen Teil des Unterhalts seiner Bedienten aufkam, war Amtsmißbrauch selbstverständlicher Bestandteil ihrer Nebenerwerbspalette. Amtsmißbrauch war gleichsam systemimmanent. Und die Spitzen der Verwaltung waren sich dessen offensichtlich bewußt. Sie beschränkten sich meist darauf, eine Rechtfertigung einzufordern oder ihr Mißfallen oder einen Verweis auszusprechen. Schritten sie tatsächlich zur Bestrafung, so fiel diese mit öffentlichem Vorstellen und ein paar Tagen Haft in aller Regel glimpflich aus. 155 Die schwierigen und spannungsreichen Beziehungen zu den Untertanen und die ständigen materiellen Versuchungen, die ihr Amt mit sich brachte, erklären die sehr hohe Kriminalitätsrate der Jaidsbedienten. Sie erklären auch, warum die Jägerei nicht immer und überall eine wirksame Waffe im Kampf gegen die Wilderei war. Von dem einen Jäger und den vier Überreitern im Gericht Schwaben wurden in den Jahren 1686 bis 1700 eine ganze Reihe von Unregelmäßigkeiten aktenkundig. Der Überreiter zu Buch besserte, wie schon erwähnt, sein karges Einkommen durch gemeinschaftliches illegales Pirschen auf. Der Sohn des Überreiters von Markt Schwaben mußte sich zweimal wegen desselben Delikts verantworten. 156 Auch wenn der Vater in keiner Weise daran beteiligt gewesen sein sollte, so dürfte dies seine Autorität und Handlungsfähigkeit gegenüber den Wilderern doch erheblich geschwächt haben. Der Wolf Älbl aus Birkach und ein zweiter, namentlich nicht genannter Überreiter preßten, so scheint es, einem Schützen, den sie ertappt hatten, drei Gulden Schweigegeld ab. 157 Zwei Jahre später war der Älbl flüchtig, weil er einen achtzigjährigen Mann erschossen hatte. 158 Nimmt man noch hinzu, daß sich der Förster von Markt Schwaben gezwungen sah, sein schmales Einkommen aufzubessern durch Kiechlbacken und solche feil (...) haben, 159 dann muß man feststellen: Die Jägerei im Gericht Schwaben war damals wahrlich keine Truppe, mit der man besonders hätte Staat machen können. Im Absolutismus wäre aber eben dies ihre Aufgabe gewesen. Im Gericht Wolfratshausen mußte sich der Förster von Höhenkirchen 160 gegen eine Beleidigungsklage verteidigen und erhielt vier Jahre später einen Verweis, weil er einen 154 S. o. 716 u. BayHStA, KHR 464 fol. 139. 155 Wie Rauh: Verwaltung (wie Anm. 79), 81 - 85, ausführt, war in Bayern im Gegensatz zu Preußen eine rücksichtslose Verfolgung von Dienstvergehen nicht üblich. Sowohl den fürstlichen Beamten als auch den Ständen seien zwar bis hin zur Todesstrafe unablässig die schlimmsten Folgen für ihre Pflichtvergessenheit angedroht worden, doch im großen und ganzen seien dies bloße Versuche zur Einschüchterung gewesen. Haftstrafen für Beamte seien ungewöhnliche Ausnahmen geblieben und selbst zur Dienstentlassung habe es, wenigstens bei den Unterbehörden, erheblicher Anstrengung auf dem Gebiet der Amtsvergehen bedurft. 156 BayHStA, KHR 489 fol. 261 und 502 fol. 192. 157 BayHStA, KHR 480 fol. 53. 158 BayHStA, KHR 489 fol. 169; 491 fol. 82f.; 492 fol. 52; 494 fol. 307. S. a. BayHStA, FA 234 Nr. 18. 159 BayHStA, KHR 481 fol. 121 u. 480 fol. 187. 160 Vgl. zu ihm BayHStA, KHR 458 fol. 305 u. 478 fol. 92. Das Netzwerk der Wilderei 743 Untertanen voreilig des Pferdediebstahls bezichtigt hatte. Im selben Gericht wurde der Förster von Forstenried 161 wegen Excess oder verübter gefährlicher Schlägerei und grausamem Tractaments zu acht Tagen Haft bei geringer Aztung verurteilt und der Überreiter von Sauerlach 162 kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst wegen desselben Delikts zur Rechenschaft gezogen. Bezieht man ein, daß der Förster von Hofolding 1685 einen Wilderer erschossen hatte, und der Förster von Grünwald bei der Festnahme von Wilderern besonderen Eifer zeigte, 163 dann gilt für das Gericht Wolfratshausen: Die kleine Truppe von Jaidsbedienten war hier - in einem doppelten Sinne - schlagkräftiger als die in Schwaben, und das hat sie bei den Untertanen wohl erst recht verhaßt gemacht. Aus dem Gericht Starnberg wurde nur ein Raufhandel bekannt, bei dem ein Überreiter einen Schafhirten hart verwundete, und eine schwere Veruntreuung, die man einem zweiten Überreiter zur Last legte. 164 Einzig von den Jaidsbedienten im Gericht Landsberg gibt es nichts Nachteiliges zu berichten. 165 Der Zwang, sich legale oder illegale zusätzliche Einkünfte zu verschaffen, und die Käuflichkeit vieler Jaidsbedienter waren ein Grund dafür, daß die Gefahr, die von ihnen für die Wilderer ausging, beschränkt blieb. Ein zweiter Grund ergab sich aus der Tatsache, daß sie mit den Menschen vor Ort tagtäglich zusammenleben mußten und sich deshalb keine allzu scharfe Gangart leisten konnten, es sei denn, sie waren bereit, Drohungen und Prügel hinzunehmen oder gar das eigene Leben zu riskieren. Um die Spannweite von Verhaltensweisen, die sich hier eröffneten, zu vergegenwärtigen, sei an das Schicksal eines Ebersberger Überreiters erinnert, der 1727 ermordet wurde, und an die Konsequenzen, die sein Sohn daraus zog. 166 Der Vater Anton Moosmiller war ein Beamter, der seine Aufgabe, die Wildbretschützen zu bekämpfen, sehr ernst nahm. Um ihm eine deutliche Mahnung zukommen zu lassen und ihn von seinem übertriebenen Pflichteifer abzubringen, hatten in der Fastenzeit des Jahres 1727 Unbekannte bereits einen Warnschuß auf ihn abgegeben. Als dieser keine Wirkung zeigte und Moosmiller erneut Wilderern nachsetzte, wurde er von ihnen regelrecht hingerichtet. 167 Obwohl es einige Zeugen gab, die sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten hatten, blieben der oder die Täter unentdeckt. Die Zeu- 161 Zu ihm BayHStA, KHR 467 fol. 228; 468 fol. 57 u. 472 fol. 149. 162 Vgl. BayHStA, KHR 457 fol. 93. Siehe zu ihm auch 455 fol. 290. 163 Vgl. BayHStA, KHR 462 fol. 204; 464 fol. 92f. u. 139. 164 Zum ersten Fall vgl. BayHStA, KHR 476 fol. 241, zum zweiten 488 fol. 321 und 489 fol. 93. 165 Damit das Gesamtbild nicht zu negativ ausfällt, sei noch darauf hingewiesen, daß die Jaidsbedienten neben den illegalen auch legale Zuerwerbsmöglichkeiten wie die schon erwähnte Kiechlbäckerei nutzten. Eine archäologische Grabung unter dem 1740 vom damaligen Überreiter in Buch errichteten sogenannten Jagerhäusl hat Hinweise darauf ergeben, daß sich dieser durch Harzsammeln und Pechsieden ein Zubrot verdiente (So die mündliche Auskunft von Eva Habel u. Stefan Stoelzl. Zu der eben erwähnten Grabung vgl. den vorläufigen Bericht: dies.: Das Jägerhäusl in Buch, in: Schönere Heimat. Erbe und Auftrag 81 (1992), 109 - 115). Die in der Einleitung erwähnten Akten zu den einzelnen Überreiterämtern schließlich bestehen in der Hauptsache aus Gesuchen der Beamten um ein paar Scheffel Getreide, Diensthafer und Dienstheu, um Zuschüsse zum Kauf eines Dienstpferdes oder um Bewilligung von Holz zum Bau eines Hauses. - Dem Landesherrn und seinen Räten war durchaus bewußt, daß die unteren Jaidsbedienten vielfältigen Nebenbeschäftigungen nachgingen. Dies belegt das Jagdmandat von 1673 (BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1673 VI 19, Ziffer 4), in dem von deren anderwärtigen Nahrungs- und Privatgeschäften (so ihnen auch so gar nit zu mißgönnen), die Rede ist. Zur Nebentätigkeit der Beamten s. a. Rauh: Verwaltung (wie Anm. 79), 61f. 166 Vgl. hierzu Stefan Breit: Mysteriöser Meuchelmord im Ebersberger Forst, in: Süddeutsche Zeitung. Beilage für den Landkreis Ebersberg vom 27. 8. 1992, IV. Die Darstellung von Breit basiert auf BayHStA, Fa 471 Nr. 387. Winfried Freitag 744 gen sagten aus, Schüsse zwar vernommen, teils sogar Mündungsfeuer und Rauch gesehen und das Winseln eines Hundes gehört zu haben, keiner wollte jedoch diesen Beobachtungen nachgegangen sein. Alle gaben an, ihren Weg durch den Forst fortgesetzt zu haben. Ein Untertan, von dem das Gerücht umging, er habe einen der Wilderer gesehen, stritt dies in der Vernehmung mit allem Nachdruck ab. Wie einem Bericht des Obristjägermeisters an den Kurfürsten zu entnehmen ist, war kurz vor dieser Tat im Wildmeisteramt Geisenfeld ein Jägerjunge erschlagen, und bereits 1724 der Sohn des Försters von Anzing von Wilderern ermordert worden. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß sich der Sohn und Nachfolger Moosmillers im Gegensatz zum Vater als belehrbar erwies. Er wurde »1739 beschuldigt, oft viele Wochen lang nicht in den Forst zu gehen, mithin ein jedter schiesßt und pürscht, was er will.« 168 Wie viele der unteren Jaidsbedienten, so suchten auch zahlreiche untere Gerichtsbeamte, wo es nur ging, ihren Vorteil. 169 In meinem Untersuchungsbereich taten sie dies durch Exactiones, also Zahlungen, die sie den Untertanen abpreßten, durch ungerechtfertigtes Pfänden, durch eigenes Wildern oder durch die Kooperation mit Wilderern. Der Gerichtsschreiber zu Erding trägt gleich zweimal zu unserer Liste bei. Er kaufte Fisch- und Wilddieben ihre Beute ab und verlegte sich später, als er ungeschoren geblieben, seine Komplizen aber abgeurteilt worden waren, auf Kauderei (unerlaubten Zwischenhandel). Eine Einnahmequelle der unteren Gerichtsbeamten war auch die schon erwähnte eigennutzige Konnivenz bei unterlassener Hundsprügelung. Die die Landgerichte leitenden Männer sind, wie im vorigen Kapitel gezeigt, auf beiden Seiten zugleich anzutreffen. Sie gewährten Verdächtigen Schutz und waren zugleich verpflichtet, unter Anleitung des Hofrates gegen sie vorzugehen. Hinter solchem Verhalten dürfte nicht nur das Bestreben gestanden haben, eigene Vergehen nicht ans Licht kommen zu lassen. Ebenso wichtig war, so meine ich, ihr Angewiesensein auf die Stützen der ländlichen Gesellschaft, zu denen sie ja selber zählten. Ein konsequentes Vorgehen gegen angesehene Handwerker, Wirte, Geistliche, unzulässige Leute, die Adelige oder sie selber zur Jagd heranzogen, und gegen Kollegen in der Beamtenschaft hätte eine empfindliche Störung sowohl ihres persönlichen Beziehungsnetzes als auch der gesellschaftlichen Ordnung in ihrem Amtsbereich zur Folge gehabt. Ein solches Vorgehen war für Landrichter und Pflegsverwalter nicht ratsam. Sie legten es eher auf Beschwichtigen, Herunterspielen und Vertuschen an. 170 Zur Haltung des Obristjägermeisters und des Hofrats liefert das Mandat von 1705 wichtige Hinweise. Der zwei Monate nach der Besetzung Bayerns durch Österreich von Kaiser Josef I. unterzeichnete Text setzt ohne erkennbaren Bruch die Reihe der bisherigen, von den Wittelsbachern erlassenen Wildereimandate fort. Er besteht in der Hauptsache aus Wiederholungen von Bestimmungen und Strafandrohungen, die be- 167 »Aus der Tatsache, daß beim oberen Durchschuß der Brustfleck völlig verbrannt worden ist,« wurde bei der Untersuchung der Leiche gefolgert, »daß die Wilderer dem Entleibten das Rohr direkt auf den Körper angesetzt haben.« (ebd.) 168 Ebd. 169 Vgl. zum folgenden, soweit oben (734f.) noch nicht erwähnt, Bay. HStA, KHR 467 fol. 236 (Exactiones); ebd. 472 fol. 177f.; 475 fol. 245; 476 fol. 15 (ungerechtfertigtes Pfänden); ebd. 482 fol. 134; 483 fol. 28 (Kauderei). - Zu den betrügerischen Machenschaften des Gerichtsschreibers von Wasserburg (dieses Gericht grenzte im Osten an das Gericht Schwaben) vgl. Eva Habel: Inventur und Inventar im Pfleggericht Wasserburg, Münster 1997, 156 - 178. Das Netzwerk der Wilderei 745 reits 1615 und 1663 ausgesprochen und zwischenzeitlich mehrfach bekräftigt worden waren. Zugleich haben in ihm - wohl auf Veranlassung des Obristjägermeisters - Erfahrungen der vergangenen Jahre ihren Niederschlag gefunden. Dem das Jagd- und Forstwesen leitenden Beamten war bitter aufgestoßen, daß die Anzeigen seiner Überreiter, Förster und Jägerjungen immer dann wirkungslos blieben, wenn ihre Aussagen gegen die der Untertanen standen. Das Mandat verfügt daher: Falls ein Jaidsbedienter seine Aussage mit einem Eid bekräftigt, dann solle mit dem betreffenden Delinquenten als einem wirklichen Wildbretschützen (...) verfahren werden. Zudem wird dem Obristjägermeister Akteneinsicht und Mitsprache bei der Formierung der Prozesse zugestanden. Daß beides dem Hofrat abgetrotzt werden mußte, dafür spricht der Hinweis auf Difficulteten (Streitigkeiten) und die Drohung mit der allerhöchsten Ungnad, Dienstamotion (Amtsenthebung) und anderer unablässiger Straf, falls es zu weiterer Überleg-, Kritisier- und anderer Interpretierung der Wildereimandate käme, als der Verstand derselben von selbst gibt. 171 In die im Mandat von 1705 aufscheinenden Spannungen zwischen der Jagd- und der Gerichtsverwaltung dürfte auch die Tatsache hineinspielen, daß der Obristjägermeister immer wieder versuchte, hochgestellte adelige Beamte und Hofräte wegen Eingriffen in die landesherrlichen Jagdrechte zur Verantwortung zu ziehen. 172 Die Auseinandersetzungen beschränkten sich dabei nicht auf die Frage, wem wo die hohe und die niedere Jagd zustanden. Es kam auch zu Rangeleien zwischen den Jaidsbedienten beider Seiten. 170 In seinem Aufsatz über Wildereidelikte im Salzburger Land des späten 18. Jahrhunderts betont auch Schindler »the judges’ need to take local social relations into consideration.« Er fährt dann fort: »The gamekeepers of Radstadt had already openly complained in 1774 that local officials, because of their own involvement in these social networks, often found their hands tied behind their backs when pursuing local poachers. The leniency of the verdicts in the Klettner trial remains astonishing, though, and must probably be attributed to the fact that what came to light in Golling was the tip of an iceberg of disloyalty and corruption that the authorities preferred not to uncover more fully, but rather, for reasons of political expedience, to commit to oblivion as speedily as possible.« (Mill at Bluntau (wie Anm. 2), 82) - S. a. Rauh: Verwaltung (wie Anm. 79), 66: »Ein kurfürstlicher Landbeamter ähnelte bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts einem landesherrlichen Vasallen, der an sich zwar absetzbar und insbesondere versetzbar war, tatsächlich aber oft jahrzehntelang ein und dasselbe Amt bekleidete (...) . Ein solcher Landbeamter war weniger ein gefügiger Vollzieher landesherrlicher Gewalt als vielmehr eine Art freiwilliger Gefolgsmann des Fürsten, welcher die Angelegenheiten des Monarchen beförderte, soweit sie mit seinen eigenen vereinbar waren, welchem jedoch die Anordnungen der Zentrale eher als Wünsche denn als verbindliche Befehle galten.« 171 Kurbayern Mandatensammlung 1705 VII 29 (Hervorhebung im Mandat). - Dazu, daß die Regierung eines Rentamtes eine dezidiert andere Meinung als der Landesherr zur Strafwürdigkeit eines Vergehens haben konnte, s. a. R. Blickle: Rebellion (wie Anm. 8), 68 - 71. Zu der in den Zentralbehörden im 17. Jahrhundert noch verbreiteten Neigung, landesherrliche Anordnungen öffentlich oder in der Vertraulichkeit der Ratsstube zu kritisieren, s. a. Rauh: Verwaltung (wie Anm. 79), 56. 172 So muß sich z. B. Nicolas von Haslang, Pfleger zu Abensberg, 1691 verantworten, weil er seine Leute ausgeschickt hat, auf landesherrlichem Jagdgrund einen Berg auszuklopfen und einen Fuchs zu hetzen (vgl. BayHStA, KHR 469 fol. 75 u. 472 fol. 280). 1696 sieht sich ein adeliger Hofrat, der Baron von Santizell, wegen eines ähnlichen Vergehens einer Beschwerde des Obristjägermeisters ausgesetzt (vgl. BayHStA, KHR 488 fol. 204. Zum Baron von Santizell s. a. Münch: Hofrat (wie Anm. 7), 154 u. 186). Dieser geht im selben Jahr auch gegen einen Verwandten des Nicolas von Haslang, den Kämmerer, Hofrat und Pfleger von Pfaffenhofen (Ilm) Ferdinand von Haslang vor (vgl. BayHStA, KHR 490 fol. 264 u. 313. Zum Ferdinand von Haslang s. a. Münch: Hofrat (wie Anm. 7), 144). Ein weiterer Hofrat, der vom Obristjägermeisteramt wegen jagdlicher Verstöße belangt wurde, war der Graf von Preysing (vgl. BayHStA, KHR 494 fol. 193 u. 495 fol. 147f. Laut Münch: Hofrat (wie Anm. 7), 134, war der Graf ab 1711 besoldeter Hofrat. Davor gehörte er wahrscheinlich ohne Sold dem Gremium an). Siehe auch oben, 735. Winfried Freitag 746 In seinem Mandat von 1670 stellt der Kurfürst fest: der Wald- und Waidleut Dienst und Verrichtung erfordert, daß sie in Besuchung der Waldungen und Wildfuhren mit Rohren und Gewehr versehen sein. Er schließt daran die allerhöchste Warnung an, es solle sich keiner gelüsten lassen, hoch oder niedern Stands, dieselbe anzutasten, ihnen bedrohlich zu sein oder die Rohr gar abzunehmen. Ein Teil solcher Übergriffe scheint allerdings durch das Eindringen landesherrlicher Bedienter in Bereiche provoziert worden zu sein, in denen dem Adel die niedere Jagd zustand. Denn drei Jahre später heißt es in einem weiteren Mandat: Wenn es sich begeben sollte, daß ein Übereiter, Jäger oder Jägerjunge aus Unwissenheit, da ihm die Hofmarksbezirke noch nicht bekannt, einen Hasen, Fuchs, eine Ente oder etwas anders dergleichen schießen würde, so solle der Hofmarksinhaber Fug und Recht haben, ihm das zu untersagen, nicht aber das erste Mal gegen deme gleich mit ein- oder anderer Tätlichkeit zu verfahren. 173 Es gab also eine Reibungslinie, die die landesherrliche Verwaltung in vertikaler Richtung durchzog. Die Gerichtsbeamten auf der unteren Ebene, die Landrichter, Pflegsverwalter, Gerichtsschreiber und Amtleute, arbeiteten nur unwillig mit dem Obristjägermeister und seinen Leuten zusammen; ein Umstand der wenig verwundert angesichts der Tatsache, daß sie sich in jagd- und forstlichen Dingen von diesen beaufsichtigt wußten. Meldungen über besondere Vorfälle und verdächtige Personen, die vom Obristjägermeisteramt direkt den Pfleggerichten übermittelt wurden, führten, wenn überhaupt, dann nur mit erheblichen Verzögerungen zum Erfolg. Erst wenn der Obristjägermeister beim Hofrat vorstellig wurde, sich dieser einschaltete und seine Autorität geltend machte, wurden die Gerichtsbeamten aktiv. Auf der oberen Ebene dürfte das Vorgehen des Obristjägermeisters gegen einzelne Hofräte und hohe Beamte das Klima zwischen zwei Behördenzweigen, die, was die Ausübung der Polizeigewalt anging, ohnehin miteinander konkurrierten, nicht gerade verbessert haben. Beide, Beamte und Adelige haben sicherlich mit größtem Mißfallen die in den Jagd- und Wildereimandaten häufig wiederkehrende, gegen sie gerichtete Mahnung gelesen, bei Verstößen gegen das Jagdrecht, bei Fahr- oder Nachlässigkeit oder gar eigennütziger Konnivenz, sei ungeachtet von Stand und Stellung ohne allen Respekt zu verfahren. 174 Neben der mangelnden Aussagebereitschaft der Untertanen war es also vor allem das Verhalten vieler Landrichter, Pflegsverwalter, landsässiger Adeliger und auch einiger höherer Beamte und Hofräte, das dafür sorgte, daß viel weniger Delikte aufgedeckt wurden und daß die Wilderer, die zur Verantwortung gezogen werden konnten, nur einen sehr kleinen Teil ihrer Taten gestanden. Diese Beamten erscheinen durch ihr Verhalten weniger als Vertreter der Zentralgewalt, denn als Anwälte ihrer eigenen Interessen 175 und der der lokalen Gesellschaft. Aber vielleicht handelten sie damit, wenn auch unbeabsichtigt, längerfristig gerade zum Vorteil des Landesherrn. Ein stures Durchsetzenwollen der Ansprüche, die die Mandate erhoben, ein hartes Vorgehen in einem Bereich, in dem die Widerstände so stark waren, hätte die Akzeptanz der kurfüstlichen Herrschaft wohl kaum gefördert. 173 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1670 IV 4 (Ziffer 7) u. 1673 VI 19 (Ziffer 6). 174 Vgl. BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1657 I 25; 1663 I 25; 1663 III 28; 1670 IV 4 (Ziffer 7 u. 9); 1673 VI 19 (Ziffer 8). 175 Vgl. hierzu auch Rauh: Verwaltung (wie Anm. 79), 55: »Ein ständiger Adeliger war, in den Außenämtern nicht anders als in der Zentrale, gleichsam von Natur aus weniger ein williger Handlanger des Monarchen als vielmehr ein selbstbewußter Wahrer seiner eigenen Interessen.« Das Netzwerk der Wilderei 747 Verächter der landesherrlichen Ansprüche fanden sich also in allen Bevölkerungsgruppen, Berufen und Ständen. Es waren nicht nur einfache Untertanen, die darauf beharrten, jagen zu dürfen. Auch Kleriker und Beamte waren nicht bereit, davon abzulassen, der Adel sträubte sich, eine Schmälerung seiner Jagdrechte hinzunehmen, Offiziere und Soldaten schossen mit größter Selbstverständlichkeit Wildbret und selbst Studenten aus Ingolstadt wollten bei dem allgemeinen Treiben nicht abseits stehen. 176 Von daher müssen die gegen alle und jeden gerichteten Gebote und Verbote der Mandate nicht verwundern. Man gewinnt fast den Eindruck, als stünde der Landesherr mit seinen jagdlichen Ansprüchen, abgesehen von der Unterstützung durch den Obristjägermeister, einen Teil der Jägerei und durch einige Beamte, allein gegen den Rest des Landes. Auch wenn diese Sichtweise übertrieben ist, so unterschieden sich die Verhältnisse in Bayern doch ganz erheblich von denen in England, wo die Jagdgesetze, folgt man E. P. Thompsen, tatsächlich Klassencharakter hatten, die hohe Jagd der Aristokratie vorbehalten, und der Rest der Bevölkerung davon ausgeschlossen war. In Bayern hatte die Frontlinie in den Auseinandersetzungen um Jagd und Wild keinen so klaren Verlauf. Denn es war auch nicht so, daß sich die privilegierten Stände auf Seiten des einfachen Volkes gestellt und freie Jagd für alle gefordert hätten. Ihnen waren lediglich die eigenen Interessen wichtiger als die Verteidigung der landesherrlichen Ansprüche. Der Beamtenschaft, dem Klerus und dem Adel kam es darauf an, standesgemäß zu leben, d.h. die eigene herausragende gesellschaftliche Stellung durch den Verzehr von Wildfleisch und eigenes Jagen zu bekunden. Für Landrichter und Pflegsverwalter war es zudem wichtig, ihre Amtsbezirke regierbar zu halten und ihr persönliches Beziehungsnetz nicht zu stören. Für den oberen Klerus galt es, die geistliche Gerichtsbarkeit frei von landesherrlichen Einflußnahmen zu halten. Dem Adel lag an der Verteidigung seiner Hofmarksgerichtsbarkeiten und seiner eigenen Jagdrechte. Alle diese Gruppen rieben sich, wenn es um Jagd und Wild ging, am Landesherrn. Für alle erwies es sich immer wieder als nützlich, nichts gegen Wilderer zu unternehmen oder gar mit ihnen zusammenzuarbeiten. Dies eröffnete den Wildbretschützen beträchtliche Freiräume. Anstelle einer klaren Frontlinie gab es in Bayern eine Gemengelage von Interessen und Auseinandersetzungen. Für alle Beteiligten galt dabei: Jagen war eine in der gesamten Gesellschaft tief verwurzelte kulturelle Gewohnheit, die sich nicht mit ein paar Gesetzen und Mandaten abschaffen ließ. 5. Die Kriminalisierung des Wildbretschießens Trotz der landesherrlichen Verbote war Wildbretschießen eine Betätigung, der man in allen Gesellschaftsschichten mit großer Selbstverständlichkeit und nur geringem oder keinem Unrechtsbewußtsein nachging. Was vom Pirschen gilt, gilt erst recht vom Handel mit der Beute und ihrem Verzehr. Der florierende Markt für Wildfleisch und -häute konnte nur funktionieren, wenn allgemein bekannt war, wen man wegen eines Rehs oder einer Hirschhaut ansprechen und bei welchem Wirt oder Metzger man Wildfleisch 176 Zu den Offizieren und Soldaten vgl. BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1677 IV 26; zu den wildernden Studenten BayHStA, KHR 455 fol. 186, 489 fol. 20, 494 fol. 126ff. u. 275, 495 fol. 178 u. 349f. S. a. 175 fol. 195 (vom August 1622). - Nach Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 42, hatten die Studenten von Ingolstadt bis 1700 allerdings das Recht zur niederen Jagd. Winfried Freitag 748 erhalten konnte. Bandenbildung war nicht erforderlich. Die sozialen Gemeinschaften und Beziehungen, die die ländliche Gesellschaft bestimmten, waren in weiten Teilen zugleich das die Wildbretschützen tragende Netzwerk. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, daß Delinquenten ungescheuchter (ohne Scheu) mit ihren Büchsen herumliefen und einer diese sogar ins Wirtshaus mitnahm 177 oder daß der Gesellenpriester von Ottendichl die für ihn und seinen Pfarrherrn bestimmte Ware einfach aufladen ließ, als er von der Messe nach Hause fuhr. 178 Neben der Selbstverständlichkeit, die dem Pirschen und dem Handel mit der Beute noch eigen war, gab es bereits Verhaltensweisen, die auf eine Veränderung, ein Abgedrängtwerden ins Illegale, hinweisen. Auch wenn man kaum von Unrechtsbewußtsein geplagt wurde, so war man sich doch bewußt, etwas wider die landesherrlichen Mandate - diese wurden mehr oder weniger regelmäßig öffentlich verlesen 179 - zu tun und Vorsichtsmaßnahmen treffen zu müssen. Hüten mußte man sich vor Jaidsbedienten, die ihre Aufgabe, die Wilderer zu bekämpfen, ernst nahmen. Eine Schutzvorkehrung hierfür war das Vermummen. Von ihm wird allerdings nur in einem Fall berichtet. 180 Häufiger dürfte das Ausweichen auf Reviere gewesen sein, die kaum überwacht wurden oder deren Aufsehern man nicht persönlich bekannt war. Ebenfalls eine weitverbreitete Praxis scheint das Operieren von adeligen oder kirchlichen Hofmarksbezirken aus gewesen sein. In diese durften die landesherrlichen Beamten nicht ohne weiteres eindringen. Hüten mußte man sich auch davor, mehrfach in Verdacht zu geraten und in den Augen des Hofrates zum notorischen Wilderer zu werden. Denn dann drohten harte Strafen wie Zuchthaus und Landesverweis und deren Folgen, nämlich Verlust der eigenen Nahrungsbasis und tatsächliches Abgleiten in die Kriminalität. Wildern war also - abgesehen von den mit dem Jagen selber verbundenen Gefahren - nicht ohne jedes Risiko. Dieses war allerdings noch gering und sehr ungleich verteilt. Ein weiteres Anzeichen für einen Veränderungsprozeß, der in Gang gekommen war, ist das Auftreten von Wildbretschützen, die die vom Landesherrn vorgegebenen Normen bewußt herausforderten; etwa indem sie kurfürstliche Jaidsbediente beschimpften, verprügelten, mit der Waffe bedrohten, in ihren Häusern überfielen oder umbrachten. 181 Auch das schon erwähnte offene Herzeigen einer Schußwaffe dürfte über ein Mir-kann-eh’-nichts-passieren hinaus Ausdruck der Verachtung für die landesherrlichen Mandate gewesen sein. 182 177 BayHStA, KHR 469 fol. 176 u. 483 fol. 239f. 178 S. o. Anm. 70. 179 In den Text einiger Wildereimandate ist die Anweisung an die Lokalbeamten zum viermaligen öffentlichen Verlesen pro Jahr aufgenommen (vgl. BayHStA, Mandatensammlung 1585 III 9; 1657 I 25 u. 1663 III 28; 1695 VI 3). Die wiederholt ausgesprochene Ermahnung, dem auch tatsächlich nachzukommen (vgl. Bay. HStA, KHR 485 fol. 296 u. 503 fol. 136ff.), erlaubt zwar den Rückschluß, daß die Vorschrift nur mangelhaft erfüllt wurde. Man wird jedoch davon ausgehen können, daß die Mandate wenigstens hin und wieder öffentlich verkündet wurden. 180 Vgl. BayHStA, KHR 483 fol. 151. Zu einem weiteren Fall, jedoch im Landgericht Dachau und damit außerhalb meines Untersuchungsgebietes, vgl. BayHStA, KHR 454 fol. 168f. 181 Solche Vorfälle beklagen immer wieder die Wildereimandate. Vgl. BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1581 VII 14, 1585 III 9, 1657 I 25, 1663 III 28. 182 Das Waffentragen wurde von den Mandaten immer wieder verboten. Vgl. etwa BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1559 XII 19, 1565 X 3 u. 1674 X 15. Zur mangelnden Konsequenz, mit der diese Verbote ausgesprochen wurden, vgl. Heydenreuter: Bestrafung (wie Anm. 3), 57 u. 59. Das Netzwerk der Wilderei 749 Sucht man nach Gründen für die Veränderung, so bieten sich gesetzgeberische Maßnahmen, insbesondere eine Verschärfung der Strafen an. Eine solche war tatsächlich erfolgt, allerdings bereits im 16. Jahrhundert. Damals wurde die Wilderei in den Katalog der Viztumshändel aufgenommen und damit zum Malefiz- oder Schwerverbrechen deklariert, das nur mit Vorwissen des Landesherrn abgestraft werden durfte. 183 Einen zweiten Schritt der Strafverschärfung brachte das Mandat von 1567. In ihm kündigte Herzog Albrecht V. an, Wilderer nicht wie bisher mit Gefängnis, sondern mit dem Tode zu bestrafen. Wer künftig beim unerlaubten Pirschen ergriffen werde, sei ohn alles Mittel an den nächsten Baum zu hängen. Nach diesen beiden Schritten änderte sich an den angedrohten Strafen nurmehr wenig. Es sind lediglich an den Tatumständen und der Rolle des Delinquenten ausgerichtete Differenzierungen zu beobachten 184 sowie ein leichtes Auf-und-ab in der Strafstrenge, und ein Experimentieren mit verschiedenen Strafformen. Neben dem Landesverweis erlangten eine Zeitlang die Verurteilung zum Kriegsdienst, zur Galeerenstrafe oder zur Zwangsarbeit eine gewisse Bedeutung. 185 Was die Strafstrenge angeht, bestehen kaum Unterschiede zwischen dem Wildereimandat von 1567 und dem von 1657 bzw. 1663. Wichtiger als die Strafandrohung könnte die Strafpraxis (vgl. Tabelle 5) gewesen sein. Doch auch hier läßt sich kein auffallender Wandel beobachten. Für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts kommt Heydenreuter zu dem Ergebnis, daß bei der Wilderei »mehr als bei anderen Delikten gesetzliche Strafandrohung und landesherrliche Strafpraxis auseinanderfallen: Den oft drakonischen Strafandrohungen stehen relativ milde tatsächliche Strafaussprüche und zahlreiche abgebrochene Ermittlungen gegenüber.« 186 Dasselbe gilt für das ausgehende 17. Jahrhundert. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gab es nur eine Verurteilung zum Tode. Bei ihr dürften »sonstige Gewalttätigkeiten« neben dem Wilddiebstahl den Ausschlag gegeben haben. Ähnliches gilt von der einen Hinrichtung zu Ende des Jahrhunderts in meinem Untersuchungsraum. Auch hier war Wilderei nur ein Nebendelikt. 183 Nach Heydenreuter: Bestrafung (wie Anm. 3), 56f., erscheint die Wilderei noch nicht unter den Viztumshändeln, die die Neufassung der Landesfreiheitserklärung von 1516 auflistet, ebensowenig in der Landrechtsreformation von 1518. Erst eine handschriftliche Jagdordnung, die wahrscheinlich 1526 entstanden ist, rechnet Wilderei den Viztumshändeln zu, überläßt aber die Ahndung kleinerer Verstöße den Jägermeistern. - Zum Ausschluß der einfachen Bevölkerung von der Jagd im Laufe des Mittelalters vgl. Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 28ff. 184 So vor allem in einem von Herzog Maximilian 1615 erlassenen Mandat (BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1615 IX 4 - 2). 185 Vgl. ebd., Ziffer 3; 1644 XII 10; 1675 I 25; 1663 III 28 u. 1674 X 15. - Heydenreuters Sichtweise einer weiteren Strafverschärfung nach 1567 kann ich nicht übernehmen. Vgl. ders.: Bestrafung (wie Anm. 3), 57 u. 59. - Zum Experimentieren mit verschiedenen Strafformen vgl. ebd. sowie Heydenreuter: Hofrat (wie Anm. 7), 228f., und Behringer: Mörder (wie Anm. 3), 102f., 106f. u. 119. Zur Bestrafung von Wilderern in Bayern s. a. Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 129 - 132. 186 Heydenreuter: Bestrafung (wie Anm. 3), 64. Zu den beiden im folgenden erwähnten Todesurteilen vgl. ebd. 62 sowie BayHStA, KHR 478 fol. 142, 187, 249 (Balthasar Huber). Winfried Freitag 750 Tabelle 5: Strafen Zahl der Fälle, in denen die Strafe bekannt ist 164 100% keine Strafe 3 2% geringfügige Strafe 13 8% Geldstrafe 3 Schandstrafe 1 Verweis 9 kurze Haftstrafe, meist im Amtshaus 90 55% Zuchthaus bis 3 Monate 42 26% Schwere Strafen 13 8% Hinrichtung 1 Landesverweis 5 Malefizurteil 187 3 den Venezianern als Soldat überlassen 1 Zuchthaus, 6 - 12 Monate 3 flüchtig 3 2% Wenn nicht Verschärfungen in der Strafandrohung oder in der Strafpraxis, waren es dann Neuerungen in Organisation und Verwaltung, die zu einer dauerhaften Veränderung führten? Neuerungen gab es hier schon, aber sie waren nicht von Dauer. Dies gilt für das Generalmandat vom 14. Juli 1650, welches den Landgerichten befahl, Quartalsberichte über sämtliche Wildereidelikte in ihrem Bereich einzuschicken. 188 Und dies gilt auch für das 1664 gegründete Wildbretschützenkollegium, 189 das 1683 wieder aufgehoben und 1699 nur für kurze Zeit nocheinmal eingerichtet wurde. Das Kollegium hatte offensichtlich nicht den gewünschten Erfolg, beeinträchtigte aber durch die Abordnung einiger Räte die Arbeit des Hofrates ganz erheblich. Als mögliche Ursache der Kriminalisierung kommen schließlich auch praktische Veränderungen in Frage, die ganz unten ansetzten, indem sie für eine intensivere Beaufsichtigung von Wald und Wild sorgten. 190 Die Forstordnung, die Herzog Maximilian 1616 im Rahmen seiner Rechtsreform erlassen hat, 191 klagt über den schlechten Zustand der Gemeindewälder. Diese seien abgeödet und erschlagen, weil in ihnen jeder haue, wie es ihm gefalle. Auf welche Weise für eine bessere Überwachung gesorgt werden solle, wurde in der Ordnung vom Einzelfall abhängig gemacht. Die Gemeinden konnten einen Holzhai 192 einsetzen oder dessen Aufgabe, wenn ihr Wald sehr klein 187 In diesen drei Fällen ist lediglich bekannt, daß ein Malefizurteil verhängt wurde, nicht aber die genaue Strafe. 188 BayHStA, KHR 309 fol. 21. 189 Vgl. hierzu Münch: Hofrat (wie Anm. 7), 70, 86 u. 241f. 190 Eine Intensivierung der Kontrolle über den Wald im Ebersberger Raum im frühen 17. Jahrhundert zeigt sich bereits in der Auseinandersetzung um die Waldnutzung einiger Landgemeinden östlich des Ebersberger Forstes mit dem Kloster Ebersberg und dem Landesherrn. Siehe dazu Breit: Gemain (wie Anm. 103). 191 Vgl. Landrecht, Policey- Gerichts- Malefiz und andere Ordnungen der Fürstenthumben Obern und Nidern Bayrn, München 1616. - Zur Aufsicht über Gemeindewälder, deren Nutzung bei den Landgemeinden lag, und über die der Landesherr nur die Oberaufsicht und den Wildbann beanspruchte, vgl. ebd., 769f. bzw. die Artikel 76 u. 77. Das Netzwerk der Wilderei 751 war, auch von den Dorfvierern wahrnehmen lassen. Bei großen, am Rande von Bannforsten gelegenen Gemeinden sollte der Herzog einen Überreiter bestimmen. Die Frage, ob die Kontrolle über Gemeindewälder, die gleichzeitig landesherrliche Bannforste waren, unter der Obhut des Dorfes verblieb oder an den Landesherrn abgegeben wurden mußte, hat zu teilweise erbitterten Auseinandersetzungen geführt. 1691 wehren sich die Dorfschaften Steinhöring und Kreith 193 (Landgericht Schwaben) vergeblich dagegen, daß ihr Holzhai, den sie pflichtgemäß jederzeit gehabt haben, durch einen Überreiter ersetzt wird. 194 1697 muß sich Andreas Willertshammer, der schon erwähnte Überreiter zu Buch (Landgericht Schwaben), eine neue Unterkunft suchen. Der Bauer, bei dem er bisher gewohnt hat, ist in Austrag gegangen und der neue Hofinhaber beansprucht, das Haus alleine zu bewohnen. Die Versuche von Willertshammer, in Buch eine neue Unterkunft zu finden, scheitern, weil das ganze Dorf (...) mit Herbergsleuten angefüllt sei. 195 Der wahre Grund dürfte jedoch ein anderer gewesen sein: Bei fast allen Dorfschaften, in denen sich landesherrliche Jaidsbediente aufhalten und daher eine Wohnung haben müssen, habe die Meisterlosigkeit, 196 so berichtet der Hofkastner, allbereits so weit überhand genommen, daß sich die Bewohner miteinander zu unterreden, ja gleichsam zusammen zu schwören pflegen, daß keiner hinfüran einen solch kurfürstlichen Bedienten im Zins mehr gedulden soll und wolle. 197 Willertshammer möchte seine Wohnungsprobleme lösen, indem er sich ein Haus baut. Er bittet deshalb das Hofkastenamt, ihm im benachbarten Zorneding ein Grundstück auszuweisen. Dagegen setzt sich das Dorf mit Suppliken und rechtlichen Mitteln energisch zur Wehr. Und es hat damit Erfolg. Das Jägerhäusl wird schließlich 1740 in Buch errichtet. 198 Aus den umfangreichen Schriftsätzen, die in dieser Sache hin- und hergingen, sei hier nur die Unterstellung der Behörden herausgegriffen, die Zornedinger seien notorische Wilderer und hätten einen Überreiter als Aufpasser nötig. Diese antworten darauf: Vor zwei Jahren drohte die Feldfrucht bei ihnen durch ein großes Wildschwein in kurzer Zeit jämmerlich ruiniert zu werden. Sie hätten eine Abordnung zum Obristjägermeisteramt geschickt und darum gebeten, ein Jäger möge das Tier aus dem Weg räumen oder es solle von einem der ihren erlegt werden dürfen. Die Beamten hätten mit Gelächter und Unglauben reagiert, ob der Abordnung wirklich eine dergleichen einfältige Ausrichtung (...) aufgegeben worden sei. Auch hätten sie dieser vorgehalten, bereits vor sieben oder acht Jahren ein starkes Wildschwein erschossen und den Vorfall vertuscht zu haben. 199 Bereits 1687 hatte der Kurfürst verfügt, daß dem Überreiter von Otterfing 200 gestattet werden solle, sich dort ein Haus zu bauen. 201 Bei den Otterfingern löste dies offen- 192 Nach Schmeller: Wörterbuch (wie Anm. 19), Bd. 1, Sp. 1022, bedeutet »haien« bewahren, besorgen, pflegen, hegen. Der »Hai« ist der Aufseher oder Hüter (s. a. der Bruckhai, Fischhai, Flurhai, Wieshai). 193 Das eine liegt 6 km östlich von Ebersberg, das andere am Nordostrand des Ebersberger Forstes, etwas südlich von Hohenlinden. 194 Bay. HStA, FA 234 Nr. 18. 195 StAM, HKA, A 62 Nr. 59. 196 Laut Schmeller: Wörterbuch (wie Anm. 19), Bd. 1, Sp. 1683, bedeutet meisterlos ausgelassen, licentiosor, respektlos, unbesonnen. 197 StAM, HKA, A 62 Nr. 47. 1 - Mit Zins ist der Mietzins, das Vermieten einer Wohnung, gemeint. 198 Vgl. Habel/ Stoelzl: Jägerhäusl (wie Anm. 165). 199 Vgl. StAM, HKA, A 62, Nr. 8. 200 Bei Holzkirchen, Gericht Wolfratshausen. 201 Vgl. BayHStA, KHR 455 fol. 157. Winfried Freitag 752 sichtlich die Befürchtung aus, den unbeliebten Beamten nicht mehr loswerden zu können. Sie reagierten mit einer Gewalttätigkeit, worauf ihnen wegen ihres vermessenen Mutwillens die wohlverdiente Bestrafung diktiert wurde. Der Hofkastner erinnert sich daran 10 Jahre später im Zusammenhang mit dem angestrebten Hausbau in Zorneding und fährt fort: Ohne solche Exempel würden sich dergleichen rebellische Bauern Knüppel und heimliche Verhetzer einbilden, den Kurfürsten daran hindern zu können, für die Unterkunft seiner Jaidsbedienten zu sorgen. Sie würden glauben, ihn letztlich zwingen zu können, selbe allenthalben ab(zu)stellen und alsdann sowohl in Wildbret- und Gehölzsachen denen losen Vögeln Freipaß (zu) lassen. 202 Daß das Wildbretschießen bei sämtlichen Auseinandersetzungen um Wohnung und Hausbau von kurfürstlichen Jaidsbedienten eine zentrale Rolle spielte, geht auch aus dem Gutachten des Obristjägermeisters zur Verlegung des Überreiters von Eglharting nach Birkach hervor: Es sei schon eine allgemeine Sach, daß die Bauern und Untertanen schier allenthalben so gesittet, daß sie nit allein keinen Jaidsbedienten in ihre Dorfschaften, sonderbar allwo niemalen keine gewesen, nit einlassen, sondern auch sogar diejenige, so schon an ein und anderem Ort von unvordenklichen Jahren her gewohnt, zu vertreiben suchen wollen, und dieses nur darum, damit man um soviel weniger auf ihr schon gewohnte Ungebühren nit so leicht kommen möchte, und sie hernach mit dem Gehülz und der Wildfuhr auch in anderwegen desto freier und schädlicher - wie an vielen Orten bishero geschieht - umgehen können. 203 Der Obristjägermeister spricht unverhohlen aus, worum es geht, nämlich um bessere Kontrolle über den Wald und - so eine andere Stelle im selben Schreiben - um Ausreittung 204 der dieser Revier eine Zeit her sehr stark eingerissenen Wildbretschützen und Konfirmierung der Haag- und Ebersbergischen Wildfuhren. Die Auseinandersetzungen um den Bau von Überreiterhäusern scheinen im Zusammenhang mit Bemühungen zu stehen, die Zahl der Jaidsbedienten zu vermehren und damit die Überwachung der Wälder zu intensivieren. Eine Durchsicht sämtlicher Akten zu Förstern und Überreitern im ehemaligen Landgericht Schwaben spricht für diese Annahme. Nur der Försterdienst zu Anzing und der des Überreiters zu Markt Schwaben sind kontinuiertlich seit Anfang des 17. Jahrhunderts belegt. Letzterer hatte bis 1682 die Ebersberger Gejaider mitzubetreuen. Erst dann wurde in Ebersberg eine eigene Stelle geschaffen. 205 In Eglharting wurde ein Überreiter ebenfalls Anfang der achtziger Jahre aufgestellt und 10 Jahre später, wie schon erwähnt, nach Birkach verlegt. 206 Die Überlieferung zu einem Überreiter, der zunächst in Moosach ansässig war, dann nach Buch kam und sich, wie eben berichtet, in Zorneding ein Haus bauen wollte, setzt 1690 ein. 207 Im Landgericht Schwaben erhöhte sich demnach die Zahl der kur- 202 StAM, HKA A 62 Nr. 47. Siehe zu diesem Hausbau auch BayHStA, KHR 455 fol. 157. Von der Gewalttätigkeit und der Bestrafung der Otterfinger ist nur am Rande zu erfahren, nämlich in diesem Bericht, den der Hofkastner zur Auseinandersetzung um den Bau eines Überreiterhauses in Zorneding erstattet hat. 203 BayHStA, FA 234 Nr. 18 (Bericht und Gutachten des Oberstjägermeisters an den Kurfürsten vom 3. Juli 1691). 204 Gleichbedeutend mit ausreuten oder roden. Vgl. Grimm: Wörterbuch (wie Anm. 19), Bd. 1, 934f. 205 Vgl. BayHStA, FA 402 Nr. 22 u. FA 471 Nr. 387. 206 Vgl. BayHStA, FA 234 Nr. 18. Zur Einrichtung der Stelle in den frühen achtziger Jahren vgl. ein Gesuch des Antonius Perger, Überreiter zu Birkach, vom 19. 6. 1730: Nachdem Euer kurfürstlich Durchlaucht zu Eglharting nächst Birkach im Forstamtsbezirk Anzing allbereit vor fünfzig Jahren wegen Obsichttragung des Gehölz und der Wildfuhr einen Überreiter und zugleich Forstknecht gnädigist aufstellen und verpflichten lassen (...). 207 Vgl. BayHStA, FA 234 Nr. 23. Das Netzwerk der Wilderei 753 fürstlichen Jaidsbedienten im späten 17. Jahrhundert von 2 auf 5. Ob eine solche Vermehrung der Stellen auch in anderen Gerichten vorgenommen wurde, es sich also um eine allgemeine Tendenz handelt, 208 wäre noch zu untersuchen. Sollte sich diese Vermutung bestätigen, so wäre darin zwar eine Verstärkung der Position des Landesherrn, keineswegs aber der entscheidende Durchbruch zu einer effektiven Kontrolle von Wald und Wild zu sehen. Dort, wo die Untertanen einen Jaidsbedienten bei sich aufnehmen mußten, hatten sie noch immer die Möglichkeit, ihn in ihrem Sinne zu domestizieren: ihn zu bedrohen und so stark einzuschüchtern, daß er sie weitgehend gewähren ließ, oder ihn zu »kaufen«. Die Unfähigkeit des Landesherrn, seine Bediensteten ausreichend zu besolden, blieb bis zum Ende des Ancien régime eine der Achillesfersen des Absolutismus. 209 Zudem standen die Untertanen in ihrem Kampf gegen die Überreiter, Förster und Jägerjungen nicht allein. Die landesherrlichen Jaidsbedienten wurden, wie gezeigt, auch von Adeligen angefeindet, und sie waren bei den lokalen Gerichtsbeamten alles andere als beliebt. Kriminalisierung beinhaltet viel mehr als das bloße Unter-Strafe-Stellen einer bestimmten Handlung. Ihr Erfolg bemißt sich daran, ob es gelingt, diese Handlung auch im Bewußtsein der Bevölkerung, für die das Verbot gilt, zu einer verbrecherischen werden zu lassen. Legt man diesen Maßstab zugrunde, dann ist die Kriminalisierung des Wildbretschießens ein sehr langfristiger, in manchen Gegenden vielleicht noch immer nicht abgeschlossener Prozeß, gekennzeichnet von kleineren Fortschritten, Rückschlägen und ausgedehnten Phasen des Stillstandes. An seinem Anfang steht die Deklaration des Deliktes zu einem Malefizvergehen in der Zeit des Bauernkrieges. Diese Anspruchsbehauptung des Landesherrn wurde von der einfachen Bevölkerung nicht angenommen und von weiten Teilen des Klerus, der Beamtenschaft und des Adels nicht unterstützt. Jagen blieb in den Augen der Untertanen eine althergebrachte Gewohnheit, die sie sich nicht verbieten lassen wollten. Selbst die Juristen waren sich über Schwere und Unrechtsgehalt des Deliktes nicht ganz im klaren, ging doch das ihnen als Leitlinie dienende römische Recht von der Freiheit der Jagd aus. 210 Die Bestrebungen der Herzöge, aus Wildbretschützen Verbrecher zu machen, mündeten in eine lang andauernde Pattsituation, in der keine der beiden Seiten ihre Rechtsauffassung durchzusetzen vermochte. Der Landesherr konnte es sich nicht leisten, Wilderer wie Diebe, Räuber und Mörder zu behandeln, und die Untertanen konnten nicht mehr ungehindert und ohne Angst vor Strafe jagen. In dieser langen Phase mochte der Landesherr die Gewichte vielleicht etwas zu seinen Gunsten verschieben, indem er die Zahl seiner Aufpasser in den Wäldern erhöhte und die Disziplin seiner Beamten ein wenig verbesserte. Doch wirklich aufgehoben wurde das Gleichgewicht der Kräfte erst durch die von der Französischen Revolution und Napoleon ausgelösten Reformen, die in eine neue Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung mündeten. In der Wahrnehmung der Landesherrn erscheint die anhaltende Pattsituation als ständige Zunahme der Wilderei. Diese sei je länger je heftiger geworden und habe gleich- 208 In Perchting im Landgericht Starnberg wurde 1686 eine Überreiterstelle neu eingerichtet. Vgl. BayH- StA, FA 234. 209 Für Bayern vgl. hierzu Rauh: Verwaltung (wie Anm. 79), 85ff. 210 Vgl. Heydenreuter: Bestrafung (wie Anm. 3), 64. - Zu den Diskussionen der Juristen um die Angemessenheit der Todesstrafe und den Verbrechenscharakter der Wilderei siehe Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 132 - 136. Winfried Freitag 754 sam mit Gewalt überhand genommen (Herzog Albrecht, 1567). Die oft wiederholten Mandate seiner Vorgänger würden gar nicht angesehen, sondern je länger je mehr verachtet (Herzog Maximilian, 1615). Die tägliche Erfahrung gebe mehr als zuviel zu erkennen (...), daß das schädliche Wildbretschießen, Fällen, Richten und Fangen in unseren Landen je länger je mehr überhand nimmt. Die von Maximilian ausgegangenen vielfältigen Mandate würden in den Wind geschlagen und durch die bisherige Milde die Wilderer nur gestärkt (Kurfürst Ferdinand Maria, 1657 und 1663). Diese Klage wiederholen 1705 Kaiser Josef I. und 1735 Kurfürst Carl Albrecht fast wörtlich. Nur die Liste der mißachteten Mandate wird dabei immer länger. 211 Und auch 1771 unter Kurfürst Max Joseph scheint die Wilderei nicht nachgelassen, sondern eher zugenommen zu haben. 212 Als Gründe werden die aktuelle Versorgungskrise und die Anweisung an das Obristjägermeisteramt, in den kurfürstlichen Wildfuhren eine gewisse Quantität Wild monatlich schießen und für den sonst gewöhnlichen - oder soviel die Armen betrifft - für geringen Preis verkaufen zu lassen. Auf diese Weise sollte dem dermaligen großen Brotmangel durch das Wildbret einigermaßen abgeholfen und die Anzahl des Wilds an Ort und End, wo solche etwan zu übermäßig, vermindert, mithin die Feldfrucht destomehr konserviert werden. Diese Anweisung sei jedoch von den Untertanen soweit mißbraucht und ausgedehnt worden, daß sich dadurch fast ein jeder der Jagdbarkeit berechtiget zu sein glaubet, inmaßen unter diesem Vorwand das Wild nicht nur durch einzelne Personen, sondern sogar durch zusammenrottierte ganze Banden, 213 worunter sich viele mit vermummtem Gesicht und Kleidungen befinden, haufenweis weggeschossen und den Jägern mit bewaffneter Hand offenbar und ungescheuter Widerstand bezeigt wird. Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Mandat sind nicht das unvermindert große Ausmaß der Wilderei und das furchtlose Auftreten der Schützen. Es ist vielmehr das obrigkeitliche Eingeständnis eines Zusammenhangs zwischen der Überhegung des Wildes und dem Getreidemangel sowie die Bereitschaft, den Hunger der Armen mit Wildbret zu stillen. In einem zweiten, ebenfalls 1771 ergangenen Mandat 214 erfahren wir sogar von Entschädigungen, die der Landesherr für Wildschäden auf den Feldern der Untertanen geleistet hat, nun aber nicht mehr zu zahlen bereit ist. Ein Beleg dafür, wie sehr das Wild damals Felder und Ernten der Bauern bedrohte, liefert auch Mathias Klostermayer, der berühmteste bayerische Wilderer. Der - wie er genannt wurde - bayerische Hiesel gab 1771 nach seiner Verhaftung zu Protokoll: Es haben vielle 100 gesagt, da gehe hin und zu meinem Acker, weil das Wildprett so überhand genohmen habe, daß mann über 100 Stück sehen könne. 215 Daß die übermäßigen Wildschäden viele Untertanen zu Sympathisanten und Helfern oder gar selber zu Wilderern gemacht haben, blitzte bislang nur in dem Beschwerdebrief der Zornedinger kurz auf, also in einer der wenigen 211 Vgl. BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1567 X 24, 1585 III 9, 1615 IX 4 - 2, 1657 I 25, 1663 III 28; 1705 VII 29; 1735 II 25. 212 Vgl. zum folgenden BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1771 V 27 - 2. 213 Es ist dies die einzige Stelle, an der ich in den Quellen auf den Begriff Bande gestoßen bin. Daß die Obrigkeiten damals von Banden sprachen, mag mit der Ausnahmeerscheinung des Mathias Klostermayer zusammenhängen. Er hatte sich in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts von einem notorischen Wilderer zum Oberhaupt einer Bande entwickelt, die sich nicht auf Wildbretschießen beschränkte, sondern der Staatsgewalt auch offen gegenübertrat und daher straff geführt werden mußte. Vgl. hierzu Carsten Küther: Räuber und Gauner in Deutschland, Göttingen 1976 (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 20), 52-55. 214 BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1771 XI 2. 215 Zitiert nach Küther: Räuber und Gauner (wie Anm. 213), 54. Das Netzwerk der Wilderei 755 Quellen, in der wir nicht über die Obrigkeit von den Untertanen erfahren, sondern diese direkt zu Wort kommen. Frühere Mandate haben dies nur indirekt eingestanden, nämlich durch die Vorschrift, diejenigen, die auf ihren eigenen Äckern, Feldern oder Gärten Wildbret fangen oder erlegen, lediglich mit Geldbußen und Gefängnis, nicht aber mit Zuchthaus, Landesverweis oder Tod zu bestrafen. 216 Was in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts greifbar wird, ist ein neuer Ton, eine unter dem Einfluß der Aufklärung veränderte Einstellung der Obrigkeit. Zählten früher einzig und allein die fürstliche Jagdlust und Ergötzlichkeit, 217 so wird jetzt das Wohl der Untertanen und des Landes miterwogen. Das beschränkte Entgegenkommen des Staates und sein Stärkerwerden dank der Reformen leiten über zu einer neuen Phase in der Geschichte der Wilderei in Bayern. 6. Schlußbemerkung zu den Quellen und zur Methode In der Einleitung wurden die Hofratsprotokolle gleichsam als Lückenbüßer vorgestellt. Da so gut wie keine Prozeßakten überliefert sind, bleibe nichts anderes als die aufwendige Arbeit mit diesen recht kargen Quellen übrig. Ihr einziger Vorteil bestehe darin, daß sie quantitativer Auswertung zugänglich sind und Überblicke über das Wildereigeschehen in einem größeren Gebiet erlauben. Diese Einschätzung ist nun zu korrigieren. So lückenhaft die Hofratsprotokolle in ihren Informationen sind, gegenüber ausführlichen Prozeß- oder Sachakten haben sie sogar einen weiteren wichtigen Vorteil. Da der Hofrat sowohl Mittelals auch Zentralbehörde war und mit seiner Arbeit ein breites Spektrum an Sachgebieten abdeckte, ist dafür gesorgt, daß neben der speziellen Frage, der man gerade nachgeht, stets deren Umfeld sowie allgemeine Entwicklungen im Blick bleiben. Dirigistische Maßnahmen bei Versorgungsengpässen und Teuerung weisen auf Krisenjahre hin, in denen mit verstärkter Delinquenz zu rechnen ist. Neben der Wilderei scheint das gesamte Spektrum der Konflikte um Wald und Wild auf, angefangen bei unterlassener Hundsprügelung über Exzesse, die sich Jaidsbediente zu schulden kommen ließen, bis hin zu Streitigkeiten über Waldweiderechte. Neben Wildbretschützen aus dem einfachen Volk treten auch Mitglieder der privilegierten Stände ins Blickfeld, die sich wegen unerlaubten Jagens verantworten mußten, sowie Beamte, die durch ihr Verhalten oft die Bestrafung von Wilderern erschwerten oder gar verhinderten. Kurzum eröffnen die Hofratsprotokolle den Blick auf das gesellschaftliche Feld, auf dem ganz konkret darüber entschieden wurde, wer im Einzelfall die Kontrolle über den Wald ausübte, wem dessen Holz, Tiere und Früchte zuguten kamen 218 und ob Wildbretschießen überhaupt bestraft wurde. 216 Diese Vorschrift ist zuerst in dem Mandat Herzog Maximilians von 1615 (BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1615 IX 4 - 2) enthalten. Sie wird von dort in die Mandate von 1657, 1663 und 1705 übernommen (BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1657 I 25; 1663 III 28; 1705 VII 29). 217 Vgl. etwa BayHStA, Kurbayern Mandatensammlung 1599 IV 29; 1673 VI 19 (Ziffer 2). S. a. bei Eckardt: Jagd (wie Anm. 2), 46ff. (»Die Jagd als exklusives Vergnügen«). 218 »Es scheint sogar, daß Wald- und Holzkonflikte, die erstmals in der Zeit des Bauernkrieges stärker um sich griffen, für die Spätphase des Feudalismus besonders typisch waren, da der Wald gleichsam die letzten offenen Grenzen dieser Gesellschaft bildete, wo die Rechtsverhältnisse noch nicht überall eindeutig definiert waren.« So Joachim Radkau: Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), 513 - 543, hier: 522. - Vgl. hierzu neuerdings auch Below/ Breit: Wald (wie Anm. 103). - Die oben gestellten Fragen nehmen ebenfalls breiten Raum ein bei Allmann: Wald (wie Anm. 22). Winfried Freitag 756 Dieser Blick konnte vertieft werden durch die Hinzunahme von weiteren Quellen, vor allem von Jagd- und Wildereimandaten, Personalakten der Jaidsbedienten und Unterlagen des Hofkastenamtes. Mit dem tieferen Eindringen begannen sich, scheinbar fest vorgegebene Strukturen und Funktionen in Handlungsfelder und -möglichkeiten der einzelnen Gruppen von Akteuren aufzulösen. Die Jägerei, der Hofrat und die Landgerichte verloren den Charakter homogener Behördenapparate, die nach festen Regeln funktionieren. Es wurde sichtbar, daß das Ob und Wie der Anwendung von Regeln in hohem Maße vom Interesse und dem sozialen Umfeld der mit der Umsetzung betrauten Beamten abhing, und daß die Einschätzung der Bevölkerung, Wildbretschießen sei eigentlich kein Verbrechen, starken Einfluß auf den geringen Erfolg der Ermittlungen in Wildereifällen hatte. In dem Maße, in dem die Haltung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen einbezogen wurde, verlor die den Quellen inhärente Bindung an die Perspektive des Landesherrn und seiner Juristen 219 an Bedeutung, relativierte sich diese Perspektive zu einer unter anderen. Daß sie sich langfristig gegen konkurrierende Auffassungen durchsetzen konnte, verlieh ihr erst im Nachhinein besonderes Gewicht. Nicht Anleihen bei den Verhältnissen in England, sondern die Betrachtung des Verhaltens und - soweit solche vorlagen - auch der Äußerungen der Akteure in Kurbayern, gaben Aufschluß darüber, ob und von wem Wildbretschießen als Verbrechen angesehen wurde. Auf die Frage nach den Motiven der Wildbretschützen konnte keine abschließende Antwort gegeben werden. Daß der Erwerb bei vielen eine wichtige Rolle spielte, wurde deutlich. Ebenso das Motiv der Selbsthilfe gegen Wildschäden. Wenn von letzterem in den benutzten Quellen nur indirekt oder am Rande die Rede war, dann ist dies nicht verwunderlich. Der Landesherr und seine Beamten hatten in der Regel kein Interesse daran, das Tun der Schützen durch Wildschäden zu entschuldigen oder auf diese als etwas, wofür vielleicht sogar Entschädigung zu leisten wäre, hinzuweisen. Für die Ansicht Behringers, Wildbretschießen sei bereits in der Frühen Neuzeit mit elementaren Männlichkeitsritualen verbunden gewesen, 220 waren keine Belege zu finden. Dies mag erst recht an den Quellen liegen, in denen Akteure aus dem einfachen Volk kaum zu Wort kommen. Doch vielleicht sollte man bei der Suche nach Männlichkeitsritualen weniger von Beobachtungen ausgehen, die an Quellen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht wurden, als von den Motiven, die der Adel des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit für sein Jagen nennt. Warum sollte das Pirschen nicht auch für den einfachen Mann lustvoll und ergötzlich gewesen sein, und er darin eine Ertüchtigung und wehrhafte Übung gesehen haben, die ihm erlaubte, sich selbst und anderen seinen Wert zu beweisen? Angesichts der Tatsache, daß Wildbretschießen eine in allen Schichten tief verwurzelte kulturelle Gewohnheitheit war, und sich die Kultur der Eliten erst in der Frühen Neuzeit stärker von der des Volkes absonderte, erscheinen mir Nachforschungen in dieser Richtung naheliegend. Um in der Frage der Motive weiterzugelangen und verschiedene Typen von Wilderern besser herausarbeiten zu können, um zu erfahren, ob alle gleichermaßen mit der Unterstützung der Bevölkerung rechnen konnten oder vielleicht manche von ihnen bereits auf Ablehnung stießen, kurz: um die Wilderer und die Einstellung der Untertanen 219 Heydenreuter: Bestrafung (wie Anm. 3), scheint diese einseitige Bindung nicht als störend zu empfinden. Er versucht jedenfalls nicht, sich davon zu befreien. 220 S. o. 710. Das Netzwerk der Wilderei 757 zu ihnen differenzierter darstellen zu können, wäre die Suche nach einzelnen erhaltenen Prozeßakten noch einmal aufzunehmen und darin auch Hofmarks- und Stadtarchive einzubeziehen. Zur Haltung des Adels und der Beamten sowohl den Wildbretschützen als auch den landesherrlichen Ansprüchen gegenüber dürften die zahlreichen Jagdstreitigkeiten, in die diese verwickelt waren, Auskunft geben. Die Hinzunahme der Gerichtsrechnungen müßte es erlauben, die kargen Angaben der Hofratsprotokolle zu ergänzen und damit die Qualität des statistischen Materials zu verbessern. Die auf der Basis der bisher benutzten Quellen und des relativ kleinen Samples vorgelegten Ergebnisse können nicht mehr als erste Thesen und Trendaussagen sein, die zur Weiterarbeit auffordern. 759 Eva Wiebel Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ Leben und Lebensbeschreibungen zweier berüchtigter Gaunerinnen des 18. Jahrhunderts Unstreitig ist eine umständliche JaunersGeschichte (...) in verschiedener Rüksicht eine sehr wichtige Geschichte. Mit dieser Feststellung wirbt Johann Ulrich Schöll für seine 1789 fertiggestellte, mehrere hundert Seiten umfassende Lebensbeschreibung des Konstanzer Hans, einer der schillerndsten Figuren unter den Gaunern Südwestdeutschlands. 1 Dieses frühe und »einmalige Dokument pragmatischer Biographik« 2 möchte den Leser, indem es den Menschen in so ganz eigenen sittlichen Verhältnißen zeigt, die tiefsten Blike ins menschliche Herz und in die Wege der Vorsehung thun lassen. 3 Was interessiert uns gut zweihundert Jahre später an dem Leben von Gaunern des 18. Jahrhunderts? Die unmittelbare Faszination beruht (immer noch) in den erhofften Geschichten der ganz eigenen sittlichen Verhältniße einer anderen Welt, in Bildern und Phantasien von wilder Freiheit, Liebe, Kraft, Gewalt, List, Unerschrockenheit und Gefahr - gebündelt im Zauberwort »Räuber«. Hinzu tritt ein geschichtswissenschaftliches Interesse, das sich seit einiger Zeit im Zuge der Orientierung hin zu einer neuen Sozial- und Alltagsgeschichte gerade den Lebenswelten der Unterschichten und Randgruppen zugewendet hat. Jedoch wissen wir noch immer wenig über die konkreten Lebenswege und Überlebensstrategien nichtseßhafter Menschen. 4 Das Wenige verdanken wir der Historischen Kriminalitätsforschung 5 , die Delinquenz oder weitergefaßt abweichendes Verhalten »als Konfliktlinie (begreift), entlang der sich soziale und mentale Veränderungen auch in den Schichten, die bisher als stumm gegolten haben, aufspüren lassen«. 6 In anderen Worten: Der sich in den Quellen niederschlagende, geahndete Bruch von Normen und Gesetzen soll als Sonde zur Erschließung von Lebenswelten dienen, »in der Hoffnung, im Spiegel des abweichenden Verhaltens ein Stück ›Normalität‹ zu fassen zu bekommen« 7 . Die Historische Kriminalitätsforschung will jedoch nicht nur die eine, die abweichende Seite beleuchten. Im selben Maße versucht sie, die Wertmaßstäbe und Zielsetzungen der urteilenden Mitmenschen und Obrigkeiten zu entschlüsseln. 1 [Johann Ulrich Schöll]: Kostanzer Hanß. Eine schwäbische Jauners=Geschichte aus zuverläßigen Quellen geschöpft und pragmatisch bearbeitet, Stuttgart 1789, hier IV - Ich danke Andreas Blauert für seine aufmerksame und kritische Lektüre dieses Beitrages. 2 Holger Dainat: Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Zur Geschichte der Räuberromane in Deutschland (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 55), Tübingen 1996, 178; ähnlich auch: Heiner Boehncke/ Hans Sarkowicz: Im wilden Südwesten. Die Räuberbanden zwischen Neckar und Bodensee, Frankfurt/ M. 1995, 143 und Friedrich Christian Benedict Avé-Lallemant: Das Deutsche Gaunerthum in seiner social=politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande, 1. Teil, Leipzig 1858, 243. 3 [Schöll]: Kostanzer Hanß (wie Anm. 1), IV. 4 Sabine Kienitz: Unterwegs - Frauen zwischen Not und Normen. Lebensweise und Mentalität vagierender Frauen um 1800 in Württemberg, Tübingen 1989, 12. 5 Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: ZHF 19 (1992), 385 - 414. 6 Hermann Romer: Historische Kriminologie - zum Forschungsstand in der deutschsprachigen Literatur der letzten zwanzig Jahre, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 14 (1992), 227 - 242, hier: 228. Eva Wiebel 760 Deren Vorstellungen vom richtigen Leben gegenüber dem Verbrechen und vom guten Menschen gegenüber dem Verbrechercharakter entlarven Prozesse der Kriminalisierung und Entkriminalisierung von Verhaltensweisen. 8 Erst in den letzten Jahren wurden die Lebensbedingungen von Frauen im Milieu der Bettler, Gauner und Diebe genauer ins Auge gefaßt. Die scheinbare Geschlechtsneutralität älterer und auch einiger neuerer Darstellungen 9 verdeckte lange die Tatsache, daß fast ausschließlich die Lebensbedingungen von Männern betrachtet wurden, obwohl 30 - 60% 10 der in den Quellen überlieferten vagierenden Menschen Frauen waren. Es gilt also zu untersuchen, inwiefern die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht das Leben in diesen Bereichen der Gesellschaft beeinflußt oder bestimmt hat. 11 Unternimmt man diesen Versuch, ändert sich nicht nur die vorherrschende Vorstellung von einem auf Randfunktionen und Hilfsdienste beschränkten Frauenleben in der Räuberbande, sondern, soviel haben die Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt, das Bild des gesamten Milieus: »Jede Untersuchung über das Bandenwesen des 18. Jahrhunderts, die nicht nach der Rolle und der Bedeutung der Frauen in ihm fragt, ist daher unvollständig.« 12 Ein besonderes Anliegen der Frauen- und Geschlechtergeschichte ist es dabei, die Vielfalt von Frauenrollen aufzuzeigen und vereinfachende, stereotype Vorstellungen über die Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten von Frauen zu korrigieren. In diesem Fall von Frauen, deren Lebenssituation durch Armut, Ausgrenzung und Verfolgung gekennzeichnet war. Dabei sollen die Frauen aber nicht allein als Opfer - ihres Geschlechts und ihrer Lebensumstände - gezeigt werden. Vielmehr wird nach den konkreten Erfahrungen und Lebenskontexten der Gaunerinnen und Vagantinnen zu fragen sein. Denn die aus vielen (Arbeits-)Bereichen ausgeschlossenen Frauen mußten besondere Überlebensstrategien entwickeln, um ihr Auskommen zu finden; sie bewegten sich in einem Netz von Beziehungen, das es kennenzulernen gilt. 13 7 Gerd Schwerhoff: Geschlechtsspezifische Kriminalität im frühneuzeitlichen Köln. Fakten und Fiktionen, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995, 83 - 115, hier: 87. 8 Peter Becker: Kriminelle Identitäten im 19. Jahrhundert. Neue Entwicklungen in der historischen Kriminalitätsforschung, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 142 - 157. 9 Z.B. Carsten Küther: Räuber und Gauner. Das organisierte Bandenwesen im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1976; ders.: Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1983; Katrin Lange: Gesellschaft und Kriminalität. Räuberbanden im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt/ M. u.a. 1994. 10 Küther: Menschen (wie Anm. 9), 29; Wolfgang Scheffknecht: »Arme Weiber«. Bemerkungen zur Rolle der Frau in den Unterschichten und vagierenden Randgruppen der frühneuzeitlichen Gesellschaft, in: Alois Niederstätter/ Wolfgang Scheffknecht (Hg.): Hexe oder Hausfrau. Das Bild der Frau in der Geschichte Vorarlbergs, Sigmaringendorf 1991, 77 - 109, hier: 94; Ernst Schubert: Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt a. d. Aisch 1983, 276. 11 Siehe auch Otto Ulbricht: Einleitung. Für eine Geschichte der weiblichen Kriminalität in der Frühen Neuzeit oder: Geschlechtergeschichte, historische Kriminalitätsforschung und weibliche Kriminalität, in: Ders. (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995, 1 - 37, v. a. 13, 27f. 12 Andreas Blauert: Diebes- und Räuberbanden in Schwaben und in der Schweiz, an Bodensee und Rhein im 18. Jahrhundert, in: Harald Siebenmorgen (Hg.): Schurke oder Held? Historische Räuber und Räuberbanden, Ausstellung des Badischen Landesmuseums (...) 27. September 1995 bis 7. Januar 1996, Sigmaringen 1995, 57 - 64, hier: 60. 13 Vgl. Rebecca Habermas: Geschlechtergeschichte und »anthropology of gender«. Geschichte einer Begegnung, in: Historische Anthropologie 1 (1993), 485 - 509, hier: 504; Ulinka Rublack: Magd, Metz’ oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt/ M. 1998, 137. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 761 Zwei Gaunerinnen werden im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen: Die Schleiferbärbel und die Schwarze Lis. Den Ausschlag für die Wahl dieser beiden Frauen gab der schon erwähnte Johann Ulrich Schöll: solche (Jauner), die eine ausgezeichnete Rolle gespielt, durch ihre Thaten und Schicksale sich vorzüglich berüchtigt gemacht haben, (...) sind vornemlich: der sogenannte Sonnenwirthle, Kostanzer Hanß, der Bayer=Hiesel und der große Bayersepp, und unter den Weibern die Gaßners Lisel (die Schwarze Lis; E.W.) und die Schleiferberbel, des Kostanzer Hanßen Beyschläferin. 14 Es mag zunächst etwas überraschen, daß hier neben vier Männern auch zwei Frauen zu den berüchtigsten Gaunern des deutschen Südwestens gerechnet werden. Tatsächlich waren die beiden so berüchtigt und merkwürdig, daß über sie Geschichten erzählt wurden, die in der einen oder anderen Form bis heute überdauert haben. Ich mußte jedoch feststellen, daß es gerade die Anhaltspunkte aus diesen Berichten und Erzählungen waren, die mir zunächst zwar den Weg durch die Prozeßakten erleichterten, ihn mir dann aber durch falsche Informationen auch verstellten und mir Bilder in den Kopf setzten, die sich nur schwer revidieren ließen. Zunehmend interessierte mich deshalb die Frage, wie eine JaunersGeschichte eigentlich entsteht. Diese Frage bezieht sich im engeren Sinne auf die eigene Arbeit im Archiv, in weiterer Perspektive auf die Überlieferungsgeschichte des Lebens der beiden Gaunerinnen. In welcher Weise überlagern, verweben sich hier Realität und Fiktion? Worauf beruht die Bekanntheit gerade dieser beiden Erzjaunerinnen? Welche vorgefertigten (Charakter)Bilder verbergen sich hinter den zu beobachtenden Umdeutungen, Umdichtungen und Auslassungen? Diese Fragen berühren rezeptionsgeschichtliche Prozesse, an deren Ende die Biographien von Gaunerinnen ›verschwunden‹ sind und sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts nur noch fabelhafte »Räuber« finden. Ich möchte deshalb in diesem Aufsatz, ausgehend von der Frage nach der Entstehung einer JaunersGeschichte, den Versuch unternehmen, den Weg zurückzugehen, den meine Beschäftigung mit den Gaunerinnen des 18. Jahrhunderts genommen hat. Am Anfang stehen - nach einigen einführenden Bemerkungen zu Gaunerinnen und Diebinnen - zwei biographische Skizzen, die sich der Spurensuche im Archiv verdanken. Sie beruhen (nahezu) ausschließlich auf den Untersuchungsakten der Prozesse, die gegen die Schleiferbärbel und die Schwarze Lis geführt wurden. Daran anschließend möchte ich fragen, ob es sich um besondere Lebenswege handelt, die eine Legendenbildung quasi herausfordern, oder ob es andere Faktoren sind, die die spätere Überlieferung begründen können. Dazu richtet sich der Blick zunächst auf zeitgenössische Beurteilungen der beiden Frauen durch andere Gaunerinnen und Gauner sowie durch Vertreter der Obrigkeit. Daran anschließend sollen spätere Bearbeitungen des jeweiligen Materials bzw. Motivs betrachtet werden. 1. Gaunerinnen und Diebinnen Die Schleiferbärbel und die Schwarze Lis gehörten zu den Vagierenden, Menschen ohne festen Wohnsitz, die im 18. Jahrhundert bis zu einem Zehntel der Bevölkerung ausmachten. Diese drängende soziale Frage des 18. Jahrhunderts, das immer wieder 14 [Johann Ulrich Schöll]: Abriß des Jauner und Bettelwesens in Schwaben nach Akten und andern sichern Quellen von dem Verfasser des Kostanzer Hanß, Stuttgart 1793, 407f. Eva Wiebel 762 auch als »Jahrhundert der Bettler und Gauner« 15 bezeichnet wird, wurde letztlich durch Ausgrenzung und Kriminalisierung beantwortet. Allein schon das Betteln und das Umherziehen ohne ausdrückliche obrigkeitliche Genehmigung waren strafbar. Hinter dem, was die Obrigkeiten als Jauner=Vaganten, und andern dergleichen Herren=losen Gesindels 16 über einen Kamm schoren, verbarg sich ein sehr breites Spektrum vagierender Existenz- und Devianzformen. Hier finden sich, nur als Beispiel, wandernde Schuhmacher, Korbflechter, Müller oder Bäcker, abgedankte Soldaten, Jäger, Scharfrichter und Abdecker, Pfannenflicker, Musikanten oder Wanderhändler und -händlerinnen mit Stoffen, Vögeln, Arzneien, Zitronen, Schokolade, Geschirr oder Fliegenwedeln. Letztlich konnten jedoch nur das Ausüben mehrer Berufe, der saisonale Wechsel der Tätigkeiten, das Betteln und nicht zuletzt kleinere und größere Diebstähle den Lebensunterhalt sichern. Es war eine Lebensweise, die die Obrigkeit unterschiedslos als planloses Vagieren kriminalisierte, die von den Betroffenen aber durchaus zielgerichtet und geplant gelebt und von der seßhaften ländlichen Bevölkerung als eine Form der Armenexistenz akzeptiert werden konnte. 17 Die beiden Frauen gehörten innerhalb der vagierenden Bevölkerungsschicht zu dem Personenkreis, den Ulinka Rublack kürzlich als »professionelle Diebinnen« bezeichnet hat, »weil sie überwiegend für längere Lebensphasen, wenn auch nie ausschließlich, von Diebstählen leb(t)en.« 18 Ich werde im folgenden weiterhin von Gaunerinnen und Gaunern sprechen, weil die Quellenbegriffe Jauner/ Jaunerin, heute Gauner/ Gaunerin, mehr in sich aufnehmen als allein den ›Beruf‹: Stehlen. Johann Ulrich Schöll verwendet den Begriff Jauner für diejenigen, die vom Stehlen Profession machen, die dabey Landstreicher sind, die in gesellschaftlicher Verbindung mit andern ihres gleichen leben und eigentlich unter dem Namen von Jaunern oder Spizbuben laufen. 19 Er weist jedoch ausdrücklich daraufhin, daß diese Jauner nur schwer von den vagierenden Bettlern zu trennen seien. Sie stimmen, so Schöll, in ihrer übrigen Lebensart, in ihren Sitten und andern Verhältnissen überein. Sie stehen auch miteinander in mehrfacher Verbindung, und selbst in Rücksicht auf ihr Erwerbsmittel sind sie nicht so genau von einander unterschieden, daß jeder derselben nur Dieb oder Bettler wäre. 20 Hier sind bereits einige Probleme der Etikettierung angesprochen. Der Blickwinkel der Forschung auf Gauner und Räuber war lange Zeit nahezu ausschließlich auf die männlichen Akteure gerichtet. Frauen wurde in diesen Untersuchungen lediglich die Wahrnehmung gewisser Hilfsdienste innerhalb der Banden zugesprochen: Mitwisserschaft, Ausbaldovern günstiger Gelegenheiten, Abtransport und Verkauf der Beute. 21 Demgegenüber haben neuere Arbeiten die andere Seite dieser geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung herausgearbeitet, die darin bestand, daß die Frauen für das tägliche Auskommen der Familie oder Gruppe zu sorgen hatten. 22 Durch 15 Schubert: Arme Leute (wie Anm. 10), 1. 16 StA Ludwigsburg, B 412, Bü 12, Patent des Schwäbischen Kreises, Ulm 1747. 17 Sabine Kienitz: Frauen zwischen Not und Normen. Zur Lebensweise vagierender Frauen um 1800 in Württemberg, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1991), H. 2, 34 - 58, hier: 51f. 18 Rublack: Magd, Metz’ oder Mörderin (wie Anm. 13), 173. 19 [Schöll]: Abriß (wie Anm. 14), XVf. 20 Ebd., XVII. 21 Küther: Räuber und Gauner (wie Anm. 9), 83; Claus Kappl: Die Not der kleinen Leute. Der Alltag der Armen im 18. Jahrhundert im Spiegel der Bamberger Malefizamtsakten, Bamberg 1984, 271f.; Lange: Gesellschaft und Kriminalität (wie Anm. 9), 145. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 763 Betteln und regelmäßige Diebstähle verschafften sie sich selbst, ihren Männern und Kindern Kleidung, Lebensmittel und das nötige Geld, denn auf der Straße mußten Unterkunft und Verpflegung bezahlt werden. Sie gingen bei diesen vergleichsweise häufigen Diebstählen ein großes Risiko ein, gefaßt zu werden. Thomas Meier und Rolf Wolfensberger haben wiederholt die interessante These vertreten, daß die starke Position vieler Frauen innerhalb der fahrenden Familienökonomie ihnen im Vergleich zu seßhaften Frauen zu einer größeren Selbständigkeit und Unabhängigkeit im Verhältnis zu ihren Männern verholfen habe. 23 Die hier nur in aller Kürze referierten Ergebnisse der genannten Untersuchungen betreffen mehrheitlich Frauen, die nicht in auffälliger Weise delinquent werden. Wird sich für die beiden Erzjaunerinnen Schleiferbärbel und Schwarze Lis ein ähnliches Bild zeichnen lassen? Das nichtseßhafte Leben dieser Frauen und Männer entzog sich, ob sie dies nun bewußt anstrebten oder nicht, obrigkeitlicher Kontrolle und damit auch der schriftlichen Fixierung. Erst die (z.T. nur vermutete) Straffälligkeit dieser Menschen ermöglicht es, anhand von Gerichtsprotokollen, Gauner- und Diebslisten, Urfehden, Schublisten etc. eine Vorstellung von ihrem Leben zu gewinnen. In den meisten Fällen ergeben sich freilich nur Momentaufnahmen: Der interessierende Lebenslauf wird nur unter dem Blickwinkel einer »Delinquenzkarriere« 24 abgefragt; Vergangenheit und (ohnehin) die Zukunft bleiben weitgehend ausgeblendet. Ohne diese Quellen bliebe freilich ein wichtiger Teil weiblicher Armut historisch gänzlich »unfaßbar«, wie Sabine Kienitz es genannt hat. 25 Die Schleiferbärbel und die Schwarze Lis gerieten häufig in Konflikt mit Obrigkeit und Justiz. Das Interesse der Untersuchungsbeamten an diesen beiden Erzdiebinnen war daher groß genug, um uns eine vergleichsweise dichte Überlieferungslage zu bescheren: Die Untersuchung gegen die Schleiferbärbel und ihre Mitverhafteten dauerte 22 Monate. Überliefert sind drei dicke Foliobände mit Verhörprotokollen, zwei Bände mit Beilagen, sechs Bände mit sogenannten Verifikationsprotokollen, d.h. von auswärts eingeholten Bestätigungen der Aussagen der Inquisiten, eine zusammenfassende Relation, eine Summarische Erzelung und eine umfangreiche Gaunerliste. 26 Der Prozeß gegen die Schwarze Lis ist in einem dicken Folioband abgelegt, der leider schlecht erhalten ist. 27 Wer mit diesen Gerichtsquellen arbeitet, wird sich schnell der Probleme bewußt, die sie aufwerfen: Entstanden in einer hierarchischen und bedrohlichen Verhörsituation, die geprägt war durch Vorverurteilungen einerseits und gezielte Schutzmaßnahmen wie beständiges Leugnen, die Beschuldigung Dritter und Ausflüchte andererseits, führen sie häufig auf Irrwege und verraten oft mehr über das verzweifelte Ringen zwischen Inquisitin und Untersuchungsrichter als über die zugrundeliegenden Tatsachen. 22 Andreas Blauert: Sackgreifer und Beutelschneider. Die Diebesbande der Alten Lisel, ihre Streifzüge um den Bodensee und ihr Prozeß 1732, Konstanz 1993, 23. 23 Thomas Meier/ Rolf Wolfensberger: »Eine Heimat und doch keine«. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16. - 19. Jahrhundert), Zürich 1998, 344ff.; dies.: Nichtsesshaftigkeit und geschlechtsspezifische Ausprägungen von Armut, in: Anne-Lise Head/ Brigitte Schnegg (Hg.): Armut in der Schweiz (17. - 20. Jahrhundert), Zürich 1989, 33 - 42, hier: 40. 24 Kienitz: Unterwegs (wie Anm. 4), 21. 25 Sabine Kienitz: Frauen auf der Straße. Interpretationen zum Leben von Bettlerinnen und Vagantinnen, in: B. Heinrich u.a. (Hg.): Gestaltungsspielräume. Frauen in Museum und Kulturforschung, Tübingen 1992, 265 - 275, hier: 265. 26 HStA Stuttgart, A 309, Bü 343 - 365. 27 Ebd., B 83, Bü 35. Eva Wiebel 764 Die vernommenen Frauen erzählen in ihren Verhören immer wieder neue Geschichten über ihr Leben, die oft nicht zur Deckung zu bringen sind. Aussagen anderer Gaunerinnen und Gauner bringen scheinbare Gewißheiten wieder ins Wanken. Grundsätzlich stellt die Verhörsituation eine (erzwungene) Art und Weise, den eigenen Lebenslauf, das Konstrukt einer Identität im Lebenszusammenhang, zu formulieren, dar. Damit gehört sie zu den sogenannten »Biographiegeneratoren«. 28 »Erlebte Realität wird« vor Gericht, wie Sabine Kienitz das formulierte, »zu einer erzählten und erzählbaren Geschichte mit manchmal auch doppeltem Boden.« 29 In die folgenden biographischen Skizzen ist deshalb vorrangig dasjenige eingeflossen, was sich gegen Ende des Prozesses als weitgehend gesichert herausschälte und von verschiedenster Seite bestätigt wurde. Bei der Schilderung der Lebenswege ging es mir nicht allein um das Außergewöhnliche dieser beiden Leben, sondern auch darum, ein Alltagsleben unter den Bedingungen der Nichtseßhaftigkeit herauszuarbeiten, das viele Frauen im 18. Jahrhundert teilten. Vorab sei noch angemerkt, daß ich angesichts des umfangreichen Quellenmaterials immer wieder in Versuchung geriet, im Sinne Schölls eine umständliche JaunersGeschichte zu schreiben. Hier ist jedoch nur Raum für eine kurze Skizze dieser beiden Lebenswege. 2. Die Schleiferbärbel (1744 - 1793) Am 10. Dezember 1744 wurde die Schleiferbärbel in Dudenhofen bei Speyer als Barbara Reinhardtin geboren. Später gab sie im Verhör an, ihr Vater sei Bergmann gewesen und ein halbes Jahr nach ihrer Geburt in der Grueb zu Tod gefallen 30 ; ihre Mutter sei als Hirtentochter aufgewachsen. Zu ihr hätte sie aber schon seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr. 31 Über die Jahre ihrer Kindheit und Jugend, über die sie im übrigen selten befragt wurde, berichtete sie wenig und widersprüchlich. Offenbar erkrankte die Mutter nach dem Tod des Vaters an der Syphilis und verließ schließlich mit Tochter und Sohn den Ort. Sie konnte sich in Lauterburg (Lothringen) bei einem Scharfrichter verdingen und arbeitete dort sieben Jahre. Unterwegs hatte die Familie immer wieder vom Betteln gelebt. Die Bärbel fand schließlich eine Stellung als Küchenmädchen bei der Kronenwirtin in Molzen (Molzheim im Elsaß? ), wo sie zwei Jahre diente, bis ihr die Mutter den kleinen Bruder schickte, um sie abzuholen, als sich ihr Krankheitszustand verschlechtert hatte. 32 Die Bärbel sorgte jetzt mit Stricken, Nähen und mit allerhand für den Lebensunterhalt der kleinen Familie. 33 In einem späteren Verhör erzählte sie, der konkrete Anlaß für den Weggang aus ihrem Geburtsort Dudenhofen sei gewesen: Der König in Frankreich habe Leut in die Insul Corsicka transportirt. Ihr Mutter, ihrer Mutter Schwester und sie Constitutin haben sich ebendahin verfügen wollen, und dahero haben sie sich Straßburg zu herauf gezogen. 34 Diese Auswanderungspläne, wenn sie je bestanden, zerschlugen sich; die Schwester der Mutter jedenfalls heiratete im Elsaß, so die Erzäh- 28 Alois Hahn: Identität und Selbstthematisierung, in: Ders./ Volker Knapp (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt/ M. 1987, 9 - 24, hier: 12. 29 Kienitz: Frauen auf der Straße (wie Anm. 25), 269. 30 HStA Stuttgart, A 309, Bü 363, Fasz. 2, Fol. 78R. 31 Ebd., Bü 343, S. 29; Bü 364, Fol. 250R. 32 Ebd., Bü 353, Nr. 203, Fol. 6R.; Bü 363, Fasz. 2, Fol. 78R, 79V. 33 Ebd., Bü 363, Fasz. 2, Fol. 79V. 34 Ebd., Bü 353, Nr. 203, Fol. 6V. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 765 lung der Bärbel weiter, die Mutter der Bärbel zog nach Maria Einsiedeln, und sie selbst wurde Küchenmädchen bei der Kronenwirtin. 35 Wenige Wochen nachdem sie wegen der Krankheit ihrer Mutter diese Stelle aufgegeben hatte, wurde die Bärbel - im Alter von nunmehr zwanzig Jahren - in Offenburg zusammen mit einer anderen Frau wegen verschiedener Marktdiebstähle aufgegriffen. Sie saß dort zehn Wochen in Haft und wurde nach der Einbrennung des Stadtzeichens auf dem Rücken zu zwei Jahren öffentlicher Schanzarbeit verurteilt. Nach vier Wochen Schanzarbeit gelang ihr die Flucht. 36 Einige Zeit später lernte sie bei einem Kirchweihtanz in Schutterwald bei Offenburg den gleichaltrigen wandernden Scherenschleifer Antoni Krämer, auch Schleifertoni genannt, kennen. 37 Das Wanderhandwerk hatte er von seinem Vater gelernt; auf eigenen Beinen stand er vom Alter da er den (Schleif-)Stuhl recht tragen mögen. 38 In einer späteren Gaunerliste wird er folgendermaßen beschrieben: Ein kleines Mändlen, dicker Statur, rothen, runden Angesichts, grauer Augen, falber Haare, habe einen Kahlkopf, und bekenne sich zur katholischen Religion. 39 Sie bekamen einen Sohn, Christian, und heirateten kurz darauf. 40 Der Schleifertoni antwortete später in einem Verhör auf die Frage: Wie sie zusammen gekommen? Die arme Leuth kämen zusammen wie sie beede, Constitut habe niemand zu Hülf gehabt, und sie habe auch nur eine Mutter gehabt, zu Brendich (zwischen Sulz und Freudenstadt; E.W.) wären sie Copuliret worden. 41 Der dortige Geistliche hatte sich offenbar über das obrigkeitliche Verbot der Verheiratung armer und vagierender Leute hinweggesetzt. Die Bärbel, jetzt meistens nach ihrem Mann Schleiferbärbel genannt, war zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Die folgenden vierzehn Jahre ihres Lebens sind durch ihre eigenen Aussagen und die anderer Gaunerinnen und Gauner verhältnismäßig gut bezeugt. Zunächst kam sie mit ihrem zweiten Sohn nieder: Sebastian, der mit 17 Jahren in Schwyz am Vierwaldstättersee als Gauner hingerichtet werden sollte. 42 Außerdem bekam sie noch eine Tochter Katharina oder Käther, die ihre stete Begleiterin und Komplizin wurde und in den Gauner- und Diebslisten trotz ihres jungen Alters als geschickte Marktdiebin bezeichnet wurde. 43 Einen tiefen Einschnitt bedeutete für die Schleiferbärbel der Tod ihres Bruders, der inzwischen das Schleiferhandwerk erlernt hatte. Er wurde 1772 in Offenburg gerädert, weil er im Streit einen Juden erschossen hatte. 44 Einige Wochen nach der Hinrichtung wurde der Körper nachts heimlich vom Rad abgelöst und unter einer Brücke abgelegt. Drei Jahre später gestand der Schleifertoni, daß er damals in einem Wirtshaus zwei Bekannten 3 f. zu vertrinken gegeben habe, die dafür mit ihm den Körper vom Rad genom- 35 Ebd., Fol. 6R. 36 Ebd., Bü 353, Nr. 199; Bü 364, Fol. 268V, R. 37 Ebd., Bü 343, S. 449. 38 Ebd., Bü 351, Fol. 157R u. 159V. 39 Ebd., Bü 354, S. 12, Nr. 58. 40 Der Ehebrief datiert auf den 21.6.1770: Ebd., Bü 353, Nr. 186. 41 Ebd., Bü 351, Verhör des Antoni Krämer, Gengenbach 1775, Fol. 158R. 42 Ebd., A 43, Bü 44, Beschreibung derjenigen Erzjauner (...), Schwyz 1787. 43 Ebd., A 309, Bü 354, S. 100, Nr. 169. Im August 1780 bringt sie bei Kaiserstuhl am Hochrhein ihr viertes und letztes Kind, ein Mädchen Anna Mäule, zur Welt, das aber im ersten Lebensjahr stirbt und bei Spaichingen begraben wird. HStA Stuttgart, A 309, Bü 343, S. 335 u. 378; auch Bü 353, Nr. 188, Aussage des Anton Krämer, Stockach 20.11.1781. 44 Ebd., Bü 351, Fol. 155. Eva Wiebel 766 men hätten. Die Aktion verlief wegen des erheblichen Alkoholkonsums der Beteiligten nicht gerade glücklich. 45 Er habe dies deshalb getan, so der Schleifertoni, weil der hingerichtete Johannes Kurz ein Scherenschleifer und seines Weibs Bruder ware, womit es ihme eine doppelte Schand zuzoge, da ohnehin das Weib ihme die Zeit sauer machte. 46 - Ob sein Weib über die Abnehmung des Körpers eine Freud gezeiget? Nein, sie habe von der Hinrichtung an Tag und Nacht geschrien, und gejammert, und also auch hernach. 47 Die Arbeit des Toni als Scherenschleifer konnte die Familie nicht ernähren. Während er über die Höfe zog und schliff, bettelte sie in den umliegenden Dörfern. Einen kleinen Erlös erzielte sie daneben offenbar durch den Verkauf von selbstgefertigten Strickwaren und Bäust (kleine Kissen). 48 Für die Schleiferbärbel war das Leben auf der Straße ohne die Begleitung ihres Mannes nichts Außergewöhnliches. Einmal, als der Toni mit den Kindern in einem Dorf zurückblieb, wurde die Schleiferbärbel mit der Großen Mäu, mit der sie ein paar Tage auf dem Bettelstrich unterwegs war, bei Salem wegen Vagierens verhaftet, da sie sich nicht ausweisen konnten; den Paß hatte der Toni bei sich. Das Betteln war für die Bärbel bei der Benennung ihrer Lebenssituation maßgeblich: Beschreibt sie ihr Unterwegssein, ist sie auf dem Bettelstrich 49 . Die vagierenden Menschen um sie herum sind Bettel Leuthe 50 , und mehrfach wird von anderen Gaunerinnen und Gaunern ihr Ausspruch nach einem besonders einträglichen Diebstahl zitiert: Daß sie schon lang eine Bettlerin gewesen wäre, und nun auch eine Frau werden wollte 51 . Auf dem Bettelstrich wurde also nicht nur gebettelt, sondern auch gestohlen. Die Schleiferbärbel lebte spätestens seit ihrer Heirat mit dem Schleifertoni vom Diebstahl. Bei ihren Diebstählen - vornehmlich Marktdiebstähle und Diebstähle in Kramläden und Bauernhäusern - arbeitete sie vor allem mit Frauen zusammen: lange mit Theresia Riederin (1779 in Haigerloch hingerichtet), mit der Biberacher Mariann, eine Zeitlang mit der Großen Mäu 52 und der Schwarzen Margreth 53 (die beide im Gefängnis sterben 54 ), mit der Urschel, der Grind-, Schweizer- oder Wagenhäuser Bäbe 55 , der Schnizmadel 56 , mit des buckelten Carls Bäbe 57 , auch Roßkopf genannt, mit der Lisel, der Pomp- oder grosmauleten Urschel 58 , mit der einäugigen Urschel 59 , mit des Schinder Peters Theres 60 , auch Charfreitags-Hure genannt, und einigen anderen mehr. 45 Ebd., Fol. 162V- 164V. 46 Ebd., Fol. 162R. 47 Ebd., Fol. 164V. 48 Ebd., Bü 343, S. 425. Bäust bezeichnet im allgemeinen kleine Kissen wie z.B. Nadelkissen. Auf der Baar, einem bevorzugten Wandergebiet der Schleiferbärbel, wurde auch ein Bestandteil der Tracht, ein Hüftpolster, das unter dem Rock getragen wurde, Bausch oder Baust genannt. Hermann Fischer: Schwäbisches Wörterbuch, Bd. 1, Tübingen 1904, Sp. 732. 49 HStA Stuttgart, A 309, Bü 343, S. 439 u. ö. 50 Ebd., S. 437 u. ö. 51 Ebd., Bü 351, Fol. 19R. 52 Anna Maria Köblerin, sie stirbt ca. 1783 in Buchloe im Gefängnis. Ebd., Bü 354, S. 68, Nr. 123 u. S. 110, Nr. 281; B 83, Bü 2, Diebs=Liste, Altshausen 1782, Nr. 24. 53 Auch Francken=oder Brandel=Kopf genannt, sie stirbt 1780 im Buchauer Gefängnis. StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 56,2, Lista zerschiedener Jauner (...), Bregenz 1770, Nr. 1; StA Sigmaringen, Ho 80a, Nr. 287, Lista, verschiedener (...) Jauner (...), Rot/ Memmingen 1773, Nr. 3; HStA Stuttgart A 309, Bü 351, Fol. 100R. 54 Beide sagen bis zu ihrem Tod nicht gegen die Schleiferbärbel aus. HStA Stuttgart, A 309, Bü 351, Fol. 125V, 135V u. 175. 55 Barbara Bogenmännin. HStA Stuttgart, A 309, Bü 354, S. 27, Nr. 149 und S. 106, Nr. 248; StA Sigmaringen, Ho 80a, Nr. 287, Beschreibung zerschiedener (...) Diebe und Jauner (...), Buchloe/ Kaufbeuren 1783, Nr. 20. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 767 Beispielhaft sollen einige Diebstähle verschiedene ›Arbeitsweisen‹ der Schleiferbärbel und der Frauen und Männer um sie illustrieren: 1. Marktdiebstahl: Im Jahr 1771 unternimmt die Bärbel mit einigen anderen Frauen und dem Taub Christe 61 , die sie zuvor in einem Wirtshaus getroffen hat, einen Streifzug über die Märkte zwischen Schönbuch und Alb. In Tübingen stehlen sie und Theresia Riederin seidene Tücher, Leder, Strümpfe, Stoff und Schuhmacherwaren von den Ständen auf dem Markt. Der anschließende Beutezug auf dem Hechinger Markt fällt dagegen buchstäblich ins Wasser: weilen es sehr starck geregnet und die Krämer nur in denen Haußgängen fail gehabt und deshalb vermutlich auch das für Marktdiebstähle so wichtige Menschengedränge fehlte, können sie nur ein Paar Pantoffeln und vier Paar Schuhe mitgehen lassen. 62 Auf dem Rottenburger Markt bekommen sie, die Theres, die Biberacher Marian und das Lisele ebenfalls lediglich zwei schaflederne Bubenhosen zu fassen. Sie vertheilten theils die gestolenen Waaren, theils das aus solchen erlößte Geld unter sich. 63 Sehr lukrativ waren diese Diebstähle nicht; der Erlös belief sich pro beteiligter Person insgesamt nur auf einige Gulden. 64 2. Diebstahl im Bauernhaus: Im Sommer 1779 ist die Bärbel mit ihrem Sohn Christian, der Marianne 65 , dem Fideli Guggenhans 66 , Rother Fideli genannt, und dessen Frau Elisabeth Gantnerin 67 bei Oberndorf am Neckar unterwegs. Als sie vormittags in ein kleines Dorf kommen, äußert die Bärbel, sie wolle das Dorf nicht verlassen, bis Sie einige Kleider hätten, worüber Sie beede zum Hauß hingegangen, und die Sach auf Gerathwohl probiert. 68 Während die Elisabeth Wache steht, betritt die Bärbel das Haus durch einen aufklappbaren Fensterladen an der Hinterseite - die Einwohner sind alle bei der Ernte auf dem Feld - und stiehlt aus einer Truhe im oberen Stockwerk verschiedene Kleidungsstücke, die sie unter sich aufteilen. 69 Sie werden jedoch verfolgt und müssen die Beute samt ihren eigenen Sachen zurücklassen. In den nächsten Dörfern stiehlt die Bärbel auf gleiche Weise ein Oberbett und ein Kissen, außerdem zwei Hemden, zwei Männerröcke und zwei Strohhüte. 70 Die Elisabeth erhält das Bett, ein Hemd, einen Männerrock und einen Strohhut. Den Strohhut verkauft sie, Rock und Hemd behält sie für ihren Mann, der kurz zuvor verhaftet und nach Nagold gebracht worden 56 Magdalena Hägin, sie lag 1782 in Rottweil mit der Alten Juliana in Haft und war die Mutter des Johann Schöninger, genannt Färberhans oder Nepomuk. HStA Stuttgart, A 309, Bü 354, S. 19, Nr. 94 u. S. 89, Nr. 69. 57 Barbara Rueppin, auch Buchloer Bäbe oder alte Huren-Bärbel genannt. Ebd., S. 20, Nr. 99 u. S. 100, Nr. 174. Sie war die Frau des Carl Handschu (Buckelter Karl), der 1778 in Buchloe hingerichtet wurde und der vorher der Beihalter der Schwarzen Margreth war. Ebd., Bü 351, Fol. 173V. 58 Ebd., Bü 354, S. 98, Nr. 152. 59 Ebd., S. 113, Nr. 307. 60 Ebd., S. 51, Nr. 79. 61 Der Mann der Kleinen Mariana, er wird von Haigerloch aus auf die Galeeren geschickt. (Siehe auch Anm. 94). Ebd., 119, Nr. 345 u. 346. 62 Ebd., Bü 343, S. 405 - 411, das Zitat auf S. 411. 63 Ebd., Bü 364, Fol. 258R. 64 Ebd., Fol. 258V- 259V und Bü 343, S. 423f. 65 Die Schwester einer Kameradin der Bärbel, der Wagenhäuser Bäbe. (Siehe Anm. 55). Ebd., Bü 354, 136, Nr. 461. 66 Ebd., S. 121, Nr. 359. 67 Ebd., S. 121f., Nr. 360. 68 Ebd., Bü 351, Fol. 97V. 69 Ebd., Bü 343, S. 461. 70 Ebd., Bü 351, Fol. 97V, R, 98R. Eva Wiebel 768 war. 71 Danach gefragt, was mit dem Bettzeug geschehen sei, antwortet die Elisabeth in einem späteren Verhör dem Untersuchungsbeamten scharf: Ob er glaube, weilen sie kein Bett gehabt, daß sie solche Stuck vor sich behalten hätten? 72 Sie verkauft ihre Stücke, weil sie ihr zu alt und verfleckt waren, an eine offenbar noch ärmere vagierende Frau. 73 3. Diebstahl im Kramladen: Im Herbst 1780 gehen die Schleiferbärbel, die Theresia Kalckschmiedinn 74 und die Urschel 75 nach Schaffhausen. Die Urschel erzählt: Als wir nun allda angekommen, und ich gleich rechter Hand bey dem Schwabenthor in einem kleinen Lädle 1/ 2 Pfd. Taback gekaufft, hat die Berbel einen Rest Cotton erwischt. Anschließend bin ich in einen Laden, wo man nichts als Zucker und Caffee fail gehabt gegangen, und habe 1/ 4 Pfd. Caffee gekauft, während man mir solchen gewogen, hat, ob die Berbel oder die Theres, das weis ich nicht, ein Zuckerhütl. entwendet. (...) Wir sind von Schafhausen hinaus in einen Wald miteinander gegangen, wo meine Mutter 76 , mein StiefVatter 77 und mein Bruder 78 unser erwartet, daselbst ist der Zuckerhut unter alle vertheilt: und sogleich trocken verzehrt worden. Von dem Cotton der ohngefähr 10 Ehlen gewesen hat die Berbel einen Theil, einen andern die Theres, und meine Mutter auch zu einem Kissenziechle bekommen. 79 4. Nächtlicher Einbruchsdiebstahl: Im Sommer 1781 hilft die Bärbel 3en Purschen - dem Konstanzer Hans 80 , dem Julianen Sepple 81 und dem Schinder Peterle 82 - bei einem nächtlichen Einbruch bei dem Krämer in Aulfingen. Den Ablauf schildert sie so: Julianen Sepp seye auf einer Leitter zum Fenster hineingestiegen und habe nach einem gemachten Licht dem Hannß, der auf der Leitter gestanden, die Sachen zum Fenster heraus gebotten, und dieser ihro folgende Waaren von der Leitter herunter geworfen, die sie sogleich in Sack gepackt. (...) Schinder Peterlen habe am Eck des Hauses mit einem Stecken Wacht gehalten, und sie ohne einige Hindernüß den Diebstahl vollbracht. 83 Die von ihr detailliert aufgelistete Beute besteht aus Männer- und Frauenkleidung, einigen Halstüchern, Schuhen und Schnallen, Strümpfen, verschiedenen Samt- und Ohrenkappen, Hüten, einer Geige, einer Tabakpfeife und -dose und einem Rosenkranz. Die Schleiferbärbel erhält ein Viertel der Beute: einen blaugeblümten Kittel, einen rotgestreiften Schurz, einen Strohhut, ein ungetragenes Halstuch, ein Paar Schuhe, den Rosenkranz und ihren Anteil an dem Erlös, den die Schuhschnallen abwerfen. Das Geld wird aber nach dem Einbruch gemeinsam in einem Bekenhaus verzöhrt. Später verkauft sie das Halstuch, den Schurz und Teile des Rosenkranzes; die Schuhe und den Strohhut behält sie. 84 71 Ebd., Fol. 99R. 72 Ebd., Fol. 97R. 73 Ebd., Fol. 98V, R. 74 Auch Schinder Pertusen Resel genannt, sie wird 1781 in Heiligenberg hingerichtet. Ebd., A 43, Bü 43, Jauner=Beschreibung, Heiligenberg 1781. 75 Ursula Simonin, eine Tochter der Alten Juliana. Ebd., A 309, Bü 354, S. 37, Nr. 9. 76 Juliana Speltin, die Alte Juliana genannt, 1782 in Rottweil hingerichtet. Ebd., S. 8, Nr. 34. 77 Johann Niklas Hölzle, der Starke oder Schöne Hanns (Siehe auch Anm. 129). HStA Stuttgart, B 83, Bü 2, Diebsliste, Buchau 1780, Nr. 3; Ebd., Beschreibung mehrerer (...) Jauner und Vaganten, Mahlberg 1784, Nr. 31; Ebd., A 43, Bü 43, Jauner=Beschreibung, Heiligenberg 1781, Nr. 6. 78 Joseph Anton Simon, genannt Julianen Sepple, der Sohn der Alten Juliana, er wird letztendlich zum Schiffsziehen in Ungarn verurteilt. HStA Stuttgart, A 309, Bü 354, S. 8, Nr. 34 u. S. 37, Nr. 11. 79 Ebd., Bü 351, Fol. 44R. 80 Johann Baptist Herrenberger. Ebd., Bü 354, S. 3, Nr. 4. 81 Siehe Anm. 78. 82 Peter Vetter. HStA Stuttgart, A 309, Bü 354, S. 3, Nr. 3. 83 Ebd., Bü 343, S. 363f. 84 Ebd., Bü 364, Fol. 253V; Bü 343, S. 367f. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 769 Deutlich wird, daß sich kaum eine dieser Diebstahlsgelegenheiten ohne die Hilfe anderer realisieren ließ: Die einen lenkten das Opfer ab, indem sie es auf dem Markt in Verkaufsgespräche verwickelten, andere (oft die Kinder) brachten die ihnen zugesteckte Beute aus der unmittelbaren Gefahrenzone und wieder andere standen nachts und tagsüber Wache. Es handelt sich dabei meist nicht um feste Komplizenschaften, sondern eher um lockere Verbindungen mit denjenigen, mit denen man gerade unterwegs war oder die man gerade traf. Die Beute bestand auf den verschiedenen Märkten der Region in aller Regel aus Stoffen, Lederwaren, Kleidung oder Kurzwaren, die sich schnell und unauffällig weiterverkaufen ließen. Bei den Bauern wurden einerseits Lebensmittel wie Speck, Schmalz, Brot oder einzelne Stücke Vieh, andererseits vor allem, wie eben gesehen, Kleidung, Betten, Stoffe und Geld gestohlen. Bekannt war die Schleiferbärbel außerdem für ihre besondere Meisterschaft im Hennenfangen. 85 Wurde das Gestohlene nicht direkt selbst verwendet bzw. gegessen, wurde es verkauft oder getauscht. Die meisten der Diebstähle geschahen spontan. Nur vor den nächtlichen Einbrüchen wurde, meist durch die Frauen, ausgekundschaftet, ob und wo es etwas zu holen gab. 86 Die Schleiferbärbel und ihre Kameradinnen waren an diesen nächtlichen Einbrüchen beteiligt, sie standen Wache und transportierten das Gestohlene mit ab. 87 Die Einbrüche selbst begingen in aller Regel die Männer. Sie liefen so ab wie der oben geschilderte. Unauffälligkeit war das oberste Gebot: Auf Störungen, etwa durch einen bellenden Hund oder durch aufgeschreckte Hausbewohner, die ein Lermen verursachen könnten, folgte der sofortige Abzug. 88 Mehrere Male wurde die Schleiferbärbel wegen ihrer Diebstähle verhaftet: 1776 mit ihrem Mann in Tettnang wegen eines Diebstahls, den sie mit der Urschel begangen hatte, 1779 mit der Großen Mäu in Salem wegen ihres Vagierens, 1781 in Frauenfeld nach einem größeren Tuchdiebstahl der Männer im Zürcher Gebiet und vor Ostern 1782 in Tuttlingen mit dem Konstanzer Hans, dem Schinder Peterle, dem Dullen Küthel 89 und der Susanna Starckin. 90 Meist gelang ihr entweder nach kurzer Haftzeit die Flucht wie in Tuttlingen 91 oder sie konnte sich ohne Strafe, wie es heißt, hinauslügen. Nur einmal, 1776 in Tettnang, wurde sie mit einer üblichen, noch vergleichsweise geringen Strafe belegt: eine Stunde Prangerstehen, 10 Streiche und Landesverweis aus dem Montfortschen Gebiet mit Urfehdeschwur. 92 In Tettnang wurde auch schriftlich festgehalten, was die Bärbel zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung bei sich trug: 1. eiserne Pfanne, 1. Geigen, 1. Leinlachen, 2. deto kleinere vor die Kinder, 1. grünhalbseidene Hauben, 1. roth und weiß gezierte herschene Schröeß, 2. 85 Z.B. ebd., Bü 351, Fol. 99R. 86 So z.B. ebd., Bü 364, Fol. 16V. 87 So z.B. ebd., Bü 343, 434f., S. 440. 88 Z.B. ebd., Bü 351, Fol. 141R oder Fol. 149R. 89 Johann Adam Staud, auch Hann Adam genannt. Ebd., Bü 354, S. 14, Nr. 71 u. S. 86, Nr. 45. 90 Ebd., Bü 364, Fol. 268V- 269R; Bü 343, S. 351. 91 Aussage der Schleiferbärbel: Sie und die Susanna seyen nur 14. Tag im Arrest gelegen und am Char Freytag Morgens aus dem Arrest entkommen. Des Stadtknechts Bub habe ihnen erzählt, daß sie mit denen Mannen nach Hüfingen (das fürstenbergische Zuchthaus; E.W.) kommen würden, welches ihnen nicht zugeschlagen hätte. Sie seyen von dem Thorstüble aus zum Fenster hinausgestiegen und über ein Tach hinunter gerutscht, da sie ohne einige Hinderung fortgekommen und sich ins Hegeu hinein gemacht haben. Die Manns Leuthe seyen gegen 10. Wochen inngelegen, und mit einer Tracht Schläg wiederum entlassen worden. HStA Stuttgart, A 309, Bü 343, S. 354. 92 Ebd., Bü 353, Nr. 200 - 202 mit der Wiedergabe der Urfehden der Schleiferbärbel und des Schleifertonis. Eva Wiebel 770 Hemder von ihr und dem Mann, 18. Stück Meßinge Mieder Hacken, 1. altes Kinds Hemdle, 8. Stück gute Bethabilder, 1. Mehlsäckle, 1. Pack Sack, 1. paar Kinder Schue, 1. weißen Stroh Hut, 1. dto weißer von Filz, 1. Oberbett von Twilch, worzu auch ein Kiße beyhanden seyn müße, 1. Krecksen. 93 Wie drängend die Armut trotz der häufigen Diebstähle sein konnte, zeigt auch die folgende Episode aus dem Jahr 1779, die eine Kameradin der Bärbel, Genoveva Burbachin 94 , erzählt: Sie erinnere sich annoch, daß sie in der Ernd (...) in Gesellschafft der Schleiferberbel, der Theres Riederin, und des Buckelten Carls Bäbe (...) nächtl. weil auf einem Acker (...) mehrere schon abgeschnitten und gebunden geweßte Garben auf einem ausgebreiteten Leinlach abgetretten sofort die Frucht in Säcke geladen, und nach der Hand mahlen lassen, und das Meel unter sich vertheilt haben. 95 Die Schleiferbärbel wußte sich in Auseinandersetzungen zur Wehr zu setzen und scheute auch vor Gewalt nicht zurück. Sie trug offenbar stets ein Messer bei sich und setzte es, wenn sich Streitereien zuspitzten, ein. In den Gaunerlisten ist von mindestens zwei Gaunern die Rede, die sie verletzt hatte. 96 Einen, den Adolphen Jergle, hatte sie auf der einen Seite lahm gestochen. Der Konstanzer Hans berichtet davon in seiner unnachahmlichen Art: Als sich im Wirtshaus in Hohenemmingen im Fürstenbergischen eine Auseinandersetzung unter ihnen Männern gefährlich zuspitzte und er in eine bedrohliche Lage geriet, seye die Schleifer Bärbel mit einem von der Wagenhäuser Bäbe bekommenen Besteck Meßerlen herbey gesprungen, und habe den Adolphen Jörglen in das Genick gestochen, auf welches derselbe umgefallen, und die Schleifer Bärbel zum Peterlen hingesprungen, und diesem mit der Anrede: ›wart ich will dich auch bicken! ‹ 2. Stich in das Gefühl (...) gegeben, und zu ihme (dem Konstanzer Hans; E.W.) gesagt: ›Inz mach Schibes i: e: gehe durch.‹ 97 Sie machten sich davon. Der Adolphen Jergle mußte von seinen Leuten getragen werden. In den Berichten und Erzählungen über diese Jahre spielt ihr Mann, der Schleifertoni, nur noch eine untergeordnete Rolle. Er wurde eher zur Last. Sie beklagt sich darüber, daß alles, was sie beibringe, gleich wieder von ihm versoffen werde, schlimmer noch, daß er ihre Diebstähle in der Trunkenheit verrate und ihre Sicherheit dadurch bedrohe. 98 Später gibt sie an, sich mehrere Male von ihm getrennt zu haben, weilen er so stark getrunken habe. 99 Für immer längere Phasen gingen sie getrennte Wege. Die Kinder lebten offenbar teils beim Vater, teils bei ihr. 100 Sie versuchte, ihnen alles beizubringen, was ihnen helfen konnte, auf der Straße zu überleben. Schon früh trugen die Kinder durch Markt- und Taschendiebstähle zum eigenen Unterhalt bei. Schließlich verließ sie ihren Mann. Den Toni erboste diese Aufkündigung der Ehe. Danach befragt, wo seine Frau sich aufhielte, brauste er auf: Ich weiß nicht, wo sie sich aufhaltet, und wann ich selbes wüßte, so würde ich sie mit gewöhrter Hand abhohlen lassen. (...) Mein Weib ziehet allschon 2. Jahr mit einem andern Kerl herum und hat mich vollkommen verlassen. 101 Dieser andere Kerl war der Konstanzer Hans. 93 Ebd., Nr. 200. 94 Auch der Kleinen Mariana Vev genannt, Tochter der Kleinen Mariana (siehe Anm. 61). Ebd., Bü 354, S. 119, Nr. 346. 95 Ebd., Bü 351, Fol. 149V. 96 Ebd., Bü 354, S. 3, Nr. 3; B 83, Bü 2, Beschreibung mehrerer (...) Jauner und Vaganten (...), Mahlberg 1784, Nr. 72; A 43, Bü 44, Beschreibung derjenigen Erzjauner (...), Schwyz 1787, Nr. 17. 97 Ebd., Bü 345, S. 1553. Für diesen Hinweis danke ich Gaby Ponath (Rottenburg). 98 Ebd., Bü 343, S. 476. 99 Ebd., S. 350. 100 Z.B. ebd., Bü 352, Nr. 45, S. 9. 101 Ebd., Bü 353, Nr. 188, Verhör des Anton Krämer, Stockach, 20.11.1781. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 771 Die Schleiferbärbel ging mehrere enge Beziehungen zu Männern ein. Zehn bis zwölf Jahre hielt ihre Ehe mit dem Schleifertoni. Anschließend lebte sie ungefähr zwei Jahre mit dem 15 Jahre jüngeren Konstanzer Hans zusammen. Die anderen Beziehungen, von denen berichtet wird, waren demgegenüber nur kurzfristiger Natur. 102 Mit dem Julianen Sepple, dem berüchtigten Sohn der Alten Juliana, lief sie als Beyschläferin gar nur acht Tage: Sie habe nicht (weiter) mit ihm gehen wollen, weilen sie wohl gewußt, daß er nicht bey einer bleibe, und man mehr Schläg als Brod bey ihme bekomme. 103 Hier sind zwei wichtige Punkte angesprochen. Auf den, mit dem man lief, mußte man sich längerfristig verlassen können, und das Brod, die gegenseitige materielle Unterstützung, mußte stimmen. In den Berichten der Bärbel und anderer Gaunerinnen und Gauner bedeutete eine Beziehung zwischen Mann und Frau im Alltag, daß man übereinander Bescheid wußte, daß man grundsätzlich teilte und daß man gemeinsam die nächsten Schritte plante. Jeder im persönlichen Umfeld wußte, welche zwei Personen zusammengehörten. Die Bärbel spricht sehr wenig über diese Beziehungen und schon gar nicht über Zuneigung oder Liebe. Die Quellen berichten aber an vielen Stellen von Solidarität und Füreinandereinstehen in schwierigen Situationen. Und als der Konstanzer Hans einmal über mehrere Wochen von seinen Leuthen und ihro entloffen gewesen, bemühte sie sich, ihn wiederzufinden, was ihr nicht schwerfiel, da sie seine Wege und Anlaufpunkte kannte. 104 Sie hing an ihm - jenseits einer Zweckbeziehung, die sie leichter auch mit einem anderen Mann hätte verwirklichen können. Darüber, wann die Beziehung zum Konstanzer Hans begann, geben die Quellen keine klare Auskunft. Viel spricht für den Herbst des Jahres 1780. 105 Die Bärbel selbst berichtet, sie hätte ihn anläßlich des Schaffhauser Herbstmarkts 1780 im Wirtshaus getroffen und sich mit ihme in Bekanntschafft eingelassen. 106 Außerdem stand offenbar allgemein fest, daß der Toni noch der Vater des letzten Kindes der Bärbel war, das im August des Jahres 1780 geboren wurde. Vor Weihnachten 1780 unternahmen sie und der Konstanzer Hans jedenfalls die ersten gemeinsamen Einbrüche. 107 Konflikte mit seiner Familie, bei der er die meiste Zeit verbrachte, erschwerten allerdings die Beziehung, denn sie habe bey des Hanns Leuthen nicht seyn mögen, weilen keines das andere leyden können und sie gleich miteinander Händel bekommen haben. 108 Nicht nur hier gab es Streit. Die Bärbel spricht viel von gegenseitigen Verdächtigungen und von Mißtrauen und Betrug bei der Beuteverteilung. Es seye dazumahlen wegen denen Händeln schrecklich untereinander gegangen und die Juliana habe eben der Bäbe genommen, was sie noch an Geldt gehabt hätte. 109 In solchen Sätzen spürt man die Anspannung eines Lebens, in dem die Angst vor Verrat und Betrug nicht einmal vor den engeren Kameraden und Kameradinnen halt machte, besonders deutlich. Oft mußte ein Sündenbock für frustrierende Mißerfolge gefunden werden. So berichtet die Bärbel, der Julianen Sepple sei ihr, nachdem sie mit der Beute des großen Tuchdiebstahls im 102 Ebd., Bü 343, S. 449f.; Bü 354, S. 28, Nr. 152 u. S. 29, Nr. 154. 103 Ebd., Bü 343, S. 361. 104 Ebd., S. 489. 105 Ebd., S. 372 u. 378. 106 Ebd., S. 334f. 107 Ebd., Bü 364, Fol. 254V. 108 Ebd., Bü 343, S. 374. 109 Ebd., S. 394. Eva Wiebel 772 Zürcher Gebiet bei Frauenfeld verhaftet worden war, einen ganzen Tag mit dem Pistohl nachgeloffen, als sie aus Frauenfeld wieder loß geworden, weilen er geglaubt, sie habe den Tuch Diebstahl irgendwo verrathen. 110 Ein besonders langwieriger Streit wurde um die Rolle der Bärbel bei einem lukrativen Gelddiebstahl in (Bad) Dürrheim ausgefochten. Um Recht oder Unrecht wurde hier selbst noch gestritten, als die Beteiligten und die Zeugen bereits schon in verschiedenen Gefängnissen saßen! 111 Diese Situation ergab sich, als die Bärbel Ende August 1782 mit einigen Kameraden und Kameradinnen durch eine Streife bei Alpirsbach aufgegriffen und von dort ins nahegelegene Sulz am Neckar geliefert wurde. Die mit ihr Verhafteten stammten aus der Gruppe um den Konstanzer Hans. Es waren der Schweizer Victor (Victor Wilhelm) und seine Partnerin Benkenmachers Mariana (Maria Anna Stadlerin), der Grind-Frider (Johann Friederich Benz) und die Hennenflügels Sephe (Maria Josepha Juckerin). 112 Der Konstanzer Hans, seine neue Partnerin Anna Maria Göhringerin und der Schinder Peterle (Peter Vetter), der damalige Partner der Hennenflügels Sephe, konnten den Streifern zunächst entkommen und wurden erst später verhaftet und nach Sulz ausgeliefert. 113 Der zuständige Sulzer Oberamtmann Georg Jacob Schäffer 114 (1745 - 1814) war ein ausgezeichneter Kenner des Gaunerwesens und legte seinen ganzen Ehrgeiz darein, diesen Prozeß erfolgreich zum Abschluß zu bringen. Er las nach eigenen Angaben 30480 Blatt Inquisitions-Acta von Inn- und ausländischen Herrschaften und Obrigkeiten nebst 30. sehr dienlichen Diebs-Listen. 115 Die erhaltenen, äußerst umfangreichen Prozeßunterlagen sprechen von seinem Wissen Bände. In den sich über Monate hinziehenden Verhören leugnete die Bärbel alle Vorwürfe hartnäckig. Sie nannte sich Margaretha Baumännin und stritt ab, die berüchtigte Schleiferbärbel zu sein. Wenn sie so genannt werde, dann nur deshalb, weil der Schleifertoni, der ungefähr 1 Jahr mit ihro herum vagirt seye noch den Ehebrief von seiner vorherigen Frau habe, eben der Schleiferbärbel, und deswegen werde sie nach dieser Bärbel genannt. Diese Geschichte spann sie immer weiter aus. 116 Die dazugehörige Biographie war ›sauber‹. Danach gefragt, Wie oft Inquisitin schon in Verhaft geseßen? antwortete sie, sie seye noch niemahlen inngelegen - Sie wüßte keinen Orth anzugeben. 117 Konkret auf die Tettnanger Haft angesprochen, beteuert sie, diesen Nahmen habe sie noch niemahlen gehört, sie wüßte nicht, ob der Ort das Land runter oder rauf liege. 118 Sie habe nur den letzten Diebstahl, auf den die Verhaftung folgte, mitbegangen. Außerdem gab sie sich sofort als schwanger aus. 119 Im Verhör erwies sie sich als wendig und schlagfertig. Wo 110 Ebd., S. 357, ähnlich auch S. 438. 111 Ebd., Bü 349, Fol. 471V - 472V; Bü 351, Fol. 19V- 20V; Bü 364, Fol. 256V, R; Bü 343, S. 389 - 392, 395f., 420f. 112 Ebd., Bü 364, Fol. 1R - 2R. 113 Ebd., Fol. 13R, 14V. 114 Eduard Eggert: Oberamtmann Schäffer von Sulz. Ein Zeit- und Lebensbild aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts, Stuttgart 1897; Karl S. Bader: Kriminelles Vagantentum im Bodenseegebiet um 1800. Zu einer Jaunerliste des Reichenauer Obervogts Friedrich v. Hundbiss aus dem Jahr 1804, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 78 (1962), 291 - 333, v. a. 295, 303; Abraham Peter M. Kustermann: Erste öffentliche katholische Predigt in Altwürttemberg, in: Schwäbische Heimat 32 (1981), 278 - 281; Uli Rothfuss: Schäffer, Räuberfänger. Der erste »moderne« Kriminalist Württembergs, Tübingen 1998. 115 HStA Stuttgart, A 309, Bü 364, Fol. 4R. 116 Ebd., Bü 343, S. 335 - 337, 350, 401f., 430 - 432. 117 Ebd., S. 350. 118 Ebd., S. 361. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 773 sie nicht mehr recht weiter wußte oder log, finden sich oft die markigsten Aussprüche: Als sie nach einem Mann gefragt wurde, der mit ihr bei Salem verhaftet worden war, wich sie geschickt aus: Wann ihn unser lieber Herr Gott nicht besser kenne, als sie Constitutin so seye selber verlohren. 120 An anderer Stelle heißt es auf einen Diebstahlsvorwurf: Wann sie mit ins Dorff hineingegangen, so solle sie auf dem Stuhl blind werden. 121 Die Beamten machten ihr alle nur ersinnliche Vorstellungen, daß sie doch (...) das gottlose und hartnäckige Läugnen ablegen solle. Als das nicht fruchtete, ordneten sie an, man solle sie über Mittag in das Neue Blockhaus sezen (lassen), um zu sehen, ob solches diese hartnäkkige Diebin nicht etwa ein wenig mürb machen würde. 122 Bezeichnenderweise wurde hier mit dem neuen, ausbruchssicheren Gefängnis gedroht, nicht mit der Folter. Monatelang rang die Schleiferbärbel um eine andere Identität und Biographie. Dies wurde zunehmend schwieriger, weil sie in immer stärkerem Maße durch die Aussagen ihrer Mithäftlinge und die von auswärts eingeholten Nachrichten eingekreist wurde. Am 15. Januar 1783 gab sie schließlich weinend ihre Identität als Schleiferbärbel preis. 123 Zu diesem Zeitpunkt hatte sie zwar erst 40 Diebstähle angegeben, die zudem fast alle aus den Aussagen anderer Gauner bekannt waren, doch die Situation spitzte sich zu. Da gelang ihr am 22. Februar 1783 durch eine geschickte Täuschung die Flucht aus dem Gefängnisturm. 124 Sie kam drei Tage in Schabenhausen (bei St. Georgen) unter, einem beliebten, immer wieder erwähnten Rückzugsort. Über Schlupfwinkel wie diesen bemerkte die Bärbel: man nehme es in diesen Orthen nicht so genau, weilen immer viele Bettel Leuthe darin kommen. 125 Von dort floh sie weiter, entging den Sulzer Fahndungsaufforderungen und Steckbriefen, die auch in die vorderösterreichischen, schweizerischen und fürstenbergischen Gebiete verschickt wurden. 126 Als Dank und Symbol für ihre gelungene Flucht legte sie in der Kapelle auf dem Palmbühl bei Schömberg die Ketten aus dem Sulzer Gefängnis nieder! Sie wurden später an den Sulzer Oberamtmann Schäffer zurückgeschickt. 127 Über ihr Leben nach der Flucht aus Sulz erfahren wir nur noch sporadisch und vom Hörensagen. In den Sulzer Untersuchungsakten heißt es, sie zöge nun in der Schweiz herum mit dem Mörder und Erz Jauner Starken Hannß in Gesellschaft, mit dem sie noch so lange Sünden auf Sünden häufen wird, bis sie der gott geheiligten Justiz wiederum in die Hände fällt. 128 Den Starken Hans kannte sie schon lange. Sein ›richtiger‹ Name war Johann Niclaus Hölzle. 129 Sie hatten zwar vorher, wie es aussieht, nie eng zusammengearbeitet, bewegten sich aber lange schon in demselben Beziehungs- und Kameradschaftsnetz. Er hatte beispielsweise das letzte Kind der Bärbel 1780 zur Taufe gehoben. 130 Der Starke Hans war wie die Schleiferbär- 119 Ebd., 28f., 333 - 336, 431f., 446; auch Bü 364, Fol. 251V, R. Schwangere durften nicht geschlagen und nicht hingerichtet werden. Die Obrigkeiten waren kaum gewillt, eine Frau unter Umständen neun Monate lang zu inhaftieren. Rublack: Magd, Metz’ oder Mörderin (wie Anm. 13), 190. 120 Ebd., Bü 353, Nr. 203, Fol. 2V. 121 Ebd., Bü 343, S. 391. 122 Ebd., S. 422f. 123 Ebd., S. 446 - 448. 124 Ebd., Bü 364, Fol. 267R; Bü 365, Fol. 70V. 125 Ebd., Bü S. 343, 437. 126 Ebd., Bü 364, Fol. 270V. 127 Ebd., Fol. 9R. 128 Ebd., Bü 365, Fol. 70V, R. 129 Auch der Schöne oder Starke Hans, Maußbübin Hans, Schwabenhans oder Rasi genannt: Ebd., B 83, Bü 2, Beschreibung mehrerer (...) Jauner (...), Mahlberg 1784, Nr. 31. Siehe auch Anm. 77. Eva Wiebel 774 bel ein äußerst berüchtigter Gauner, der u.a. der Beyhalter der Alten Juliana gewesen war, die auch von ihresgleichen als außerordentlich bösartig und unberechenbar gefürchtet wurde. Über die Schleiferbärbel erreicht uns dann nur noch - lange verspätet - eine Nachricht aus dem Jahr 1811. Nach dieser hatte sie sich bereits im Februar 1793 im Pforzheimer Zuchthaus an einer Türangel erhängt. 131 3. Die Schwarze Lis (1742/ 3? - 1788) Zahlreiche Versammlung! Endlich sehet ihr diejenige hier vor euren Augen zum Tode gehen, die sich vor vielen Tausenden, aber leider mir zu meiner Schande! ausgezeichnet hat. - Hier sage ich, sehet ihr die Elisabetha Gaßnerinn, oder sogenannte schwarze Lisel, die so manche Rolle auf dem großen Welttheater gespielet hat. Nun erfolgt mein letzter Auftritt, und dieser führt mich, mit Todesangst umgeben, zur Stätte hin, wo ich vor alle meine Schandthaten meinen Lohn empfange. 132 Diese Sätze stehen am Anfang der angeblichen Abschiedsrede der Schwarzen Lis, die sie vor ihrer Hinrichtung durch das Schwert am 16. Juli 1788 in Oberdischingen an der Donau gehalten haben soll. Sie wird diese Ansprache, die 1788 in Ulm gedruckt wurde, vermutlich weder verfaßt noch gehalten haben. Sensationsorientierte Flugschriften wie diese verkauften sich gut vor, während und nach den entsprechenden Hinrichtungen und dienten in erster Linie der moralischen und christlichen Erbauung der versammelten Zuschauerschaft und einer publikumswirksamen Stigmatisierung der vagierenden Lebensweise und anderer Normabweichungen. 133 Wer aber war diese Frau, die sich vor vielen Tausenden (...) ausgezeichnet hat? Welche Rolle hat sie auf dem großen Welttheater gespielet, bevor sie in Oberdischingen unter der Herrschaft des Grafen Schenk von Castell (1736 - 1821), des sogenannten ›Malefizschenken‹ 134 , hingerichtet wurde? Bei der Befragung zu ihrer Person gab sie an, in Biberberg (östlich von Ulm) geboren worden zu sein. Da sie zum Zeitpunkt ihres Todes ca. 45 Jahre alt war 135 , dürfte sie in den Jahren 1742 oder 1743, also kurz vor der Schleiferbärbel, auf die Welt gekommen sein. Zu ihrer Herkunft machte sie nur spärliche Angaben: Sie sei die Tochter eines abgedankten Soldaten aus Hirschbach bei Wertingen, 130 Ebd., Bü 343, S. 378. So auch nach der Erzählung der Ursula Simonin: Ebd., Bü 351, Fol. 44V. 131 Ebd., A 43, Bü 45, Sulz am Nekkar. Beschreibung derjenigen Jauner (...), Sulz 1811/ Tübingen 1813, 156. 132 Abgedruckt bei Elmar Schmitt: Leben im 18. Jahrhundert. Herrschaft, Gesellschaft, Kultur, Religion, Wirtschaft. Dokumentiert und dargestellt anhand von Akzidenzdrucken derWagnerschen Druckerei in Ulm, Konstanz 1987, 37f. 133 Monika Machnicki: » Sie trug stets das Brecheisen unter dem Rock« - aber hat sie es auch benutzt? Zur Rolle der Frauen in den Räuberbanden des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Siebenmorgen (Hg.): Schurke oder Held (wie Anm. 12), 143 - 153, hier: 150; Dainat: Abaellino (wie Anm. 2), 153. 134 Stefan Ott: Oberdischingen. Heimatbuch einer Gemeinde an der oberen Donau, Weißenhorn 1977, 42 - 88; Ernst Arnold: Der Malefizschenk und »seine Jauner«. Reichsgraf Franz Ludwig Schenk von Kastell (1736 - 1821), der volkstümliche »Malefizschenk« oder »Henkersgraf«, und seine Kriminalgerichtsbarkeit (1788 - 1808) zu Oberdischingen bei Ulm, 2. Aufl., Stuttgart 1911; Margarethe Bitter: Das Zucht- und Arbeitshaus sowie das Criminalinstitut des Reichsgrafen F. L. Schenk von Castell zu Oberdischingen im Kreise Schwaben, Diss. Halle, Wittenberg 1929. 135 HStA Stuttgart, B 83, Bü 35, Verhörprotokoll, Frage 1; Arnold: Malefizschenk (wie Anm. 134), 114. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 775 ihre Mutter sei vor ungefähr vier Jahren in Biberberg gestorben, und sie sei katholisch. 136 In dem Rechtlichen Gutachten zu ihrem Urteil wird davon ausgegangen, daß sie durch diese dürftigen, unvollständigen Aussagen zu verschleiern versuchte, daß schon ihre Eltern Vagierende waren. 137 Wo und wie sie Kindheit und Jugend verbrachte, bleibt daher im Dunkeln. Aus ihrem Geständnis erfahren wir erst mehr über die Jahre nach 1768. Damals befand sie sich mit einer Annamey in Augsburg, wo die beiden Frauen sich durch kleinere Diebstähle - eine Tabaksdose bei einem Goldschmied, Stoff in einem Kramladen, zwei Spiegel und Stoff auf dem Markt - und durch Opferstockplündereien über Wasser hielten. 138 Wenig später wurde sie unterwegs von zwei Soldaten i hres Liederlichen Lebenswandels, und Umvagierens halber aufgegriffen, denen sie, weil selbe geschlafen, des Morgens wieder entflohen, hiedurch aber um ihre Krätzen gekommen sei. 139 Was sie in dieser Krätze, einer Rückentrage, mit sich führte, erfahren wir nicht. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie damals neben den Diebstählen einen kleinen Wander- und Gelegenheitshandel betrieb. Vermutlich im Jahr 1772 heiratete sie in ihrem Geburtsort Biberberg Johann Gaßner. Er wird folgendermaßen beschrieben: Gassner ist übrigens langer Statur, blassen angesichts, tragt einen blauen Rock, und gehet als gewesener soldat sehr aufrecht. 140 Sie begannen ein seßhaftes Leben in Biberberg. 141 Aus welchen Gründen dieser Versuch der Seßhaftigkeit nach kurzer Zeit scheiterte, bleibt unbekannt. Auf jeden Fall sollte die Lis die folgenden 15 Jahre ihres Lebens, die ihr noch blieben, ununterbrochen unterwegs sein. Aus der Ehe gingen mindestens sieben Kinder hervor. 1787 waren davon noch vier am Leben: zwei Jungen, Hansjörg und Joseph, und zwei Mädchen, Cresenz und Maria Josepha. 142 Sie wurden zumindest zeitweilig bei anderen Leuten in Kost gegeben. 143 Die 299 Diebstähle und Einbrüche, die die Lis letzten Endes eingestand, markieren die Stationen ihres Wanderlebens. Wir treffen sie beim Markgröninger Schäferlauf, zu Heiligblut in Weingarten, beim Ulmer Fischerstechen und auf den vielen kleineren Märkten, Messen und Festen. Die Schwarze Lis war eine meisterhafte Taschendiebin und spezialisiert auf den Diebstahl wertvoller Sackuhren, Tabakdosen, Schnupftücher und vor allem von Geld. Derartige Taschendiebstähle machten 71% der von ihr eingestandenen Delikte aus. 144 Daneben stahl sie aber wie die Schleiferbärbel bei vielen anderen Gelegenheiten. In Kramläden ließ sie verschiedenste Textilien mitgehen; auf dem Thomasmarkt in Ichenhausen bei Ulm stahl sie beispielsweise einem Kirschner 2 paar Bölzstutzen, dann 3 Samet und 2 tüchene Bölzkappen nebst 2 Weiberhauben und 2 Stückel weise Seitlinger Spitz. 145 Ein knappes Drittel aller ihrer Diebstähle waren solche Markt- und Kramladendiebstähle. Nur selten brach sie dagegen tagsüber in Bauernhäuser ein und nahm aus den Truhen Bettzeug und Stoffe. 146 In sieben Fällen stand sie Wache bei nächtlichen Einbruchsversuchen von Männern. 147 136 HStA Stuttgart, B 83, Bü 35, Verhörprotokoll, Frage 1, 5. 137 Arnold: Malefizschenk (wie Anm. 134), 115. 138 HStA Stuttgart, B 83, Bü 35, handschriftl. Urgicht, Nr. 2 - 7. 139 Ebd., Nr. 8. 140 HStA Stuttgart, B 83, Bü 35, Schreiben Oberhausen nach Ulm, 30.3.1781. 141 Arnold: Malefizschenk (wie Anm. 134), 122. 142 HStA Stuttgart, B 83, Bü 35, Verhörprotokoll, Frage 6, 7. 143 Ebd., Schreiben Neuhausen an Oberdischingen, 27.9.1787. 144 Ebd., handschriftl. Urgicht. 145 Ebd., handschriftl. Urgicht, Nr. 33. 146 Z.B. ebd., Nr. 46, 57, 58, 59. Eva Wiebel 776 Wie die Schleiferbärbel arbeitete auch die Lis vorrangig mit Frauen zusammen: zunächst mit der Annamey, dann mit der langen Rösel, der kleinen Marian, der Näßlenden Marian 148 , der Preu- oder Brey-Urschel, der dicken Margareth, der Stiegl Krämerin, der bayrischen Marian und der schönen Victor. Betrachten wir einige der Delikte näher. Die Lis beherrschte beide Arten des Taschendiebstahls. Beim Sackgreifen wurden Geld oder Gegenstände aus der Tasche des Opfers gezogen, beim Beutelschneiden wurde der Geldbeutel samt Inhalt einfach abgeschnitten. Dies erforderte einige Geschicklichkeit und glückte nicht immer: Beim Pfingstmarkt in Rapperswil am Zürichsee wagte sie bei der Abfahrt des Schiffes eine Beutelschneiderei, bei der sie durch den Schnitt den beschädigten Mann mit dem Messer bis auf das Blut verwundet(e). Sie wurde zusammen mit ihrer Kameradin verhaftet, wußte sich aber hinauszulügen. 149 Eine andere Kameradin, die Näßlende Marian, beschrieb ihre Zeit mit der Schwarzen Lis folgendermaßen: Vor 4. Jahren zur Herbstzeit seye sie mit des Gassners seinem Weib auf den Markt nacher Lindau gegangen, allwo Jene ihr Inquisitin befohlen einem Bauren der um Bohnen gehandlet, vorzustehen, welches sie auch gethan. Indessen seye die Gassnerin zu dem Bauren hingeschlichen, und disem 25. fl. Geld in einem Beutel aus der Taschen herausgezogen wovon Inquisitin nicht mehr davon als 3. fl. 30. xr. zu ihrem Antheil erhalten; dann jene habe gesagt, sie seye zu ungeschickt gewesen, und habe nicht mehr verdienet. (...) Ebenmäßig vor 4. Jahren am Katharinen Markt zu Sulzberg habe des Gassners Lies sie nochmal bestellt, daß sie bey einem Kramer vorstehen und mit ihme reden solle; bey welcher Gelegenheit jene dem Kramer 3. Ellen Damast abgenommen worgegen die Diebin ihr Inquisitin 1. paar neue Strümpf, einen Hut, und 2. Schnupftücher gegeben. (...) Vor 3. Jahren seye sie 6. Wochen mit deß Gassners Lies geloffen, und mit dieser zu Pludenz auf dem Markt gewesen. Allda habe ihr die Gassnerin befohlen einem Bauren, der 2. Stier verzollen wollen, vorzustehen; da sie dieses befolget, haben die Stier sie Inquisitin übern Haufen gestossen, daß sie in Ohnmacht dagelegen. Wehrend das ihro die Leut zu Hilf gesprungen, habe die Lies diesem Bauren aus der Küttel Tasche ein ganzen Beutel voll Thaler herausgenommen, und ihr dieses Geld einige Tag abgelaugnet, nachmals aber, wie Inquisitin ihr und ihrem Kerl vorgeworfen, daß sie umsonst gefahr und Noth ausstehen müssen, habe sie ihr hirvon 4. Frauenthaler gegeben. (...) Von Feldkirch haben sie sich in daß Tyroll gemachet, daselbst aber nichts vollbringen können, bis sie nacher Innsprug gekommen, woselbst Inquisitin die Kinder besorgen müssen: die Ließ hingegen und ihr Kerl haben sich in das Komedie Haus gemacht, wehrender Komedie 4. Sack Uhren, 3. silberne Tabackdosen, und bis 13. der schönsten seidenen Schnupftücher mit sich Nachts 9. Uhr nacher Haus gebracht. Von allem diesem habe Inquisitin nichts bekommen. Die Lies seye nachhero auf dem Taschengreiffen ertapt worden, man habe aber nichts auf sie bringen können, weil ihr Kerl mit allem flüchtig worden, und glücklich entronnen seye. Sie Gassnerin ziehe übrigens aller Orten denen Märkten nach, im Tyroll, in der Schweiz, im Elsass, und in dem Württembergischen, seye (...) eine Meisterin im stehlen vor allen andern, stehle zu Einsiedlen in der gnaden Ka- 147 Z.B. ebd., Verhörprotokoll, Frage 1089, 1115; Ebd., handschriftl. Urgicht, Nr. 90, 244, 292 - 294, 300. 148 Marianna Müllerin, sie wird 1787 in Oberdischingen hingerichtet. Ebd., A 309, Bü 354, S. 45, Nr. 50. 149 Ebd., B 83, Bü 35, handschriftl. Urgicht, Nr. 19. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 777 pell, auf allen Markten, und wo es nur ein geträng gebe. (...) Eben also habe die Lies zu Konstanz vor 6. Jahren am Ostermontag einem Flachs und Hanfhändler von St. Blasi 600 fl. bargeld aus dem Sack heraus gestohlen. ferners die Lies Inquisitin selbsten erzehlet, daß sie gleich nach diesem Diebstahl zu Einsiedlen durch ihr Beutelschneiderey und Sackgreiffen in der Gnaden Kapell in Zeit von 3. Tag über alle Zehrung 500. fl. hinweg getragen habe. 150 Aus diesem über 16 Jahre zurückreichenden Muster kleinerer und größerer Taschen- und Marktdiebstähle fallen sieben Einbruchsdiebstähle in den Jahren 1776 151 und 1781 heraus. 1781 unternahmen die Lis, eine Kameradin und einige Männer - genannt werden der Franz, der Martin, ein Hansjörg und ein Leonhart - in rascher Folge drei Einbrüche in der Gegend südöstlich von Ulm. Waren die Männer in der Umgebung der Schleiferbärbel sorgfältig darauf bedacht, ihre Unternehmungen möglichst unbemerkt vonstatten gehen zu lassen, zeugen diese drei Einbrüche von einer gewissen Verwegenheit (so die Urgicht) der Beteiligten. Um Pfingsten herum wurde zunächst der Pfarrhof von Billenhausen (bei Krumbach) in Abwesenheit des Pfarrers überfallen: Nach dem Einstieg durch ein Fenster brachen die Männer gewaltsam durch die Tür in das Zimmer des Beneficiats, fesselten denselben auf seinem Bett und überwältigten die Mägde in ihren Schlafkammern: die Hauserin welche nicht schweigen wollte, wurde von denen Räubern mit den Händen dermaßen an den Schlaf geschlagen, daß ihr gleich darauf ganz übl, und unmächtig geworden, hingegen die Magd, die sich den Räubern noch kräftig widersezte, härtest gebunden, übel tractiret, und in der Kammer herumgezogen. 152 Anschließend wurden aus dem Pult des Beneficiats 300 Gulden, eine Reliquie, eine Tabakdose, Schnupftücher und eine Sackuhr gestohlen. Außerdem ließen die Diebe vier Hemden, einen Spazierstock und einen Hut mitgehen. Doch plötzlich drohte Gefahr, weil die Hauserin ein kleines Mädgen um Lermen zu machen durch den vergitterten KreuzStock hinausgeschoben hatte. 153 Die Lis war ihrer Aussage nach nur zu Wacht bey dem Pfarrhof abgestellet worden. 154 Sie flohen überstürzt - mit der Beute. Wenig später bestahlen sie zur Kirchzeit eine Witwe bei Billenhausen. Einen kleinen Jungen, der zu Hause geblieben war, ängstigten sie derart, daß er ihnen das Geldversteck - neben dem Bett unter einem Dielenbrett - zeigte. Die Beute bestand in 72 Gulden, hinzu kamen einige Kleidungsstücke. 155 Der seltsamste Vorfall aber ereignete sich nach einem nächtlichen Einbruch bei dem Schulmeister in Königinbild bei Ursberg (östlich von Krumbach). Sie erbeuteten bei dieser Gelegenheit drei Geigen mit Bögen, Männerschuhe, etwas Seidencrêpe, eine Tabakdose, ein Schnupftuch und den Schlüssel zur Kirche - mit welchem sie die Kirchenthür eröfnet, und da sie ihr diebisches Vorhaben nicht bewerkstelligen können, so hat diese Diebs Waare in der Kirche so lang auf den Geigen gespielet, bis der dortige Herr Caplan in der Meinung, daß der Schulmeister geige, herbey gekommen, und dadurch diese kühne Diebe verjaget worden seyn. 156 150 Ebd., Auszüge aus dem Verhör der Marianna Müllerin vulgo Näßlende Marian, Oberdischingen, 13. Feb. 1787. 151 Ebd., handschriftl. Urgicht, Nr. 244, 300. 152 Ebd., Nr. 293. 153 Ebd. 154 Ebd., Verhörprotokoll, Frage 1089, 1090. 155 Ebd., handschriftl. Urgicht, Nr. 294. 156 Ebd., Nr. 292. Eva Wiebel 778 In stärkerem Maße als die Schleiferbärbel war die Lis offenbar verantwortlich für ihr eigenes Überleben, das ihres Mannes und ihrer Kinder. Gaßner selbst trug dazu offenbar äußerst wenig bei. Als abgedankter Soldat hatte er offenbar nie einen Beruf gelernt. Hin und wieder wird nur ewähnt, er habe die von ihr gestohlenen Uhren, Tabakdosen und Schnupftücher zu Bargeld gemacht. 157 Als Mann konnte er diese Männeracessoires vermutlich unverdächtiger verkaufen. Die Lis sprach nach Aussage der Näßlenden Mariann nicht gut von ihrer Zeit mit Johann Gaßner, sie habe oft darüber geklagt, daß sie der Gassner so hart gehalten, und geschlagen, daß sie von ihme gehen müssen, und dieses harte Verfahren nicht länger habe ausdauren können. Er alleinig seye die Ursach an ihrem und ihrer Kindern Unglück gewesen. Sie habe vieles gestohlen von Betteren, seidenen Halstüchern, Geld, silbernen Tabackdosen, Sack Uhren, und dergleichen, daß sie oft bis 90 oder 100. fl. zu ihme gebracht, welches sie thun müssen, wen sie anderst nur Frieden mit Ihme habe wollen. Er seye inzwischen in denen Wirthshäusern gesessen, gefressen und gesoffen. 158 Im Verhör bewies die Lis ein ausgezeichnetes Gedächtnis und eine hervorragende Ortskenntnis. Sie erinnerte sich, ähnlich der Bärbel, in der Regel detailliert an den Ablauf und an die Beute jedes einzelnen Diebstahls. Die Auflistungen der gestohlenen Gegenstände (mit Beschreibung des Aussehens und Schätzung des Geldwertes) füllen oft mehrere Seiten im Verhörprotokoll. Selbst wenn man berücksichtigt, daß die Untersuchungsbeamten sich vor allem für die Delikte und ihre genauen Umstände interessierten, da sie diese bestätigen lassen mußten, weist dieses weit zurückreichende Erinnerungsvermögen auf die große Bedeutung der Diebstähle für die beiden Frauen hin, die über deren rein ökonomischen Stellenwert hinausgingen. Selbstbewußt und sicher im Erzählduktus beschreiben sie einen Beruf, den sie mit Routine und Erfolg ausgeübt hatten. Beiden wurde es letztlich zum Verhängnis, daß sie mit anderen Gaunerinnen und Gaunern ausführlich über ihre Delikte gesprochen hatten und somit zu viele genau darüber Bescheid wußten. Die Lis hatte eine komplexe Landkarte im Kopf. Die vielen Märkte und Messen besuchte sie terminlich genau abgestimmt. Es scheint so, als sähe sie die Wege, die sie im Verhör beschrieb, deutlich vor ihren Augen. Die Lage eines Hofes, den sie vor Jahren bestohlen hatte, konnte sie von verschiedenen Seiten her kommend genau beschreiben. 159 Ihre Orts- und Wegkenntnis umfaßte ein Gebiet, das von Stuttgart bis Innsbruck reichte. Demgegenüber blieb die zeitliche Einordnung vergleichsweise unsicher, einzig die Jahreszeiten wurden erinnert. Wie viele Jahre ein Diebstahl oder ein Einbruch zurücklag oder ob sie vor 13, 14 oder 16 Jahren geheiratet hatte, konnte sie beispielsweise nicht sagen. 160 Die Schwarze Lis wurde, wie die Schleiferbärbel, mehrere Male verhaftet: 1773 in Riedlingen, 1778 in Weissenhorn, im Mai 1780 in Ottobeuren 161 , im Januar 1781 in Ellwangen 162 , im Februar 1781 in Oberhausen 163 , im Mai 1781 in Bischofszell 164 und 1782 157 Z.B. ebd., Nr. 14, 16. 158 Ebd., Auszüge aus dem Verhör der Marianna Müllerin vulgo Näßlende Marian, Oberdischingen, 13. Feb. 1787. Siehe auch ebd., handschriftl. Urgicht, Nr. 39, 40. 159 Ebd., Verhörprotokoll, Frage 1120. 160 Ebd., Frage 3. 161 Ebd., handschriftl. Urgicht, Nr. 21. 162 Ebd., Nr. 12. 163 Ebd., Nr. 9. 164 Ebd., Nr. 18; ebd., Schreiben von Bischofszell an Oberdischingen, 26.10.1787. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 779 oder 1783 in Rapperswil am Zürichsee 165 . Sie gab jeweils einen falschen Namen (meist Ebnerin oder Alberin) an und leugnete alle Vorwürfe rundweg ab, selbst wenn sie im Grunde auf frischer Tat ertappt worden war. Sie ernähre sich von Handel und Bettel, ihr Lebenswandel sei guth, sie leb so vor sich hin, und sey ohn alle Cameradschaft. - Ob sie nicht denen Diebereyen nachgegangen? , wird sie gefragt: O! Nein, sie hab ihr Lebtag keinem Menschen nur ein Suppen Salz genommen. 166 Wenn die Lage dennoch ernster wurde, gab sie sich als schwanger aus. In zwei Fällen konnte sie aus der Haft fliehen 167 , die anderen Male kam sie mit einer Tracht Schläge, Prangerstehen oder Landesverweis davon. Nach der Flucht aus der Haft in Oberhausen südlich von Ulm im Jahr 1781 verließ sie ihren Mann und schloß sich dem Rieser Matthes an, laut einer Gaunerliste einer der feinsten Taschenspieler und ein Erzdieb 168 , mit dem sie die ganze Schweiz, Tyroll, und würtemberger und Schwabenland durchloffen, und C.V. bestohlen. 169 In den folgenden Jahren gelangen ihnen einige größere Coups wie der schon oben erwähnte Diebstahl im Komödienhaus in Innsbruck. 170 Der spektakulärste ihrer Diebstähle, ihr Auftritt auf dem großen Welttheater aus der oben zitierten Abschiedsrede, war jedoch der Taschendiebstahl am Malefizschenken, Graf Schenk von Castell, selbst. Ihr diesbezügliches Geständnis leitete sie laut Verhörprotokoll mit den Worten ein: Sie wisse noch einen recht grossen Procken, den sie angeben wolle. 171 Anläßlich des Besuchs des russischen Großfürsten am württembergischen Hof war Graf Schenk von Castell nach Ludwigsburg eingeladen worden. Die Schwarze Lis nahm mit der Lisabeth, einer Kameradin, am Gottesdienst in der dortigen Schloßkapelle teil. Die Lisabeth sah, wie der Graf einen Taler spendete, und sagte es der Schwarzen Lis. Als nun gedachter Herr bald aus der Kirche gegangen, seye Inquisitin (die Schwarze Lis; E.W.) vorausgegangen, und unter der Kirchenthür neben den Herrn sich hinstellen müssen, wo indessen ihre Kameräthin demselben in die Tasche gelanget, und den Geld Beutl samt dem Geld erwischet: in diesem seyen 1400 f. gewesen. 172 Es ist dieser Diebstahl an ihrem späteren Inquisitor, immerhin ein Reichsgraf, mit dem sie im wörtlichen Sinne Geschichte schreibt, ein Stoff, der, wie wir später sehen werden, in einigen zeitgenössischen Berichten und später sogar in einem Roman verarbeitet wird, in dem sie von ihren Diebsgesellen zur Königin der Diebe gekrönt wird. Fünf Jahre später wurde sie am 26.9.1787 in Neuhausen auf den Fildern festgenommen. Ermöglicht hatten dies eine Oberdischinger Nachricht über den Aufenthaltsort der Lis und des Rieser Matthes und eine anonyme Anzeige, daß die Schwarze Lis in der besagten Nacht nach Neuhausen käme, um ihr Kind abzuholen. 173 Bei der Verhaftung 165 Ebd., handschriftl. Urgicht, Nr. 19. 166 Ebd., Verhör der Elisabetha Alberin (= Schwarze Lis), Oberhausen, 13.12.1779. 167 1780 bei Transport von Ottobeuren zur weiteren Untersuchung ins gemeinschaftliche Zuchthaus Buchloe gelingt ihr durch einen Sprung bei Mindelheim die Flucht: Ebd., handschriftl. Urgicht, Nr. 21. 168 Ebd., A 309, Bü 354, S. 102, Nr. 192: Matthes, der Gaßnerin gegenwärtiger Beihalter, 5 Schu 8 Zoll ungefähr groß, aufrecht, schnagerer Postur, katholischer Religion, schwarzbraunen langlechten Angesichts, schwarzer Augen und dergleichen in Fischbein gerollter Haare und Augbraunen, trage in dem rechten Ohr ein Ohrenghäng, immer 2 Uhren und eine silberne Dose bei sich. Gebe sich für einen Krämer aus; Seye einer der feinsten Taschenspieler und ein Erzdieb (...). 169 Ebd., B 83, Bü 35, handschriftl. Urgicht, Nr. 20. 170 Ebd., Nr. 298. 171 Ebd., Verhörprotokoll, Frage 897. 172 Ebd., Frage 898. 173 Ebd., Schreiben Neuhausen an Oberdischingen, 26. und 27.9.1787. Eva Wiebel 780 wurden ihre Krätze und die des Rieser Matthes sichergestellt. Die amtliche Auflistung der vorgefundenen Gegenstände bezeugt die Mittellosigkeit dieser beiden Menschen. Auf dem Kasten der Lis lag ein Kittelein von schwarzen Zeug, eine Decke und ein brauner Rock. Im Kasten fand man ein Mieder zum Schnüren aus geblümten Taft, eine Schürze, schwarz mit roten Blumen, eine schwarze Haube, ein seidenes Halstuch, schwarz mit rotem Saum, ein Kindermieder und ein Tauftüchlein, vier Kinderhäublein in unterschiedlichen Farben, einen blaugestreiften Schurz, zwei Hemden, ein Paar Frauen- und ein Paar gestrickte Männerhandschuhe, ein Paar weiße und ein Paar blaue alte Strümpfe, ein Paar alte Stiefelrohr, ein kleines Beutelchen mit zwei Muskatnüssen und ein paar Nelken, einen kleinen ledernen Beutel mit alten schlechten Knöpfen, eine Laterne aus Messing mit Gläsern, ein Maria-Bild auf Papier gestochen und eine Schachtel, in der sich folgendes befand: ein paar Stoffreste, drei Kerzlein, zwei Marienbildchen mit Bleirähmchen und ein paar Kindlein von Maria Einsiedeln. Der geschätzte Wert all dieser Dinge belief sich zusammen gerade einmal auf 9 Gulden 27 Kreuzer. 174 Der Rieser Mathes, der im letzten Moment noch fliehen konnte, aber seine Rückentrage zurücklassen mußte, trug neben überwiegend alten Kleidungsstücken ein Säckchen Haselnüsse, verschiedene halbfertige Strickwaren mit Stricknadeln, eine Kaffeemühle, zwei Rasiermesser mit Tuch, ein kleines Säckchen mit Mehl, etwas Salz und geröstete Gerste, eine Schuhbürste, ein Fläschchen mit etwas Schnaps, einen Blechlöffel, drei Aderlaßbinden und einen schon gebrauchten Wachsstock bei sich. Außerdem barg die Rückentrage ein buntes Sortiment an Krämerwaaren: verschiedene Schuhschnallen, 12 Kaffeelöffel, 14 kleinere Spiegel, 24 Bleistifte, 12 hölzerne Nadelbüchsen, drei Federmesser im Futteral, drei Scheren, neun elfenbeinerne Kämme, sechs Brillen, Tabak, verschiedenste Halsketten, Ringe und Ohrringe, Hemdknöpfe, eine Tabakpfeiffe, 12 kleinere Dosen, Garn u.a. Der Inhalt seiner Rückentrage wurde auf 30 Gulden 9 Kreuzer taxiert. 175 Auf den Wunsch des Grafen Schenk von Kastell wurde die Lis von Neuhausen nach Oberdischingen überführt. Die Untersuchung gegen sie dauerte vom Oktober 1787 bis in den Mai des folgenden Jahres. Im Laufe der Verhöre wurden ihr 1.142 Fragen gestellt und zusammen mit ihren Antworten protokolliert. Sie gab sich nicht leicht geschlagen. Immer wieder wurde im Anschluß an die einzelnen Verhörsitzungen ihre fortgesezte Hartnäckigkeit beklagt, und nicht nur einmal wurde diese Widersetzlichkeit mit Schlägen beantwortet: hat man der Inquisitin durch den Amtsknecht 10 wohl empfindliche Streich mit einem Häsl Stecken herunter wissen lassen, sie mit der ernstlichen Ermahnung hinführo sich in dem Verhör besser einzustellen. 176 Erst um die Jahreswende begann sie auszusagen; ihre Antworten wurden ausführlicher und detaillierter. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits durch von auswärts eingeholte Nachrichten und die Aussagen einiger Kameraden und Kameradinnen schwer belastet. Am 17. Januar 1788 wurde dann ihr Mann Johann Gaßner in Oberdischingen hingerichtet. Noch immer gab sie nicht auf. Es scheint, als habe sie darauf geachtet, pro Verhör nicht zuviel einzugestehen. Ab einem gewissen Punkt verweigerte sie jedesmal die Aussage. Diese Verzögerungstaktik und Unstimmigkeiten in ihren Aussagen erschwerten die zügige Untersuchung und Beweisaufnahme. Auf die Ermahnung, sie solle doch nicht in diesem Maße die Richter- 174 Ebd., Schreiben Neuhausen an Oberdischingen, 28.9.1787. 175 Ebd., Schreiben Neuhausen an Oberdischingen, 26.9.1787. 176 Ebd., Verhörprotokoll, nach Frage 531. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 781 liche Schärfe herausfordern, antwortete sie nur: Was man mit ihr anfange, müsse sie sich gefallen lassen. 177 Ihr Verhalten im Gefängnis spricht - im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten - vom Gegenteil: Sie schikanierte den Zuchthausknecht, wo sie nur konnte. Gegenüber den untersuchenden Beamten gab er an, daß der Inquisitin Bosheit nicht auszusprechen seye, indeme sie ihme nicht nur mitten in der Nacht mit Wasser holen, und andern Weege boshaftest umtreibe, ihme auf Verlangen den Wasser Krug nicht gebe, und wann er frage ob sie mit Wasser versehen es mit ja beantworte, gleich darauf aber wiederum Wasser so sie in der Gefangenschaft ausschütte, verlange. 178 Sie gab auf seine Rufe keine Antwort, verspottete ihn, wehrte sich, wenn er sie zum Verhör bringen sollte, und erreichte es oft, daß er sie aufschließen mußte. 179 Offensichtlich wartete sie bis zum Schluß auf eine Gelegenheit zur Flucht und arbeitete darauf hin. Selbst das letzte Verhör nahm eine unerwartete Wendung. Anfangs antwortete sie ergeben auf die Frage, ob sie wünsche, daß ihre Sache zu Ende gehe? : Ja, sie bethe, daß man es ausmache, sie überlasse alles Gott und der Obrigkeit (...). 180 Danach gefragt, was sie zu ihrer Entschuldigung vorbringen könne, antwortete sie ebenfalls wenig engagiert in den gewohnten Bahnen: es sei ihr Mann gewesen, der sie verführet, und zu diesem Lasterleben gebracht habe, sie habe nicht über die Unrechtmäßigkeit ihres Tuns nachgedacht, und die Strafen, die sie erlitten habe, seien nicht hart genug gewesen, um bei ihr eine Besserung hervorzurufen. 181 Sie bat darum, ihre Kinder noch einmal sehen zu dürfen, vor allem das kleine, und dann ganz beiläufig, mit sicherem Gefühl für den schokkierendsten Zeitpunkt, eröffnete sie, daß sie nicht verhalten könne, sich wieder schwanger zu befinden (...) auch wirklich vor einigen Tagen her das lebende Kind unter ihrem Herzen zu spühren. 182 Die Schwängerung müsse kurz vor der Verhaftung erfolgt sein. Es war eine verzweifelte Geschichte, der niemand Glauben schenken konnte. Der Untersuchungsbeamte konterte auch sofort, daß ihr Leibs Beschaffenheit nicht zu einer 8. monathlichen Schwangerschaft gestaltet seye 183 - ein letzter Versuch also, Zeit zu gewinnen, die vielleicht zu einer Fluchtmöglichkeit verhelfen konnte. Die vorgeladenen Hebammen schlossen nach ihrer Untersuchung eine seit längerem bestehende Schwangerschaft aus. Als eine in allen Gattungen der Dieberey habituirte, mehrmalen fruchtlos corrigirte, und in consortio der verrufensten Jauner gestandene, folglich dem publico äußerst gefährliche Landstreicherin 184 - so das Rechtliche Gutachten - wird sie am 16.7.1788 in Oberdischingen mit dem Schwert hingerichtet. Wie kommt es dazu, daß Johann Ulrich Schöll, der ausgewiesene Kenner des südwestdeutschen Gaunertums, gerade diese beiden Frauen neben vier Männern zu den berüchtigsten Gaunern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zählt? 185 Sie sind in vieler Hinsicht eher typische Gaunerinnen. Vergleicht man ihre Beschreibungen mit denen anderer Gaunerinnen in den zeitgenössischen Gauner- und Diebslisten 186 , heben sie sich kaum ab. Ähnliches gilt, zumindest nach meinen ersten Einschätzungen, für 177 Ebd., Frage 840. 178 Ebd., nach Frage 790. 179 Ebd. u. nach Frage 913. 180 Ebd., Frage 1129. 181 Ebd., Frage 1132 - 1134. 182 Ebd., Frage 1139. 183 Ebd., Frage 1141. 184 Arnold: Malefizschenk (wie Anm. 134), 125. 185 [Schöll]: Abriß (wie Anm. 14), 407f. Eva Wiebel 782 den Vergleich mit Verhörprotokollen anderer Gaunerinnen. Es liegt also nahe, nach anderen Faktoren und vor allem nach spezifischen Konstellationen zu suchen, die diese Überlieferung initiiert und im folgenden geprägt haben könnten. Die folgenden Abschnitte gehen deshalb folgenden Fragen nach: Was dachten die Zeitgenossen, sprich: andere Gaunerinnen und Gauner oder Vertreter der Obrigkeit, über diese beiden Gaunerinnen? Was wird in diesen Einschätzungen bereits angelegt und wie wird der Stoff später weiterverarbeitet? Wenden wir uns zunächst wieder der Schleiferbärbel zu. 4. »Aller ärgste Erz Jaunerin« Es sind viele Aussagen anderer Gaunerinnen und Gauner über die Schleiferbärbel erhalten: Neben Beschreibungen der Bärbel in verschiedenen Gauner- und Diebslisten der 1780er Jahre finden sich in den Unterlagen des Sulzer Prozesses die dorthin ›kommunizierten‹ Aussagen andernorts inhaftierter Gaunerinnen und Gauner. Insgesamt klingt in diesen Berichten ein gewisser Respekt vor der Erfahrung, Beherztheit und Schläue der Schleiferbärbel an. Theresia Rietherin, ihre langjährige Kameradin, beschreibt sie 1779 als ein groß, lang, schwarzes Weibsbild, etlich 30. Jahren alt, trage sich meistentheils ganz schwarz. Diese laufe mit den ärgsten SpitzBuben umher, und lasse sich bey Tag und Nacht zum Stehlen brauchen. Sie besuche alle Märkte, und hätte mit ihro Inquisitin selbst auch gestohlen. 187 Der Julianen Sepp äußert knapp: diese hat schon mehr gestohlen als ich. 188 Der in Glatt (Württemberg) zur Galeere verurteilte Beckenbub, Hans Jerg Pfister, setzt die Bärbel als ein rechtes Luder, und eine rechte Diebin in Kontrast zu ihrem braven Mann Tonele. 189 Verfolgt man die Beschreibungen der Bärbel in den Gauner- und Diebslisten der Jahre 1780 bis 1787, zeichnet sich deutlicher als in den oben ausgewerteten Untersuchungsakten eine »Karriere« 190 der Schleiferbärbel ab. Die ersten drei Beschreibungen aus den Jahren 1780 191 (durch den Schrammhalsigten Jacob, einen Kameraden der Schwarzen Margreth), 1781 192 (durch Theresia Kalckschmiedinn, die oben schon erwähnte Schinder Pertusen Resel, eine Kameradin der Bärbel) und 1782 193 (durch den Städelins Martin, der Schwäbische Heiland genannt, ein Kamerad des Konstanzer Hans) zeichnen im wesentlichen nur ein Bild der äußeren Erscheinung der Bärbel, nennen ihren Mann und ihre Kinder: Bärbel, dessen (des Konstanzer Hans; E.W.) Mensch die Schleifer Bärbel genannt, habe ein ohngefehr 29 jähriges Alter, eine mittelmäsige dick besetzte Postur, ein schwarzes langes Angesicht, graue Augen, und schwarze Haare. Sie seye mit dem sogenannten Schleifer To- 186 Zu dieser Quellengruppe siehe Eva Wiebel/ Andreas Blauert: Gauner- und Diebslisten. Unterschichten- und Randgruppenkriminalität in den Augen des absolutistischen Staats, in: Mark Häberlein (Hg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15. - 18. Jahrhundert), Konstanz 1999, S. 67 - 96. 187 HStA Stuttgart, A 309, Bü 353, Nr. 193, Aussage der Theresia Rietherin, Haigerloch, 26.8.1779. 188 Ebd., Bü 343, S. 347. 189 Ebd. 190 Gabriele Ponath: Die Schleiferbärbel - Räuberinalltag in Südwestdeutschland des 18. Jahrhunderts, Magisterarbeit Universität Tübingen 1998, 18. 191 HStA Stuttgart, A 309, Bü 353, Nr. 191 u. B 83, Bü 2, Diebsliste, Buchau 1780, Nr. 101. 192 Ebd., Bü 352, Nr. 40 u. A 43, Bü 43, Jauner=Beschreibung, Heiligenberg 1781, Nr. 63. 193 Ebd., Nr. 44 u. B 83, Bü 2, Diebs=Liste, Altshausen/ Weingarten 1782, Nr. 8. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 783 nele einem ehrlichen Mann verheurathet, mit welchem sie 3. Buben und ein Töchterlein erzeuget habe. Sowohl sie, als ihr Kerl halten sich meistens bey Blumenfeld herum auf. 194 Es ist eine Beschreibung, die sich von den sie umgebenden in keiner Weise abhebt. Dies hat sich 1783 geändert: Die Hennenflügels-Mariann 195 beschrieb die Bärbel als das Weib des Schleifer=Tonelens eines ehrlichen Mannes, (...) sey eine Erzdiebinn; führe mit sich ein Stilet, und große Messer; stehle, wo sie könne, und helfe in allem ihrem Beyschläfer dem Konstanzer Hans. 196 Erzdiebin ist eine Bezeichnung, die in den Gauner- und Diebslisten sehr gezielt zur Kennzeichnung einer gewissen kriminellen ›Bedeutung‹ der betreffenden Person verwendet wird. Ähnlich lesen sich auch die Ausführungen in der Sulzer Liste von 1784 nach den Angaben des Konstanzer Hans: Die (...) Erzdiebin Maria Barbara Reinhardin, vulgo Schleifer=Bärbel, (...) ist eine ausgelernte und meistermäßige Diebin, die wenig ihres gleichen hat. 197 Eindeutig bedrohlich fällt schließlich das Urteil in einer Schwyzer Liste von 1787 aus, die z.T. nach den Angaben des zweiten Sohnes der Schleiferbärbel Sebastian Krämer gefertigt wurde: Die Schleifer Bärbel (...) seye in aller Rücksicht ein äußerst verwegenes Weibsbild, und eine ausgelernte und Meistermäßige Diebinn, die schon mehrere mit Messern verwundet habe. 198 Der steigende Bekanntheitsgrad der Schleiferbärbel führte offensichtlich dazu, daß ihrer Beschreibung in jeder neuen Gaunerliste größere Bedeutung beigemessen wurde - und sich damit auch die obrigkeitliche Sprechweise über gefährliche Gaunerinnen zunehmend in die Formulierungen einschrieb. Ohne ein Erzging es nicht mehr. Aus Sicht der Obrigkeit, hier des Sulzer Oberamtmanns Schäffer, der die Untersuchung gegen die Schleiferbärbel geführt hatte, war sie eine aller ärgste Erz Jaunerin 199 , eine boshafte Dirne 200 , eine habituierte Diebin 201 , die mit dem berüchtigsten Jauner und Diebsgesindel geloffen 202 sei. Starke Worte, die etwas aus dem Rahmen der sonstigen Schäfferschen Jauner-Rhetorik fallen und sich wohl in erster Linie der erfolgreichen Flucht der Bärbel verdanken. Vermutlich versuchte Schäffer seinen Mißerfolg dadurch erklärlich zu machen, daß er seine Gegnerin zur ›allerärgsten‹ Gaunerin stilisierte. Die Einschätzungen der Gaunerinnen und Gauner auf der einen Seite und der Obrigkeit auf der anderen Seite unterlagen, so scheint es, einem Prozeß wechselseitiger Verstärkung. Dieser Vorgang läßt sich nicht nur bei der Schleiferbärbel beobachten. Im Gegenteil: Andere Gaunerinnen wirken in den Quellen sogar erheblich gefährlicher und berüchtigter als sie, etwa die schon erwähnte Alte Juliana oder die Schwarze Margreth, die eine der wenigen in den Quellen erwähnten Banden anführte. 203 194 Siehe Anm. 192. Ähnlich auch ein Auszug aus der Glatter Liste 1782 (handschr.), Nr. 9 (HStA Stuttgart, A 309, Bü 352, Nr. 45). 195 Maria Anna Mayrinn, die Schwester der mit der Bärbel in Sulz eingelieferten Hennenflügels-Sephe, Maria Josepha Juckerin. 196 HStA Stuttgart, A 309, Bü 352, Nr. 84, Beschreibung zerschiedener (...) Diebe und Jauner (...), Buchloe/ Kaufbeuren 1783, Nr. 13. 197 Ebd., Bü 354, 4, Nr. 8. Ähnlich auch eine Mahlberger Gaunerliste aus dem Jahr 1784: Ebd., B 83, Bü 2, Beschreibung mehrerer (...) Jauner und Vaganten, Mahlberg 1784, Nr. 34. 198 Ebd., A 43, Bü 44, Beschreibung derjenigen Erzjauner (...), Schwyz 1787, Nr. 17. 199 Ebd., A 309, Bü 365, Fol. 70V. 200 Ebd., Bü 364, Fol. 251V. 201 Ebd., Fol. 270V. 202 Ebd., Fol. 267R, 268V. 203 Z.B. ebd., Bü 353, Nr. 191 u. B 83, Bü 2, Diebsliste, Buchau 1780 u. B 83, Bü 2, General=Jauner=Liste, Emmendingen/ Karlsruhe 1800. Eva Wiebel 784 Was die Schleiferbärbel in der Überlieferung dennoch zu einer der berüchtigsten Gaunerinnen und Gauner ihrer Zeit machen sollte, das war, wie im folgenden gezeigt werden soll, ihre wechselvolle und schwierige Beziehung zum Konstanzer Hans. Dieser Gauner verriet, nachdem er 1783 verhaftet und nach Sulz zur Untersuchung gebracht worden war, sein gesamtes Umfeld: Er beschrieb über 500 Gaunerinnen und Gauner, er nannte knapp 100 Diebsherbergen und gab wertvolle Tips zur Verhaftung einiger seiner ehemaligen Komplizen. 204 Ihn verband eine außerordentlich enge Beziehung mit Oberamtmann Schäffer. Spricht Schäffer von ihm, klingen Respekt, Verständnis, ja sogar Sympathie an. 205 Beide profitierten von der Zusammenarbeit: Schäffer wurde durch die Aussagen des Konstanzer Hans zum bekanntesten und in der öffentlichen Meinung erfolgreichsten Gaunerfänger des 18. Jahrhunderts; der Konstanzer Hans erreichte durch Schäffers Fürsprache statt der Todesstrafe eine Freiheitsstrafe im Ludwigsburger Zuchthaus. Der spektakuläre Lebensweg dieses Gauners - Wanderhändler mit Devotionalien, Spezialist für Einbrüche in Pfarrhäusern, prominenter ›Kronzeuge‹ und schließlich Verfasser eines Wörterbuchs der Gaunersprache 206 - veranlaßte den Ludwigsburger Gefängnispfarrer Johann Ulrich Schöll, wiederum ein Freund Schäffers, 1789 zu einer Biographie über den Konstanzer Hans. Sie entstand auf der Basis der Sulzer Untersuchungsakten und persönlicher Gespräche Schölls mit dem Konstanzer Hans. Den ganzen geheimen Gang seiner Seele durch alle Auftritte seines Lebens hindurch wollte Schöll erkunden und erzählen. 207 Diese Motivation steht eindeutig im Kontext der spätaufklärerischen Kriminalgeschichten, die zwischen 1780 und 1800 den Beginn einer veränderten Wahrnehmung von Kriminalität kennzeichnen. 208 Sie traten an die Stelle der »auf Erbauung, Abschreckung und Verherrlichung fürstlicher Kriminalpolitik« ausgerichteten Berichte über spektakuläre Prozesse und Hinrichtungen. 209 Erstmals wandte man sich dem einzelnen Täter und den Umständen seines Verbrechens zu. Die Gründe für die Tat wurden jetzt in der Biographie des Täters, in der Verkettung ungünstiger Umstände, gesucht und mittels einer psychologischen Betrachtungsweise aufgedeckt. Es ging darum, »Kriminalität nicht (...) als unbegreifliches Verhängnis, sondern als Folge von Ursachen, das Verhalten des Verbrechers nicht als Ausdruck angeborener Bosheit, sondern als Resultat seiner Geschichte darzustellen«. 210 Studien wie die Schölls über den Konstanzer Hans verpflichteten sich einer pragmatischen Erzählweise. 211 Eine wah- 204 Ebd., A 309, Bü 354 u. Bü 353, Nr. 114, Fol. 47R - 49R. 205 Z.B. ebd., A 43, Bü 45, Sulz am Nekkar. Beschreibung derjenigen Jauner (...), Sulz 1811/ Tübingen 1813, 156. 206 [Johann Baptist Herrenberger]: Wahrhafte Entdeckung der Jauner= oder Jenischen=Sprache von dem ehemals berüchtigten Jauner Kostanzer Hanns. Auf Begehren von Ihme selbst aufgesezt und zum Druck befördert. Sulz am Neccar 1791. 207 [Schöll]: Kostanzer Hanß (wie Anm. 1), VIII. 208 Jörg Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: GuG 9 (1983), 49 - 68; ders.: Zur Ausdifferenzierung des Genres ›Kriminalgeschichten‹ in der deutschen Literatur vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland/ England/ Frankreich 1850 - 1880, 96 - 134. 209 Uwe Danker: Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/ M. 1988, 462. 210 Klaus Oettinger: Schillers Erzählung »Der Verbrecher aus Infamie«. Ein Beitrag zur Rechtsaufklärung der Zeit, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), 266 - 276, hier: 273. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 785 re, echte Geschichte sollte erzählt werden ohne Ausschmückungen, Erfindungen, ohne eine allzu plumpe Moralisierung. 212 In der Tat ist diese Biographie im Detail sehr zuverlässig. Schöll hat die Gerichtsakten und die Gespräche mit dem Konstanzer Hans allerdings im Licht zentraler aufklärerischer Positionen und Programme interpretiert: Ein junger Mann mit besten körperlichen und geistigen Anlagen wird durch falsche Erziehung und einen sich zuspitzenden Konflikt mit dem Vater aus der Bahn geworfen. Ein gewisser Hang zu Maßlosigkeit und Genuß- und Geltungssucht sowie schließlich die Verführung durch verdorbene Charaktere führen ihn ins Gaunerleben: Hundertmal geschiehts, daß einer mehr durch eine ungünstige Lage und durch widrige Zufälle als aus Neigung und Wahl ein Bösewicht wird. Dieß war der Fall bey Hanßen. Nicht Lüderlichkeit und Liebe zum Laster führte ihn unter die Diebsbande ein. Eine Reihe von unglüklichen Umständen vereinigte sich, ihn, der die treflichsten Anlagen hatte, der in andern Verhältnissen vielleicht der beste brauchbarste Mensch geworden wäre, zum schädlichsten Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu machen. 213 Durch die humane und psychologisch kluge Verhörtaktik Schäffers und die gezielte Bekehrungsarbeit der Geistlichen wird der Konstanzer Hans als reuiger Sünder und vor allem als Kronzeuge letztlich doch noch zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft. Entstanden ist eine mitreißende Erzählung, in der sich folgendes Porträt der Schleiferbärbel findet, die der Hans mittlerweile regelrecht haßte und die er nur noch als Erz- Luder oder (Erz)Aas bezeichnete 214 : Aber es stund kurze Zeit an, da wußte ihn (den Konstanzer Hans; E.W.) ein Weib zu feßlen, das der Abschaum ihres Geschlechts und von seiner ersten Geliebten gerade das Gegentheil war. Es war die berüchtigte Schleifferberbel. Dieses Weib war recht darzu gemacht, unter den Jaunern die ausgezeichnetste Rolle zu spielen. Ohne einen Vorzug körperlicher Schönheit zu besitzen, vereinigte sie alle Laster in sich, die eine weibliche Seele verunstalten können, - unersättliche Wollust, Herrschsucht, Arglist, heimtückische Bosheit, Verstellung, Scheinheiligkeit, Hartherzigkeit, kaltblütige Rachsucht - alles in einem ungewöhnlichen Grade. Darneben besaß sie Fertigkeiten, welche sie weit über andere ihresgleichen erhoben. Mit einer außerordentlichen Leibesstärke verband sie einen Verstand, der zu allen Ränken aufgelegt war, eine Verschlagenheit, die nichts übersah, eine Entschlossenheit, die in jeder Lage sich gleich blieb, eine Fertigkeit und Geschiklichkeit im stehlen, die schwerlich ihres gleichen hat, eine bezaubernde Freundlichkeit und Gefälligkeit, mit der sie sich überall, wo sie auftrat, geltend machte, und jedermann selbst auch widrig gesinnte anzuziehen wußte, eine Thätigkeit, die nie müßig war. In weiblichen Künsten und Geschäften treflich erfahren, hatte sie immer, wenn sie nicht mit Diebstählen beschäftiget war, die Spindel oder die Nadel oder ein Gestrik in der Hand. Aufmerksam auf alles, was Sicherheit 211 So wird im Untertitel des ›Kostanzer Hanß‹ betont, die Erzählung sei aus zuverläßigen Quellen geschöpft und pragmatisch bearbeitet. 212 Dainat: Abaellino (wie Anm. 2), 185 - 188. 213 [Schöll]: Kostanzer Hanß (wie Anm. 1), 4. 214 Z.B. HStA Stuttgart, A 309, Bü 354, S. 94, Nr. 124 u. S. 98, Nr. 152. Eva Wiebel 786 und Gefahr, Nuzen und Schaden betraf, durchwachte sie oft Nächte, wenn andere sorglos schliefen, und sah und erfuhr, was sonst keinem bekannt wurde. Immer reinlich und gepuzt in ihrem eigenen Anzug, versah sie auch ihren Mann und ihre Beischläfer immer mit netter Kleidung und sauberer Wäsche. Mit diesen Eigenschaften ausgerüstet, war sie die meisterhaftetste Diebin, die es geben kann. Mit der Miene des ehrlichsten Weibes schlich sie in die Häuser, spähte mit verstohlnen Bliken alle Winkel derselben aus, und wußte verborgene Schäze durch treuherzige Unterredungen mit den Leuten unter der Maske einer Krämerin eben so geschikt zu entdeken, um sie zur bequemen Zeit zu hohlen, als offen da liegende Sachen unversehens wegzunehmen. Mitten in den Dörfern, fast unter den Augen der Leute haschte sie unbemerkt mit einer unglaublichen Behendigkeit Hühner weg, und fast kein Tag vergieng, wo sie nicht deren gegen ein halb Duzend fieng. An Märkten war ihr kein Krämer scharfsichtig und schlau genug. Ihr Rok war zu einem Magazin eingerichtet, der die gestohlene Waare plözlich aufnahm, und so künstlich verbarg daß sie immer von dieser Seite gegen Verdacht und die ersten Nachforschungen gesichert war. Von Streiffern wußte sie sich selbst auch wenn sie ihnen schon in den Händen war, wieder loszumachen, und bey Gefangenschaften immer entweder gleich wieder ohne Strafe zu entkommen oder sich ihr Schiksal durch die täuschendsten unerwartetsten Lügen zu erleichtern. 215 Eine Würdigung der Schleiferbärbel, in der sich Bewunderung und Abscheu gleichermaßen ausdrücken. Sie spricht von der tiefen Faszination, die Schöll wie Schäffer dazu bewegte, sich dem Leben dieser Menschen über ihre reinen Berufspflichten hinaus zuzuwenden. Im 19. Jahrhundert schlägt diese im 18. Jahrhundert vielerorts spürbare Ambivalenz in der Beurteilung entweder in moralische Verachtung oder in romantisierende Verklärung um. Die Schleiferbärbel wird in dieser Biographie außerordentlich geschickt als Konterpart des Konstanzer Hans aufgebaut. Ich möchte dies an einigen Punkten verdeutlichen: Zunächst werden beide als körperlich und geistig überlegen geschildert. Ist von ihnen die Rede, türmen sich Superlative auf. Alles vereinigte sich bey ihm, was einen großen Jauner bildet: er war voller Kraft, gutgewachsen und so schnell wie ein Pferd. 216 Ihm eignete ein nicht gemeiner Verstand, ein bewunderungswürdiges Gedächtniß, ein treffender Wiz, eine seltene Verschlagenheit, ein Muth, der die kühnsten Unternehmungen wagte (...). 217 Gerühmt werden außerdem seine Geistesgegenwart, seine Beredsamkeit, sein Stolz und sein feuriges Temperament. 218 Auch sie war, wie wir schon gehört haben, recht darzu gemacht, unter den Jaunern die ausgezeichnetste Rolle zu spielen 219 : Verstand, Verschlagenheit, Stärke, Entschlossenheit, Wachsamkeit, Geschicklichkeit, Fleiß, Sauberkeit und Gefälligkeit werden als dafür entscheidend dargestellt. Schön war sie nicht. Die wechselhafte Beziehung zwischen ihnen beruhte nach Schölls Darstellung auf der Schwäche und Unentschlossenheit des Hans auf der einen Seite und ihrer Stärke und Zielstrebigkeit auf der anderen Seite. 215 [Schöll]: Kostanzer Hanß (wie Anm. 1), 86 - 88. 216 Ebd., 2 u. 31. 217 Ebd., 2. 218 Ebd., 2f. 219 Ebd., 87. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 787 Jung, schöngebildet und anderen Gaunern an Verstand und Mut überlegen, gefiel er dem buhlerischen Weib und war ganz der Mann, wie sie ihn sich wünschte. Sie legte ihm schlau das Netz, und er fiel darein, ohne daß er wollte, fast ohne, daß er’s wußte, wie er dazu kam. 220 Doch nur durch beständiges Locken gelang es der Bärbel, den jüngeren Konstanzer Hans bey der Hand zu halten. 221 Mangelnde Schönheit kompensierte sie dabei durch umfassenden Lebenskomfort - Essen, Kleidung, viel Geld - und die Rettung aus Gefahrensituationen. Dennoch wird der Hans ihrer immer wieder überdrüssig, schlägt sie und jagt sie davon, bis sie ihn wieder mit ihren Waffen besiegt. 222 In der Verführung durch die Schleiferbärbel sah Schöll im Rückgriff auf virulente Vorstellungen seiner Zeit die Ursache für das vollständige Abgleiten des Konstanzer Hans ins Gaunerleben. 223 Die Asymmetrie zwischen den beiden Figuren tritt vollends zutage, wenn es um den Kern ihres Wesens geht. Besitzt der Konstanzer Hans trotz seiner Neigung zu Maßlosigkeit, Jähzorn und Geltungssucht noch eine gewiße Ehrliebe und (...) einen kleinen Rest von Schamhaftigkeit, so ist sie wollüstig (er: ausschweifend), herrschsüchtig (er: geltungssüchtig), heimtückisch (er: kühn), boshaft (er: zornig), scheinheilig (er: beredsam), hartherzig und kaltblütig (er: feurig, temperamentvoll). 224 Zu Recht kann Avé-Lallemant, der Autor eines mehrbändigen Werkes über das deutsche Gaunertum (1858 - 62), davon sprechen, daß die Schleiferbärbel in Schölls Biographie, die sich durch eine tiefe geistige Auffassung der Individualität des Konstanzer Hans auszeichne, überall wie sein böser Genius erscheint. 225 Für die Überlieferungsgeschichte der Schleiferbärbel erwies es sich als folgenschwer, daß das Leben des Konstanzer Hans zu einer mit aufklärerischem Wissen erklärbaren Biographie gestaltet wurde. Wo seine innere Entwicklung Gegenstand ausführlicher Abhandlungen wird und der Leser sich identifizieren und einfühlen soll, bleibt sie ohne eigene Geschichte, ihr Charakter ohne Entwicklung: Sie wird nicht zur Gaunerin, sie ist Gaunerin. Die Schilderung der Schleiferbärbel bleibt somit dem »alten Perfektions-Korruptions-Schema« 226 zur Einordnung von Frauen verhaftet, obwohl ihr Lebensweg in den der Biographie zugrundeliegenden Untersuchungsakten genauso enthalten ist wie der des Konstanzer Hans. 5. Klette, Teufelsweib, Scheusal in Menschengestalt Mit Schölls Kostanzer Hanß ist die Überlieferungsgeschichte der Schleiferbärbel eigentlich schon an ihr Ende gelangt. Spätere, nicht mehr zeitgenössische, Bearbeitungen des Themas wiederholen nur die Schöll’sche Interpretation: Kein Konstanzer Hans 220 Ebd., 89. 221 Ebd., 92. 222 Ebd., 104. 223 Ebd., 90f. Allg. s. Ludwig Pfister: Aktenmässige Geschichte der Räuberbanden an den beiden Ufern des Mains, im Spessart und im Odenwalde (...), Heidelberg 1812 (ND Berlin o.J.), 207f. oder das Mandat des Schwäbischen Kreises 1747 (StA Ludwigsburg, B 412, Bü 12). 224 [Schöll]: Kostanzer Hanß (wie Anm. 1), 2f., 87, 89, 91. 225 Avé-Lallemant: Gaunerthum (wie Anm. 2), 243. 226 Dainat: Abaellino (wie Anm. 2), 235. Eva Wiebel 788 ohne die Schleiferbärbel - immer steht die spektakuläre Beziehungsgeschichte im Mittelpunkt der Berichte über den Konstanzer Hans - ; und ohnehin keine Schleiferbärbel ohne den Konstanzer Hans. Allerdings ergeben sich interessante Akzentverschiebungen. Während die kontrastierende Figurenkonzeption erhalten bleibt, rückt der Konstanzer Hans (noch) stärker in den Vordergrund. Bei ihm treten nun deutlich Elemente des Motivs des »edlen und gerechten Räubers« hervor, die den Räuberroman des 19. Jahrhunderts prägen: die Ablehnung sinnloser Gewalt, eine ausgeprägte Ruhmsucht, die Verehrung durch das Volk und die Verbreitung von Legenden etwa bezüglich der Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen oder aus allen Ketten freizukommen. 227 Gemeinsam ist diesen Räubern, »daß nicht ihre Schuld, nicht ihre Delinquenz, sondern andere, positive Aspekte, die ersteren verdrängend, im Vordergrund stehen. Diese Räuber sind in erster Linie nicht ›kriminell‹, nicht asozial, sie sind im Gegenteil Helden, und damit - positiv belegt - sozial«. 228 Der Konstanzer Hans wird zum »Räuber mit Prinzipien«. 229 Die Schleiferbärbel dagegen verliert ihre individuellen, persönlichen Züge und erscheint nurmehr als Negativfolie des bürgerlichen Frauenideals. Die Beziehung zwischen den beiden Menschen wird als reine Zweckbeziehung seinerseits, als Besessenheit ihrerseits geschildert. Zusätzlich erhält die Anziehungskraft der Bärbel auf den Hans dämonischen Charakter. Als verführendes »Machtweib« 230 stürzt sie den Hans ins Unglück. Den Anfang macht eine 1852 erscheinende Nacherzählung des Schöll’schen Kostanzer Hanß durch Wilhelm Friedrich Wüst. Hatte sich Schöll an Richter, Staatsmänner, Psychologen, Moralisten und Erzieher gewandt 231 , richtet Wüst sein betuliches Volksbuch zur Lehre und Warnung an Eltern und Kinder. Die Eltern sollten ihre Kinder gut erziehen; die Kinder sollten den bösen Verlockungen durch andere nicht folgen. 232 Das achte Kapitel mit der Überschrift Wie Hans mit einer Erzgaunerin zusammenkommt beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen der Schleiferbärbel und dem Konstanzer Hans. Der Hans, auf den die einfühlende Sympathie der Leserinnen und Leser gelenkt wird, muß sich in Wüsts Deutung geradezu mittels brutaler Gewalt gegen die ständige Belagerung und Beschenkung durch die Schleiferbärbel wehren. Immer wieder erliegt er der Versuchung des süßen Lebens, das sie ihm bietet. Trotz allem dem jagte sie Hans öfters fort, denn sie war ihm ganz zuwider. Sie machte es aber wie die Hunde, die auch, nachdem sie fortgejagt worden, bald wieder kommen, um sich abermals in die Gunst ihrer Herren einzuschmeicheln. 233 1897 wird die Geschichte um den Konstanzer Hans ein weiteres Mal aufgegriffen. Eduard Eggert beschreibt in seiner Biographie des Sulzer Oberamtmanns Schäffer den Prozeß gegen die Gauner um den Konstanzer Hans als Wendepunkt in Schäffers Karriere und im Kampf gegen das Gaunertum insgesamt. 234 Die Schilderung dieser Unter- 227 Ebd., 221; Heiner Boehncke: Die Räuberromantik in der deutschen Literatur, in: Ders./ Hans Sarkowicz (Hg.): Die deutschen Räuberbanden, Bd. 1: Die großen Räuber, Frankfurt/ M. 1991, 23 - 33, hier: 24, 28; Eric J. Hobsbawm: Die Banditen, Frankfurt/ M. 1972, 49f. 228 Danker: Räuberbanden (wie Anm. 209), 475f. 229 Boehncke/ Sarkowicz: Südwesten (wie Anm. 2), 141. 230 Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 1976, 781. 231 [Schöll]: Kostanzer Hanß (wie Anm. 1), V. 232 Wilhelm Friedrich Wüst: Der Konstanzer Hans. Merkwürdige Geschichte eines schwäbischen Gauners, Reutlingen 1852, 111. 233 Ebd., 32. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 789 suchung beinhaltet auch einen kurzen Lebenslauf des Konstanzer Hans, der sich eng an die Schöllsche Fassung anlehnt. Wie erwartetet wird auch der Schleiferbärbel gedacht, die letztlich den Ausschlag für sein Räuberleben gegeben habe: Die letzten Proteste seines Gewissens besiegte ein Weib, das der Abschaum ihres Geschlechtes war. 235 Es folgt eine wortgetreue, allerdings gekürzte Version der oben wiedergegebenen Charakterisierung der Schleiferbärbel durch Schöll. Die Auslassungen sind aufschlußreich: Es entfallen genau die Fähigkeiten bzw. Tugenden der Schleiferbärbel, die dem bürgerlichen Frauenideal nahekommen könnten: der Liebreiz, mit dem sie offenbar auch in Konfliktsituationen überzeugen konnte, ihr Geschick in weiblichen Künsten und Geschäften, vor allem bei Handarbeiten, ihre stets saubere und gepflegte Kleidung, ihre umfassende Sorge für den Mann neben ihr. Übrig bleibt ein Wesen, das Eggert konsequenterweise als den bösen Dämon des Konstanzer Hans, der ihn nicht mehr freiließ bezeichnete. Mit ihr im Bunde spielte Herrenberger in der Geschichte des schwäbischen Gaunertums eine so einflußreiche Rolle, daß der Oberamtmann von Sulz alles daransetzte, des großen Verbrechers habhaft zu werden. 236 Es ist ein Teufelsbund, der jetzt den Konstanzer Hans zum gesuchten Verbrecher macht. Das Motiv des Teufelsweibs schreibt Franz Baier 1933 in seinem Beitrag zur Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts fort: Die Schleiferbärbel habe zusammen mit dem Schinderpeter den übelsten Einfluß auf den Konstanzer Hans gehabt: 237 Sie sei ein ihrem Manne, einem herumziehenden Scherenschleifer und Dieb, durchgebranntes Weib, das alle Laster, die eine weibliche Seele verunstalten können, in sich vereinigte. (...) Die Schleiferbärbel war seine stete Begleiterin auf allen seinen Raubzügen und Einbrüchen (...) Oftmals war dem Konstanzer Hans die Gesellschaft dieses Teufelsweibes zuwider, er prügelte sie halb tot und jagte sie davon. Aber schon nach einigen Wochen traf er dieses Weib wieder in irgendeiner Diebesherberge, und die Schleiferbärbel, die an dem schmucken Burschen ihren Narren gefressen hatte, und an ihm wie eine Klette hing, brachte ihrem Hans sichere Kunde, wo eingebrochen werden könnte. Hans wurde dieses Scheusal in Menschengestalt erst los, als die Schleiferbärbel für immer hinter den Zuchthausmauern verschwand. 238 Nur noch der Lächerlichkeit preisgegeben wird die Figur der Schleiferbärbel schließlich bei Carsten Küther. Mit anzüglichem, abschätzigem Unterton kolportiert er die Schöllsche Schilderung der Beziehung zwischen dem Konstanzer Hans und der Schleiferbärbel: So gelangte auch der Konstanzer Hans erst durch seine Liaison mit der berüchtigten Schleiffer=Bärbel zu den höheren Weihen des Räuberlebens. Diese Dame war damals, wohl schon an die fünfzig Jahre alt, verheiratet mit einem Scherenschleifer, der jedoch ihren Ansprüchen, welcher Art auch immer, nicht genügen konnte. Sie suchte sich von Zeit zu Zeit jüngere ›Beischläfer‹ und hatte nun offenbar den Mann ihres Lebens gefunden. (...) Allerdings war das Verhältnis zwischen Hans und der Schleif- 234 Eggert: Schäffer (wie Anm. 114), 24. 235 Ebd., 20. 236 Ebd. 237 Franz Baier: Der ›Konstanzer Hans‹. Ein Beitrag zur Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Bodensee-Chronik 22 (1933), 2 - 4, 7f., 11f. u. 16, hier: 2. 238 Ebd., 3. Eva Wiebel 790 fer=Bärbel durchaus nicht ungetrübt: er schätzte zwar die Qualitäten seiner Begleiterin als ›Baldoverin‹ und Marktdiebin, doch entsprach sie vom Alter und Aussehen her offenbar nicht seinen Vorstellungen. (...) Das Zusammenleben der beiden gestaltete sich entsprechend dramatisch. Er versuchte mehrfach sie loszuwerden, doch folgte sie ihm immer wieder und prügelte sich wohl auch mit Rivalinnen herum. 239 Diese unrühmliche Traditionslinie 240 in der Darstellung der Rolle der Schleiferbärbel im Leben des Konstanzer Hans reicht bis zu Uli Rothfuss, der 1997 in einem Artikel über den Konstanzer Hans kommentarlos das Schöllsche Porträts der Schleiferbärbel zitiert und hinzufügt: Diese Schleiferberbel also hatte es auf den ›Konstanzer Hanß‹ abgesehen. Sie war mit dem Scherenschleifer Antonius Krämer verheiratet und hatte je nach Belieben ihre wechselnden Bettgenossen. Jetzt umgarnte sie den ›Konstanzer Hanß‹ mit ihren Kunstgriffen. 241 Das Leben der Bärbel erscheint in diesen Darstellungen ausschließlich auf Männer ausgerichtet: auf ihren Mann, den sie mutwillig verlassen habe, auf namenlos bleibende Bettgenossen und vor allem auf den Konstanzer Hans, dem sie sich geleitet von Trieben und Gefühlen wider alle Vernunft und besseres Wissen aufgedrängt habe. Die Männer erscheinen in diesem Zusammenhang geradezu als beklagenswerte Opfer dieser Frau. 242 6. Meisterdiebin oder Ungeheuer Die Überlieferung der Person bzw. Figur der Schwarzen Lis nimmt einen anderen Weg. Ihr fehlt der prominente Mann an ihrer Seite. Als Aufhänger der Überlieferung wirkt stattdessen ihr spektakulärer Diebstahl im Ludwigsburger Schloß an dem Mann, der sie später zum Tod verurteilen sollte. Dieser spannungsgeladene Rollentausch zwischen Täterin und Opfer hat die Erinnerung an die Schwarze Lis wach gehalten und bis heute kaum an Anziehungskraft verloren. Beginnen wir jedoch zunächst, wie bei der Schleiferbärbel, mit den Beschreibungen durch andere Gaunerinnen und Gauner: Die erste mir bekannte Erwähnung der Schwarzen Lis in einer Gauner- und Diebsliste findet sich 1782. Dort beschreibt Franz Keim, der schöne Franz, nur das Aussehen der Schwarzen Lis, ohne sie, wie er es bei anderen Gaunerinnen und Gaunern macht, hinsichtlich ihrer Bedeutung oder Gefährlichkeit zu charakterisieren: Die gastners Lis, oder sonst auch die schwarze Lis genannt, 38jährigen Alters, langer buckleter Statur, langlecht, schwarz, etwas dupfeten Angesichts; worinn etliche Warzen sind, schwarzen Haaren, und Augbraumen, hat eine grosse Nase, und dergleichen Maul. 243 239 Küther: Räuber und Gauner (wie Anm. 9), 83f. 240 Ausnahmen bilden hier nur die Bemerkungen von Monika Machnicki: Brecheisen (wie Anm. 133), 143 u. 149 und Ponath: Schleiferbärbel (wie Anm. 190). 241 Uli Rothfuss: Der »Konstanzer Hanß«. Der berüchtigte Räuber des 18. Jahrhunderts verfaßte einen Sprachführer des Rotwelschen, in: Schönes Schwaben 2 (1997), 14f. u. 58, hier: 15. Ebenfalls in ders.: Schäffer (wie Anm. 114), 34f. 242 Machnicki: Brecheisen (wie Anm. 133), 149. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 791 Ähnlich beschreiben sie 1784 der Schweizer Victor und der Konstanzer Hans. Ihnen erscheint die Lis als ein Ausbund aller Huren und Diebinnen und besonders im Sackgreifen wohl erfahren, welches Handwerk sie auch stark treibe, und besonders auf dem Blutfest in Weingarten manches Hundert Gulden hohle. Sie halte sich meistens in der Schweiz auf, und seye schon zu Zürch und anderer Orten inngelegen. Beide erzählen, die Lis habe mit ihnen ›gehen‹, sie zum Beischläffer annehmen wollen: So habe sie zum Victor gesagt: Horch Victor! Wann du mit mir laufst, so will ich dich immer, wie einen Officier kleiden. 244 Dem Konstanzer Hans habe sie angeblich einen Dukaten täglich versprochen, er habe aber keinen großen Lust dazugehabt. 245 Diese Geschichten, die in den Untersuchungsakten keine weitere Bestätigung finden, spiegeln m. E. vor allem eines: den zunehmenden Bekanntheitsgrad der Lis unter den Gaunern. Der Konstanzer Hans erzählt einige ähnliche Geschichten, immer betreffen sie Frauen, die ihm den Rang abzulaufen drohten. 246 Johann Gaßner, der verlassene Ehemann der Lis, beschreibt sie folgendermaßen: Diese seye die Hauptpersohn in Deutschland, und habe alle ihre Lehrmeister weit übertroffen. Wenn sie etwas nur sehe, und es gern hätte, so habe sie solches in einem Augenblick, sie lauffe nur an denen Leuthen vorbey, und habe gleich die Sack Uhren oder Geld aus dem Sack, so geschwind, daß man meine, sie könne das Hexenwerk. Dieses Handwerk mit Sackgreiffen habe sie schon getrieben, wie sie noch bey ihme gewesen seye. 247 In seiner Schilderung klingt zum ersten Mal an, was alle späteren Äußerungen über die Lis bestimmen wird: die Stilisierung zur unübertroffenen Meisterdiebin. Die Haltung der Obrigkeit zeigt das 1788 verfaßte Rechtliche Gutachten zum Fall der Schwarzen Lis. Ernst Arnold hielt es 1911 für so bemerkenswert - so viel Stoff zur Formung eines Bildes der Gaßnerin 248 -, daß er es in voller Länge in seinem Werk über den Malefizschenk und ›seine Jauner‹ zitierte. 249 Dieses Gutachten, das im Stil einer Relation 250 zunächst die Vergehen und Verbrechen der Lis zusammenfaßt, sodann eine rechtliche Einschätzung vornimmt und schließlich die mildernden Umstände abwägt, fällt vor allem durch seinen stark wertenden Charakter auf: Die Lis, die nach ihrer angenommenen Raubbegierde nie keine Gelegenheit aus Handen gelaßen, sich fremdes Gut auf iede ihr faisable geschienene Art und Weise zuzueignen 251 , habe ihr bereits verstockter Sinn zu 243 StA Sigmaringen, Ho 80, Bd. 2, Nr. 287, Verzeichniß zerschiedener (...) Dieben, Buchloe/ Kaufbeuren 1782, Nr. 29. 244 HStA Stuttgart, A 309, Bü 354, S. 58, Nr. 141 u. S. 102, Nr. 191. So auch A 43, Bü 44, Beschreibung derjenigen Erzjauner (...), Schwyz 1787, Nr. 33. 245 Ebd., B 83, Bü 35, Einschub im Verhörprotokoll, vor Frage 840. 246 Z.B. ebd., A 309, Bü 354, S. 80f., Nr. 13. 247 Ebd., B 83, Bü 35, Auszug aus dem Verhör Johann Gaßners, Oberdischingen, 18.12.1786. 248 Arnold: Malefizschenk (wie Anm. 134), 114. 249 Das Rechtliche Gutachten befindet sich handschriftlich im HStA Stuttgart, B 83, Bü 35; abgedruckt in Arnold: Malefizschenk (wie Anm. 134), 114 - 126. 250 Siehe Wolfgang Schild: Relationen und Referierkunst. Zur Juristenausbildung und zum Strafverfahren um 1790, in: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, 159 - 176. 251 Arnold: Malefizschenk (wie Anm. 134), 121. Eva Wiebel 792 Ausübung solch enorm vieler Frevelthaten (geführt), die fast alles Gefühl der Menschlichkeit über steigen, und die ihro den allgemeinen Ruf einer verwegenen und verläumten Diebin zugezogen haben. 252 Sie wird als eine in allen Gattungen der Dieberey habituirte, mehrmalen fruchtlos corrigirte, und in consortio der verrufensten Jauner gestandene, folglich dem publico äußerst gefährliche Landstreicherin 253 beschrieben; es ist die Rede von ihrer eingewurzelt heillosen Denkungs Art und von abscheuliche(n) Verbrechen (...) auf ihrer Lasterbahn. 254 Man solle sich also, so das Fazit, entschließen, dieses Ungeheuer durch das Schwert, und Aufsteckung des Kopfs auf den Galgen aus der Welt schafen zu lassen. 255 In dieser juristischen Abhandlung wird die Lebensgeschichte der Schwarzen Lis instrumentalisiert. Es wird nicht nur abweichendes Verhalten festgestellt, sondern es wird eine grundsätzlich heillose Denkungs Art, eine »moralische Perversion des Individuums« 256 als Ursache der Verbrechen konstruiert, auf die die Gesellschaft nur noch mit endgültiger, sprich tödlicher Ausgrenzung reagieren kann. 257 Die Art und Weise, in der diese Diebin als außerhalb der menschlichen Gesellschaft stehend gezeichnet wird, reicht m. E. über eine gesellschaftliche Marginalisierung hinaus. Dabei sind es vor allem diese Stereotypen, die dem gutachtenden Oberamtmann eine schlüssige Urteilsfindung ermöglichen. Die von ihm referierten Untersuchungsergebnisse wirken im Vergleich brüchiger und dünner. Der Verdammung eines Lebens jenseits des vorgegebenen Rahmens und der Warnung vor Müßiggang und Diebstahl diente auch der anläßlich der Hinrichtung der Lis gedruckte Abschied der Lis als Teil der »Schaffottdiskurse« 258 (Foucault): Lange genug bin ich herumgeirret, und bin im Dunkeln, wie die Pest, geschlichen, bis mir das Gut meines Nächsten eine Beute wurde. Selbst Veränderungen in meiner Person mußten mir meine Diebsgriffe begünstigen helfen; denn wo ich mich als Weibsbild zu schwach glaubte, legte ich ohngescheut Mannskleider an und gieng jedem, der sich mir widersetzen wollte, mit frecher Stirne entgegen. Wie viele schöne Uhren wußte ich durch meine gewiß aus dem Grunde gut erlernte Diebskunst denen Mannspersonen aus der Tasche heraus zu spielen, die ich dann mit großer Freude als Siegeszeichen meinem Manne einhändigte. Ich wurde als Meisterinn von unsrer ruchlosen Rotte geehrt, welches mich immer mehr anfeuerte, solch Thaten auszuführen. 259 Verschiedene Bedrohungsmomente werden hier ausgespielt: das Dunkel, die Pest, die Überschreitung der definierten Geschlechtergrenzen durch das Tragen von Männerkleidung oder durch freches Verhalten sowie das leidenschaftliche Bekenntnis zum Stehlen unter der Anfeuerung ihrer Komplizen. Nur am Rande sei darauf bemerkt, daß 252 Ebd., 122. 253 Ebd., 125. 254 Ebd., 123. 255 Ebd., 125. 256 Dainat: Abaellino (wie Anm. 2), 158. 257 Vgl. Carmen Pinilla Ballester: Erzählte Hinrichtungen. Zum literarischen Diskurs über Verbrechen und Strafe um 1800, Frankfurt/ M. 1992, 27f. 258 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/ M. 1977, 85f. Siehe auch Ballester: Erzählte Hinrichtungen (wie Anm. 257). 259 Abgedruckt bei Schmitt: Leben (wie Anm. 132), 37. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 793 allein die Bedrohung der Geschlechterordnung sofort wieder eingedämmt wird durch einen Akt der Unterwerfung der Lis unter ihren Mann. Monika Machnicki hat darauf bereits hingewiesen. 260 Im Rückblick war eine ähnliche Motivkonstellation in der Charakterisierung der Schleiferbärbel durch Schöll zu lesen. Die zweite Hälfte des Abschieds widmet sich im Kontrast zur ersten ausschließlich der erbarmenden Gerechtigkeit Gottes, der nicht zulasse, daß ein Mensch verlohren gehe: Er, mein Heiland, hat mich wieder, da mich bereits die Stricke des Todes umgaben, mit den Seilen der Liebe an sich gezogen. Ich eile nun getrost meiner Schädelstätte entgegen, und will mit meinem Blut da willig die Erde stärken lassen, um diejenigen, die ich hier beleidigt und beschädigt habe, in etwas auszusehnen. Ich bitte daher alle Umstehende tausendmal um Vergebung, ehe ich noch mein Leben schließe. Ihr sehet, daß ich mir durch meine Verbrechen die Tage meines Lebens selber verkürze. Ich sterbe in einem Alter, das mir noch Jahre lange zu leben Hoffnung gäbe; aber ich habe mit Gewalt mir meinen Lebensfaden entzwey gerissen, und mir die fürchterliche Grube gegraben, in die ich itzt hinabblicke. 261 Die der Lis in den Mund gelegten Worte entsprechen noch in idealtypischer Weise dem Bild einer »erbaulichen Hinrichtung« 262 . In diesem von Danker für die Zeit um 1700 herausgearbeiteten Schema galt eine öffentliche Hinrichtung als besonders gelungen, wenn der reuige Sünder oder die reuige Sünderin im Vertrauen auf die göttliche Gnade gefaßt und willig in den Tod ging. Dem Publikum wurde durch Flugschriften wie dem Abschied der Lis suggeriert, die Hinrichtung - mit ihrer Aussicht auf die Aufnahme ins Paradies - sei die einzig mögliche Rettung der Delinquentin vor weiteren Untaten. 263 Sie setzten eine Paradoxie in Szene, in der die Delinquentin gleichzeitig als Schreckbild und als Vorbild auftrat. Als Vorbild erfährt sie über umfassende Reue und Buße die unendliche Gnade Gottes. Als warnendes Beispiel zeigt sie die Folgen von Müßiggang und anderem Fehlverhalten. Im kleinen Vergehen liegt schon der Keim zum großen Verbrechen. Ihre Lasterbahn wird als eine aufsteigende Stufenfolge von Vergehen dargestellt, die mit der unausweichlichen Bestrafung endet. Im Guten wie im Bösen übertrifft so die Delinquentin die Zuschauerin und den Zuschauer bei weitem. 264 Einen Kontrapunkt setzt Johann Ulrich Schöll, der Verfasser des Kostanzer Hanß. Ihn interessiert an der Lis allein ihre handwerkliche Meisterschaft im ›Sackgreifen‹: Die Geschiklichkeit und Geschwindigkeit, mit der sie (die Sackgreifer; E.W.) dieß alles ausführen, ist unglaublich, und wenn einer durch lange Uebung seine Kunst zu Vollkommenheit gebracht hat; so ist es ihm eine Kleinigkeit, auf Einem Plaz mehrere hundert Gulden an baarem Geld und andern Kostbarkeiten einzusammeln. Eine Meisterin in dieser Art von Dieberey war die berüchtigte Gaßners Lisel, welche 1788. Zu OberTischingen hingerichtet wurde. Die beynahe 8.000 fl., auf die ihre begangenen Diebstähle sich beliefen, hatte sie meistens durch Beutelschneiderey und Sack- 260 Machnicki: Brecheisen (wie Anm. 133), 150. 261 Abgedruckt bei Schmitt: Leben (wie Anm. 132), 38. 262 Danker: Räuberbanden (wie Anm. 209), 196 u. 198. 263 Vgl. Dainat: Abaellino (wie Anm. 2), 157. 264 Ebd., 149. Eva Wiebel 794 greiffen entwendet. (...) Schwerlich ist ein Markt von Bedeutung in Schwaben und dem nördlichen Theil der Schweiz, den sie nicht besuchte, an dem sie nicht einsammelte, schwerlich irgend eine Feyerlichkeit, bey der sie nicht erschien. 265 Diese zeitgenössischen Texte legen die Grundlage für die weitere Überlieferung, in der sich die beiden thematischen Hauptstränge mehr und mehr übereinanderlegen: Die obrigkeitliche Verdammung mit dem ihr eigentümlichen Hang zu eher kontraproduktiver Übersteigerung und die Stilisierung zur einzigartigen Meisterdiebin und damit zur Ausnahmefigur. 7. Raubvogel - wild und frei Man muß das einzige Wort »Jauner« aus seinem Munde gehört haben, um vollständig zu verstehen, was für eine Assoziation von Gedanken, Gefühlen, Schauern und Erinnerungen damit verbunden war! Von Einzelnen der Galgenvögel sprach er so gerne, so häufig als von den gefeierten Helden jener Tage, jedoch von keiner jener unheimlichen Gestalten mehr als von einem Weibe, in welchem die Sünde der Gemeinheit sich zu einem Urbild der Gemeinheit vertieft hatte: von der schwarzen Liesel! 266 Die Rede ist von Johann Baptist Pflug (1785 - 1866), dem bekannten Biberacher Genremaler, dem es die ›Räuberbanden‹ um den Schwarzen Veri besonders angetan hatten. Als junger Mann durchstreifte er die oberschwäbischen Wälder in der Hoffnung, diesen Räubern zu begegnen. Sein Wunsch erfüllte sich schließlich 1819 im Biberacher Gefängnis. Er porträtierte die verhafteten Räuber und setzte später aus diesen Einzelstudien seine bekannten Darstellungen von Räuberbanden zusammen. 267 Nach Pflugs Tod erschienen 1874 und 1877 die von Julius Ernst Günthert herausgegebenen Lebenserinnerungen des Malers. 268 Dem Malefizschenken mit seiner Fronfeste und seinen Gaunern sind mehrere dramatisch gestaltete Kapitel gewidmet. Die Geschichte der Schwarzen Lis erzählte der Graf dem Maler Pflug angeblich selbst, als dieser ihm die Räuberportraits aus Biberach vorführte. Dieser Schein der Authentizität trügt: die Berichte und Erinnerungen über die Lis haben zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits ein Eigenleben gewonnen und nähern sich einer reinen Posse: Eine Hauptdiebin war Elisabeth, die Ehefrau eines Strolchen Johann Gaßner; man hieß sie nur die schwarze Liesel. Wenn sie mit ihrem Mann auf den Raub auszog, trug sie häufig Mannskleider, einen großen falschen Bart und Waffen. 269 265 [Schöll]: Abriß (wie Anm. 14), 67f. 266 Julius Ernst Günthert (Hg.): Erinnerungen eines Schwaben. Zeit- und Sittenbilder aus den letzten und ersten Tagen des 18. und 19. Jahrhunderts, 2 Bde., Nördlingen 1874/ 77, hier: Bd. 2, 152f. 267 Herbert Eichhorn: »Die wilden Gesellen in ihrem grünen Theater« - Johann Baptist Pflug als »Räubermaler«, in: Siebenmorgen (Hg.): Schurke oder Held (wie Anm. 12), 203 - 211, v.a. 203 u. 210; Idis B. Hartmann (Bearb.): Joh. Baptist Pflug (1785 - 1866). Gemälde und Zeichnungen, Biberach 1985, 8. 268 Siehe Anm. 266. 269 Günthert (Hg.): Erinnerungen (wie Anm. 266), Bd. 1, 187f. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 795 Das mögliche Transvestieren der Lis spielt weder im Rechtlichen Gutachen noch in der Urgicht eine Rolle. 270 Anschließend wird mit einer auch für die folgenden Bearbeitungen charakteristischen Mischung aus Häme, Bewunderung und Dramatisierung eine stark verfälschte Geschichte des Ludwigsburger Diebstahls erzählt. Die Lis wird als Soldatenflittchen präsentiert, dem ein Glücksgriff gelingt, als es statt der erwarteten Tabakdose den Geldbeutel des Grafen erwischt. 271 Erfunden wird der Dramatik zuliebe auch eine letzte Konfrontation der beiden Kontrahenten: Als nun später die Gaßner in Dischingen wegen ihrer Räubereien zwar zum Tode verurtheilt worden war, jenen Diebstahl aber noch nicht eingestanden hatte, begab sich Schenk zu ihr in’s Gefängniß und redete ihr ernstlich in’s Gewissen. (...) Die schwarze Liesel gestand mit triumphirenden Lächeln jetzt um so weniger. 272 Der Herausgeber Günthert, zunächst Polizeihauptmann in Biberach, dann Oberst des Landjägerkorps in Stuttgart 273 , fügte den Erinnerungen Pflugs schließlich eine biographische Skizze der Schwarzen Lis an, die mehr über die Vorurteile und Projektionen des Autors und die bürgerliche Selbstgerechtigkeit aussagt als über die Lis: Elisabetha Gaßner, genannt die schwarze Lies, war aus Biberberg gebürtig, (...). Die Tochter eines abgedankten Soldaten, lief sie von frühester Jugend an als Bettlerin, Beutelschneiderin und Lustdirne herum und hatte es endlich im Jahre 1787 so weit gebracht, daß sie als eine der erfahrensten Sacklangerinnen, Erziebin und Ausbund aller verruchten Weiber aktenmäßig geschildert wurde. Damals war sie 45 Jahre alt, mit einem Manne, Johann Gaßner, längst verheirathet, Mutter mehrerer Kinder, zweier Mädchen und zweier Knaben, was sie jedoch keinen Augenblick abhielt, in wilder Diebsfreiheit herumzuschwärmen, die eigene bestialische Lust zur verworrenen Richtschnur nehmend, bis sich diese zu jenem Strang verdichtete, der ihr den verfehmten Atem auf immer raubte. (...) Der Malefizschenk scheute weder Müh’ noch Unkosten, um sie in seine Gewalt zu bekommen und es gehörte zu seinen glänzendsten Erfolgen, als er diese Person unter starker Bedeckung, als wär’ es ein Hannikel oder der bairische Hiesel selbst gewesen, in die Frohnfeste zu Dischingen eingeliefert sah. War er doch von derselben, 10 Jahre früher, in Ludwigsburg bei der Anwesenheit des Großfürsten Thronfolgers tüchtig bestohlen und mehr als das: blamirt worden, weil seine große Verlegenheit und sein ungestümmer Zorn bespöttelt oder gar mißdeutet worden waren! Vergebens hatte er nach ihr die schärfste Spähe gehalten, alle Winde trugen ihm Kunde von ihrem verbrecherischen Treiben zu; Johann Gaßner war von ihm prozessirt, strangulirt worden - nur sie konnte nicht beigebracht werden, an ihr scheiterte alle Kunst auch des berüchtigsten Diebsfängers jener Zeit, des Oberamtmanns Schäffer in Sulz, aller Spürsinn der Häscher - das Weib war seither wie gefeit gewesen, wild und frei geblieben, als hätte sie der Teufel selbst zur Liebsten erkoren. Endlich war sie in der Macht des Malefizschenken und »nach unsäglich gebrauchten, 270 Siehe ausführlich Machnicki: Brecheisen (wie Anm. 133), 151. 271 Günthert (Hg.): Erinnerungen (wie Anm. 266), Bd. 1, 188. 272 Ebd., 189. 273 Johann Baptist Pflug: Aus der Räuber- und Franzosenzeit Schwabens. Die Erinnerungen des schwäbischen Malers aus den Jahren 1780 - 1840 (hg. v. Max Zengerle), Weißenhorn 1967, 7. Eva Wiebel 796 lugenhaften Vorgebungen und ausgesunnenen Bosheiten in der mit ihr geführten Inquisition« legte die Lies ein unumwundenes Geständnis ab, gleich als ob es ihr letzter diabolischer Streich wäre, sich in ihrem ganzen schwarzen Glanze zu zeigen, die so lange fruchtlos gebliebenen Verfolgungen zu belächeln. Eine leichte Hoffnung auf Gnade mag ihr das erste Wort entlockt haben; mit dem unwiderstehlichen Ungestüm, der ihr ganzes Wesen karakterisirte, folgte das vollständige Bekenntniß nach. 274 Im Anschluß an diese Charakterisierung der Lis möchte Günthert den Höllenzikzak (...), in welchem das Leben der schwarzen Lies umherschwirrte und flirrte 275 nachzeichnen. Aus Urgicht und Rechtlichem Gutachten montiert er ein in Form und Sprache außerordentlich brüchiges und heterogenes Itinerar. Es scheint, als habe er in konkreter Auseinandersetzung mit dem Quellenmaterial die stetige Verdichtung der Richtschnur ihres Lebens zum entehrenden und letztlich tötenden Strang nicht in geschlossener Form darstellen können. Als Ernst Arnold 1911 über den Malefizschenk und seine Jauner schrieb, griff er ebenfalls auf Unterlagen aus dem Oberdischinger Archiv zurück. Bei der Vorstellung der Hauptgauner und Erzgaunerinnen (...), mit denen der Henkersgraf zu tun hatte, läßt zwar auch er der berüchtigten ›Sacklangerin‹ unter ihnen den Vortritt, doch er räumt nach seinem Studium der Akten ein, daß die Lis von der Sage mit manchem ihr nicht eigen gewesenen Charakterzuge und gar mancher von ihr nicht ausgeführten Untat ausgestattet worden sei. 276 Von dieser Warnung eher inspiriert als gebremst präsentiert sich der 1956 erschienene Roman ›Der Malefizschenk und die schöne Viktor‹ von Franz Schrode. 277 Im Zentrum der Erzählung steht die seltene Geschichte einer ›edlen Räuberin‹, der schönen Viktoria Schwarzmännin. Das Leben dieser Gaunerin, das sich in der lokalen Überlieferung früh zur Sage verdichtete, begann - so der Roman - in einer der besseren Familien Oberdischingens. Der junge Graf verliebt sich in die schöne Bürgerstochter, muß aber standesgemäß heiraten; sie dagegen gerät durch verschiedene Verwicklungen nahezu schuldlos ins Gaunerleben, das ihr immer ein Grauen bleibt. Schließlich von Häschern des Grafen gefangengenommen, zeigt sie sich im Gefängnis als reuige Sünderin, ein schaurigschönes Bild menschlichen Jammers 278 ; ihre gute Erziehung und ihr reiner Kern schlagen durch. Als äußerlich sichtbares Zeichen kehrt ihre alte Schönheit geläutert zurück. 279 Der Graf sorgt heimlich dafür, daß der Strang bei ihrer Hinrichtung reißt. Sie wird begnadigt, arbeitet als seine Köchin und bekommt ein Kind von ihm. Vieles ist hier vereint, was den ›edlen Räuber‹ ausmacht: gute Herkunft, eine tragische Verwicklung, die den Betreffenden in das Räuberleben zwingt, bleibende Gewissensbisse, im Gefängnis dann auf dem Weg der Reue die Rückkehr in die Gesellschaft, die möglich ist, weil der innere Kern nie eigentlich korrumpiert wurde, und schließlich eine unauslöschliche Liebe. 280 Eine langweilige Geschichte, ein ausgestanztes Märchen, das, wenn überhaupt, nur von der Figur des Bösen lebt. Diesen Part spielt die Schwarze Lis als bösartige, häßliche und habgierige Diebin. Da sie dabei gleich zwei idealisierten Figu- 274 Günthert (Hg.): Erinnerungen (wie Anm. 266), Bd. 2, 153f. 275 Ebd. 276 Arnold: Malefizschenk (wie Anm. 134), 113f. 277 Franz Schrode: Der Malefizschenk und die schöne Viktor, Ulm 1956. 278 Ebd., 151. 279 Ebd., 156. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 797 ren als Gegen- und Zerrbild dient - dem heldenhaften und tatkräftigen Malefizschenken und der schönen und ehrlichen Diebin Viktoria Schwarzmännin -, wundert folgendes Portrait der Lis nicht: Wer ist die Schwarze Lies und wer kennt sie? Sie ist im Munde vieler, aber gesehen haben sie die wenigsten, erkannt aber fast niemand. Einmal trägt sie Frauenkleider, ein andermal kommt sie wie ein Mann in langen Hosen daher, trägt einen künstlichen Bart, oder auch keinen, ganz so wie es ihr eben beliebt. Wo viel Volk zusammenkommt, dahin zieht es sie. Sie fehlt bei keinem Ulmer Schwörmontag, bei keinem Biberacher Schützenfest und bei keinem Ravensburger Rutentreiben. Sie ist eine Meisterdiebin und beherrscht alle Arten des Diebstahls bis zur Vollendung: Opferstockplündern, Beutelschneiden und Sacklangen. Als Wahrsagerin und Kartenlegerin hat sie schon viele Törichte um manchen Gulden geprellt. Sie ist ein Raubvogel in Menschengestalt. Bei Nacht huscht sie wie eine Eule in die Vorratskammern der Bauern und entwendet irgend etwas Eßbares. Bei Tage schießt sie gleich einem Sperber an einem Unvorsichtigen vorbei und entreißt ihm die Uhr oder die Geldbörse. Sie sieht auch aus wie ein Raubvogel. Aus ihrem hageren, braunen Gesicht streckt sie eine gebogene, spitze Nase in die Luft. Zwei schwarze, äußerst lebhafte Augen beobachten dauernd die Umgebung. Ihre Finger sind lang und dünn wie Krallen und zum flinken Zugreifen wie geschaffen. Ihre pechschwarzen Haare und ihre dunkle Haut haben ihr den Namen die »Schwarze Lies« eingetragen. (...) Die menschliche Gesellschaft haßt sie und lebt meistens für sich allein. Mit dem Meisterdieb Johannes Gaßner, der ihr das Diebesgeschäft beigebracht und mit dem sie sich vermählt hat, lebt sie nicht mehr zusammen. Es gibt ja andere Männer genug. Liebe und Treue kennt sie nicht. Ihre Weltanschauung ist höchst einfach und brutal. So wie es Raubtiere und Raubvögel gibt, so gibt es auch eine Schwarze Lies. Sie ist eben wie sie ist. Woher das Raubzeug die Berechtigung hat zum Rauben, daher nimmt auch die Lies das Recht. 281 Gezeichnet wird ein hageres, schwarzes und asoziales Wesen. Im Roman wird zur Beschreibung der Lis immer wieder der Vergleich mit verschiedenen Raubvögeln bemüht. Die Jagd im Sturzflug - Schnelligkeit aus dem Hinterhalt - scheint die Lis am besten zu charakterisieren. Die Lebenwege der drei Figuren werden eng miteinander verflochten. An allen wichtigen Lebensstationen des Grafen und der Viktor treffen sie aufeinander: beim Amtsantritt des jungen Grafen, beim Durchzug Marie Antoinettes durch Oberschwaben, beim Ludwigsburger Diebstahl (die Viktor wird zur Komplizin der Lis gemacht) und schließlich im Gefängnis. Beklemmend macht diesen Roman vor allem das Wechselspiel aus Fiktion und erstaunlich genauer und detailliert wiedergegebener Information. Der Ludwigsburger Diebstahl führt schließlich zur Krönung der Schwarzen Lis zur Königin der Diebe. 282 Die Krönungsfeier wird inszeniert wie ein Schmierentheater: 280 Frenzel: Motive (wie Anm. 230), 585 - 589; Irmgard Roebling: Friedrich Schillers Drama »Die Räuber« und einige Folgedichtungen im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Siebenmorgen (Hg.): Schurke oder Held? (wie Anm. 12), 181 - 190, hier: 184, 188f. Dainat: Abaellino (wie Anm. 2), Kap. 3 u. 4; Hobsbawm: Banditen (wie Anm. 227), 49f. 281 Schrode: Malefizschenk (wie Anm. 277), 103f. 282 Ebd., 112. Eva Wiebel 798 Thron, Baldachin, Krone, Krönungsornat und Insignien werden improvisiert. Die Zeremonie beginnt mit den Worten des Räuberhauptmanns Bayerseppl: Wir sind uns dessen eingedenk, daß du bestahlst den Grafen Schenk. Wir kennen deine Taten mit jenen Golddukaten. Drum, unter diesem Baldachin, salb ich dich zur Königin. 283 Sie endet mit dem gemeinsamen Schwur: Die Schwarze Lies, die Gaßnerin, ist jetzo unsre Königin. Sie lebe lang, sie bleib’ gesund! Verflucht sei der Grafenhund! 284 Nur noch zynisch klingt der anschließende Kommentar: Das war der glänzende Höhepunkt im Leben der Schwarzen Lies. Ihr Gesicht strahlte vor Freude und aus ihrem lachenden Munde grinsten ihre spärlichen gelben Zähne. 285 Sie tanzte einen tollen Zigeunertanz, und ein wüstes Zechgelage begann. Die Gefangennahme der Lis wird zum Meisterstück des Grafen Schenk von Kastell, das ihm letztlich den Titel »Malefizschenk« einbringt 286 : Unter den Räuberbanden Oberschwabens wurde stark aufgeräumt. Sie verfingen sich in dem großen Netz, das Graf Schenk über den ganzen Osten des ehemaligen Herzogtums Schwaben gezogen hatte. (...) Und in der Mitte dieses gewaltigen Netzes saß Graf Schenk wie eine beutegierige Spinne und streckte seine Fangarme aus. Nur eine ganz gerissene Teufelsfliege wollte lange nicht ins Netz gehen, obwohl die Fäden fein und klug gesponnen wurden. Es war die Schwarze Lies, die Königin der Diebe. 287 Damit sie im Roman als Frau den Gegenpart des ›Malefizschenken‹ spielen kann, darf ihr keiner der männlichen Gauner den Rang ablaufen; sie ist also mindestens so verrucht und gefährlich wie diese. 288 Diese Grenzüberschreitung wird durch das Anlegen von Männerkleidung und eines falschen Bartes markiert. Folgerichtig zeigt sich die Lis auch im Gefängnis und noch auf dem Weg zur Hinrichtung frech und unverschämt bis zu ihrem letzten Atemzug. 289 Nicht einmal den Geistlichen verschont sie mit ihrem ätzenden Spott. Entsetzt flieht er vor des Teufels Großmutter; aus der Zelle aber wieherte das höhnische Lachen des verruchten Weibes. 290 Den Tod der ›Königin der Diebe‹ durch das Schwert begleitet schließlich der Schrei eines Bussards. 291 8. Schluß Am Ende bleibt eher der Schrei des Bussards als eine richtige JaunersGeschichte: Die beiden Erzgaunerinnen erfahren, so haben wir gesehen, keine eigenständige Überlieferung. Die eine überlebt allein an der Seite des Mustergauners Konstanzer Hans; die andere dagegen als wilde, wendige und aggressive Jagdbeute und -trophäe des Malefizschenken. 283 Ebd., 115. 284 Ebd., 116. 285 Ebd., 117. 286 Ebd., 146. 287 Ebd., 137f. 288 Ebd., 158f. 289 Ebd., 159. 290 Ebd., 146. 291 Ebd., 160. Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ 799 Die Gaunerinnen des 18. Jahrhunderts, die zwar von den Zeitgenossen als weniger gefährlich und gewaltbereit eingeschätzt wurden als vergleichbare Männer, die aber dennoch in großer Zahl und an prominenter Stelle in den Gaunerlisten zu finden und auf den Richtstätten des deutschen Südwestens öffentlich zu sehen waren, finden keinen Weg in die Räuberliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Am Ende des 18. Jahrhunderts, zu einem Zeitpunkt, an dem man sich im aufklärerischen Interesse für die Ursachen von Kriminalität und die Biographien von Verbrechern zu interessieren beginnt, werden die oben beschriebenen Frauen ihrer eigenen Biographie entkleidet. Nur in wenigen Fällen, wie den oben beschriebenen, reicht die Überlieferung überhaupt noch über das weitgehend entpersonalisierte, seltsam zeitlose, stilisierte und schematisierte Bild der ›Räuberbraut‹ hinaus, die immer eine Randfigur des Geschehens bleibt. Eine genauere Untersuchung dieses Prozesses könnte interessante Einblicke in die Psychologie bzw. Anthropologie der beginnenden Moderne und die mit ihr verbundenenVorstellungen von den Geschlechtern und vom Geschlechterverhältnis erbringen. Problematisch erscheint die Tatsache, daß die Gaunerinnen in der älteren und zum Teil auch der neueren historischen Forschungsliteratur so auffällig Züge dieses literarischen Bildes der Räubergeliebten tragen. Daß die realen Gaunerinnen keine bloßen Statistinnen im (männlichen) Räuber- und Gaunerleben waren, konnten bisher und können auch weiterhin nur Rekonstruktionen des Lebens konkreter Gaunerinnen und Gauner zeigen. Sind die biographischen Skizzen, die am Anfang dieser Betrachtungen standen, nun aber bessere, grundsätzlich andere Geschichten als die zuletzt gehörten? Mancher wird die Archivgeschichten enttäuschend finden, bleiben sie doch brüchig, lückenhaft und widersprüchlich. Dennoch haben sie mindestens drei entscheidende Vorteile: Erstens lassen sie, soweit dies mittels der Quellengattung Gerichtsprotokoll möglich erscheint, die Gaunerinnen und Gauner selbst zu Wort kommen. Dies ist deshalb wichtig, weil es letztlich allein ihr Sprechen über sich selbst und über andere war, das es ermöglichte, Gaunerinnen und Gauner zu überführen und ihnen somit eine in den Quellen faßbare Identität und Biographie zu verschaffen. Die Behörden waren nicht in der Lage, ohne derartige Anhaltspunkte zu ermitteln. Das bedeutet zugleich, daß die Erinnerungskultur der Gaunerinnen und Gauner »an dem Mythos um das Diebesleben mitgewoben (hat), denn die glorreicheren Taten verdeckten die alltäglichen Erfahrungen« 292 von Leid und Entbehrung. Zweitens können biographische Studien, die auf die Quellen zurückgehen, ihre ProtagonistInnen in ihren sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontexten sehen. Sie können sie in ihrem Personenumfeld einordnen und sie so der oben beobachteten Gefahr der Isolierung und Stilisierung zu Einzelpersonen oder Ausnahmefiguren entziehen. 293 Sie zeigen Gaunerinnen und Gauner in einem Beziehungsnetz, das bis in die seßhaften Unterschichten hineinreicht. 294 Drittens versuchen derartige Biographien, die Delinquenz der Gaunerinnen und Gauner konkret zu benennen und sie zu kontextualisieren. 295 Indem sie auf die Praxis der Gauner-, Räuber- oder Bandenkriminalität einen genaueren Blick werfen, arbeiten 292 Rublack: Magd, Metz’ oder Mörderin (wie Anm. 13), 182. 293 Vgl. Habermas: Geschlechtergeschichte (wie Anm. 13), 489. 294 Kienitz: Frauen zwischen Not und Normen (wie Anm. 17), 48. 295 Z.B. Blauert: Sackgreifer (wie Anm. 22). Eva Wiebel 800 sie an einer De(kon)struktion oder Entmythisierung der Vorstellungen vom »Räuberleben«. 296 Belohnt wird man dafür mit Geschichten, die einen in ganz anderer Weise zum Lachen bringen oder einen tief erschrecken lassen als die landläufige Räuber- und die ältere Forschungsliteratur. Man stößt im Archiv auf Texte, von denen man - in den Worten Michel Foucaults - nicht weiß, »ob die Intensität, die sie durchquert, mehr am Aufblitzen der Wörter liegt oder an der Gewalt der in ihnen sich überstürzenden Tatsachen. Einzigartige Leben, die - ich weiß nicht, durch welchen Zufall - befremdende Gedichte geworden sind«. 297 296 Wolfgang Seidenspinner: Offensive der Ausgegrenzten? Jauner und Räuberbanden in der frühen Neuzeit, in: Otto Borst (Hg.): Minderheiten in der Geschichte Südwestdeutschlands, Tübingen 1996, 73 - 90, v. a. 83, 86. 297 Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 4 (1982), 41 - 57, hier: 41. 801 Otto Ulbricht Rätselhafte Komplexität: Jugendliche Brandstifterinnen und Brandstifter in Schleswig- Holstein ca. 1790 - 1830 »Feuer ist eines der faszinierendsten Elemente« 1 , Brandstiftung ein faszinierend vielschichtiges, komplexes Phänomen. Feuer, von Menschen vorsätzlich entfacht, kann vieles bedeuten; es kann Ausdruck von kollektiven Spannungen sein, aber auch von ganz individuellen Nöten. Es kann offenes Kampfmittel sein, so in spätmittelalterlichen Fehden, oder geheimnisvolle, mit Verschwörungsgerüchten verbundene »Mordbrennerei« in Zeiten großer Spannung, so im 16. Jahrhundert. 2 Es kann apokalyptische Untergangsvisionen hervorrufen, wie der Brand des eroberten Magdeburg im Dreißigjährigen Krieg, aber auch Zeichen für ungebrochenen Widerstand sein, wie das brennende Moskau 1812. Brandstiftung kann ein Mittel sein, sich von unerträglichen inneren Spannungen zu befreien, aber auch von drückenden wirtschaftlichen Sorgen, nämlich durch Versicherungsbetrug. 3 Immer wieder dient sie als Waffe und Fanal im ureigensten Sinne: Im Kampf gegen das Eindringen des Maschinenwesens in die Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England; im ausländerfeindlichen Vorgehen Rechtsradikaler, in den Brandanschlägen. Nicht nur sie finden sich in der Presse; auch das Zündeln von Kindern macht bei entsprechend großem Schaden noch Schlagzeilen, allerdings nur in den Regionalzeitungen, ebenso wie Serienbrandstifter dort für Aufregung sorgen. Auf dem Lande gehörten Brände zu den dramatischen Katastrophen, die die Zeitgenossen in ihren Bann zogen. Aus dieser breiten, jedoch keineswegs vollständigen Palette nimmt dieser Beitrag eine Gruppe heraus, die durch die Zeit, das Lebensalter und das Geschlecht charakterisiert ist. 4 Sie weist noch ein weiteres Kriterium auf: Es ist eine historische Form der Brandstiftung; es gibt sie heute nicht mehr. Die Anregung zur Beschäftigung mit diesem Thema kam mir bei der Arbeit mit Kriminalakten zu einer anderen Problematik. Nebenbei fiel mir auf, daß als Brandstifter am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts des öfteren Mädchen auftauchen. Das entsprach nicht meinen Kenntnissen, denn durch Regina Schultes Buch wußte ich, daß nur etwa 11% der Brandstifter (14 von 121 in ihrem Fall) Frauen waren. Brandstiftung war also im Bayern des Kaiserreichs ein eindeutig männlich dominiertes Delikt. 5 Und es war ein Delikt von Erwachsenen. Kinder und Heranwachsende kommen in dem 1 Iris Dauner: Brandstiftung durch Kinder. Kriminologische, kinderpsychiatrische und rechtliche Aspekte, Bern/ Stuttgart/ Wien 1980, 9. 2 Vgl. Robert W. Scribner: The Mordbrenner Fear in Sixteenth Century Germany: Political Paranoia or the Revenge of the Outcast? in: The German Underworld, ed. by Richard Evans, London and New York 1988, 29-56; Monika Spicker-Beck: Räuber, Mordbrenner, umschweifendes Gesind. Zur Kriminalität im 16. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau 1995, bes. 95ff.; Penny Roberts: Arson, conspiracy and rumour in early modern Europe, in: Continuity and Change 12 / 1 (1997), 9-29. 3 Vgl. Hinrich Kruse: Fürpüster. Das Brandstifterunwesen im Volksmund der Heimat, Neumünster 1955, 9f. 4 Dazu allgemein Robert Mischkowitz: Von der »gährenden Unreife der Jugend«. Das Thema Alter, Geschlecht und Kriminalität im Spiegel kriminologischer Betrachtungen, in: Monatsschrift Kriminalität 78 (1995), 165-181. Otto Ulbricht 802 bayerischen Sample nicht vor. 6 Ich beschloß daher, mir die Sache für den genannten Zeitraum einmal etwas genauer anzusehen. Die ersten Ergebnisse und Überlegungen möchte ich hier präsentieren. 7 Beginnen wir mit der Statistik, die die Jahre 1787-1829 umfaßt. 8 Mein flüchtiger Eindruck erwies sich im großen und ganzen als richtig: 32 Brandstifter in den Herzogtümern Schleswig und Holstein zwischen 1787 und 1830 waren Jugendliche 9 , und von diesen waren wiederum zwei Drittel (22) weiblichen Geschlechts. 10 Auch wenn es sich hier um absolute Zahlen handelt, kann es keinen Zweifel über den erstaunlich hohen Anteil an weiblichen Jugendlichen geben, ein Anteil, der von der Normalverteilung der Kriminalität auf die Geschlechter deutlich abweicht. 11 Es handelte sich bei den Tätern 5 Vgl. Regina Schulte: Das Dorf im Verhör, Reinbek 1989, 42f. Vgl. dies.: Feuer im Dorf, in: Heinz Reif (Hg.): Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1984, 101f. Weitgehend identisch mit dem zuerst zitierten Text. 6 Vielleicht hängt das damit zusammen, daß in Bayern das Gesinde »immer noch eine tendenziell vagierende Bevölkerungsgruppe« war und die Tagelöhner dort zu den Bauern gehörten. Vgl. Schulte, Dorf, 46 und 54. 7 Vorüberlegungen finden sich in Otto Ulbricht: Kriminelle Frauen in der Frühen Neuzeit: Brandstifterinnen, Hausdiebinnen und Kindsmörderinnen, in: Elke Imberger (Hg.): »Der Stand der Frauen, wahrlich, ist ein harter Stand«. Frauenleben in Spiegel der Landesgeschichte, Schleswig 1994, 27-45. 8 Zu den Grenzen eines quantitativen Ansatzes: Benoît Garnot: Quantitatif ou qualitatif? Les incendaires au XVIII siècle, in: Revue historique 286 (1991), 43-45. Garnot geht es hauptsächlich um eine Erweiterung der Untersuchung von Brandstiftungen in mentalitäts- und sozialgeschichtlicher Hinsicht (soziale Funktionen der Brandstiftung). In diesem Zusammenhang sei noch angemerkt, daß es m.E. unbestreitbar ist, daß bei der Brandstiftung das Problem nicht in der Quantität, sondern in der Qualität des Verbrechens und seiner Folgen liegt. − In der Darstellung habe ich einmal auch auf einen Fall außerhalb dieses Zeitraums zurückgegriffen, um das ganze Spektrum der Ursachen aufzuzeigen. 9 Die Frage ist natürlich, wie man Jugend definiert. Man könnte sagen: vom Ende der Kindheit bis zur Heirat, weil sich erst dann der sozialrechtliche Status grundsätzlich verändert. Dann fallen Jugend, etwa von 15 bis 29 Jahren, und Gesindedienst weitgehend zusammen. Vgl. Michael Mitterauer: Gesindedienst und Jugendphase im europäischen Vergleich, in: GG 11 (1985), 177-204. Ich habe hier das Alter auf die Unter-Zwanzigjährigen begrenzt, vor allem weil die Motive bei älteren ledigen Frauen in der Regel anders liegen, häufig z.B. mit der Beziehung zu Männern zu tun haben. Strafrechtlich bildet bekanntlich das erreichte 14. Lebensjahr eine Grenze. − Ein hoher Anteil von jungen Brandstiftern (bis 25 Jahre einschließlich) wird auch heute immer wieder festgestellt, vgl. z.B. Alexander Engelhardt: Die Brandstiftungskriminalität im Landgerichtsbezirk Oldenburg (OLDB) in den Jahren 1946-1958, Diss. jur., Bonn 1962, 77; Stephan Bruch: Vorsätzliche Brandstiftungen. Ein Beitrag zur strafrechtlichen Regelung dieser Delikte unter besonderer Berücksichtigung historischer, kriminologischer und kriminalistischer Aspekte, Frankfurt (Main) 1983, 102. 10 Da der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtzahl der Brandstiftungen ohne statistische Bereinigungen schwierig zu bewerten ist, da es eine ganze Reihe von Versicherungsbetrügereien gibt, an denen meist mindestens zwei Personen beteiligt waren, und dazu noch von Banden verübte Brandstiftungen − dabei hatte eine Bande allein neun Mitglieder − , habe ich darauf verzichtet, diesen Anteil exakt zu berechnen. Die Zahl der erfaßten Prozesse bzw. Anzeigen betrug 89 für den Zeitraum 1786-1829. 11 Vgl. Otto Ulbricht: Einleitung. Für eine Geschichte der weiblichen Kriminalität in der Frühen Neuzeit oder: Geschlechtergeschichte, historische Kriminalitätsforschung und weibliche Kriminalität, in: Ders. (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995, 17-21; Robert Jütte: Geschlechtsspezifische Kriminalität im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 108 (1991), 86-116. Schulte schüttet Spott und Hohn über die Psychiatrie aus, die sich, wenn sie Brandstiftungen durch Dienstmägde thematisiere, mit einem Verbrechen beschäftige, das es gar nicht gegeben habe. Sie spricht davon, daß »die Generalisierungen in den einzelnen Schriften jeder Statistik Hohn sprechen« und daß »der Anteil von Frauen und Mädchen laut Kriminalstatistik unter Brandstiftern relativ gering ist« (Dorf, 108, Kursivsetzung von mir; ein Nachweis fehlt bei Schulte). In der Tat: Heute ist er nicht nur gering, sondern vernachlässigenswert; nur von den gegenwärtigen Verhältnissen reden die Psychiater nicht. Zur starken Vertretung von weiblichen Jugendlichen Georg von Mayr: Statistik der Gesellschaftslehre, Bd. 3, Tübingen 1917, 753. Rätselhafte Komplexität 803 in der Regel um Dienstmägde oder Dienstjungen im Alter von 11 bis 19 Jahren 12 , die aus der ländlichen Unterschicht kamen. Sie hatten entweder eine Scheune oder das Wohnhaus ihrer Dienstherrschaft in Brand gesteckt bzw. es versucht. Diese Gebäude standen in der Regel in Dörfern, nur zweimal gingen Gebäude in Städten in Flammen auf. Es handelt sich also um ein ländliches Phänomen, wie in Bayern. Aber sonst hatte die Brandstiftung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Herzogtümern ein ganz anderes Gesicht als in Bayern am Ende dieses Zeitraums. Wenn es sich in der Regel um Dienstmägde und -jungen aus der ländlichen Unterschicht gehandelt hat, dann ist es sinnvoll, diese beiden Charakteristika - soziale Herkunft und Beschäftigung - zu einer ersten Einordnung der Erscheinung zu nutzen. Die Herkunft aus der ländlichen Unterschicht − als Tätigkeit der Väter wird häufig Tagelöhner, Arbeitmann oder Heuerinste angegeben − erklärt das niedrige Alter einer ganzen Reihe von Brandstifterinnen: Es steht für die Existenznot ihrer Familien. 13 Zieht man noch weitere Studien heran, so erkennt man leicht, daß die Jugendlichen durch ihre Herkunft aus der ländlichen Unterschicht genau zu den bisherigen Ergebnissen über die soziale Zugehörigkeit passen: Brandstiftung ist danach als ein typisches Vergehen von Unterprivilegierten zu charakterisieren, zum großen Teil ausgeübt von Armen (Tagelöhnern und Bettlern) und Angehörigen von Minderheiten (Geistesgestörten), wie eine französische Studie feststellt 14 , oder von »Schwachen und Erniedrigten«, wie es in einer kriminalistischen heißt 15 . Damit wäre allerdings nur eine Gemeinsamkeit auf der Makro-Ebene gewonnen, die die Täter in der Vergangenheit mit denen in der Gegenwart verbindet. Betrachtet man die Arbeitsorganisation von dieser Seite, so kann man den Wandel des Delikts erklären und auch teilweise den männlichen Charakter von Brandstiftung heute. 16 Mit dem Verschwinden des Gesindedienstes - 1740 in den Herzogtümern gesetzlich eingeführt - und seiner Nachfolgeformen nach dem Zweiten Weltkrieg wird auch das Verschwinden dieses spezifischen Delikts erklärt. 17 Die Brandstiftung von Kindern und Jugendlichen wurde zu einer Angelegenheit des männlichen Geschlechts. Will man sich näher mit dem Gegenstand befassen, so liegt es also nahe zu fragen, welche besonderen Konflikte sich aus der spezifischen Form der Arbeitsorganisation im Alten Europa, dem Gesindedienst, ergaben, welche Konfliktzonen sich in dem Verhältnis zwischen Herrschaft und Gesinde zeigen und welche Bedeutung die Betroffenen den Konflikten um Arbeit und Ausbeutung, um Autorität und Gehorsam und um Ehre und Gerechtigkeit zumaßen. Nimmt man dann, was naheliegt, den ganzen Diensthaushalt unter die Lupe, so treten gleich noch ein paar andere Problemfelder in den Blick, die sich aus der Binnenstruktur des Hauses ergeben. Die Beziehung der Täterin zum sozialen Umfeld, sprich zum Dorf, ist logischerweise der nächste Bereich. 12 Zur Altersbegrenzung vgl. Fn. 7. 13 Vgl. Mitterauer: 188. 14 Vgl. André Abbiateci: Les incendiaires devant le Parlement de Paris: essai de typologie criminelle (XVIII e siècle), in: Crimes et criminalité en France sousL’Ancien Régime, Paris 1971, 15. 15 Ksenija Korbar und Zivojin L. Aleksic: Geistig gestörte Brandstifter, in: Kriminalistik 21 (1967), 582; die Autoren halten Brandstiftung in dieser Beziehung für ein »weibliches« Verbrechen. 16 Zahlen für 1993 bei Stephanie Mathes: Brandstiftung − eine Arena flammender Gefühle? , in: Heidi Möller (Hg.): Frauen legen Hand an, Tübingen 1996, 83. 17 Um so mehr erstaunt es, daß es in Bayern schon am Ende des 19. Jahrhunderts keine Delikte dieser Art mehr gegeben haben soll. Otto Ulbricht 804 Mit diesen Untersuchungen kann man die Taten zu einem Teil verständlich machen, aber eben nur zu einem Teil. Will man solche Brandstiftungen jedoch noch besser verstehen, dann muß man die Perspektive der objektiven Verhältnisse verlassen und den Blick auf die Subjekte richten, indem man z.B. fragt, was der Eintritt in einen fremden Haushalt für die Jugendlichen damals bedeutete, welche Folgen die Lockerung der Verbindung mit der eigenen Familie hatte, wie sie das Hineingestellt-werden in eine andere Hierarchie verkrafteten, welche neuen Konstellationen sich im Haushalt ergaben − um nur einige Fragen aufzuwerfen. Eine solche Perspektive läßt dann sofort zusätzliche Faktoren ins Gesichtsfeld treten: das Verhältnis zum Elternhaus, die Rolle von dort anerzogenen Normen und die Bedeutung von Übergangsschwellen im Leben von Jugendlichen. So wird schnell deutlich, daß die Beschäftigung mit Problemen kriminellen Verhaltens Fragen aufwirft, die sonst kaum gestellt werden, deren Wichtigkeit aber unbestreitbar ist, zumal sie sich für einen großen Teil der Kinder und nicht nur für die Brandstifterinnen und -stifter stellen. Das Problem der eigenartigen geschlechtsspezifischen Verteilung und das Rätsel motivisch völlig unklarer Taten treiben die Untersuchung anschließend in weitere, neue Felder. Bei der vertieften Beschäftigung mit dem Phänomen zeichnen sich bald zwei Probleme ab. Das eine besteht in der Komplexität der Fallgruppe. Man bemerkt rasch, wie unterschiedlich die Fälle sind; meistens sind es nur ein paar Fälle, die man zusammen betrachten kann. Hinter der gleichen Arbeitsorganisation und der gleichen Herkunft verbergen sich ganz unterschiedliche Täterinnen und Täter, Motive und Tatbestände (vom Versuch der Brandstiftung bis zum mehrfachen Feuerlegen); und selbst die Schadenshöhe variierte erheblich. Daraus ergibt sich für das folgende: Man muß nicht nur, wie meistens, auf eine Reihe von Faktoren hinweisen, die das Verbrechen erklären, sondern auch auf mehrere nebeneinanderstehende Erklärungen. Eine einzige Erklärung für diese Gruppe von Brandstiftungen gibt es nicht. Doch damit nicht genug. Auch der einzelne Fall ist häufig ausgesprochen vielschichtig − jedenfalls wenn man sich nicht mit der Oberfläche zufriedengeben will. Besonders bei den Motivangaben wird man hellhörig. Margaretha Beuwig kam mit den Gleichaltrigen am Dienstort nicht zurecht; durch das Feuer, das sie legte, brannte das halbe Dorf ab. 18 Abgrundtief erscheint die Kluft zwischen Tat und Motiv. Man wird sofort konfrontiert mit der Frage: Soll man dem vorgebrachten Motiv Glauben schenken? 19 Die Herausforderung wird noch größer (bzw. die Resignation, je nach Temperament), wenn die Täterinnen kein Motiv angeben, wie z.B. Anna Christina Mohr. Im Jahre 1800 steht die 15jährige plötzlich vom Mittagstisch auf, legt Feuer und kommt an den Tisch zurück mit dem Ruf, es brenne. Vor Gericht gestellt, kann sie kein Motiv nennen. In ihrer völligen Hilflosigkeit schreibt die Obrigkeit ihre Tat dem Leichtsinn zu. 20 Man steht vor einem Rätsel. Soll man das Fehlen einer Angabe für bare Münze nehmen oder als Unfähigkeit, eventuell vorhandene Antriebe zu artikulieren, oder vielleicht als Verschweigen aus Scham bzw. Angst vor einem Tabubruch? Gerade diese Rätselhaftigkeit angeblich motivloser Brandstiftungen, die es auch heute noch gibt, ist in der Gegenwart 18 Landesarchiv Schleswig (=LAS), Abt. 65.2, Nr. 326 II (Riese 1813). 19 Die Banalität der angegebenen Motive betont besonders (und zu Recht) Franz Streng: Brandstiftung und Sexualität, in: Sexualität und soziale Kontrolle, hg. von Henner Hess, Udo Störzer und Franz Streng, Heidelberg 1978, 42-44. 20 LAS, Abt. 65.2, Nr. 324 I, Stellungnahme des Holsteinischen Obercriminalgerichts, Glückstadt, 19. Febr. 1802. Ich nehme diesen Fall unten noch einmal auf. Rätselhafte Komplexität 805 das Einfallstor für die unterschiedlichsten Interpretationen. Sie war es auch damals bereits im Verhör, wo den Taten oft eine Rationalität übergestülpt wurde, die sich in den ersten Aussagen der Täterinnen nicht finden läßt. Will man nun nicht die Waffen strekken und sagen, hier sind die Grenzen menschlicher Einsicht und menschlichen Verständnisses erreicht, dann stößt man bei dem Versuch, noch tiefere Schichten aufzudecken, unweigerlich auf das Gebiet der Affekte, des irrationalen Verhaltens. Gefühle und innere Befindlichkeiten werden nun aber bekanntlich in Gerichtsakten nur ganz selten zur Sprache gebracht, und die Wahrscheinlichkeit, auf solche explizit zu treffen, wird noch geringer, wenn man, wie ich in diesem Fall, mit Obergerichtsakten arbeiten muß. 21 Grenzüberschreitungen in Richtung Psychologie und Psychoanalyse sind deshalb gefährlich. Selbst wenn man nur ein kleines Stück in diese Richtung geht, muß man sich bald auf Hypothesen beschränken, wie an einem wichtigen Punkt dieses Beitrages klar werden wird. I Ein sehr häufig anzutreffendes und auch angegebenes Motiv für die Brandstiftung war der Wunsch, ins Elternhaus zurückzukehren. So gab z.B. Margaretha Grimm als Grund für ihre die Brandstiftung an, sie habe es gethan, weil sie im Dienst nicht länger habe sein mögen, und sie nach Hause gewollt, und Ida Magdalena Margaretha Eggert nannte im Jahre 1800 als Bewegursache zu dieser That den Wunsch (...), wieder zu ihrer Mutter zurückzukehren. 22 Aber dieses mit schöner Regelmäßigkeit angeführte Motiv verdeckt leicht mehr, als es enthüllt, wenn man es sich nicht genauer ansieht. Genau besehen besteht es nämlich aus zwei Teilen: Der Beendigung des Dienstverhältnisses und der Rückkehr zu den Eltern. Also können die Ursachen im Dienstverhältnis liegen und der Wunsch, nach Hause zurückzukehren, daraus folgen, oder der Diensthaushalt spielt keine Rolle, und es ist die Trennung von den Eltern, die das eigentliche Motiv darstellt. In der Sprache der Quellen: Die Heranwachsenden wollten entweder in erster Linie aus dem Haus oder in erster Linie zurück ins Elternhaus. In jedem Fall war aber die Beendigung des Dienstverhältnisses notwendig, und mit dem Feuerlegen sollte sie erreicht werden. Darum kreisten denn auch die Gedanken der Heranwachsenden. Während also in Bayern am Ende des Jahrhunderts Höfe in Flammen aufgingen, weil das Gesinde vorzeitig entlassen worden war, wollten die Jugendlichen in Schleswig und Holstein am Anfang des Jahrhunderts mit dem Feuerlegen gerade die vorzeitige Entlassung erreichen. Und das hieß: Die Dienstherrschaft mußte so geschädigt werden, daß sie nicht mehr in der Lage war, Gesinde zu halten. In den indirekt wiedergegebenen Worten der 16jährigen Margaretha Grimm: Sie habe dieß [die Brandstiftung], als das einzige Mittel angesehen aus dem Hause zu kommen, und würde es nicht gewählt haben, wenn sie ein anderes Mittel gewußt hätte. Sie habe nämlich geglaubt, daß alsdann ihre Dienstherrschaft keine Leute würde halten können und die Ehefrau die Wartung des Kindes selbst würde übernehmen müßen und sie nicht mehr nötig gehabt. 23 21 Die Untersuchungsakten sind in den wenigsten Fällen erhalten. 22 LAS, Abt. 65.2, Nr. 325 III, Vortrag aus den Untersuchungs=Acten, Glückstadt, 14. Juli 1820; ebd., Nr. 324 II, Allerunterthänigste Vorstellung vom 12. Aug. 1803. 23 Ebd., Nr. 325 III, Vortrag aus den Untersuchungs=Acten, Glückstadt, 14. Juli 1820. Otto Ulbricht 806 In einer gewissen Zahl von Fällen war es schon die Trennung von den Eltern und der Eintritt in einen neuen Haushalt, die die Tat auslösten. Die Quellen lassen uns zwar kaum direkt in die Psyche der Jugendlichen blicken, doch offensichtlich war der innere Widerstand gegen die elterliche Entscheidung, gegen den Übergang in die Welt anderer, fremder Erwachsener und die Erfahrung anderer, fremdbefohlener Arbeit überhaupt, die Erfahrung anderer Menschen und einer anderen Atmosphäre zu groß. Denn wenn wie in diesen Fällen das Haus des Dienstherrn bereits nach wenigen Tagen in Flammen aufging 24 , dann kann eigentlich nur die Trennung von den Eltern selbst und nicht das Verhalten der Dienstherrschaft die Ursache gewesen sein. 25 So wird denn auch nicht von schlechter Behandlung durch die Dienstherrschaft oder von Streitigkeiten berichtet, und wenn, dann wird dieser Vorwurf sogleich zurückgenommen. Dagegen liefern einige kleine Bemerkungen Hinweise auf eine emotionale Verunsicherung und auf eine Ablehnung der neuen Umgebung. Ein Mädchen sagte z.B., sie habe es nicht ertragen können, daß es in der Wohnung ihrer Dienstherrschaft und in dem Dorfe Grande sehr stille gewesen 26 − verständlich, wenn sie aus einem Haushalt mit vielen Kindern gekommen sein sollte, aber auch ein Zeichen von besonderer Sensibilität und ein Hinweis auf eine Vereinsamung. Zentral waren also die Trennung von den Eltern und die Unmöglichkeit, deren Entschluß auf die eine oder andere Art und Weise aufzuheben, was einige durchaus versuchten. Vorgeschobene Überforderung oder Krankheit, seltener kleine Hausdiebstähle taten manchmal ihre Wirkung, aber eben nicht bei den Brandstifterinnen. Margaretha Ossenbrügge glaubte ihr Problem zwei Tage nach Dienstantritt gelöst zu haben, als sie nämlich mit Genehmigung ihres Dienstherrn in den elterlichen Haushalt zurückkehrte. Doch wurde sie prompt am nächsten Tag von den Eltern zurückgeschickt. Andere Eltern − so die der drei Vorgängerinnen von Margaretha Grimm, die allesamt ihre Dienststelle verließen − bestanden nicht auf der Rückkehr ihrer Töchter in den Diensthaushalt. 27 Dies heißt, daß zwar nicht in allen, aber in einer Reihe von Fällen das Feuerlegen erst erfolgte, nachdem eine Reihe von anderen Lösungsmöglichkeiten versucht worden und gescheitert waren. Anders verhielt es sich jedoch bei Margaretha Grimm selbst, die gar nicht erst probierte, von ihrer Dienststelle wegzukommen: Sie habe es nicht gewagt, Reimers − ihren Dienstherrn − um Erlaubniß zu bitten, nach Hause zu gehen, weil sie gefürchtet, theils, daß er ihr dieß nicht bewilligen, theils daß sie bei der Rückkehr nach Hause, von ihrem Vater Schläge erhalten werde. 28 Heranwachsende Dienstmägde wie Margaretha Grimm befanden sich in einem Dilemma. Entliefen sie, so wurden sie zurückgeschickt; blieben sie, so setzte sich ihr als unerträglich empfundenes Leiden fort. Die Unmöglichkeit, durch Worte oder Taten eine Beendigung des Dienstverhältnisses bewirken zu können, ließ einen Teil der Heranwachsenden also zum Feuer greifen. Generalisierend gesprochen: Sie sahen sich einem Problem gegen- 24 Nach drei Tagen: Ida Maria Magdalena Eggert 1800; ebenso Antje Prigge 1805; nach weniger als einer vollen Woche Margaretha Ossenbrügge 1814. 25 Möglich ist allerdings auch eine sofortige emotionale Ablehnung der Dienstherrschaft. 26 LAS, Abt. 65.2, Nr. 326 I, Allerunterth. Vorstellung, 20. Jan. 1826, Fall Anna Carolina Rehbein (Grande 1818). 27 Vgl. LAS, Abt. 65.2, Nr. 325 III (Burg 1814 u. Rüstorf 1819). - Dies würde dagegen sprechen, daß die Eltern auf die Rückkehrwünsche ihrer Töchter anders reagierten als auf die ihrer Söhne. Die Frage, ob von ihnen nicht mehr Gehorsam verlangt wurde als von den Jungen, kann hier nicht beantwortet werden. 28 LAS, Abt. 65.2, Nr. 325 III, Vortrag aus den Untersuchungs=Acten, Glückstadt, 14. Juli 1820. Rätselhafte Komplexität 807 über, das sie mit ihren Mitteln nicht lösen konnten. 29 Als Heranwachsende verfügten sie nicht nur über weniger Strategien als Erwachsene, vor allem besaßen sie auch weniger Durchsetzungskraft als diese, und dazu noch weniger Einsicht in die möglichen Folgen. Was den Dienstherrn traf, war also gegen die Eltern gerichtet; genauer und richtiger: nur gegen einen bestimmten Beschluß der Eltern. Deren Handeln läßt sich leicht erklären: Meist in schlechter wirtschaftlicher Lage, ging es ihnen darum, einen Esser weniger am Tisch zu haben. Über den Ossenbrüggeschen Haushalt heißt es, daß dort Mangel herrschte; und der Vater von Lena Jenses machte sich nach der Tat Vorwürfe, daß er sie zu zeitig zum Dienen geschickt, um ihrer längern Versorgung überhoben zu seyn 30 . Bei Witwen mit Kindern war die Lage noch drückender. Der Konflikt zwischen zwingend notwendiger Existenzsicherung und unerläßlicher Berücksichtigung der Belastbarkeit des eigenen Kindes wurde in diesen Fällen zuungunsten des Kindes gelöst. Wenn die Mädchen manchmal von einem Familienmitglied ein Stück des Weges zu der Dienststelle begleitet wurden 31 , dann deutet das nicht nur auf Trennungsschmerz hin, sondern möglicherweise auch auf vorangehende Streitgespräche über den Dienst. Mit anderen Worten: Die Verweigerung der Rückkehr war auch eine Frage der Autorität. Für die Untersuchungsbeamten war die rein elternbezogene, emotionale Begründung dieser Taten häufig unverständlich; die Untersuchenden lebten noch nicht in einem von bürgerlicher Sensibilität und Emotionalität geprägten Zeitalter, auch wenn dieses sich am Ende des Zeitraums schon deutlich bemerkbar machte. Mit der Forderung, endlich die Wahrheit zu sagen, versuchten sie, den Mädchen und Jungen ein anderes, sozial weitaus verständlicheres Motiv zu entlocken: Rache für das Verhalten der Dienstherrschaft. Rache machte die Tat für die Gesellschaft nachvollziehbar, integrierte das häufig Rätselhafte in das sicher Gewußte und Bekannte. Angesichts der leichten Beeinflußbarkeit von Heranwachsenden kann es als ziemlich sicher gelten, daß dieses Motiv in den Akten überrepräsentiert ist. Das gleiche gilt für die manchmal erst ganz spät in den Aussagen auftauchende Habsucht − das Feuer, das jemand legte, um sich ein paar Kleidungsstücke anzueignen, war dem Gericht, das von der Mangelgesellschaft wußte, aber nicht in ihr lebte, verständlicher als der Wunsch, nach Hause zurückzukehren. Beides sind Motive, die des öfteren erst in der Interaktion von Verdächtigter und Gericht entwickelt werden; es sind nachträgliche Rationalisierungen. Erst ganz spät (und dann auch nur vereinzelt) taucht das »Heimweh«, die bürgerliche Interpretation dieser Taten, die gleichzeitig das Heim unterschwellig idyllisiert, in den Akten auf, eine Interpretation, die später in der Literatur manchmal zur Heimatsliebe und zum Heimatsdrang stilisiert wurde. 32 29 Dies stellt für Erwachsene fest Mathes: 95. 30 LAS, Abt. 65.2, Nr. 325 III, Aktenauszug und Gutachten, Glückstadt, 16. März 1815; ebd., Nr. 324 I, Allerunterthänigste Vorstellung vom 16. Jan. 1801. - Ob nur Entlastung angestrebt war oder auch grundsätzlich eine zusätzliche Verbesserung der Lage durch den Lohn der Tochter, läßt sich aus den Quellen nicht entnehmen, da nur im Einzelfall ein dem Trunk ergebener Stiefvater den Lohn an sich nahm. LAS, Abt. 65.2, Nr. 327 I, Allerunterunthänigste (so) Vorstellung, 14. Aug. 1829, Fall Catharina Margaretha Münster (Ostorf 1828). 31 Nachweisbar z.B. für Anna Carolina Rehbein (Grande 1818) und Margaretha Grimm (Rüstorf 1819). 32 Heinrich Többen: Beiträge zur Pychologie und Psychopathologie der Brandstifter, Berlin 1917, 73. Otto Ulbricht 808 II Richtet sich also in diesen Fällen die Brandstiftung gegen den elterlichen Beschluß, wenn auch nicht gegen die Eltern selbst, so ist es bei der nächsten Konstellation ganz anders. Dort zielt sie in erster Linie auf die Dienstherrschaft und erklärt sich aus der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, während das Dienstverhältnis als solches akzeptiert wird. Überforderung, Ausbeutung und ein Übermaß an körperlicher Züchtigung waren die Gründe, die zu Spannungen führten und auf Mittel und Wege sinnen ließen, dem Diensthaushalt zu entkommen. Während Ausbeutung durch den Vergleich mit anderen Verhältnissen objektiv beschrieben werden kann, ist Überforderung − gemeint ist hier nur die Überforderung im Arbeitsprozeß − als eine vornehmlich subjektive Kategorie zu verstehen, denn zu einer objektiven Beurteilung fehlen die Maßstäbe. Aus der Perspektive eines Vaters, der für seine Tochter um Verringerung ihrer Strafe bat, erfahren wir etwas über die Situation der 14jährigen Brandstifterin Rebecca Bodewaldt. Sie sollte laut Vertrag nur auf die Kinder des Dienstherrn aufpassen, was des öfteren die Hauptaufgabe für junge Mägde am Anfang ihrer Dienstzeit darstellte. Allein, so schreibt der Vater in seiner Bittschrift, sie wurde bald mit andern Arbeiten bebürdet, die ihr nicht zukamen und zu deren Ausrichtung sie kaum imstande war. 33 Als dann der ständige Streit mit einer anderen Dienstmagd hinzukam, ließ sie das Haus ihres Wirts in Flammen aufgehen. Manchmal kann man etwas mehr über die Überforderung erfahren, die dann um so glaubhafter wird. Lena Jenses brachte als Grund vor, daß ihr die Arbeit zu schwer wäre, und weil sie solche nicht praestiren könnte. Das läßt sich präzisieren, denn bereits vorher hatte sie sich darüber beklagt, daß sie die Kühe nicht melcken könne. Und bei genauer Lektüre erfahren wir noch den wahrscheinlichen Grund dafür: Sie war nämlich sehr klein gewachsen. 34 Ähnliche Gründe mögen auch bei einer anderen Täterin vorgelegen haben, die das Kind der Dienstherrschaft aus Mangel an körper(lichen) Kräften» nicht tragen konnte. 35 Maria Claus Tochter steht dagegen für einen eindeutigen Fall von Ausbeutung. Diese tritt in einem Lehrlingsverhältnis, wie es hier vorlag, deutlicher zu Tage als bei den Dienstmagdfällen, wo die Arbeit unangemessen ist, ist aber auch dort vorhanden. Maria Claus Tochter, eine 13jährige Halbwaise, war eine sogenannte Knüppeldirne in Nordschleswig, wo die protoindustrielle Beschäftigung des Spitzenklöppelns von Mädchen weit verbreitet war. Nach den Motiven für das Feuerlegen im Hause ihres Dienstherrn befragt, sagte sie, daß sie nur wenig zu Eßen bekommen könte − die Menge und Qualität des Essens bildeten einen ständigen Streitpunkt zwischen Gesinde und Dienstherrschaft − und fast alle Tage geprügelt würde, weil sie soviel als ihr vorgesetzt wäre zu knüppeln unmüglich zur gesetzten Zeit verfertigen könte, da sie täglich 15. Stunden, andere hingegen nur 10. Stunden zu knüppeln hätten, welches ihr in der Länge unmög[lich] auszuhalten gewesen. 36 Zuviel Arbeit und zu wenig Brot so könnte man die Aussage des Mädchens kurz zusammenfassen, und das noch für weitere zwei Jahre, denn erst vier Jahre der sechsjährigen Lehrzeit waren vorbei. Die im Textilbereich übliche genaue Festle- 33 LAS, Abt. 65.2, Nr. 324 I, Supplikation des Matthias Gabriel Bodewaldt, Tönning, 16. April 1792. 34 Landsarkivet for Sønderjylland, Aabenraa Amt; Nr. 319, 10. Nov. 1798. Ebenso wird Margaretha Johanna Joost (Curau 1825, 326 III) als ungewöhnlich klein von Körperu zartem Gliederbau geschildert. Zur Kleinwüchsigkeit von Brandstiftern Dauner,16. 35 LAS, Abt. 65.2, Nr. 326 III, Allerunterthänigste Vorstellung, 1. Juni 1827. 36 Ebd., Nr. 324 I, Summarisches Protokoll, Gram, 17. März 1744. Rätselhafte Komplexität 809 gung des Arbeitspensums 37 gab Maria Claus Tochter die Möglichkeit eines Vergleichs. Diese Aussagen wurden, das verwundert kaum, vom Dienstherrn bestritten, während das Mädchen bei einer zweiten Befragung fest auf ihnen beharrte. Sie machen mit Nachdruck auf einen wichtigen Aspekt des Feuerlegens aufmerksam, das eindeutig gegen die Dienstherrschaft gerichtet ist. »Brandstiftung setzte« nämlich, wie Regina Schulte formuliert hat, »nicht nur den Täter, sondern tendenziell auch das Opfer ins Unrecht.« 38 Das Feuer war dabei sehr effektvoll für die öffentliche Schuldzuschreibung. Denn die Nachbarn, die herbeigelaufen kamen, um zu löschen, stellten anschließend zwei Fragen: Wer hat es getan − das war häufig sofort klar − , und vor allem: Warum hat sie es getan? Feuer als indirekte Anklage des Dienstherrn: Diese Interpretation trifft auch für den nächsten Aspekt zu, nämlich die übertriebene Züchtigung durch den Dienstherrn, die eben gerade zum ersten Mal erwähnt worden ist. Claus Reimers war 1813 während der vier Wochen seiner Dienstzeit viermal geprügelt worden. 39 Aber es war wohl nicht die Körperstrafe selbst, sondern die Art und Weise, wie sie vollzogen wurde, die weit mehr verletzte als der körperliche Schmerz. Einmal gab es Hiebe mit der Peitsche, die ja doch eigentlich für die Pferde gedacht war; ein anderes Mal hatte der Dienstherr dem fast sechzehnjährigen Jungen die Beinkleider (...) niedergelassen, ihm dann den Kopf zwischen seine Beine gedrückt 40 ihn also entblößt und ihn mit einem Besen geschlagen, einem Instrument, das man sonst zum Zusammenkehren von Dreck benutzt. Aus anderen Zusammenhängen, z.B. Ehekonflikten, wissen wir, daß gerade die Überschreitung einer vorgestellten Grenze zwischen Mensch und Tier 41 , wie hier durch den Gebrauch der Peitsche, zum Widerstand herausforderte. Claus Reimers jedoch ärgerten eine Ohrfeige und das Zwicken an den Ohren besonders, zwei Bestrafungen, für die er keine Begründung bekommen hatte. Der Junge war sicherlich ein schwer erziehbarer Heranwachsender, wovon der Dienstherr gehört haben dürfte. Doch entsprachen die Anlässe keineswegs der Strafe; bezeichnenderweise wurde die Prügelei des Dienstherrn auch von Zeugen kritisiert. Nun könnte man sagen, daß dem Dienstherrn das Züchtigen gesetzlich zustanden habe, und es sich hier nur um die Überschreitung einer Norm gehandelt hat. Aber der Blick auf die ferne Rechtsnorm verhindert die scharfe Beobachtung der Realitäten der Lebenswelt. Zwischen der Norm und den Schlägen besteht keine direkte Beziehung. Man kann, wenn man nur auf die gesetzliche Regelung sieht, die die Züchtigung von Gesinde erlaubte, wenn man den Blick nur auf Herrschaft und Unterordnung richtet, das Problem nicht voll erfassen. 42 Das Züchtigen war auch eine Angelegenheit zwischen dem Diensthaushalt und den Eltern des Jungen bzw. Mädchens. Mit anderen Worten: Die Frage des Züchtigens (und wahrscheinlich auch andere Punkte) wurden ausgehandelt. Die Väter besprachen das Verhalten in diesem Punkt mit dem Dienstherrn, gaben ihm z.B. aus- 37 Vgl. Jürgen Schlumbohm (Hg.): Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700-1850, München 1983, 69f. 38 Schulte: Dorf, 50. 39 LAS, Abt. 65. 2, Nr. 325 III, Relation in Untersuchungssachen wider Claus Reimers, Glückstadt, 21. Juli 1814. 40 Ebd. 41 Vgl. Rainer Beck: Frauen in Krise, in: Richard van Dülmen (Hg.): Dynamik der Tradition, Frankfurt am Main 1992, 184. 42 Gegen die Analyse mit dichotomischen Begriffspaaren Jacques Revel: Micro-analyse et construction du social, in: Ders. (Hg.): Jeux d’ échelles, Paris 1996, 28. Otto Ulbricht 810 drücklich die Erlaubnis zum Züchtigen 43 oder beschwerten sich auch manchmal nach Klagen des Heranwachsenden bei der Dienstherrschaft: Er, Inquisit habe sich zu seinem Vater begeben, sagt der geprügelte 14jährige Dienstjunge Michael Müller, der auch zu seinem Wirth gegangen sey u. diesem gesagt habe, er möge das Schlagen u. Kniffen laßen; sonst aber habe ihm sein Vater kein Recht gegeben und gesagt, daß er sich schikken solle. 44 Oder sie vereinbarten nach bereits aufgetretenen Schwierigkeiten mit dem Dienstherrn, nicht zu schlagen, sondern die Vorkommnisse zu melden. 45 Involviert waren also nicht nur zwei Personen, sondern auch zwei Familien. Damit kam es im Konfliktfall ganz wesentlich auf das Verhalten der Eltern an. Doch die Dienstherren und -frauen hatten aus zwei Gründen viele Möglichkeiten, die verabredeten Grenzen ungestraft zu überschreiten. Ein gewisser, kleiner Freiraum bestand, weil manchmal ein deutlicher sozialer Unterschied zwischen der Familie der Dienstmagd bzw. des Dienstjungen und der Dienstherrschaft bestand; ein großer, weil ein Teil der Kinder aus unvollständigen Familien kam, gelegentlich auch beide Eltern schon verstorben waren und dadurch ein krasses Ungleichgewicht herrschte. Wie sollte eine blinde Witwe ihrem Kind zu Hilfe kommen? Welcher Onkel trat schon genauso auf wie der Vater? Vielleicht haben die Kinder die Ohnmacht ihrer Familie gegenüber den Gesetzesübertretungen gespürt. Damit könnte in den Flammen auch ein diffuses, halbbewußtes Verständnis ihrer Hilflosigkeit angesichts der sozialen Lage ihrer Familie zum Ausdruck kommen. Zur Mißhandlung als Motiv noch zwei Bemerkungen: Es ist in erster Linie eine männliche Angelegenheit. Nicht daß es nur bei den männlichen Heranwachsenden vorkam; aber es wurde von praktisch allen männlichen Jugendlichen vorgebracht, die wegen einer Brandstiftung vor Gericht standen. Dazu kommt, daß auch die Schlagenden Männer waren. Wahrscheinlich ist nicht nur, daß die männlichen Jugendlichen öfter und härter geschlagen wurden; wahrscheinlich ist auch, daß es von ihnen als besonders ehrverletzend empfunden wurde. Zum anderen: Schimpfworte gingen natürlich oft mit dem Prügeln einher. Doch während die Öffentlichkeit für »Prügel« sensibilisiert war − die Gerichte fragten danach − , hatte Beschimpfung allein nicht den Status einer sozial verständlichen Erklärung. So versuchte denn auch nur eine Magd, die in extremer Weise als »alte Sau« 46 beleidigt worden war, sich auf diese Weise zu rechtfertigen. Ohne Zweifel geht es auf dem offensichtlich sensiblen Gebiet der Züchtigung auch um Ehre. Ehre und Gerechtigkeit spielen auch in Konfliktsituationen zwischen Dienstmagd und Dienstherrschaft eine bedeutende Rolle, stellen ein weiteres Spannungsfeld dar. Dabei konnte der Spannungszustand von der Dienstmagd selbst verursacht sein, nämlich wenn sie etwas gestohlen hatte, oder auch nicht, nämlich wenn einfach irgend etwas im Haushalt verlegt worden und nun unauffindbar war. Dann wurde häufig die Person verdächtigt, die fremd war und deren zentraler Arbeitsbereich im Haus lag. Der gegenseitigen Beschimpfung als Folge der berechtigten oder unberechtigten Verdächtigung folgte das Feuerlegen. War der Verdacht unberechtigt, so trieb das Gefühl der Un- 43 Beispiele: Margaretha Ossenbrügge (Burg 1814) und Engel Hellbergs (Ellerdorf 1803) sowie als Nicht- Brandstifter der Vorgänger von Michael Müller. 44 LAS, Abt. 65.2, 324 III. Allerunterth. Vorstellung der Schleswig-Holsteinischen Kanzlei, 22. Nov. 1809. 45 Ebd., Nr. 325 III, Relation in Untersuchungssachen wider Claus Reimers, Glückstadt, 21. Juli 1814. 46 Ebd., Nr. 325 II,Vortrag aus den Untersuchungsacten (1813); (Elisabeth Dorothea Westphalen, Oldenburg 1811). »Sau« war eines der schlimmsten Schimpfwörter um diese Zeit, vgl. David Warren Sabean: Soziale Distanzierungen. Ritualistische Gestik in deutscher bürokratischer Prosa der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 4 (1996), 232. Rätselhafte Komplexität 811 gerechtigkeit der Dienstherrschaft, der Ungerechtigkeit der Machtausübung, der die Ohnmächtigkeit der jugendlichen Magd gegenüberstand, dazu, das Haus oder die Scheune in Brand zu setzen. Die Verletzung der Ehre wurde also mit der Bedrohung des Eigentums beantwortet. War der Verdacht berechtigt, so ging es um die Vertuschung der Tat, oder, mit anderen Worten, um die Aufrechterhaltung des äußeren Scheins der Ehre. Die noch nicht zwölf Jahre alte Dienstmagd Catharina Elisabeth Franzen hatte 1797 bei einem Dienstbotengang eine Taschenuhr gestohlen, die ihre Dienstherrin ihr in ihrer Abwesenheit abgenommen hatte. Wie diese [die Dienstmagd] die Uhr vermißte, gerieth sie, um den Diebstahl zu verbergen, auf den sogleich ins Werck gesetzten Einfall, das Haus ihrer Brodherrschaft anzuzünden und es ward auch gänzlich in Asche gelegt. 47 Man kann hier zweierlei beobachten: einmal die kindliche Unfähigkeit von jungen Mägden zu erkennen, daß die Beseitigung des kleineren Übels nur ein noch weit größeres nach sich ziehen würde, also die auffällige Kurzsichtigkeit ihres Handelns, und zum anderen das Unvermögen, andere Problemlösungen zu finden. Interessanterweise meldeten die älteren Mädchen das Feuer ab und zu selbst, ihnen war also klar, daß es das ganze Dorf bedrohen konnte. Zum anderen verweist diese Tat auf eine typische Motivation für Brandstiftung bei erwachsenen Dienstboten, nämlich den Versuch, einen Hausdiebstahl zu vertuschen. 48 Die Binnenstruktur des Hauses wird nicht nur durch das Verhältnis Dienstherrschaft − Dienstboten geprägt, sondern es gibt hier auch Konfliktfelder zwischen den Kindern der Dienstherrschaft im Hause und den jugendlichen Dienstmägden und -jungen, wie es auch innerhalb des Gesindes eine Hierarchie und damit Anlaß zu Spannungen gab. 49 Bäuerliche Haushalte, in denen es zwei Dienstmägde und zwei Dienstknechte gab, jeweils mit deutlichen Altersunterschieden, waren recht häufig in Schleswig und Holstein. Des öfteren konnte die jüngere Dienstmagd die Behandlung durch die ältere nicht mehr ertragen. Der ständige Streit Rebecca Bodewaldts mit der älteren Dienstmagd ist bereits kurz erwähnt worden. Auf der untersten Stufe in der Haushierarchie stehend, waren die kleinen Mägde Zielscheibe für die Frustrationen der höheren, der älteren Dienstmägde. Diese Struktur ist aus anderen Sektoren der Gesellschaft gut bekannt, z.B. dem Handwerk, wo oft die Gesellen die Lehrlinge mindestens so schlecht traktierten wie die Meister die Gesellen. Rebecca Bodewaldt reagierte, als die ältere Magd sie auch noch mit der Feuerzange schlug. Ähnlich war die Situation bei Anna Margaretha Frahm. Neben ihr diente im Jahre 1807 eine größere Magd, Namens Dorothea Maria Siemens, (...) welche gerichtlich eingestanden, daß sie die Arrestatin wegen vorgeblicher Wiedersetzlichkeit, und nicht gehöriger Verrichtung der Arbeiten zweimal und zwar zulezt am Tage der Brandstiftung thätlich behandelt hätte 50 . Vor dem Hintergrund von Spannungen im Haushalt oder bei sonstigen Problemen wurden Frustrationen abreagiert, indem die noch weiter unten Stehenden verbal und körperlich mißhandelt wurden. Besonders wenn die jüngere Magd bei der Dienstherrschaft in Mißkredit geraten war, war die Ge- 47 Ebd., Nr. 324 I, Allerunterthänigste Vorstellung vom 5. Juni 1801. 48 Vgl. Frank McLynn: Crime and Punishment in Eigthteenth-Century England, Oxford 1991, 85; Lotte van de Pol und Rudolf Dekker: Frauen in Männerkleidern, Berlin 1989, 53. 49 Zu den Aufgaben und der Bezahlung von Mädchen und Jungen in der Gesindehierarchie auf der Basis einer Ordnung s. Silke Göttsch: Kinder als Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Industrie, in: Kinderkultur 25. Volkskundekongreß Bremen 1985, Bremen 1987, 78. 50 LAS, Abt. 65.2, Nr. 324 III, Supplikation des Detlef Thiesen Frahm, Hennstedt, 3. April 1810. Otto Ulbricht 812 legenheit dafür günstig. Die jüngeren Dienstmägde wußten aber sehr genau, wem das Recht zu schlagen zukam und wem nicht. Die kurzentschlossen ausgeführte Brandstiftung sollte die für sie unerträgliche Situation beenden. Das Feuer, das die Dienstherrschaft traf, klagte indirekt die ältere Dienstmagd an: Sie war schuld daran, nicht die Brandstifterin. Dies mag hinter dem Versuch gestanden haben, die Frustrationen, die Aggressivität abzureagieren. Trotzdem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß solche Streitigkeiten und Mißhandlungen manchmal nur der Auslöser für das Feuerlegen gewesen sind. Noch herabwürdigender war allerdings eine schlechte Behandlung durch gleichaltrige oder gar jüngere Kinder, die der herrschaftlichen Familie angehörten. Margarethe Grimm z.B. wurde 1819 von der achtjährigen Nichte des Dienstherrn ständig geschlagen und gekratzt. Beschwerden halfen nichts, denn dieses Kind wurde von ihrer Dienstherrin vergöttert. Drei andere Dienstmägde hatten ihretwegen schon den Dienst verlassen. Der Ratschlag ihrer Mutter, der Anna auf die Schnauze [zu] schlagen 51 , war im Grunde ein Verweigern von Hilfe, denn gewehrt hatte sie sich bereits und war dafür von der Dienstherrschaft heftig ausgescholten worden. Auch bei Jungen findet sich dieselbe Reaktion. Von dem Sohne seines Brodtherrn habe er, sagte der 13jährige Claus Hinrich Prieß, weil er die Kühe ins Korn gehen laßen, einige Schläge erhalten und darauf den Entschluß gefaßt, das Haus anzustecken. 52 Als die fast 18jährige Catharina Margaretha Münster, nach ihrem Motiv befragt, vorbrachte, daß sie von den Kinder[n], u. namentlich den Knaben, (...) oft geneckt, gescholten u. geschlagen worden sei, hielt ihr Dienstherr ihr entgegen, daß sie selber schuld daran sei, weil sie immer den Kindern hatte befehlen wollen 53 . Die Verdoppelung der Hierarchie durch die Kinder der Dienstherrschaft, die − aus der Perspektive der Betroffenen − falsche Ordnung im Hause, die Herabsetzung innerhalb ihrer eigenen Altersgruppe, die Unterordnung unter Gleichaltrige oder Jüngere, das war es, wogegen sie sich wehrten. Nicht nur die Binnenstruktur des Hauses spielte eine Rolle; selbstverständlich mußten die heranwachsenden Mädchen sich auch in die neue Gemeinschaft der Dorfjugend und des Dorfes überhaupt hineinfinden. Die oben erwähnte Anna Carolina Rehbein hatte die Stille in dem Dienstdorf nicht ertragen können, wie sie sagte. Diese Aussage verweist auf eine Charakteristik und Bewertung von (Nachbar-)Dörfern in den Köpfen der Mädchen und somit auf eine Rangfolge von mehr und weniger beliebten Dienstorten. Die Mädchen kamen also manchmal mit bestimmten Ansichten über ihren Dienstort in das neue Dorf und nahmen es auch auf eine ganz bestimmte Art wahr. So verwundert es nicht, daß Hinweise auf die Ablehnung der Dörfer, in denen sie dienten, auch bei anderen auftauchen. 54 Möglicherweise brachten sie aber auch Eigenheiten mit, die einer Integration im Wege standen, und die Dorfjugend folgte Spielregeln, die die Aufnahme von Fremden erschwerten, ganz besonders dann, wenn sie Besonderheiten aufwiesen. Beides könnte z.B. bei Margaretha Beuwig der Fall gewesen sein. Zwar wurde ihr im Hause selbst keine Ursache zur Unzufriedenheit gegeben, allein von den andern Mädchen und auch von den Knechten im Dorfe Riese wurde sie geneckt, wenn sie sich un- 51 Ebd., Nr. 325 III, Vortrag aus den Untersuchungsacten, Glückstadt, 14. Juli 1820. 52 Ebd., Nr. 325 I, Bericht und Bedenken, Glückstadt, 2. Dez. 1824. 53 Ebd., Nr. 327 I, Allerunterunthänigste Vorstellung, 14. Aug. 1829. 54 Margaretha Ossenbrügge sagt, daß sie bei Peter Struve - ihrem Dienstherrn - und überhaupt in Burg nicht gern geweßen. Ebd., Nr. 325 III, Actenauszug und Gutachten, Glückstadt, 16. März 1815. Rätselhafte Komplexität 813 ter ihnen befand. Dies verleidete ihr den Aufenthalt in diesem Dorfe. 55 Warum Margaretha Beuwig geneckt wurde, ist nicht herauszubekommen; klar ist jedoch, daß ihre Eigenheit an ihrem Heimatort bekannt und nicht mehr der Rede wert war, während sie ihr an dem neuen Ort mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, ja vielleicht erst richtig bewußt gemacht wurde. Was aus der Gerichtsperspektive ein nichtiger Grund war, stellte für die Betroffene ein ganz gewichtiges Problem dar. »Ganz allgemein zeigt sich«, so heißt es in einer hier relevanten Passage eines Handbuch-Artikels zur Brandstiftung, »daß die körperlichen und geistigen Gebrechen (...) den sozial Benachteiligten nicht nur häufiger das Opfer von Zurücksetzungen werden, sondern ihn auch schwerer eine sozial erträgliche Abreaktion der erlittenen Kränkung finden lassen.« 56 Ganz bestimmt trifft dies auch auf Claus Münster zu. Seine Klagen klingen wie der typische Gesinde- Beschwerde-Katalog: Schlechtes Essen, viel Arbeit, frühes Aufstehen, Prügel. Doch die Ursachen liegen wohl in erster Linie in seiner körperlichen Behinderung, die ihn zu schwerer Arbeit unfähig machte: In seinen ersten Lebensjahren war er das Opfer von Kindesmißhandlung geworden - beide Arme und ein Bein waren ihm gebrochen worden und schlecht verheilt 57 . Die Brandstiftung hat also auch Elemente eines »social crime«, 58 Elemente eines Protestes, der sich auf eine »natürliche« Gerechtigkeit, Würde und Gleichbehandlung bezieht und die Verletzung dieser informellen Normen hell leuchtend anprangert, Normen, die andere sind als die des (Straf-)Rechts: gleiche Belastung − keine Ausbeutung; alters- und menschengemäße, menschenwürdige Behandlung und Respektierung der Ehre, die auch ein heranwachsender Mensch besaß − keine Herabsetzung auf das Niveau eines Kindes oder von Tieren; Vollzug von Sanktionen durch die Herrschaft − nicht durch Personen, die sich Herrschaft anmaßten. Das waren die Werte, um dies es ging. All diese Elemente machen deutlich, warum das Erklärungsmuster »Rache« soviel Anziehungskraft hatte: Hierunter konnten sie alle zusammengefaßt werden, und zum Teil war es ja auch zutreffend. Außerdem war es ethisch untadelbar (oder zumindest akzeptabel) 59 und entsprach dazu zum Teil den gesellschaftlich erwarteten Erklärungsmodellen. Das Erklärungsmuster »Rache« reichte in die Verhörssituation hinein: Des öfteren machen die Mädchen ein Angebot in dieser Richtung − schlechte Behandlung durch die Dienstherrschaft wird dann genannt − , aber fast ebenso schnell wird es dann zurückgenommen. Auch kamen Untersuchende, die manchmal regelrechte Diskussionen mit den Täterinnen um Rache als Motiv anfingen, nicht immer mit dem Versuch durch, die Tat in dieser Weise auszulegen. Nicht immer zielte das Feuerlegen auf die Beendigung des Dienstverhältnisses; auch hier muß man wieder differenzieren. In einigen Fällen ist deutlich weniger beabsichtigt. Feuer hat dann einen ganz bestimmten Symbolcharakter: Es ist der flammende Protest 55 Ebd., Nr. 326 II, Bericht und Bedenken, Glückstadt, 15. Juni 1826. 56 Roland Grassberger: Brandstiftung, in: Handwörterbuch der Kriminologie, hg. von Rudolf Sieverts, 2. Aufl., Berlin 1966, 102. 57 LAS, Abt. 65.2, Nr. 327 II, Bericht und Bedenken, 22. Nov. 1831. 58 Ich verstehe hier »social crime« in einem etwas weiteren Sinn als sonst üblich, wenn nämlich darunter nur die Berufung auf alte Normen und Gewohnheiten nach der Einführung neuer Gesetze verstanden wird. 59 Jutta Lorenz weist unter Hinweis auf Kretschmer darauf hin, daß bei Motivbündeln immer die Tendenz besteht, daß der ethisch höchstwertige Impuls bewußtseinsdominant, der elementar triebhafteste jedoch dynamisch dominant wird. Vgl. dies.: Brandstiftungen in Überforderungssituationen bei weiblichen Tätern, Diss. med., Kiel 1961, 28. Otto Ulbricht 814 gegen eine Grenzüberschreitung, der Einhalt geboten werden soll. Bis hierher und nicht weiter! , lautet die Botschaft. Das Feuerlegen ist also eine Drohung, die eine Umkehr bewirken soll. Zwei Argumente sprechen für diese (Teil-)Interpretation: Nämlich erstens daß die Täterinnen ab und zu selbst sagen, sie hätten der »Brodherrschaft« einen »Schrecken« 60 einjagen wollen. Das könnte natürlich darauf zielen, sich vor Gericht als weniger schuldig darzustellen. Andererseits ist aber zu sehen, daß einige die Gefährlichkeit von Bränden gut einschätzen konnten. Zweitens spricht für diese These die Tatsache, daß des öfteren kein oder ein auf die symbolische Summe von einem Reichsbanktaler bezifferter Schaden entstand 61 . Nur in einem einzigen Fall, und zwar einem ganz deutlichem Ausnahmefall, wird ein sozialer Aspekt in ganz anderer, nämlich in gleichmacherisch-strafender Weise artikuliert. Der Arm-Reich-Gegensatz, der Gegensatz zwischen den Seßhaften und den Nichtseßhaften, spielt in diesem besonderen Fall eine wichtige Rolle. Es handelt sich hier um einen 14jährigen Jungen − typischerweise kein Mädchen − , der den südlichen Theil des Herzogtums Schleswig ohne Paß und bettelnd durchstreifte, ein Junge, der bereits siebenmal von zu Hause weggelaufen war. Nach Gesprächen ums Feuerlegen mit einem Kameraden, die zeigen, was den anderen Jungen intensiv beschäftigte, geht es um ein geeignetes Objekt. Sie entscheiden sich für den Hof Momsens, denn Momsen ist kein guter, er giebt dem Armen nichts, er habe ihn schon 4 mal vergebens um ein Butterbrot angesprochen, sagt sein Kamerad, und auch er, Deponent, sey dort 2 mal abgewiesen, als er um Gaben vorgesprochen. Als er dann hört, daß dessen Haus brennt, verkündet er es mit innerer Freude und in die Hände klatschend 62 : eine Art kindlicher Schabernack mit sozialen Übertönen. III Die historische Kriminalitätsforschung gerät manchmal ein wenig in Argumentationsprobleme, wenn es darum geht, ihr Tun zu rechtfertigen. Dann ist häufig die Rede davon, daß sie die Funktion einer Sonde, eines »Indikators für die Erforschung von gesamtgesellschaftlichen Zuständen und von historischem Wandel« und für das Bewußtsein der gesellschaftlichen Akteure habe. 63 Sie kann aber viel mehr leisten, eben weil Gerichtsakten eine in vieler Hinsicht unschätzbare Quelle sind und weil sie zu Fragen zwingt, die sonst nicht gestellt werden. Bei dem Versuch, besser zu verstehen, wie es in einigen Fällen zu Verbrechen und in den hier untersuchten Fällen zu Brandstiftungen kam, können Einsichten gewonnen werden, die von allgemeiner Bedeutung sind. Bei den Brandstiftungen stößt man auf eine ansozialisierte Norm für das Gesindedasein − 60 Siehe z.B. die Fälle Dorothea Magdalena Bogatzky (Bahrenhof 1823) und Sophia Maria Juliane Glentz (Lindhöft 1825). 61 Der nicht vorhandene oder ganz geringe Schaden bei schwerer Strafandrohung läßt die Vermutung entstehen, daß eine ganze Reihe von Brandstiftungen nicht angezeigt wurden. Die Anzeige bei nicht vorhandenem Schaden provoziert die Frage nach den Motiven der Anzeiger. 62 LAS, Abt. 65.2, Nr. 325 III, Allerunterth. Vorstellung, Kopenhagen, 20. März 1815. 63 Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historische Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992) 387; Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff: Vorbemerkung, in: Dies. (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschiche des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1993, 7. Rätselhafte Komplexität 815 das Aushalten − sowie auch auf die Bedeutung von Übergangsschwellen im Leben von Heranwachsenden. Es zeigt sich, daß die Kriminalitätsforschung nicht nur dazu beitragen kann, die Wirkung von Normen besser zu verstehen, sondern auch helfen kann, neue, bisher unbekannte Spielregeln aufzuspüren. Bei allen diesen Taten stellt sich auch die Frage, warum nicht mehr der Jungen und Mädchen einfach die Beine in die Hand genommen haben und nach Hause gelaufen sind, was ja einige durchaus versucht haben. Es geht also darum, das Verhalten derjenigen zu erklären, die es trotz vorhandener Probleme nicht taten, die ausharrten. Den meisten Jugendlichen war beigebracht worden, daß es ihre Pflicht sei, auf ihrer Dienststelle zu bleiben und bei Problemen nicht gleich wegzulaufen. Hier haben wir die Indoktrination von Disziplin in der Lebenswelt: Nicht Sozialdisziplinierung durch den Staat, sondern aus Familieninteresse, aus wirtschaftlichen Gründen, auch aus sozialen. In dem Wort »aushalten« findet diese Anforderung ihren zeitgenössischen Ausdruck. Die Jugendlichen sollten und wollten also ihre Pflicht erfüllen und meinten, dabei auch Ungemach ertragen zu müssen. Diese Regel wurde ihnen, bevor sie das Elternhaus verließen, eigens noch einmal eingeschärft, wie sich gelegentlich explizit nachweisen läßt. So wollte Anna Carolina Rehbein gern zu ihrer Mutter zurück, die ihr (...) ausdrücklich verboten habe, aus dem Dienst zu gehen 64 . Den Jugendlichen war also klargemacht worden, daß Verträge einzuhalten seien und daß sie, wenn sie vorzeitig gingen, die Familie in wirtschaftliche Schwierigkeiten brächten. So war denn Margaretha Ossenbrügge, nach der Brandstiftung in ihr Elternhaus zurückgekehrt, auch bereit, ihrem Dienstherrn ihre Dienste aufs neue anzubieten. 65 Hielten sie nicht aus, konnte es leicht geschehen, daß sie mit denen in einen Topf geworfen wurden, die in Schimpf und Schande aus dem Dienst gejagt worden waren. Bei Schwierigkeiten ergab sich also ein innerer Konflikt zwischen der Pflicht, diese Schwierigkeiten zu ertragen und zu bleiben, und dem Wunsch, die Dienststelle möglichst sofort zu verlassen. Da die Eltern ihnen das Ausharren eingeimpft hatten, hatte es wenig Sinn, sie zu bitten, das Dienstverhältnis aufzukündigen, und »entliefen« sie trotzdem, war nicht nur die Wahrscheinlichkeit hoch, zurückgeschickt zu werden, sondern sie wurden dann auch noch ihren eigenen Grundsätzen untreu. Hier bot die Brandstiftung einen Ausweg: Wenn der »Zufall« des Feuers für die Entlassung sorgte, dann hatte man auf der Stelle ausgehalten, hatte sich in schwieriger Situation bewährt und konnte also den Eltern aufrecht gegenübertreten. Als Beispiel mag Catharina Margaretha Münster dienen, die schon mit zehn Jahren angefangen hatte zu dienen. Sie hatte wiederholt zu ihrer Mutter gesagt, daß sie an Wacker einen guten Herren habe, bei dem sie aushalten wolle. Sie wollte also der internalisierten Norm gehorchen. Doch ergaben sich Probleme mit den Kindern des Dienstherrn, der sich zugunsten seines Nachwuchses einschaltete, was sie furchtbar ärgerte. Sie sei recht giftig geworden, heißt es in der Quelle. Diese Verhältnisse machten ihr den Aufenthalt in dem Wackerschen Hause nach ihrer Angabe immer unerträglicher. Sie mogte ihrem Brodherrn dies indeß nicht sagen, u. ihrer Mutter wagte sie sich nicht zu entdecken. 66 Hilflos stand sie zwischen der Disziplin gebietenden Norm des Aushaltens, die sie zu ihrer eigenen gemacht hatte, und der Diszipin gebietenden Autorität der Dienstherrschaft, deren Konfliktregelung sie nicht akzeptieren konnte. Psychoanalytisch gespro- 64 Was die Mutter übrigens bestritt, aber durchaus Sinn macht. 65 LAS, Abt. 65.2, Nr. 325 III, Actenauszug und Gutachten, Glückstadt, 16.März 1815. 66 Ebd., Nr. 327 I, Allerunterunthänigste Vorstellung, 14. Aug. 1829. Otto Ulbricht 816 chen liegt hier ein zu starkes Über-Ich vor: Dem Ich wird unbewußt die Schuld gegeben, die Situation nicht meistern zu können; und von der Last dieser Schuld befreit dann das Feuer. Schon bei der ersten Gruppe, bei den Jungen und Mädchen, die unbedingt zurück ins elterliche Haus wollten, dürfte offensichtlich geworden sein, daß die Trennung von der Herkunftsfamilie, und damit der Beginn einer neuen Lebensphase und die sie begleitenden Gefühle bei den Mädchen und Jungen eine große Rolle spielten. Doch die Situation ist damit noch nicht genügend ausgeleuchtet, da viele der jungen Dienstmägde und -jungen bereits vorher mit dem »Dienen« begonnen hatten. Wieso kam es dann später noch zu Problemen? Der Fall der 15jährigen Sophia Dorothea Johanna Dahl macht es möglich, etwas tiefere Einblicke zu gewinnen. Es wird deutlich, daß die Konfirmation und der damit verbundene Übergang zur ganzjährigen Arbeit eine ganz bedeutsame Schwelle im Leben der Mädchen darstellten. Der Fall zeigt, daß es bei einigen Jugendlichen um Probleme beim Eintritt in die Welt der Erwachsenen geht. Mit dem Feuer − so könnte man interpretieren − protestierte Sophia Dahl gegen die fortgesetzte Ausgrenzung aus dieser Welt, zu der sie auch gehören wollte und eigentlich auch schon sollte. Die Obrigkeit allerdings konnte wiederum nur ein Motiv entdecken: Rache, was oberflächlich gesehen durchaus zutrifft. Als Sophia Dahl in den Diensthaushalt kam, war sie bereits einmal ausgegrenzt worden: Man hatte sie nicht zur Konfirmation zugelassen. Was praktisch allen gestattet wurde - ihr Schulbesuch und ihre schulischen Leistungen mochten noch so schlecht gewesen sein, und ihr Alter noch so deutlich unter dem gesetzlichen Mindestalter von fünfzehn Jahren liegen 67 - war ihr verweigert worden. Ungenügende religiöse Kenntnisse und Analphabetismus - sie konnte nicht lesen - waren die Gründe gewesen, sie von der kirchlichen Aufnahme in die Welt der Erwachsenen auszuschließen. Im neuen Haushalt wurde ihr nun auch der informelle, der gesellschaftliche Eintritt in die Erwachsenenwelt verweigert. Bey jedem Tanzgelage, welches in dem Haus ihrer Herrschaft Statt gefunden, habe ihr die Frau verwiesen, daß sie dem Tanz zugesehen (...), so die Aussage des Mädchens, während die Dienstherrin behauptete, sie habe manchmal mittanzen dürfen. Damit ist der Punkt angesprochen, um den es eigentlich geht: Die Teilnahme am Tanz. Sie möchte mittanzen, darf es aber entweder überhaupt nicht oder nur mit Erlaubnis. Mehr noch: Sie wird auch noch vor der Tanzgesellschaft (und den sich sicher darunter befindlichen jungen Männern) bloßgestellt. Ihre Dienstherrin habe sie in Gegenwart der Gäste [! ] ausgescholten. Bey solchen Gelegenheiten wären, ohne ihr Verschulden, bisweilen, einige Bierbouteillen von den Gästen zerbrochen worden. Auch deshalb habe ihre Frau sie ausgescholten. 68 Mit dem Feuer wollte sie aber nicht nur gegen diese Ausgrenzung protestieren. Bei der Begründung ihrer Tat tauchte auch der unbewältigte Ausschluß von der Konfirmation wieder auf: Eine Frau, so sagte sie, hätte ihr Kleidung für die Konfirmation versprochen, wenn sie das Haus anzünde. Vielleicht war der Mangel an anständiger Kleidung aus ihrer Sicht schuld an der Verweigerung. Deshalb spielten die Bierbouteillen auch in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle. Es wurde ihr nämlich mit Lohnkürzung gedroht, und Lohnkür- 67 Gerade die (erfolgreichen) Versuche vieler Eltern, die Konfirmation vorzuverlegen, um die Kinder in Dienst geben zu können, zeigen die Bedeutung dieser kirchlichen Handlung. 68 LAS, Abt. 65.2, Nr. 324 III, Allerunterthänigste Vorstellung, 15. Nov. 1809. - Als Zurücksetzung in den Kinderstatus interpretierte offensichtlich eine junge Dienstmagd, daß sie im Diensthaushalt dicke Milch und Brot habe essen müssen, während sie zu Hause Tee und Kaffee zum Frühstück bekommen habe. LAS, Abt. 65.2, Nr. 326 I, Fall Anna Carolina Rehbein (Grande 1818). Rätselhafte Komplexität 817 zung hieß weniger Geld für Kleidung. Es ging ihr also um den formalen wie um den informellen Eintritt in die Erwachsenengesellschaft. Dieser Fall zwingt zum Nachdenken darüber, was die Konfirmation in protestantischen Gebieten für die Heranwachsenden bedeutete, denn immer wieder taucht sie in den Quellen als bedeutender zeitlicher Einschnitt auf. Immer wieder liegen Brandstiftung und Konfirmation, die in Schleswig und Holstein nach abgeschlossenem 15. Lebensjahr stattfinden sollte, dicht beieinander. Vierzehn Tage nach ihrer Konfirmation legte Antje Prigge einen Brand; Margaretha Johanna Joost wurde Ostern 1825 konfirmiert und legte am 17. Mai des gleichen Jahres Feuer; Herrmann Töllner trat gleich nach seiner Konfirmation den Dienst an, und am 8. April brannte das Wohnhaus seines Dienstherrn ab. Zwei nichtkonfirmierte Mädchen zünden an ihrem 15. Geburtstag bzw. am darauffolgenden Tag das Haus ihres Wirtes an. 69 Es liegt nahe zu vermuten, daß die Heranwachsenden mit der Konfirmation auch erwarteten, von den Dienstherrn anders, quasi als Erwachsene, angesehen zu werden. Herrmann Töllner z.B. bat seinen Wirt vergeblich, ihm auf seinen Lohn etwas Geld vorzustrecken, was bei erwachsenen Knechten üblich war. Der neue Status, den er sich wohl vorstellte, wurde also nicht anerkannt. Und es liegt nahe (obwohl es keine explizite Aussage darüber gibt), daß er die gewünschten vier Schillinge für eine bevorstehende Tanzveranstaltung brauchte: Also ein zweifacher Ausschluß. 70 Möglich ist allerdings auch das Gegenteil: Nämlich daß die Mädchen und Jungen den Eintritt in die Erwachsenenwelt verweigern wollten, daß sie sich der neuen Phase in ihrem Leben, der verstärkten Trennung vom Elternhaus und der ganzjährigen Arbeit als Dienstmagd bzw. -junge, nicht gewachsen fühlten. IV In Forschungen zur historischen Kriminalität ist es verpönt, auf den Täter zu sehen. Seine soziale Herkunft wird sehr wohl betrachtet, auch wenn dies in neueren kulturgeschichtlichen Studien kurz geschieht und Angaben dazu schon mal in die Fußnoten verbannt werden; aber der Täter als Individuum ist tabu. Die Täterzentriertheit früherer Studien, die Erklärung von kriminellen Taten allein durch das individuelle Verhalten einerseits, und die mangelnde Berücksichtigung von Bedeutungen in traditionellen sozialgeschichtlichen Studien andererseits sind der Grund dafür. In einer Studie wie dieser nur auf soziale Ungleichheit und symbolische Bedeutung zu sehen hieße allerdings vor den Fakten die Augen zu verschließen. Das dichotomische Denken − entweder Individuum oder Gesellschaft bzw. Kultur − geht an den Realitäten vorbei. Eigentümlichkeiten bei einer kleineren Gruppe von Täterinnen sind im vorliegenden Fall nicht zu übersehen und müssen mit einbezogen werden. Prinzipiell unterscheiden sich die Profile der Täterinnen (und Täter) sehr; sie reichen von einem Mädchen, deren Geständnis, das Feuer gelegt zu haben, bei Allen das größte Erstaunen 71 erregt, bis zu einem, das in jugendlichem Alter bereits fünfzehnmal 69 Sophia Dorothea Johanna Dahl, geboren am 9. Nov. 1792; Brandstiftung am 10. und 11. Nov. 1807; Margaretha Grimm, geb. am 4. Aug. 1804; Brandstiftung am 2., 4. und 10. August 1819. 70 Vgl. LAS, Abt. 65.2, Nr. 325 III (Rethwisch 1821). 71 LAS, Abt. 65.2, Nr. 326 II, Allerunterth. Vorstellung, 1. Juni 1827. − Aufgrund ihres guten Rufes gelang es einigen, Feuer zu legen, ohne entdeckt zu werden. Die Taten kamen dann durch Wiederholung an einem anderen Ort ans Licht oder dadurch, daß die Mädchen sich in einer anderen Situation verrieten. Otto Ulbricht 818 den Aufenthaltsort gewechselt hat und von dem sieben kleine Diebstähle bekannt geworden sind 72 . Oder, um beide Geschlechter einzubeziehen, von einem vorbildlich disziplinierten Mädchen bis zu einem stark verwahrlosten Jungen aus dem Rotlichtmilieu. 73 Es gibt also Heranwachsende, die in keiner Weise auffällig sind, wie es auch solche mit deutlich dissozialem Verhalten gibt. Dazwischen gibt es allerdings eine ganze Reihe von Täterinnen und Tätern, bei denen man gewisse Besonderheiten nicht ungestraft übersehen darf. Einige erschienen dem Gericht (und damit der wohl am wenigsten voreingenommenen Instanz, denn die meisten Zeugen verstehe ich als Partei) als sehr einfältig und kindisch. So heißt es zum Beispiel über Margaretha Johanna Joost, der von allen Seiten das beste Zeugnis über ihr Verhalten ausgestellt wurde, daß sie sehr einfältig u kindisch gewesen sei, u. bei Aufträgen einer sorgfältigen Zurechtweisung bedurft habe und daß sie erst im letzten Winter vor ihrer Konfirmation aus der Elementarklaße in die Oberklaße versetzt worden sei. 74 Die über 15jährige Antje Prigge wird als höchst einfältige stupide Person charakterisiert, die keine zusammenhängende Schilderung der Vorgänge zu geben wußte. Von ihr meinte das zuständige Mitglied des Obergerichts, sie müsse als Andere um mehrere Jahre nachstehend angesehen werden 75 . Eine 18jährige Brandstifterin, von der ein früherer Dienstherr bemerkte, daß sie noch mit Kindern auf der Straße umhergespielt habe, gab sich als 13jährige aus. 76 Mit anderen Worten: Sie waren beide in ihrer Entwicklung gegenüber anderen Heranwachsenden im Rückstand, retardiert, wie man im Fachjargon sagt, oder eventuell mit geringeren intellektuellen Fähigkeiten gesegnet. 77 Dafür spricht auch die Auffassung dieser Täterinnen von der Gerichtssituation: Einige glaubten, nach Hause gehen zu dürfen, wenn sie die Wahrheit gesagt hatten. Sie glaubten, sich immer noch im System der Erziehung und informellen Regelung zu befinden, und waren nicht in der Lage zu sehen, daß ganz im Gegenteil nur konsequentes Leugnen die Möglichkeit bot, bald ins Elternhaus zurückzukehren. Zwar spielt nach heutigen Erkenntnissen der Schwachsinn keine Rolle für die Entstehung der Kriminalität, aber »eine um so größere Bedeutung hat dagegen die relative Unterbegabung und Schwachbegabung.« 78 Bei einigen fällt eine sehr schlechte Schulbildung auf, die sich jeweils um so schlechter darstellt, je ärmlicher die Lage der Eltern war. Margaretha Ossenbrügge hatte in in ihrem Alter − eine genauere Angabe wird nicht gemacht, man darf mit sechs bis acht Jahren rechnen − insgesamt nur 374 volle Tage den öffentlichen Unterricht genossen. Eine andere wiederum war (...) nicht im Stande, ein Wort ohne vorher zu buchstabieren, fertig zu lesen 79 , konnte also nicht richtig lesen, und einer weiteren wurde, wie bereits angeführt, die Konfirmation verweigert, weil sie überhaupt nicht lesen konnte. Mit diesen Kenntnissen liegen sie eindeutig unter dem Durchschnitt. Minderbegabung und schlechter Schulbesuch konnten sich auch potenzieren: In reichlich sechs Jahren hatte die eben zitierte Johanna 72 Engel Hellbergs; ebd., Nr. 324 II, Votum, o.D. (1. Juni 1827). 73 Johann Georg Friedrich Feiser (Niebüll 1813). 74 LAS, Abt. 65.2, Nr. 326 III, Allerunthänigste Vorstellung, 1. Juni 1827. 75 Ebd., Nr. 324 II, Extract aus den Untersuchungsacten, Glückstadt, 12. Mai 1806). 76 Catharina Margaretha Münster (Ostorf 1828), LAS, Abt. 65.2, Nr. 327 I, Allerunterunthänigste (so) Vorstellung, 14. Aug. 1829. 77 Auf einen deutlichen Anteil an intellektuell geringer Begabten weisen die meisten kriminalistischen und gerichtsmedizinischen Studien zur Brandstiftung hin. 78 Reinhart Lempp: Kinder- und Jugendkriminalität aus jugendpsychiatrischer Sicht, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 14, hg. von Hans Joachim Schneider, Zürich 1981, 472. 79 LAS, Abt. 65.2, Nr. 324 II, Votum, o.D. (1. Juni 1827), Fall Engel Hellbergs (Ellerdorf 1803). Rätselhafte Komplexität 819 Joost insgesamt an 414 Tagen die Schule besucht. Für die (nicht-historische) Forschung zur Jugendkriminalität gilt die Lesefähigkeit als ein aussagefähiger Indikator. Nimmt man diese Tatsache zum Anlaß für weitere Nachforschungen, so kann man feststellen, daß bei beiden starke Verwahrlosungerscheinungen vorliegen. Also gibt es unter den Täterinnen einige, die in ihrer Entwicklung zurückgeblieben waren, deshalb leichter zur Tat schritten und die möglichen Folgen sowie die Strafbarkeit ihres Handelns schlechter erkennen konnten als andere gleichen Alters - eine Hemmungs- und Steuerungsverminderung also -, und einige, bei denen zwar die Entwicklung normal verlaufen war, die sozialen Verhältnisse jedoch keine Nutzung der vorhandenen Möglichkeiten zugelassen hatten. 80 Hier gibt es in der Tat in Einzelfällen besondere Konstellationen. Die eben genannte Antje Prigge, ein nichteheliches Kind, war von ihrer Großmutter er- und verzogen worden; Johann Dahl hatte beide Eltern früh verloren, und Claus Reimers hatte zwar nur seine Mutter durch den Tod verloren, aber sein Vater war in Kriegsdiensten. Das Lesen der Quellen unter dem Aspekt »Familienverhältnisse« führte aber auch zu einem ganz überraschenden Ergebnis. Eine ganze Reihe von Mädchen wollte überhaupt nicht zu den Eltern, zu Vater und Mutter, zurückkehren. Ein genaues Lesen ergibt vielmehr, daß sie zu ihrer Mutter zurückkehren wollten; von dem Vater ist nicht die Rede. So Anna Carolina Rehbein, in deren Fall man dem Bericht entnehmen kann, daß sie sich nach ihrer Mutter zurücksehnte und hoffte, daß, wenn das Haus aufbrenne, (...) sie dann wieder zu ihrer Mutter kommen werde 81 . Als Beweggrund zu dieser That gab sie [Magdalena Margaretha Eggert] den Wunsch an, um wieder zu ihrer Mutter zurück zu kehren, heißt es über eine andere 82 , und Antje Prigge wollte nichts lieber, als wieder mit ihrer Großmutter, bei der sie aufgewachsen war, zusammensein. Wenn man nun bedenkt, daß die Schreiber in einem rechtlich irrelevanten Punkt wahrscheinlich nicht immer genau den Wortlaut niedergeschrieben haben, dann darf man annehmen, daß sich hinter dem elterlichen Haus in Wirklichkeit noch öfter die Mutter verbirgt. Natürlich war manchmal nur noch die Mutter am Leben, aber entscheidend ist, daß die Mädchen auch dann zur Mutter zurück wollten, wenn, wie bei den beiden anfangs angeführten Beispielen, beide Elternteile noch lebten. Hier scheint also eine starke Mutterbindung durch. Annehmen könnte man folglich vielleicht einen Mutter-Tochter-Konflikt. Und dieser könnte auch erklären, warum so viele Mädchen zu Brandstifterinnen wurden. Während es der Wunsch der heranwachsenden Mädchen war, wieder bei ihrer Mutter zu sein, gestatteten die Mütter ihnen die Rückkehr nicht. Die Mädchen hatten aber genau das Gegenteil erwartet, und zwar aufgrund des bisherigen Verhaltens ihrer Mütter. Denn in den Quellen tauchen die Väter als diejenigen auf, die die Kinder mit der Rute züchtigten und die dem Dienstherrn die Erlaubnis zur Züchtigung erteilten. Wenn also der Vater die Autoritätsrolle innehatte, dann ist zu vermuten, daß die Mutter bisher die Nachgiebigere gewesen war. Jetzt aber, in einer Situation der emotionalen und physischen Überforderung, wand- 80 Die Befunde ähneln denen für männliche, jugendliche Brandstifter heute. Bei ihnen wurde des öfteren eine Unterbegabung festgestellt, so Klosinski für seine Untersuchungsgruppe unter Hinweis auf zwei andere Studien mit gleichen Ergebnissen. Vgl. G. Klosinski: Jugendliche Brandstifter und Sexualdelinquenten. Ein Vergleich der Psychopathologie, Familiensituation und Familiendynamik, in: Forensia 5 (1985), 149, 150, 151. 81 LAS, Abt. 65.2, Nr. 326 I, Allerunterthänigste Vorstellung, 20. Jan. 1826. 82 Ebd., Nr. 324 II, Holsteinisches Obercriminalgericht, Glückstadt, 31. Mai 1803. Otto Ulbricht 820 ten sich die Töchter an sie, 83 doch die Mütter gaben nicht nach. Somit hätten die Brandstiftungen einen ambivalenten Charakter: Sie sollten die Wiederaufnahme »in die Arme der Mutter« bewirken, aber sie sollten gleichzeitig einen Sieg über deren plötzliche Härte herbeiführen; vielleicht kommt auch die Enttäuschung über das Verhalten der Mutter darin zum Ausdruck. Für diese Interpretation spricht noch eine andere Tatsache. In einigen Fällen spielt nämlich die Tante eine wichtige Rolle: Die Mädchen gehen nach derTat zu ihrerTante, oder sie beschuldigen diese der Anstiftung mit der Begründung, daß die Tante sie bei sich gehabt haben wolle. Rächten die Mädchen sich unbewußt an ihren Müttern dafür, sie ins Leben hinausgestoßen und darauf bestanden zu haben, daß sie auf der Dienststelle blieben? Dazu würde die Hinwendung zur Tante passen: Sie hat die Züge der Mutter und stößt sie doch nicht aus ihrer Welt hinaus: Sie ist die wirklich gute Mutter. Es sei noch angefügt, daß die Welt der Brandstifterinnen als eine ausgesprochen weibliche Welt erscheint. Eine Schwester oder auch die Tante begleiten die jungen Mägde in den Diensthaushalt. Dort taucht hauptsächlich die Mitmagd als eine Person auf, die Anlaß zu Ärger gibt; dann die Dienstherrin, wegen schlechter oder auch ordentlicher Behandlung, in seltenen Fällen noch einmal deren Tochter oder eine andere Verwandte. Der Dienstherr sowie die Knechte und Dienstjungen spielen praktisch keine Rolle. Auch die angegebenen Anstifter sind stets weiblich: Eine Frau aus der Umgebung, zweimal die Tante, einmal auch die eigene Mutter (in dem Fall hatte die Großmutter die Mutterrolle übernommen). Wenn die Welt aber so weiblich verstanden wird, dann muß logischerweise gerade eine Veränderung im Verhalten der Mutter sich um so schwerwiegender auswirken. Bei den Jungen änderte sich dagegen nicht viel: Sie waren weit mehr auf den Vater ausgerichtet, und dieser blieb die Autoritätsperson auch beim Antritt der Dienststelle. Es ist klar, daß der verdeckte Mutter-Tochter-Konflikt vorerst nur eine Hypothese für die Erklärung des Überwiegens der Mädchen bei der Brandstiftung in dieser Zeit sein kann. Nur eine genaue Ausleuchtung der Familienverhältnisse, die das Material jedoch nicht erlaubt, kann hier weiterführen. Zu hoffen ist, daß Forschende mit besserem Quellenmaterial sie überprüfen und dann bestätigen oder auch falsifizieren können. Es gibt aber noch eine zusätzliche, mit dem Vorgetragenen vereinbare ergänzende Erklärung dafür, warum junge Mägde doppelt so häufig Feuer legten wie Dienstjungen. Ein von der Obrigkeit bevorzugtes Motiv für die Taten war Rache, Rachsucht oder Rachgier. 84 Sie verwandte dieses Erklärungsmodell zwar für beide Geschlechter, doch spricht sie damit eine Eigenschaft an, die in der Frühen Neuzeit als typisch weiblich angesehen wurde. Sie resultierte letztlich aus der Lehre von den »humores« und Elementen. »Überwiegen dagegen in ihrem Körper [dem der Frau] die Säfte, so ist sie nicht nur einfach feucht und kalt, sondern eben deshalb auch ängstlich und rachsüchtig«. 85 Dazu paßt, daß Brandstiftung außer dem »Transport« des Feuers keine körperliche Aktivität erfordert; das Feuer handelt für die Person, die passiv bleiben kann (und, wenn das Feuer erst einmal ausgebrochen ist, dazu noch zur Passivität gezwungen ist). Der Hin- 83 So geht z.B. Lena Jenses zweimal zu ihrer Mutter zurück, und Margartha Grimm diskutiert ihr Problem mit ihrer Mutter, vgl. oben. 84 Auch die Angabe von Anstifterinnen und Teilnehmerinnen wurde mit diesem Motiv erklärt. Über die ungefähr 15 Jahre alte Margreta Volquarts heißt es zusätzlich, sie habe eine unschuldige Persohn blos aus Rachsucht(...) als Teilnehmerin ihres Verbrechens mit angegeben, in: Pro Memoria, Tönning, 20. Juni 1794. LAS, Abt. 170, Nr. 481. Rätselhafte Komplexität 821 weis auf das Geschlechterstereotyp erscheint aber insofern als sehr problematisch, als ohne Zweifel auch Männer Rache übten, und zwar ebenfalls heimlich. Die Diskussion des Stereotyps führt jedoch zu einem Unterschied in der Art der Ausführung: Während männliche Rache oft mit körperlicher Gewalt einhergeht, leistet das Feuer die ausgleichende Zerstörungsarbeit für die Mädchen; während die Mädchen sich schnell zu ihrer Tat entschließen 86 , planen die Männer, wenn sie Feuer legen, das Verbrechen meist länger 87 . Eine weitere Erklärung des geschlechtsspezifischen Unterschieds kann in der Sozialisation und in der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gesehen werden. Auf dem Lande hatten die weiblichen Arbeiten ihren Schwerpunkt im Haus und im Stall, die männlichen auf dem Feld. Der Herd, die Feuerstelle, kann als Mittelpunkt der weiblichen Arbeitssphäre angesehen werden. 88 Deshalb reicht es, um einen Dienstjungen zu verdächtigen, aus, festzustellen, daß er verschiedenemal in der Küche gewesen» sei 89 . Feuermachen und Wasserholen waren zwei typische Arbeiten von Dienstmägden, Arbeiten, die sie tagtäglich zu verrichten hatten; Obacht auf das Feuer in der Küche eine ihrer Kontrollaufgaben. Es war also aus Gewohnheit eine Vertrautheit mit dem Feuer vorhanden. Das Herdfeuer wurde von den Mädchen selbst entfacht; das Feuermachen gehörte zu ihren frühmorgendlichen Aufgaben. Von dem Feuer, das sie auf Befehl ihrer Frau auf den Heerde angelegt, habe sie nemlich eine Kohle genommen (...) und (...) unter des Knechts Bett gelegt, damit das Haus in Brand geraten solle, so schildert eine ihre Tat. 90 Eine andere hatte den Plan, Feuer zu legen, schon wieder aufgegeben, aber als sie am Abend desselben Tages mit Grützkochen am Heerde beschäftigt gewesen, sei er ihr wieder eingefallen. 91 Der Griff zum Feuer lag also durch den alltäglichen Umgang damit nahe, und entsprechend gekonnt wurden die glühenden Kohlen in kalter Asche oder mit der Feuerzange transportiert. Für diese These spricht, daß zwei der wenigen männlichen Brandstifter die Tat ganz untypisch begingen: Der eine zündete mit einem Licht, also einer Kerze, Stroh an; der andere imitierte eine typisch männliche Alltagshandlung, nämlich das Anzünden einer Pfeife. Er machte mit einer Feile und Stein Feuer, und zündet mit Schwamm − wie üblich − eine Pfeife an, steigt mit der Pfeife worauf noch der angebrannte Schwamm liegt, (...) nach dem Heuboden 92 . Bei den jungen Dienstmägden dagegen gab es einen fließenden Übergang vom Herdfeuer zum Brand, der das Haus in Flammen setzen sollte. Es wurde also in der Regel kein Einschnitt etwa dadurch ge- 85 Brita Rang: Zur Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau. Kritische Anmerkungen zu den Thesen von Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19. Jahrhundert, in: Frauenmacht in der Geschichte, hg. von Jutta Dalhoff, Uschi Frey u. Ingrid Scholl, Düsseldorf 1986, 200. 86 Während des Essens stand die Mohren vom Tische auf und kam bald nachher mit der Nachricht wieder, es brenne auf dem Boden im Erbsenstroh. LAS, Abt. 65.2, Nr. 324 I, Bericht des Obergerichts Glückstadt, den 19. Febr. 1802. Vgl. Martin Dinges: Ehrenhändel als »Kommunikative Gattungen«. Kultureller Wandel und Volkskulturbegriff, in: Archiv für Kulturgeschichte 75 (1993), 388. 87 Vgl. Schulte: Dorf, 49. 88 Nicht weiterführend ist Helmut Gebelein: Das Element Feuer in Haushalt und Familie, in: Trude Ehlert (Hg.): Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit, Sigmaringen 1991, 137-152, da der Autor in erster Linie an Feuer unter dem Blickwinkel der Alchemie interessiert ist. 89 LAS, Abt. 65.2, Nr. 324 I, Gerichtsprotokoll, Caden, 31. Mai 1793. 90 Ebd., Nr. 324 II, Fall Ida Magdalena Eggert, Allerunterthänigste Vorstellung, 12. Aug. 1803. 91 Ebd., Nr. 327 III, A(llerunterthänigste) V(orstellung), 16. Dez. 1825 (Glentz, Lindhöft 1825). 92 Mir ist bekannt, daß zu jener Zeit auch Frauen Pfeife rauchten. Trotzdem war das wohl eher selten und hatte mit dem Lebensalter und wohl auch mit der Lokalität zu tun. Otto Ulbricht 822 setzt, daß sie Schwefelhölzer anzündeten. 93 Folglich war auch die Verdächtigung der Dienstmägde das erste, was vielen in den Sinn kam. Entsprechend wurde einem zwölfjährigen Kindermädchen gegenüber argumentiert: Wenn sie nur beym Leugnen bliebe, könnte man ihr nichts thun, denn sie ginge ja gar nicht mit Feuer und Licht um. 94 Feuerlegen als Drohung oder die Brandstiftung als Zerstörung bringende Waffe gehörten noch aus anderen Gründen zu den Reaktionsmustern von Dienstmägden. Die zerstörende Macht des Feuers konnte den Mädchen nicht nur deutlich werden, wenn die Dienstfrau wegen sorgloser Verwendung bestraft oder der Dienstherr aufgefordert wurde, seine Feuerstelle in Ordnung zu bringen. 95 Wahrscheinlich waren sie auch darüber informiert, wenn die Beiträge zur Brandgilde bezahlt wurden 96 , wußten also, daß das Feuer ihnen große Macht verlieh. Frauen und Mädchen sprachen im dörflichen Diskurs vom (Herd-)Feuer und von Bränden; (die Männer sicher auch, und einige von ihnen hielten Feuersbrünste als dramatische Einschnitte im Leben des Dorfes fest) 97 . Das Reden über Brände oder auch ihre konkrete Erfahrung läßt sich auch nachweisen. So hatte eine Brandstifterin vor ihrem Tod auf einem Hof gedient, der abgebrannt war, und eine andere hatte sich mit der Tochter des Dienstherrn über einen Brand in der Nachbarschaft unterhalten. 98 Besonders war das der Fall, wenn es sich um Brandstiftung gehandelt hatte, und die Tat von einer Frau oder einem Mädchen verübt worden war. So verwundert es nicht, wenn Margaretha Ossenbrügge 1814 aussagte, sie habe von anderen gehört, daß Feuerlegen ein probates Mittel sei, einem ungeliebten Dienst zu entkommen. 99 Es war also unter den weiblichen Heranwachsenden als typisches Reaktionsmuster bekannt. Und schließlich mag der einen oder anderen auch die Tat einer Vorgängerin bekannt geworden sein, denn einige der Brandstiftungen fanden in ein und derselben Landschaft statt. 100 Aber auch aus den stereotypisierten Reden über die männliche Figur des Bettlers - oder auch aus tatsächlichem Erleben, denn oft waren nur die Frauen zu Hause, wenn einer an die Tür klopfte -, konnten die Mädchen erfahren, daß Feuer eine Waffe war, mit der man nicht nur drohen konnte. Als eine Dienstmagd versuchte, ihre Täterschaft zu vertuschen, und gleichzeitig doch die Herrschaft informieren wollte, lief sie ins Haus, meldete das Feuer und berichtete, sie habe einem Bettler ein Almosen verweigert, der daraufhin gedroht habe, ihr das Dach über dem Kopf anzustecken. 101 Das Täterwissen war in erster Linie weibliches Wissen, das von Frau zu Frau weitergegeben wurde, wobei beachtet werden muß, daß Mädchen weit länger unter der Obhut von Frauen standen als 93 Als Ausnahme natürlich kommt auch dies vor. 94 LAS, Abt. 65. 2, Nr. 324 II, Relatio ad Collegium, Gottorf, 20. Dez. 1804. 95 Vgl. Karl-Sigismund Kramer: »Feuer«. Einordnung und Interpretation von Belegen der historischen Quellenkartei des Seminars für Volkskunde, in: Kieler Blätter für Volkskunde 11 (1979), 22. 96 Der 12-13jährige Brandstifter Johann Pahl datiert ein Ereignis auf den Tag, da die kleine Brand Gilde gehalten worden. LAS, Abt., 65.2, Nr. 324 I, Gerichtsprotokoll, Caden, 7. Juni 1793. 97 Vgl. Jan Peters: Wegweiser zum Innenleben? Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchung popularer Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 1 (1993), 243. 98 LAS, Abt. 65.2, Nr. 327 III, A(llerunterthänigste) V(orstellung), 16. Dez. 1825 (Sophia Maria Juliane Glentz, Lindhöft 1825), ebd., Nr. 324 II, Extract aus den Untersuchungsacten, o.D. (Glückstadt, 12. Mai 1806) (Antje Prigge [Kronprinzenkoog 1806]). 99 Ebd., Nr. 325 III, Actenauszug und Gutachten, 16. März 1815. 100 So in Süderdithmarschen, worauf auch die Obrigkeit schon aufmerksam geworden war. Vgl. ebd. − Zwei Brandstifterinnen kannten sich übrigens von der Schule her: Catharina Margaretha Münster und Anna Elsabe Krohn. 101 Ebd., Fall Engel Hellberg (Ellerdorf 1802/ 3). Rätselhafte Komplexität 823 Jungen, die häufig mit sieben Jahren unter die väterliche Aufsicht genommen wurden. So wundert es nicht, daß es sich bei den angeblichen (und tatsächlichen) Anstiftern regelmäßig um Frauen handelte, um die Mutter, die Großmutter, die Tante oder um alte Frauen aus der Nachbarschaft. V Angesichts des Alters der Mädchen wird sich mancher Leser vielleicht fragen, ob der Schreiber den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen habe. Wie kann man die Pubertät nicht berücksichtigen? Liegen hier nicht die wirklichen Erklärungen für die Taten? Hängt das Verhalten der heranwachsenden Frauen nicht mit der Entwicklung der (genitalen) Sexualität, mit dem Eintritt der Menstruation zusammen? Und darüber hinausgehend: Steht nicht Feuer für Liebe und Sexualität? Stecken nicht besonders hinter den motivlosen Taten sexuelle Antriebe, die man weder artikulieren durfte noch konnte? Und hat nicht gerade Lyndal Roper ein Plädoyer für die Anwendung der Psychoanalyse gehalten, als sie energisch für die Berücksichtigung von Seele und Körper in einer Kulturgeschichte der einfachen Menschen in der Frühen Neuzeit eingetreten ist? Hat nicht Regina Schulte bereits vorher die Wilderei im Kaiserreich psychoanalytisch interpretiert und die Thematik »Pubertät und Brandstifterinnen« unter dem Blickwinkel der Psychiatrie betrachtet? Geht man in diese Richtung, so steht man sofort vor zwei Problemen. Erstens fehlt es an aussagekräftigen Quellen. Psychoanalytisch orientierte Forscher, die sich mit der Brandstiftung in der Gegenwart befassen, bemängeln immer wieder, daß die Statistiken und Interpretationen anderer häufig allein aufgrund der Aktenlage zustandegekommen seien. 102 Genau mit solchen Akten arbeitet aber auch der Historiker. Daraus folgt erstens, daß eine Interpretation in diese Richtung normalerweise nur mit Vorsicht und Zurückhaltung erfolgen kann, so notwendig sie angesichts der Rätselhaftigkeit einer Reihe von Fällen auch sein mag. Sind die Fälle dazu noch schlecht dokumentiert, so ist noch weit größere Vorsicht angebracht. Baut man jedoch trotz dünner Quellenbasis eine psychoanalytische Interpretation auf, so kann man zwar auf Publikumswirksamkeit hoffen, einen ernsthaften Anspruch auf Gültigkeit jedoch nicht erheben. Zweitens gibt es verschiedene Probleme bei der psychoanalytischen Interpretation. Diese verweist, wie zu erwarten, auf die frühkindliche Phase und die nachfolgende Verarbeitung. Darüber kann man aus historischem Material praktisch keine Erkenntnisse gewinnen. Dazu hat die Darstellung der frühkindlichen Beschäftigung mit dem Feuer eine deutliche Ausrichtung auf das männliche Geschlecht, die Mehrheit der Brandstifter im vorliegenden Sample bilden jedoch weibliche Jugendliche. Und schließlich gibt es kaum eine Auseinandersetzung mit Täterinnen in der Pubertät. Sehen wir uns einmal den schlecht dokumentierten Fall Mohr unter psychoanalytischer Perspektive an. Auf diesen Fall habe ich anfangs schon einmal hingewiesen; es ist einer jener motivisch unklaren Fälle. Anna Christina Mohr stand plötzlich vom Mittagstisch auf und legte Feuer. Ganz offensichtlich war das eine impulsive Handlung, eine Entladungsreaktion − dies ist das für diese Handlungsweise von Brandstiftern ge- 102 Vgl. Streng, 42; Willi Schumacher: Das Brandstiftersyndrom in psychodynamischer Sicht, in: Kriminalistische Studien, Bd. 2, Brandkriminalistik, Bremen 1986, 109, 119. Otto Ulbricht 824 prägte Wort. Solche Impulshandlungen sind psychodynamisch gekennzeichnet durch Plötzlichkeit und Unerwehrbarkeit des Ablaufgeschehens, durch Abwehrmangel und Symbolcharakter. 103 Nach mehrmaliger Lektüre kann man nur folgendes feststellen: Die Situation am Mittagstisch war eine besondere, es war ein fremder Mann dabei, der ihrem Dienstherrn Lumpen gebracht hatte; und die Art des Feuerlegens war eine ganz besondere, sie benutzte einen Strumpf. Bei ihr liegt es ganz nahe, die Brandstiftung als Zeichen für ihr inneres Erleben zu lesen, ein wahrscheinlich unbewußtes Erleben, worauf vor allem auch hinweist, daß sie für ihre Handlung kein Motiv angeben konnte. Mehr kann man nicht mit Bestimmtheit sagen. Alles weitere bleibt Spekulation: Ging es ihr um die Aufmerksamkeit dieses Mannes, der dann beim Löschen half; oder wollte sie gegen etwas protestieren, was er, der fremde, aus einem anderen Milieu stammende Mann gesagt, und was sie zutiefst getroffen hatte; wollte sie ihn aus dem Haus haben; oder war es vielleicht zusätzliche Arbeit, die sie auf sich zukommen sah: oder war es womöglich etwas ganz anderes? Der Anlaß »schwere Kränkung« würde mit psychoanalytischen Feststellungen übereinstimmen. Eine Interpretation aus dieser Richtung würde nun von der urethal-phallischen Stufe der Triebentwicklung beim Kind ausgehen, in der ein intensives Interesse an Feuer und Löschen zu beobachten ist, und argumentieren, daß es nicht »richtig« verarbeitet worden, und daß es daher in der (angenommenen) Situation der Kränkung zu einer Regression, zu einem Rückfall auf das infantile Verhalten gekommen sei. Das Ganze läßt sich aber nicht verifizieren, da wie hier in der Regel keine weiterführenden Angaben über die Zeit vor der Brandstiftung vorhanden sind. Daß auf diese Weise eine zusätzliche Verständnisebene geschaffen wird, ist allerdings nicht zu leugnen. Es gibt auch durchaus einige Fälle mit deutlichen Anhaltspunkten für eine psychopathologische Verarbeitung. Es handelt sich um die (weiblichen) Heranwachsenden, die gleichsam unter einem Zwang stehen, Feuer zu legen. Man könnte hier wohl von Zwangshandlungen sprechen, die auf einen besonderen Bewußtseinszustand verweisen. Johanna Joost begeht ihre Tat wie im Traum, Margaretha Beuwig war, als müße sie das thun, Antje Prigge wird von der Idee eines Feuers ergriffen, das sie lebhaft beschäftigt und sie fast unaufhörlich verfolgt, und Anna Maria Knutzen, um noch eine Täterin zu nennen, spürte eine große Unruhe an sich. 104 Hier darf man wohl eine »Perversion« annehmen, »verstanden als Neurose minus Abwehr«. 105 Der Hinweis auf diesen Mechanismus läßt manchmal eine bessere Interpretation zu, z.B. im Fall Joost. Sie hatte erst einen Streit mit dem Mitmädchen als Motiv angegeben und den Wunsch, sich an diesem zu rächen, konnte sich aber später an das Rachemotiv nicht erinnern. Das Motiv muß also ein anderes sein. Da Versagensängste die tieferliegende Ursache dieser Verhaltensweise sein können, ist der wirkliche Beweggrund wohl darin zu sehen, daß ihr die Beaufsichtigung des Kindes, das ihr anvertraut war, nicht gelang. Während ein solcher Triebdurchbruch ungewöhnlich ist, weist die große Furcht eines der Mädchen vor Feuer in psychoanalytischer Sicht auf eine unbewußte Brandstifterproblematik hin, die eben »oft nur an ihrer Abwehr zu erkennen ist« 106 . 103 Vgl. ebd., 122. 104 In der Reihenfolge der Nennung: LAS, Abt. 65.2, Nr. 326 I, Allerunterthänigste Vorstellung, 20. Jan. 1826; ebd., Nr. 326 II, Bericht und Bedenken, Glückstadt, 15. Juni 1826; ebd., Nr. 324 II, Extract; Glückstadt, 12. Mai 1806; ebd., Relatio ad Collegium, Gottorf, 20. Dez. 1804. 105 Schumacher, 121. Rätselhafte Komplexität 825 Weit schwieriger gestaltet sich die Suche nach der Verbindung von Pubertät, Sexualität und Brandstiftung. Hier wäre vorrangig nach sexueller Erregung durch Feuer Ausschau zu halten. Es ist jedoch von vornherein illusorisch zu hoffen, in den Quellen dieser Zeit Hinweise auf Onanie oder einen Orgasmus beim Anblick des Feuers zu finden. Man muß sich also mit weit weniger begnügen und kann logischerweise auch weit weniger darauf aufbauen. Wenden wir uns also den Fällen unter dem Aspekt der »Entwicklungsperiode« zu, wie die Zeitgenossen die Pubertät oft nannten. Befragen wir sie nach Angaben über den Entwicklungsstand und eventuelle Besonderheiten, nach Angaben über erwachendes Interesse am anderen Geschlecht, über Sinnlichkeit und Sexualität. Als erstes ist festzustellen, daß es in den Quellen so gut wie gar keine Äußerungen über das Verhältnis der heranwachsenden Frauen zu den Dienstjungen oder den Knechten gibt. Stets sind es lediglich die Mitmägde, die (negativ) thematisiert werden. Man braucht nicht Margaret Atwoods Alias Grace gelesen zu haben, um sicher zu sein, daß die Quellen hier große Lücken aufweisen 107 ; doch von dieser Beobachtung auf Kontaktschwierigkeiten und ergo ein sexuelles Motiv zu schließen, erscheint mir voreilig. Bekannt sind aber aus anderen Untersuchungen die Liebesverhältnisse von älteren Mägden zu Knechten, welche, sofern sie im Haus ausgelebt wurden, die jungen Mägde auch mitbekommen haben könnten. Unter dieser Perspektive fällt auf, daß das Feuer in zwei Fällen unter dem Bett des Knechts gelegt und einmal das Stroh von dort geholt wurde. 108 Ohne Zweifel liegt hier eine symbolische Interpretation nahe und könnte das Gesamtverständnis besonders in solchen Fällen vertiefen, in denen es keine oder nur allzu oberflächliche Motivangaben gibt. Zwar stehen »Tatsachen (...) nicht hoch im Kurs zur Zeit« 109 , aber es hat keinen Sinn, nur auf interpretatorisch gewonnene Bedeutungen zu sehen und die einfachen Sachverhalte völlig zu ignorieren. Verzichtet man auf das Mittel der Prüfung und des Vergleichs, so muß die Gültigkeit der Deutung zweifelhaft bleiben. Eine symbolische Interpretation dieses Verhaltens − eventuell als Rache für eine Zurückweisung oder als Erregung von Aufmerksamkeit − muß sich, so reizvoll sie auch erscheinen mag, an anderen Interpretationsmöglichkeiten messen lassen. Der Gedankengang der jungen Mägde mag ein ganz einfacher gewesen sein: Wenn ich das Feuer unter meinem Bett lege, das Stroh aus meinem Bett nehme, gerate ich sofort in Verdacht. Da ein anderes Bett in der Mägdekammer nicht vorhanden war − in der Regel schliefen die Mägde in einem Bett − , blieb nur das Bett des Knechts. Da bereits auf die Gefahr der Überinterpretation hingewiesen worden ist 110 , tut man wohl gut daran, es bei dieser einfachen Interpretation zu belassen. Noch weniger Informationen kann man aus dem Interesse an Tanzgesellschaften gewinnen, wie es bei Johanna Dorothea Dahl und auch bei Herrmann Töllner zu regi- 106 Ebd., 122. Margaretha Beuwig zeigte von Kindheit an eine ungewöhnliche Furcht vor den Verwüstungen des Feuers. LAS, Abt. 65.2, Nr. 326 II, Bericht und Bedenken, Glückstadt, 15. Juni 1826. 107 Aus heutiger Perspektive taucht auch die Frage nach sexuellem Mißbrauch durch die Dienstherrschaft auf; Hinweise darauf habe ich jedoch nicht entdecken können. 108 Die Fälle Eggert (Bovenau 1800), Hellbergs (Ellerdorf 1802/ 3) und Glentz (Lindhöft 1825). 109 Florian Coulman: Nackte Tatsachen. Anmerkungen zu Clifford Geertz’ jüngstem Buch, in: Merkur 50 (1996), 251. 110 Vgl. Rudolf Vierhaus: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, hrsg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 1995, 22. Otto Ulbricht 826 strieren ist. Natürlich hatten einige Jugendliche in diesem Alter ein besonderes Interesse an Tanzgesellschaften, aber solange hierzu keine weiteren Informationen vorliegen, kann man aus dem Besuch solcher Höhepunkte ländlichen Lebens − außer einer gewissen Enthemmung, einer gewissen Aufladung vielleicht, wichtig bei direkt darauf folgenden Taten − nicht viel ableiten, selbst dann nicht, wenn wie bei dem Jungen die Tanzveranstaltung ihr Ende dadurch fand, daß die Gäste zu Helfern beim Löschen des Feuers wurden. Schließlich könnten Träume und besonders Träume von Feuer einen weiteren Hinweis abgeben. Gerichtsakten sind aber nicht der Stoff, in dem sich Träume finden. Aber wir können wenigstens einen Blick in das Innere eines Mädchens werfen, das unaufhörlich von dem Bild eines brennenden Nachbarhauses verfolgt wurde. Sie konnte am Abend vor der Tat nicht einschlafen, und wir erfahren allerlei Vorstellungen hätten sie wachend gehalten 111 , ohne daß uns das weiterhilft. Immerhin: In einem Fall wird dann doch ein Traum wiedergegeben. Margaretha Beuwig − sie ist das Mädchen, das unter den Neckereien ihrer Altergenossinnen und -genossen litt − konnte ebenfalls in der Nacht vor dem Feuerlegen nicht schlafen. Sie glaubte zur Nachtzeit ein großes Feuer und viele große Kerle vor ihrem Bette zu sehen (...) 112 Besser hätte es eigentlich nicht kommen können: Da Feuer bekanntlich »sehr oft sexuelles Feuer, die Liebe (bzw. Libido)« 113 bedeutet, machen die Männer vor ihrem Bett die Situation überdeutlich. Ein Fall von blockierter Sexualität? Handelte es sich dann bei der folgenden Brandstiftung um »eine regressive Symbolhandlung, die durch einen archaischen (...) Sublimierungsversuch die (...) Libidostauung löst« 114 ? Doch wie verhalten sich die Neckereien dazu, die eigentlich für eine andere Erklärung sprechen? Insgesamt ergeben diese Hinweise keine ausreichende Basis für eine Gesamtinterpretation in psychoanalytischer Richtung. Fragt man jetzt zusätzlich noch nach dem körperlichen und seelischen Entwicklungsstand, nach der Pubertät und eventuellen Besonderheiten, so muß noch einmal wiederholt werden, was schon viele Male gesagt worden ist: Auch diesmal sind die Fragen nicht für alle relevant, gelten die Ergebnisse nicht für alle. Grundsätzlich müssen schon einmal die jüngsten Brandstifterinnen ausgeschlossen werden. Die 12jährigen Mädchen könnten zwar unter dem Aspekt »lückenhafter Aufbau des Über-Ichs oder zu starres Über-Ich« betrachtet werden, aber selbst wenn man eine weite Streuung für den Eintritt der körperlichen Reife annimmt, doch wohl kaum unter dieser Perspektive. 115 Als zweites muß festgestellt werden, daß keine (gerichts)ärztlichen Untersuchungen in dieser Hinsicht durchgeführt wurden; die Untersuchungen, die man vornahm, zielten vielmehr darauf ab, die Wirkung von Krankheiten festzustellen. Man muß aber fragen, ob nicht die Kennzeichnung einiger Mädchen als »sehr kindisch« auch ihren körperlichen Entwicklungszustand mit umfaßt, mithin auch aussagt, daß diese Mädchen dem äußeren Anschein nach keine Entwicklung der sekundären Geschlechts- 111 LAS, Abt. 65.2, Nr. 324 II, Extract aus den Untersuchungsacten, Glückstadt, 12. Mai 1806. (Antje Prigge, Kronprinzenkrog 1805). 112 Ebd., Nr. 326 III, Bericht und Bedenken, Glückstadt, 15. Juni 1826. 113 Streng, 49. 114 H. Schmid: Zur Psychologie der Brandstifter, in: C.G. Jung (Hg.): Psychologische Abhandlungen, Bd. 1, 1914, 136. Zitat nach Streng, 48. 115 Vgl. Peter Laslett: Age at Menarche in Europe since the Eighteenth Century, in: Theodore K. Rabb/ Robert I. Rotberg (eds.): The Family in History, New York/ Hagerstown/ San Francisco/ London 1973, 28- 47. Rätselhafte Komplexität 827 merkmale erkennen ließen. Gelegentlich erfährt man etwas über den Eintritt der Menarche. So heißt es über Johanna Joost, daß ihre Regeln nicht sehr lange nach der That, nämlich gegen Weihnachten 1825 zum ersten Mal eingetreten seien 116 , (was dann bei der Vierzehneinhalbjährigen erwartungsgemäß mit dem Wörtchen »schon« versehen wird). Sieht man sich die Quellen genauer an und achtet darauf, wann und wo derartige Äußerungen von Mädchen auftauchen, so wird deutlich, daß es sich hier um Reflexe eines neuen Verständnisses der Brandstiftungen durch die Gerichtsmedizin der Zeit handelt. Insofern hat die Untersuchung unter dieser Perspektive ein Ergebnis, allerdings ein anderes als erwartet. Erstmals wurde die Brandstiftung an biologische Entwicklungsvorgänge gekoppelt. Dieses Verständnis der Taten wurde zuerst von Ernst Platner, Benjamin Osiander und Adolph Henke im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vertreten. Henke kam aufgrund der Auswertung von Fällen zu der Ansicht, daß die Neigung zur Brandstiftung bei Kindern und Mädchen vor und während der eintretenden Mannbarkeit sich häufig äußere. Die bei jugendlichen Individuen häufig sich äußernde Feuerlust und Neigung zur Brandstiftung, behauptete er weiter, ist nicht selten eine Folge eines regelwidrigen körperlichen Zustandes, besonders einer unregelmäßigen organischen Entwicklung zur Zeit der Annäherung oder des Eintritts der Mannbarkeit. 117 Obwohl sich unter den 20 von Henke ausgewerteten Fällen 16 jugendliche weibliche Brandstifter fanden, nahm er zu dieser Ungleichverteilung nicht Stellung. Friedrich Benjamin Osiander, berühmtberüchtigter Leiter der Göttinger »Gebärklinik«, wußte dagegen die Lösung schon länger, seit 1813. Sie lag, wie er 1820 zusammenfaßte, in Eigentümlichkeiten des Gefäßsystems von jungen Mädchen. Die Venösität ihres Blutes ist stets größer, als die Erzeugung des arteriösen Blutes. (...) In dieser Venösität ist endlich noch eine besondere außerordentliche Eigenschaft der Seele in den Entwicklungsjahren des weiblichen Geschlechts begründet, nemlich die F e u e r l u s t, oder der Hang, Feuer zu legen. 118 Diese Venösität betraf auch das Hirn. Sehr schnell wurde diese Interpretation zu einem ganz wichtigen Erklärungsmuster im Gerichtssaal. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum der bekannte Jurist Eduard Henke, als er 1823 sein Handbuch veröffentlichte, sich bereits ein wenig gegen die Macht dieser Interpretation stemmte, gegen den Ersatz des Richters durch den Mediziner. Er zählte unter die Gründe, warum eine Tat dem Täter nicht zugerechnet werden kann, die psychischen Krankheiten, die als Wirkung der gehemmten, erschwerten, oder überhaupt unregelmäßigen Entwicklung der Sexualorgane eintreten, und alle Grade der Melancholie, des Wahnsinns und der Raserei durchlaufen können, vorzüglich beim weiblichen Geschlechte. Besonders merkwürdig darunter ist die beim Eintritt der Mannbarkeit oft erscheinende k r a n k h a f t e F e u e r l u s t, die nicht selten die Ursache der von Knaben und Mädchen so häufig begangenen Brandstiftung zu seyn scheint. Es ist genau dieses »zu sein scheint«, womit eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der »beim Eintritt der Mannbarkeit oft erscheinende[n] krankhafte[n] Feuerlust« 119 zum Ausdruck kommt: 116 LAS, Abt. 65.2, Nr. 326 III, Allerunterthänigste Vorstellung, 1. Juni 1827. Bei Catharina Margaretha Münster wird der Eintritt mit 18 Jahren vermerkt. 117 Abhandlungen aus dem Gebiete der gerichtlichen Medicin, Bd. 3, 2. verm. u. verb. Aufl., Leipzig 1824, 239. 118 Friedrich Benjamin Osiander: Über die Entwicklungskrankheiten in den Blüthenjahren des weiblichen Geschlechts, 2. verb. u. verm. Aufl. Tübingen 1820, 221f. 119 Eduard Henke: Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, 1. Th., Berlin und Stettin 1823, 326. Otto Ulbricht 828 In der Tendenz konnte man mit diesem Argument jede Brandstifterin für unzurechnungsfähig erklären. Warum aber tauchte es so schnell in den Gerichtsakten auf, wie auch die Namen der hier genannten Autoren? Der Grund lag im unveränderten materiellen Strafrecht. Denn wie in anderen Territorien des Reiches stand auch in den Herzogtümern auf Brandstiftung immer noch die Todesstrafe, war die Carolina für dieses Delikt noch in Kraft, und nach der Gesetzeslage konnten die Gerichte auch meist nicht anders, als zum Tode zu verurteilen. Dem Landesherrn blieb dann eine Umwandlung in eine lange Zuchthaussstrafe anheimgestellt, die in der Regel auch erfolgte. So heißt es zum Beispiel 1829: Wir wollen die von dem Holsteinischen Obercriminalgericht wider die Inculpatin Catharina Margaretha Münster aus Schenefeld wegen verübter Brandstiftungen beschlossene Strafe der Enthauptung mit dem Beile aus allerhöchster Gnade bis auf lebenswierige Zuchthausstrafe herabgesetzt haben. 120 Jetzt hatte man einen entscheidenden Grund dafür gefunden, die Mädchen für nicht zurechnungsfähig zu erklären und die trotz Gnade als zu hart empfundenen Strafen von Anfang an niedriger anzusetzen. Die Lösung aus der Gesetzesfalle war gefunden. Typischerweise waren es denn auch die Verteidiger, die diesen neuen Ausweg gern ergriffen. Entsprechend findet man solche Passagen früh in Verteidigungsschriften und in Zusammenfassungen ihrer Argumentation in Berichten von niederen Instanzen an höhere. 121 So beruhte die Aussage über den Regeleintritt bei Johanna Joost (1825) auf privaten Nachforschungen des Verteidigers. Auch die Obergerichte griffen bald darauf zurück, so wenn sie eine vorzeitige Entlassung nach langer Zuchthausstrafe befürworten wollten. So hieß es bei der Befürwortung einer solchen Bitte: Margaretha Beuwig war zur Zeit jener Brandstiftung in der Entwicklungsperiode, ihrer Menstruation nahe und nach den durch Criminaluntersuchungen bewährten Erfahrungen mehrerer Aerzte treten bei jungen Mädchen in diesem Alter nicht selten Störungen der Geistesvermögen und besonders die Lust am Feuer und die Begierde Brand zu stiften, ein. 122 Ohne Zweifel war diese Lösung gut gemeint, zielte auf und bewirkte auch geringere Strafen und vorzeitige Entlassungen; aber sie war äußerst gefährlich in ihren Auswirkungen. Einmal mehr wurde der Geschlechtscharakter zugespitzt, einmal mehr die Frau für minderwertig (venöses Blut ist das schlechtere) erklärt. Biologisierung war der Preis für eine adäquate Strafe. Anders gewendet: Den Preis für die Nicht-Anpassung von Gesetzen zahlen indirekt die Frauen. Regina Schulte beginnt ihre Abrechnung mit der Psychiatrie mit Emil Kraepelins Deutung der Brandstiftung vom Ende des letzten Jahrhunderts. Dessen Deutung, so wie sie Schulte zitiert, ruft Henkes und Osianders Interpretation in Erinnerung; allerdings gab Kraepelin dieser eine sexuelle, genauer gesagt sadistische Akzentuierung. Schulte kann jedoch aufgrund des von ihr ausgeblendeten strafrechtlichen Zusammenhangs die ursprüngliche Funktion dieser Erklärung im System der Justiz nicht in den Blick bekommen, was leicht zu dem Urteil führen kann, daß auch frühere Versionen davon ein so hartes Urteil verdienten wie die einseitig ausgerichtete experimentelle 120 LAS, Abt. 65.2. , Nr. 327 I, Königl. Resolution vom 14. Aug. 1829. 121 Es sei in diesem Zusammenhang nur darauf hingewiesen, daß sich in Verteidigungsschriften auch der Versuch findet, das Heimweh zu einer Krankheit zu stilisieren. Ich habe diesen Aspekt hier nicht weiter behandelt, da die Pyromanie in den Akten eindeutig im Vordergrund steht. 122 Ebd., Nr. 326 II, Bericht und Bedenken, Glückstadt, 15. Juni 1826. Rätselhafte Komplexität 829 Psychologie Kraepelins. Aber die Anfänge des Erklärungsmusters waren doppelgesichtig: Ein gutes Ziel wurde mit einem schlechten Mittel erreicht. Eine schlimme Folge der Wissenschaft? Ja, aber auch die Familien und Bekannten der Täterinnen zögerten keinen Augenblick, wenn mit Argumenten wie Dummheit oder Epilepsie eine Strafmilderung zu erreichen war. 123 Noch bis zur Jahrhundertmitte hatte die bald zur Pyromanie stilisierte Feuerlust eine prominente Stellung unter den Erklärungen der Brandstiftung von weiblichen Jugendlichen, verlor dann aber stark an Überzeugungskraft. 124 123 Auch im Volk wurden pubertätsbezogene Phänomene gelegentlich als »Geistesverwirrung« bezeichnet, so eine Zeugin über Anna Elsabe Krohns intensives Interesse an Männern, LAS, Abt. 65.2, Nr. 327, Allerunt. Vorstellung o. D. mit königlicher Resolution vom 4. Febr. 1831. 124 Vgl. Többen, 10. 831 Andreas Blauert Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion Abenteurer und Piraten auf Madagaskar im 17. und 18. Jahrhundert 1. Einleitung Teil des Madagaskar umgebenden Geheimnisses und Faszinosums ist die Geschichte derjenigen Europäer und Amerikaner, die im 17. und 18. Jahrhundert Stützpunkte und Siedlungen an den Küsten der Insel anlegten, um dort bzw. von dort aus ihren Geschäften als Abenteurer und Piraten, Händler und Kolonisten nachzugehen. 1 Was können wir heute noch, so möchte ich im folgenden fragen, über sie und ihre Begegnungen mit der Welt und den Menschen Madagaskars erfahren? Warum kamen sie gerade nach Madagaskar? Wie lebten sie dort? Wie reagierten die einheimischen Madegassen auf die Fremden? Um Antworten auf diese und andere Fragen zu erhalten, müssen wir uns auf die Spur dieser Menschen begeben - in der zeitgenössischen Piraten-, Forschungs- und Reisesowie Memoirenliteratur genauso wie in den literarischen Imaginationen der Daheimgebliebenen. Dabei wird mich vorrangig die Geschichte der Madagaskar-Piraten interessieren. Dieser letzte Beitrag des Sammelbandes soll aber auch Gelegenheit geben, Aspekte seines Gegenstandes zu berühren, die über den engeren Rahmen kriminalitätsgeschichtlicher Forschung hinausgehen, und so die Perspektiven der Historischen Kriminalitätsforschung in exemplarischer Weise in Richtung einer weit gefaßten Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne zu erweitern. Der folgende Versuch ist daher im Schnittfeld verschiedener historischer und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen und Disziplinen angesiedelt. Sache des Historikers ist es, die Rolle und die Bedeutung Madagaskars im Kontext der europäischen Expansion und für das internationale System der Piraterie an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zu beschreiben. 2 Unter Piraten seien im folgenden zunächst alle Arten von Seeräubern verstanden, also auch die ›halbstaatlichen‹ Freibeuter, Kaperfahrer und Korsaren sowie ihre spezielle karibische Variante, die Flibustiere und Bukaniere. 3 Die Literaturwissenschaft kann (zuvor) bei der quellen- und textkritischen Bewertung der zeitgenössischen Quellen behilflich sein, die sich gelegentlich als wenig zuverlässige Abenteuer- und Kolportageliteratur erweisen. Selbst der berühmte Daniel Defoe besserte mit dieser Art von Literatur, wie gleich zu zeigen sein wird, sein Einkommen auf! 1 Einen ausführlichen Überblick über die Geschichte Madagaskars bietet Mervyn Brown: Madagascar rediscovered. A history from early times to independence, Hamden/ Conn. 1979. - Eine frühere Fassung dieses Beitrags war Grundlage des mündlichen Habilitationsvortrags, den ich am 14.5.1997 vor dem Habilitationsausschuß der Philosophischen Fakultät der Universität Konstanz gehalten habe. Die vorliegende Fassung wurde für den Druck überarbeitet und erweitert. Ich danke Eva Wiebel (Konstanz) für gründliche Lektüre und Kritik. Andreas Blauert 832 Neuere Untersuchungen im Schnittfeld von Literatur, Geschichte und Anthropologie können weiterhelfen, die realen und die literarischen, die damaligen und die heutigen Reisen in die ›andere Welt‹ Madagaskars, die ›Erfindung des Fremden‹ durch Europäer und Amerikaner dort und die (Rück-)Wirkungen ihres Aufeinandertreffens mit den Madegassen zu erfassen. Ich beginne mit einer Geschichte, die wie keine andere geeignet ist, in das Schattenreich aus Fakten und Fiktionen zu führen, das Madagaskar und seine Piraten nicht erst für uns Nachgeborene, sondern auch schon für die Zeitgenossen des 17. und 18. Jahrhunderts dargestellt hat: Mit der Legende von der Freien Piratenrepublik Libertalia, die die Piraten Misson und Caraccioli auf Madagaskar gegründet haben sollen. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich in textkritischer Perspektive mit der Libertalia-Geschichte und anderen gedruckten Quellen zur Geschichte Madagaskars und seiner Piraten, die uns aus dem 18. Jahrhundert zur Verfügung stehen. 4 Erst danach kann ein einigermaßen realistisches Bild der Piraterie im Indischen Ozean gezeichnet sowie in einem nächsten Schritt einige exemplarische Piratenkarrieren vorgestellt werden. Daran anschließend soll in Form einer historischen Spurensuche eine Frage diskutiert werden, die so alt wie die Geschichte der Piraterie ist: War der Pirat ein einfacher Krimineller oder gab es auch den ›edlen Räuber‹, den Robin Hood der Meere, der sich eines subjektiven und moralischen Rechts sicher war und dem die Sympathien zahlreicher Zeitgenossen galten? Die (vorläufige) Antwort auf diese Frage wird ergänzt durch eine Betrachtung des Lebens in den Piratensiedlungen auf der Insel Madagaskar. Abschließend soll der Blick noch einmal zurück nach Europa gerichtet, eine Annäherung an den ›abenteuerlichen‹ Piraten unserer Imaginationen versucht und nach den spezifischen Differenzen zwischen diesem und den Spuren des historischen Piraten gefragt werden. Ein kurzer Ausblick rundet den Beitrag ab. 2. Die Freie Piratenrepublik Libertalia Der Indische Ozean stellte an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert für kurze Zeit das Zentrum des internationalen Seeräuberwesens dar. Arabische und indische Schiffe wurden hier von Piraten, die dafür ihr angestammtes Wirkungsgebiet in der Karibik verlassen hatten, genauso überfallen wie die Schiffe der verschiedenen europäischen 2 Eine eigenständige Piratenforschung hat sich in Deutschland nicht entwickelt. Die letzten, qualitativ sehr unterschiedlichen Gesamtdarstellungen zum Thema in deutscher Sprache waren Wolfram zu Mondfeld: Das große Piratenbuch, München 1976; David Mitchell: Piraten. Geschichte und Abenteuer der Seeräuber auf den Weltmeeren, Wien 1977 (engl. Erstausg. 1976); Fernand Salentiny: Piraten. Eine Bilddokumentation über Schurken und Helden der Seefahrt, Wels 1978; Heinz Neukirchen: Piraten. Seeraub auf allen Meeren, Augsburg 1989; Ludwig Bühnau: Piraten und Korsaren der Weltgeschichte, Würzburg 1963, Neuaufl. Rastatt 1990 (hier Hermann Schreiber als Autor genannt); Douglas Botting: Piraten, Eltville/ Rh. 1992 (amerik. Erstausg. 1978) sowie zuletzt der ausgezeichnete Sammelband von David Cordingly (Hg.): Piraten. Furcht und Schrecken auf den Weltmeeren, Köln 1997 (amerik. Erstausg. 1996). Weitere Literatur von David Cordingly, dem wohl produktivsten Piratenforscher der 90er Jahre, in den Anm. 10 u. 11. 3 Definitorisches zu den verschiedenen Piratentypen u.a. bei Salentiny: Schurken (wie Anm. 2), 12 - 14 und Botting: Piraten (wie Anm. 2), 24f. u. 141. 4 Siehe die ausführliche, erstmalige Zusammenstellung der einschlägigen Literatur im Anhang zu diesem Beitrag. Es fällt auf, daß fast alle für das Thema einschlägigen Werke sehr schnell auch ins Deutsche übersetzt wurden! Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 833 Handelskompanien. 5 Die Nachrichten, die heimkehrende Seefahrer davon aus dem Indischen Ozean nach Europa brachten, verdichteten sich schnell zu einem damals wie heute nur schwer entwirrbaren Knäuel aus Mutmaßungen, Fakten und Übertreibungen über die Taten und Erfolge der Seeräuber. Sie kulminierten in der Legende von der Freien Piratenrepublik Libertalia. Von Europa, so wurde erzählt, waren Misson und Caraccioli auf einem französischen Kaperfahrer zunächst in die Karibik gelangt. Von dort, mittlerweile mit eigenem Schiff, segelten sie um das Kap der Guten Hoffnung herum nach den Komoren und weiter bis an die Nordspitze Madagaskars, wo sie in Diego Suarez ihre Piratenkolonie gründeten. Das Schicksal war Libertalia freilich nicht günstig gesinnt. Gleichermaßen von europäischen Kriegsschiffen wie von kriegerischen Madegassen bedrängt, zerfiel die Piratenrepublik genauso schnell, wie sie entstanden war. - Mit dem Begriff der Legende habe ich es bereits angedeutet: Bis heute haben sich keine zuverlässigen, einer kritischen Überprüfung standhaltenden Belege oder Beweise für die Existenz von Libertalia finden lassen. Alle diesbezüglichen Nachrichten in der Literatur gehen zurück auf einen Bericht in der »General history of the robberies and murders of the most notorious pirates« eines gewissen Capitain Charles Johnson, 1724 in der ersten, 1726 schon in der vierten Auflage erschienen. Diese vierte Auflage wurde um einen zweiten Band ergänzt, in dem die Geschichte der Piraten Misson und Caraccioli erstmals Erwähnung findet. 6 Die vorausgegangenen Auflagen hatten also die Libertalia-Geschichte noch nicht enthalten. 7 Die »General History« gilt allgemein als faktenreich und zuverlässig und wurde folglich von Generationen von Historikern immer wieder aufs Neue ausgeschrieben. Das ist auch der Grund, weshalb die Existenz von Libertalia kaum einmal grundsätzlich in Frage gestellt wurde, auch wenn sich anderswo keine weiteren Hinweise auf sie finden ließen. Einen interessanten Ausweg aus dem angedeuteten Dilemma hat unlängst Marcus Rediker gewiesen: Ein Mann namens Misson, eine Siedlung namens Libertalia mögen nie existiert haben. Dennoch, so räumt er ein, sei ihre Geschichte keine pure Fiktion. Denn wahr sei sie als literarischer Ausdruck, als literarische Verdichtung einer auf 5 Eine erste Orientierung bieten Botting: Piraten (wie Anm. 2) und Jenifer G. Marx: Die »Piratenrunde«, in: Cordingly: Furcht (wie Anm. 2), 142 - 165. - Ältere Monographien unterschiedlicher Qualität zum Thema sind George G. Jackson: Pirates ’gainst their will. A story of the Madagascar pirates, London 1932 (dieses Buch war mir auch über die Auslandsfernleihe nicht zugänglich); Hubert Deschamps: Les pirates à Madagascar aux XVIIe et XVIIIe siècles, Paris 1949, 2e édition revue et modifiée, Paris 1972; Forster D. Arnold-Forster: The Madagascar pirates, New York 1957. - Siehe jetzt vor allem Arne Bialuschewski: Piratenleben. Die abenteuerlichen Fahrten des Seeräubers Richard Sievers, Frankfurt/ M. 1997. Dazu meine Besprechung in: Damals 30 (1998), H. 5, 48. - Siehe auch Anm. 25 - 30. 6 Ich habe die folgende Ausgabe der »General History« benutzt: Arthur L. Hayward (Hg.): A general history of the robberies and murders of the most notorious pirates by Capitain Charles Johnson, 3. Aufl., London 1955, hier 340 - 372 u. 397 - 416 die Geschichte von Libertalia. - Zur Editionsgeschichte der »General History« siehe Piracy & privateering (National Maritime Museum, Catalogue of the Library vol. 4), London 1972, 83 - 97. - Die Libertalia-Geschichte faßt zusammen Philip Gosse: The pirates’ who’s who. Giving particulars of the lives & deaths of the pirates & buccaneers, Glorieta/ New Mexico 1988 (Erstausg. 1924), hier: 73f. u. 210 - 218. 7 So auch nicht die folgenden deutschen Übersetzungen der »General History«: Johnsohn: Schauplatz der englischen Seeräuber (vollständ. bibliogr. Angaben im Anhang); Daniel Defoe: Umfassende Geschichte der Räubereien und Mordtaten der berüchtigten Piraten. Ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen von Nikolaus Stingl, Frankfurt/ M. 1982, hier: 387 zur benutzten Auflage; Daniel Defoe: Eine allgemeine Geschichte der Piraten. Eine Auswahl aus dem Englischen übersetzt mit einem Vorwort und erläuternden Anmerkungen von Jörg Rademacher, Münster 1996, hier: 9 zum Auswahlverfahren. Andreas Blauert 834 den Piratenschiffen des 17. und 18. Jahrhunderts in Ansätzen verwirklichten ›maritimen Gegenkultur‹. Ihr Ferment seien radikale politische Ideen gewesen, die auf den Unterdecks europäischer Handels- und Sklavenschiffe in die Neue Welt gekommen seien. 8 Diese Deutung der Libertalia-Geschichte klingt plausibel. Auch ihr mangelt es freilich an den entscheidenden textkritischen Einblicken und Argumenten im Umgang mit der »General History«. Denn es handelt sich, so möchte ich festhalten, im Fall der »General History« nicht um ein Werk moderner Geschichtsschreibung. Sondern um einen Text, für den es geradezu konstitutiv ist, die Grenzen zwischen ›Fact‹ und ›Fiction‹ zu verwischen. Sehen wir uns die »General History« etwas genauer an. 3. Textkritisches zur Piratenliteratur des 18. Jahrhunderts Hinter dem Namen des Autors der »General History«, Capitain Charles Johnson, verberge sich, so ist immer wieder angenommen worden, niemand anderes als der berühmte Schriftsteller Daniel Defoe. Die Frage der Autorschaft der »General History« kann hier nicht abschließend geklärt werden. 9 Tatsache ist jedoch, daß Defoe die verbreiteten Piratengeschichten seiner Zeit mehrfach aufgegriffen und gestaltet hat. So auch, und in Deutschland vergleichsweise wenig bekannt, im Falle des 1719 erschienenen »Robinson Crusoe«, seines wohl bekanntesten Romans, mit dem er gleichzeitig zum Namensgeber einer ganzen Gattung wurde, der nach ihm benannten Robinsonaden. Das historische Vorbild für Defoes Robinson Crusoe war ein gewisser Alexander Selkirk: Dieser ließ sich im Jahr 1705 nach einem Streit auf dem Schiff des englischen Weltumseglers, Freibeuters und Forschers William Dampier auf eigenen Wunsch auf der Insel Juan Fernandez vor der Küste Chiles aussetzen. Selkirk mußte daraufhin vier Jahre auf dieser Insel ausharren, bis er im Jahr 1709 von Woodes Rogers, einem anderen bekannten Weltumsegler und Freibeuter, unter dessen Kommando William Dampier mittlerweile als Steuermann und Lotse fuhr, aus seiner selbstgewählten Verbannung wieder befreit werden konnte. 10 Des weiteren befaßte sich Daniel Defoe mehrfach mit der Person bzw. Figur des Henry Every, einem der berühmtesten und berüchtigsten Piraten, der je den Indischen Ozean unsicher gemacht hat. 1709 waren bereits die phantastischen »Leben und Thaten des Capitain Johann Avery« erschienen, 1713 war Every zum Helden eines Theaterstücks mit dem Titel »The Successful Pirate« geworden, die beide allerdings nicht aus Defoes Feder stammten. 11 1719 erschien dann Defoes »King of Pirates«, zwei fiktive Briefe Everys enthaltend. 12 Und 1720 der Roman »Captain Singleton« mit Every als Held. Außerdem ist Defoe immer wieder als Autor des verschiedentlich allerdings als authentisch geltenden Berichts eines gewissen Robert Drury gehandelt 8 Marcus Rediker: Libertalia: Utopia der Piraten, in: Cordingly: Furcht (wie Anm. 2), 126 - 141, bes. 127 - 130, 133f. u. 139 - 141. 9 Zum Forschungsstand P.N. Furbank u. W.R. Owens: The canonisation of Daniel Defoe, New Haven 1988, 100 - 106. - Arne Bialuschewski (s. schon Anm. 5) bereitet an der Universität Kiel eine Dissertation zur Autorschaft der »General History« vor. 10 Piracy & privateering (wie Anm. 6), 32f. u. 141 und David Cordingly u. John Falconer: Pirates. Fact & Fiction, London 1992, 94f. - Ausführlich zu Dampier und Rogers David Cordingly: Seeräuber als Entdecker, in: Cordingly: Furcht (wie Anm. 2), 60 - 77. 11 (Brock): Leben und Thaten des Capitain Johann Avery (s. Anhang). - Zum »Successful Pirate« David Cordingly: Under the Black Flag. The romance and the reality of life among the pirates, New York 1995 (Neuaufl. unter dem Titel: Life among the pirates. The romance and the reality, London 1996), 23f. Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 835 worden, erschienen 1729, der fünfzehn Jahre unter den Eingeborenen und den Piraten Madagaskars gelebt haben will. 13 Sozusagen zwischen all diesen Werken, die das Piratenthema in verschiedenen Gattungen immer wieder aufs neue variieren, erschien zwischen 1724 und 1728 die uns besonders interessierende »General History«. Versuchen wir zunächst zu klären, welcher Gattung sie angehört. Anselm Schlösser hat am Beispiel der »Leben und Taten der berühmtesten Straßenräuber, Mörder und Spitzbuben«, von einem gewissen Capitain Alexander Smith erstmals 1714 in englischer Sprache herausgegeben, ausgeführt: »Auf den ersten Blick erscheinen die Biographien als regelrechte Reportagen. Sie empfehlen sich (...) durch Faktenfreudigkeit, exakte Orts- und Zeitangaben, reichlich eingestreute Personennamen und Genauigkeit im Detail als authentische Berichte, die jedermann, wenn er wollte, nachprüfen könnte.« Freilich: »Das Aktenkundige gibt bei Smith nur den handfesten äußeren Rahmen ab. Seine Berichterstattung bedarf der Ausschmückung - nicht zuletzt mit der erkennbaren Nebenabsicht, den Text um des Seitenhonorars willen zu strecken. Das geschieht auf verschiedene Weise. Die Zutaten gliedern sich potentiell in drei miteinander verquickte Rubriken: die möglicherweise echten, die wahrscheinlich selbst erdachten und die offenbar anderswo abgeschriebenen«, womit literarische Vorlagen - Schwankbücher, der pikareske Roman und andere mehr - gemeint sind. 14 Gleiches, so meine These, gilt für Johnsons »General History«, die bezeichnenderweise seit 1734 oft in Verbindung mit Smiths Werk gedruckt wurde. 15 Vorgefundenes und Erdachtes, historisch Verbürgtes und literarisch Mögliches vermischen sich in ihr und gerinnen in ästhetischer Perspektive zur Wahrheit einer »Authentizitäts-« oder »Tatsächlichkeitsfiktion« 16 , die nicht mit der vergangenen Wirklichkeit, so wie sie der moderne Historiker zu rekonstruieren versucht, ineinsgesetzt werden darf. Autoren wie Smith und Johnson öffnen ihre Werke so dem die Phantasie des Lesers beflügelnden Abenteuer- und Lügenroman und verwandten literarischen Gattungen. Vergleichbares gilt für die Forschungs-, Reise- und Mémoirenliteratur des 18. Jahrhunderts, neben der »General History« unsere zweite wichtige Quellengruppe zur Geschichte des Seeräuberwesens auf Madagaskar. Das hat Konsequenzen für die Forschung: Der an einer möglichst detailgenauen Rekonstruktion der Geschichte der Piraterie im Indischen Ozean interessierte Historiker muß in mühsamer Kleinarbeit versuchen, die Informationen der »General History« mit denen verschiedener in Frage kommender Quellen abzugleichen. Wer dagegen stärker 12 Daniel Defoe: The king of pirates being an account of the famous enterprises of Captain Avery with the lives of other pirates and robberies, New York (1904) (=Werke Bd. 16), 1 - 86. - Teilübertragung ins Deutsche unter dem Titel: Der Pirat. Goldschätze, Bukaniere, ferne Inseln. Einführung und Übertragung K. K. Doberer, Würzburg 1978. 13 Pasfield Oliver (Hg.): Madagascar; or, Robert Drury’s journal, during fifteen years’ captivity on that island, London 1890. - Zur Frage der Autorschaft Furbank/ Owens: Canonisation (wie Anm. 9), 109 - 113 unter maßgeblicher Verwendung von Arthur W. Secord: Robert Drury’s Journal and other studies, Urbana/ Ill. 1961. 14 Alexander Smith: Leben und Taten der berühmtesten Straßenräuber, Mörder und Spitzbuben so in den letzten fünfzig Jahren in dem Königreich England sind hingerichtet worden, Leipzig 1986 (dt. Erstausg. Frankfurt 1720), 12f. 15 Piracy & privateering (wie Anm. 6), 83f. 16 Der Begriff nach Eberhard Kreuzer: Die Entstehung des Romans in England, in: Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt, Bd. 4, Berlin 1983, 211 - 236, hier: 219f., wo er zur Charakterisierung der Prosaschriften und Romane Daniel Defoes dient. Andreas Blauert 836 literaturwissenschaftlich mit der »General History« arbeitet, den werden ihre literarischen Vorlagen und Motive interessieren und der wird diese in ihren rezeptions- und wirkungsgeschichtlichen Kontexten diskutieren. Im Falle der Libertalia-Geschichte fällt in der letztgenannten Perspektive ohne weiteres auf, daß in ihr das literarische Motiv der exotischen Insel gestaltet wurde. Urs Bitterli hat in einer kleinen diesem Motiv gewidmeten Studie nachgezeichnet, daß sich mit Inseln seit alters die verschiedensten Paradiesessehnsüchte verbunden haben, und daß Inseln im 17. und 18. Jahrhundert zu den bevorzugten Schauplätzen der Utopienliteratur wurden. 17 Damit ist denn auch der Gattungskontext benannt, in den ich die Libertalia-Geschichte stellen möchte: Als fiktionales Einsprengsel in die »General History« formuliert sie eine Utopie, deren Substrat die in Europa allenthalben kursierenden Gerüchte, Mutmaßungen und Vorstellungen über das Leben der Piraten, Abenteurer und Desperados in der Karibik und auf Madagaskar darstellten. Inhaltlich noch einem älteren Utopietyp verpflichtet - der Staats- und nicht der jüngeren Naturutopie - präsentiert sich die Libertalia-Geschichte formal durchaus modern: Utopien werden im Verlaufe des 18. Jahrhunderts zunehmend nicht mehr nur in abgeschlossenen Staatsromanen formuliert; auch andere Texte bzw. Gattungen nehmen jetzt einzelne utopische Elemente in sich auf. 18 Ich kann diesen Zusammenhängen an dieser Stelle vorerst nicht weiter nachgehen. Wichtig war mir vor allem, am ausgewählten Beispiel darauf aufmerksam zu machen, welche quellenkritischen Probleme unsere wichtigsten Quellen zur Piraterie des 17. und 18. Jahrhunderts aufwerfen. Quellen, die unser heutiges Bild des Seeräuberwesens noch immer in entscheidendem Maße prägen. Es besteht deshalb aber keine Veranlassung, die fraglichen Quellen in Bausch und Bogen zu verdammen: Erstaunlich viele Aussagen halten der kritischen Überprüfung stand. Und für die nicht belegten bzw. belegbaren Ausschmückungen, Phantasien und Übertreibungen dieser Werke gilt, was Johann Gottfried Schnabel in seiner »Insel Felsenburg«, der bekanntesten deutschen Robinsonade, die gerade in einer großen Neuausgabe erschienen ist, zum Verhältnis von ›Wahrheit‹ und ›Fiktion‹ - beide Begriffe hier nach Schnabel - in der Literatur gesagt hat: Aber mit Gunst und Permission zu fragen: Warum soll man denn dieser oder jener, eigensinniger Köpfe wegen, die sonst nichts als lauter Wahrheiten lesen mögen, nur eben lauter solche Geschichten schreiben, die auf das kleinste Jota mit einem cörperlichen Eyde zu bestärcken wären? Warum soll denn eine geschickte Fiction, als ein Lusus Ingenii, so gar verächtlich und verwerfflich sein? Wo mir recht ist, halten ja auch die Herren Theologi selbst davor, daß auch in der Heil. Bibel dergleichen Exempel, ja gantze Bücher, anzutreffen sind. Sapienti sat. 19 Auf einige Implikationen dieser Aussage wird im folgenden noch einzugehen sein. Versuchen wir zunächst, uns ein gleichsam bereinigtes, realistisches Bild der Piraterie im Indischen Ozean zu machen. 17 Urs Bitterli: Die exotische Insel, in: Thomas Koebner u. Gerhart Pickerodt (Hg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt/ M. 1978, 11 - 30, hier: 14. 18 Siehe die verschiedenen Beiträge in Monika Neugebauer-Wölk u. Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf bis zum Zeitalter der Revolution, Tübingen 1996 (Besprechung in der FAZ vom 15. Jan. 1997). - Siehe in diesem Zusammenhang auch Joachim Möller: Defoes Piratenparadies Libertalia, in: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 8 (1983), 129 - 144, hier: 137, der in der Libertalia-Utopie eine fiktionale Adaption von Gedanken des britischen Staatstheoretikers John Locke erkennt. 19 Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. Ausgabe in drei Bänden. Mit einem Nachwort von Günter Dammann. Textredaktion Marcus Czerwionka unter Mitarbeit von Robert Wohlleben, Frankfurt/ M. 1997, hier: Bd. 1, 12. Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 837 4. Madagaskar und die »Pirate Round« Ich habe es bereits angesprochen, der Indische Ozean stellte an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert für kurze Zeit das wichtigste Aktionsgebiet der europäischen und amerikanischen Seeräuber dar. In der Literatur werden die dreißig Jahre vom Ausgang des 17. bis in das erste Viertel des 18. Jahrhunderts gelegentlich sogar als das Goldene Zeitalter der Piraterie bezeichnet. Damals verließen die Piraten zweimal ihr angestammtes Wirkungsgebiet in der Karibik und begaben sich auf die sogenannte »Pirat Round«. So wurde die von Amerika um das Kap der Guten Hoffnung herum in den Indischen Ozean führende Tour der Piraten mit der Insel Madagaskar als sicherem Ausgangs- und Rückzugspunkt für ihre Beutefahrten an den Küsten Afrikas, Arabiens und Indiens genannt. Madagaskar bot den Piraten ideale Bedingungen: Die Kolonialisierung der Insel war bis zum Ende des 17. Jahrhunderts über einige gescheiterte Versuche nicht hinausgekommen, und der Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung entwikkelte sich vergleichsweise unproblematisch. Hier konnten die Piraten ihre Wasser- und Lebensmittelvorräte ergänzen, ihre Schiffe instandsetzen, ja, hier ließen sich einige von ihnen nieder. Phasenweise sollen bis zu mehrere Tausend europäischer und amerikanischer Piraten in verschiedenen Siedlungen auf Madagaskar gelebt haben, eine Zahl, die jedoch zweifellos zu hoch gegriffen ist. 20 Erstmals begaben sich die »Roundsmen«, wie die Madagaskar-Piraten auch genannt wurden, um 1690 in größerer Zahl auf die Fahrt nach Madagaskar, nachdem die Piraterie in der Karibik in eine gewisse Stagnation geraten war. Der Überfall Henry Morgans auf Panama, damals die bei weitem reichste Stadt des spanisch-amerikanischen Imperiums, im Jahr 1671 hatte den vorläufig letzten Höhepunkt der Piraterie in der Karibik dargestellt. 21 Zu Anfang des 18. Jahrhunderts wurde es freilich schon wieder ruhig um Madagaskar, möglicherweise aufgrund der Tatsache, daß die europäischen Seemächte sich jetzt verstärkt um eine Sicherung der Schiffahrtsrouten im Indischen Ozean bemühten. Die zu den Bahamas gehörende Insel New Providence mit dem Hafen Nassau wurde jetzt zur Heimstatt der in die Karibik zurückkehrenden Piraten. Als der erwähnte Woodes Rogers hier 1718 im Auftrag der englischen Regierung mit harter Hand für Ordnung sorgte, begaben sich die »Roundsmen« zum zweiten Mal auf die Fahrt nach Madagaskar. Doch das Goldene Zeitalter der Piraterie sollte sich jetzt schnell seinem Ende entgegenneigen. Die »Pirate Round« stellte ein hochkomplexes ökonomisches System dar, verband sie doch Häfen und Menschen in der Karibik und in den nordamerikanischen Kolonien, auch in Europa, mit Madagaskar und dem Indischen Ozean: Denn Piratenbeute war »nur dann etwas wert, wenn sich ihr Wert auch realisieren ließ - wenn also ein geeigneter Markt zur Verfügung stand, auf dem sie verkauft oder eingetauscht werden konnte. Und dafür stellte Nordamerika den bedeutendsten Handelsplatz dar. Während eines Großteils des Goldenen Zeitalters operierten die Piraten mit Hilfe der aktiven Unterstützung und Zusammenarbeit der Gouverneure, Kaufleute und Einwohner der nord- 20 Diese hohe Zahl nennt z.B. Mitchell: Geschichte (wie Anm. 2), 118f. 21 Botting: Piraten (wie Anm. 2), 24. - In weiterführender Perspektive zur Geschichte der Piraterie in der Karibik seien auswahlartig genannt Peter Wood: Abenteurer der Karibik, Eltville/ Rh. 1992 (amerik. Erstausg. 1979); Hermann Teifer: Die Herren der Karibik. Auf den Spuren der Korsaren, München 1988 und Cordingly: Furcht (wie Anm. 2). Andreas Blauert 840 amerikanischen Kolonien. In England wurden die Piraten unbarmherzig verfolgt. Aber in den amerikanischen Häfen gab man ihnen Schutz und Gastfreundschaft, Schiffe, Proviant, Besatzungen, gefälschte Kaperbriefe und einen Ort, an dem sie ihre Beute verkaufen konnten. Denn die amerikanischen Kolonien zogen ebenso Gewinn aus der Piraterie wie die Piraten selbst. Und indem sie die Piraterie unterstützten, versetzten die Amerikaner der britischen Herrschaft empfindliche Schläge in jenem immer heftiger werdenden Kampf, der seinen Höhepunkt schließlich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg finden sollte.« 22 Die englische Regierung hatte sich diese englandfeindliche Einstellung und Politik der amerikanischen Kolonien im wesentlichen selbst zuzuschreiben. 1651 hatte sie die sogenannten »Navigation Acts« erlassen: Alle Im- und Exporte der Kolonien sollten über das Mutterland erfolgen, sämtliche Waren sollten auf britischen Schiffen transportiert werden, die ausschließlich mit britischen Matrosen bemannt sein sollten. In Folge dieser unsinnigen, auf die Monopolisierung des Handels zielenden, letztlich unpraktikablen Bestimmungen unterstützten die Amerikaner offen Schleichhandel und Piraterie. Der Generalinspektor der Zollbehörde von New England, Edward Randolph, einer der wenigen Englandtreuen, der nicht mit den Piraten gemeinsame Sache machte, konnte daher 1696 nur resigniert feststellen, daß die Piraten vormals Schiffe von 60 oder 70 Tonnen ausrüsteten und sie ohne Vollmacht nach Spanisch-Westindien schickten, von wo sie große Mengen von Silbermünzen und ungemünztem Gold, prunkvolle Pelerinen, Kirchensilber und andere Schätze heimbrachten, dergestalt, daß der spanische Gesandte darüber Klage führte. Aber nun haben diese Piraten einen profitableren und weniger gefährlichen Seeweg zum Roten Meer gefunden, wo sie den Mohren alles, was diese haben, ohne Gegenwehr abnehmen und auf irgendeine Plantage auf dem amerikanischen Kontinent oder den angrenzenden Inseln schaffen, wo sie aufgenommen und versteckt werden und wo sie auch ihre Schiffe ausrüsten. 23 Und weiter: Die Piraten gehen durch die Straßen mit ihren Taschen voll Gold und sind die ständigen Begleiter einflußreicher Regierungsmitglieder. Sie bedrohen mein Leben und alle, die mit ihrer Ergreifung zu tun hatten; transportieren ihre Schmuggelware in Booten von einem Ort zum andern auf den Markt; bedrohen das Leben der Beamten des Königs und holen die Waren mit Waffengewalt von ihnen zurück. Die ganze Gegend wimmelt von Piraten, so daß, werden keine wirksamen Maßnahmen ergriffen, der amerikanische Handel zugrunde gerichtet wird. 24 5. Piratenkarrieren: Every, Plantain & Co. Die Piraten Misson und Caraccioli und mit ihnen Libertalia mögen nie existiert haben, über andere Piraten und ihre Stützpunkte auf Madagaskar wissen wir dafür umso besser Bescheid. Genannt seien nur Thomas Tew, der 1692 als einer der ersten in den Indischen Ozean fuhr und nach seiner Rückkehr einen regelrechten Run von Seeräubern aller Herren Länder in den Indischen Ozean auslöste. 25 Oder der bereits erwähnte Henry Every, der 1695 beim Überfall auf die indische »Ganj-i-Sawai« möglicherweise die 22 Botting: Piraten (wie Anm. 2), 25. 23 Ebd., 27. 24 Ebd. 25 Hayward: General History (wie Anm. 6), 397 - 416. Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 841 wertvollste Schiffsladung erbeutete, die je in die Hände von Piraten fiel. 26 Oder William Kidd, eine tragische Figur, der, als Piratenjäger in den Indischen Ozean geschickt, dort selbst (und wider Willen? ) zum Piraten wurde und zurück in der Heimat im Jahr 1701 in einem umstrittenen Prozeß zum Tode verurteilt wurde. 27 Oder John Plantain, der sich in der Bucht von Antongil, auch Ranterbay genannt, im Nordosten Madagaskars niedergelassen hatte, wo er es unter seinesgleichen und Madegassen zu einigem Einfluß brachte. Plantain verließ Madagaskar erst, als es ihm nicht mehr sicher genug erschien, und soll sich in den Dienst des mächtigen indischen Piratenfürsten Angria begeben haben. 28 Schließlich Edward England und John Taylor, die wie John Plantain Anfang der 1720er Jahre nach Madagaskar kamen. 29 Vor allem die kleine Insel Sainte Marie unweit der Ranterbay wurde von den genannten Piraten immer wieder angelaufen. Die Namen der genannten Seeräuber fehlen in keiner der einschlägigen modernen Darstellungen zur Geschichte der Piraterie im Indischen Ozean. 30 Für sie alle gilt, was am Beispiel der »General History« und der Libertalia-Geschichte bereits grundsätzlich erörtert wurde: Die Quellen- und Literaturgrundlage der betreffenden Schilderungen ist schwankend, manches fußt auf den Übertreibungen und Fehlinformationen der einschlägigen zeitgenössischen Berichte. 31 Ein besonders krasses Beispiel stellt die Person bzw. Figur des Henry Every dar, von Adrian van Brock gar zum König von Madagaskar befördert. 32 Arne Bialuschewski hat dagegen festgestellt, daß Every überhaupt nur einmal auf seiner Fahrt in Richtung Rotes Meer einen kurzen Aufenthalt in Saint Augustin 26 (Brock): Leben und Thaten des Capitain Johann Avery (s. Anhang); Johnsohn: Schauplatz der englischen Seeräuber (s. Anhang), 64 - 106. - Aus indischer Sicht: Rajaram N. Saletore: Indian pirates. From the earliest times to the present day, New Delhi 1978, 53 - 57. - Nahezu unbekannt blieb die Erzählung des Autors Hans R. Berndorff: Das Reich des Piraten Avery, Berlin 1982 (Erstausg. 1944). Eine kleine Nebenrolle spielen Every und die anderen Madagaskar-Piraten in dem Roman von Bharati Mukherjee: Die Träne des Großmoguls, München 1997 (amerik. Erstausg. 1993). 27 Hayward: General History (wie Anm. 6), 386 - 396. - Siehe auch Graham Brooks (Hg.): Trial of Captain Kidd, Edinburgh (1930) - mit den Akten des gegen Kidd geführten Prozesses; Robert C. Ritchie: Captain Kidd and the war against the pirates, Cambridge/ Mass. 1986 - eine der besten neueren Arbeiten zum Piratenthema (s. von dems. auch: Samuel Burgess, pirate, in: William Pencak u. Conrad E. Wright (Hg.): Authority and resistance in early New York, New York 1988, 114 - 137); Frank T. Zumbach: William Kidd. Über einen Erzpiraten, amerikanischen Freibeuter und korrupte Herren mit hohen Perükken, Mindelheim 1988. 28 Downing: Die neuesten Unruhen (s. Anhang), 141 - 212. - Weiterführend zu Indien siehe John Biddulph: The pirates of Malabar and an Englishwoman in India two hundred years ago, New Delhi 1992 (Erstausg. 1907) sowie Saletore: Indian Pirates (wie Anm. 16). 29 Johnsohn: Schauplatz der englischen Seeräuber (s. Anhang), 202 - 272; Hamilton: East Indies (s. Anhang), 214 - 218 (dt. Teilübers.); Downing: Die neuesten Unruhen (wie Anm. 28); Bucquoy: Sechzehenjährige Reise nach Indien (s. Anhang), 43 - 133. - England und Taylor waren, bevor sie nach Madagaskar kamen, an der west- und ostafrikanischen Küste aktiv. Zu den dort herrschenden Verhältnissen siehe neben der »General History« und Bucquoy auch Snelgrave: Nouvelle relation (s. Anhang), 228 - 348. 30 Zusätzlich zu der schon in Anm. 5 genannten Literatur zu den Piraten Madagaskars sind unbedingt zu konsultieren, da außerordentlich quellenreich, S. Charles Hill: Notes on piracy in Eastern waters, in: The Indian antiquary. A journal of oriental research 52 (1923) Sup. - 57 (1928) Sup. und Charles Grey: Pirates of the Eastern seas (1618 - 1723). A lurid page of history, Port Washington/ N. Y. 1971 (Erstausg. 1933). - Weniger einschlägig dagegen Hamilton Cochran: Freebooters of the Red Sea. Pirates, politicians and pieces of eight, Indianapolis 1965 und A. G. Course: Pirates of the Eastern seas, London 1966. - In deutscher Sprache Igor Moshejko: Am Mast der Totenkopf. Piraterie im Indischen Ozean, Berlin/ DDR 1981 (russ. Erstausg. 1977). 31 Erläuterungen und Richtigstellungen zur Piratenliteratur des 18. Jahrhunderts bieten insbesondere Alfred u. Guillaume Grandidier (Hg.): Collection des ouvrages anciens concernant Madagascar, Bde. 3 u. 5, Paris 1905 u. 1907. Siehe auch Brown: Madagascar (wie Anm. 1). Andreas Blauert 842 oder Tuléar im Süden Madagaskars eingelegt hat, um dort sein Schiff instandzusetzen und Proviant an Bord zu nehmen. Möglicherweise plante er einen weiteren Stopp auf Madagaskar auf seinem Rückweg in die Karibik. Nachgewiesen ist aber nur ein Aufenthalt auf Réunion, wo die französischen und dänischen Mitglieder seiner Besatzung abmusterten, da sie sich in der Karibik nicht in englisches Einflußgebiet begeben wollten. 33 Mögen also viele der bekannten Piratenbiographien zukünftig noch kräftig zu korrigieren sein - die Forschung hat parallel dazu begonnen, ganz neue Biographien bislang noch völlig oder doch zumindest weitgehend unbekannter Piraten zu schreiben. So hat Arne Bialuschewski eine Studie über den deutschen Piraten Richard Sievers vorgelegt, der zwischen 1695 und 1699, auch mit Henry Every segelnd, den Indischen Ozean unsicher gemacht hat: Sievers kam im August 1695 als Quartiermeister der »Portsmouth Adventure« ins Rote Meer, an dessen schmalem Eingang gleich mehrere Piratenschiffe der indischen Mekkapilgerflotte auflauerten. Nachdem die Seeräuber mehrere Wochen gewartet hatten, sichteten sie endlich das die Pilger begleitende Handelsschiff »Fath-i- Mahmamadi«, das sie widerstandslos aufbringen und plündern konnten. Wenige Tage später griffen die Seeräuber das Flagschiff der kleinen Flotte an, die mit vierzig Kanonen bewaffnete, oben erwähnte »Ganj-i-Sawai«. In dem Gefecht stand den unter der Führung Everys stehenden Seeräubern das Glück zur Seite: Zunächst zerbarst ein Geschütz der Inder und dann brachte ein Kanonenschuß den Großmast der »Ganj-i-Sawai« zum Einsturz. Nach wenigen Stunden war der Widerstand der Inder gebrochen, und die Piraten enterten das reich beladene Schiff. Mehrere Tage zogen die Seeräuber plündernd und vergewaltigend durch die Decks, dann erst ließen sie von ihren Opfern ab und verteilten die Beute. Insgesamt dürfte jeder der beteiligten Piraten Münzen und Juwelen im Wert von ungefähr 1.000 Pfund erhalten haben, das war mehr, als ein Seemann in seinem ganzen Leben verdienen konnte. Nicht immer waren die Piraten freilich so erfolgreich. Im April 1698 sichtete die Mannschaft der »Soldado«, deren Kommandant Sievers inzwischen war, das Handelsschiff »Sedgewick«, das kurz zuvor dem erwähnten William Kidd entkommen war. Nach einer neunstündigen Verfolgung, die die Piraten rudernd bestritten hatten, gaben die Engländer auf. Da ihre Ladung aber nur aus Pfeffer bestand, mit dem die Seeräuber nichts anzufangen wußten, brachten sie nur einige Segel, einen Anker, Tauwerk und einiges andere mehr an sich, bedienten sich auch an den Alkoholvorräten des Ostindienfahrers, um dann weiter zu segeln. Die Karriere von Richard Sievers sollte enden wie die vieler Piraten vor ihm: Am Kap der Guten Hoffnung gefangengenommen, verstarb er in einem Gefängnis in Bombay im Sommer des Jahres 1700. 34 Biographische Studien zu einzelnen Piraten wie die hier vorgestellten werden uns eine Vielzahl neuer, auch qualitativ neuer Einblicke ins Piratenleben vermitteln. Wird 32 (Brock): Leben und Thaten des Capitain Johann Avery (s. Anhang). - Deschamps: Pirates (wie Anm. 5), 2. Aufl., 189 kennt insgesamt vier ›falsche‹ Könige Madagaskars: Neben Henry Every den genannten John Plantain, außerdem den Grafen Linange und den Grafen Benyowsky. Zu den beiden letztgenannten siehe unten Abschn. 7 u. 8. 33 Freundl. Mitteilung von Arne Bialuschewski, dem ich noch eine ganze Reihe weiterer, wichtiger Hinweise und Anregungen verdanke. - Siehe auch Bialuschewski: Piratenleben (wie Anm. 5), 52. 34 So die knappe Wiedergabe von Bialuschewski: Piratenleben (wie Anm. 5). - Hill: Notes (wie Anm. 30), Juli 1926, 101 kennt Sievers unter dem Namen Dirk Chivers oder Shivers. Siehe auch das Chivers gewidmete Kapitel in Grey: Eastern seas (wie Anm. 30), 168 - 175 und Jan Rogozinski: Pirates! Brigands, buccaneers, and privateers in fact, fiction, and legend - An A-Z Encyclopedia, New York 1996 (Erstausg. 1995), 72. Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 843 das Bild vom Piraten als dem verwegenen Abenteurer, als den wir ihn fast alle in unserer Vorstellung tragen, dann noch Bestand haben? Müssen wir nicht ein gänzlich unromantisches Bild gewärtigen: Der Pirat als kühl rechnender Unternehmer ähnlich dem Sklavenhändler? Nun, schon die einschlägigen geschichtswissenschaftlichen Deutungen zur Entstehung und Funktion der Seeräuberei in der Karibik haben sich von einem einseitigen und unkritischen, romantisch-verklärenden Piratenbild verabschiedet. Piraterie wird von ihnen als ein Instrument der Hohen Politik begriffen: Das nachdrückliche Bestreben der nordwesteuropäischen Mächte, sich vom lukrativen Transatlantikhandel Spaniens eine gehörige Scheibe abzuschneiden und selbst in Amerika politisch und ökonomisch Fuß zu fassen, habe erst die geopolitischen Rahmenbedingungen für das klassische westindische Seeräuberwesen geschaffen. 35 Stärker ökonomisch argumentierend sind Seeräuber auch als Agenten der Genese und Durchsetzung merkantilistischer bzw. kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen bezeichnet worden: Beute, so die griffige Formel, wurde zu Kapital. 36 Doch wo und wie lassen sich in dieser Welt der Piraten und der Seeräuberei dann noch die Wunsch(t)räume und Erfahrungswelten des Abenteuers, der Exotik und der Utopie lokalisieren, die doch zumindest unsere Bilder und Deutungen vom Piratenleben bestimmen und die sich in alle funktionalen Deutungen der Geschichte der Piraterie immer wieder und wie von selbst einnisten. Eine methodisch ›kontrollierte‹ Antwort auf diese Frage fällt alles andere als leicht. Ich schlage vor, zwischen verschiedenen (historischen und aktuellen) Aussageebenen und Bedeutungsschichten des Piratenbegriffs zu unterscheiden und deren spezifischen Wahrheits- und Wirkungsgehalt herauszuarbeiten. Beginnen wir mit einer historischen Spurensuche zur piratischen Lebensweise. 6. Pirat und piratische Lebensweise - eine Spurensuche Unter Piraten sollten in dieser Studie, so wurde es eingangs formuliert, zunächst alle Arten von Seeräubern verstanden werden, also auch die ›halbstaatlichen‹ Freibeuter, Kaperfahrer und Korsaren sowie ihre spezielle karibische Variante, die im 16. und 17. Jahrhundert maßgeblich zu Englands Aufstieg zur See- und Weltmacht beigetragen haben. Carl Schmitt unterscheidet in seinen wenig bekannten Ausführungen zur Geschichte der Piraterie diese »Privateers« von den »ins bloß Kriminelle abgesunkene(n) Seeräuber(n)« und vom »bloße(n) Verbrechertum« der Seeräuberei vor allem dann des 18. Jahrhunderts. 37 Anderen gelten dagegen nur diese letzteren, außerhalb aller Legitimationen und Ordnungen stehenden Seeräuber als wahre Piraten. Denn: »Das Piratentum ist eine Lebensform. Es hat seine eigenen Bedingungen, seine eigenen Regeln, sein eigenes Denken. Der Pirat und die Piratin dienen niemandem außer der Schiffsbesat- 35 Frank Bardelle: Freibeuter. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Transformation einer historischen ›Randbewegung‹ in der Karibischen See, Münster 1986, 64. 36 Ebd., 69 - 72. 37 Carl Schmitt: Das Meer gegen das Land; ders.: Staatliche Souveränität und freies Meer. Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit, in: ders.: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 - 1969. Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 1995, hier: 395 - 400 u. 401 - 430, die Zitate 396 u. 413 (freundl. Hinweis von Dieter und Ruth Groh, Konstanz). Andreas Blauert 844 zung, in der sie augenblicklich segeln, nachdem sie sich ihr freiwillig angeschlossen haben. Der Pirat und die Piratin haben sich, ihre jeweilige Gruppe, ihr jeweiliges Schiff und vielleicht einige Rückzugsgebiete - sonst nichts. Sie gehorchen nichts und niemandem, sie haben keine Nation zu verteidigen, keinen Führer, keinen Gott, keine Regierung, keinen Staat« 38 . Diese emphatische Aussage, die aus dem Piraten einen ›Sozialbanditen‹ bzw. ›Sozialrebellen‹ der Meere und aus seinen Räubereien eine ›primitive Form organisierten sozialen Protests’ macht 39 , bleibt zugegebenermaßen nicht mehr als eine Behauptung, wenn sie nicht anzugeben weiß, wo Hinweise auf diese vermutete oder unterstellte piratische Lebensweise zu suchen und woran diese festzumachen sind. Nach Lage der Dinge kann das nur heißen, die Organisation der Piraten auf ihrem Schiff und bei ihren Beutefahrten zu untersuchen. Autoren wie Marcus Rediker sehen unter den Piraten wie erwähnt Ansätze zu einer ›maritimen Gegenkultur‹ verwirklicht, die als Gegenmodell zu den von Härte und Willkür geprägten Verhältnissen auf den zeitgenössischen Handels- und Kriegsschiffen begriffen werden könne. 40 Immer wieder kommt in diesem Zusammenhang die Rede auf die sogenannten Artikelsbriefe, in und mit denen die Piraten die Regeln ihres Zusammenlebens beschworen und sich so ihre eigene Verfassung gaben. Johann de Bucquoy, nach eigener Aussage um das Jahr 1722 von den Piraten Taylor und La Bous (La Bouche) nach Madagaskar verschleppt, widmet der »Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten, und Lebensart der Seeräuber« in seiner »Sechzehenjährige(n) Reise nach Indien« ein eigenes Kapitel. Die wichtigsten Merkmale des Zusammenschlusses von Piraten sind diesem Bericht zufolge seine Freiwilligkeit und die allgemeine Unterwerfung unter die selbstgegebenen Regeln des Zusammenlebens auf dem Schiff: Wenn diese Leute eine Compagnie aufrichten wollen, so wählen sie erstlich einen Capitain und einen Quartiermeister. Der Capitain thut eben so, wie auf dem Lande keine Dienste, als wenn sie im Gefecht sind: der Quartiermeister hingegen ist ihr Fiscal; er besorget die Lebensmittel für die Reise, theilet die Beute aus, und hält jeden zu seiner Pflicht an. Nach diesem folgt in der Ordnung der Bootsmann, der Constabel, und die geringen Officiers. Jeder nimmt nach seinem Amte seine Pflicht wahr. Ist die Compagnie aufgerichtet, so machen sie unter einander einen Artikelsbrief, welcher ihr Corpus Iuris ist. Wenn die Artikel abgefasset sind, so werden sie allen vorgelesen, hierauf unterzeichnet, und auf der Bibel beschworen. 41 Des weiteren beschreibt Bucquoy, wie die Piraten untereinander Gericht halten und Zweikämpfe führen oder wie sie ihre Beute teilen. Ausführlich gibt er elf Hauptpunkte 38 Gabriel Kuhn: Leben unter dem Totenkopf. Anarchismus und Piraterie, Wien 1994, 1. 39 Die Begriffe nach Eric Hobsbawm: Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Gießen 1979 (engl. Erstausg. 1959) und ders: Die Banditen, Frankfurt/ M. 1972 (engl. Erstaus. 1969). - Zur deutschen Rezeption des Hobsbawm’schen Ansatzes siehe Wolfgang Stenke: Schinderhannes & Co. Kriminalität und Bandenwesen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Frankfurter Hefte 1980, H. 3, 47 - 54 sowie zuletzt, nach Abschluß der Arbeit an diesem Artikel erschienen und mit einer ganzen Reihe von inhaltlich und methodisch weiterführenden Erkenntnissen Wolfgang Seidenspinner: Der Mythos vom Sozialbanditen, in: GWU 49 (1988), 686 - 701. 40 Rediker: Libertalia (wie Anm. 8), 141 und öfters. 41 Bucquoy: Sechzehenjährige Reise nach Indien (s. Anhang), 75f. Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 845 des von ihm sogenannten Corpus Iuris wieder, die ihm besonders wichtig erscheinen und die alle darauf abzielen, die innerliche Ruhe zu erhalten, und Muth gegen die Feinde zu machen: 1.) Alles was außer ihrer Compagnie ist, für Feinde zu erklären; niemandem zu trauen; andern durch Gewalt und List das Ihrige zu rauben; niemanden der sich wehret, das Leben zu lassen, und wenn es auch der leibliche Vater wäre, sondern alles niederzusäbeln, wenn es die Noth erfordert. 2.) Einander bis auf den letzten Mann getreu zu seyn und beyzustehen. Wer hierinne seine Pflicht versäumet, den kann man ungestraft vor den Kopf schießen. 3.) Bey einem Angriffe muß jeder auf seinem bestimmten Posten bleiben, und darf ihn bey der Lebensstrafe nicht verlassen. Das Entern geht nach dem Loose. 4.) Wenn ein Schiff oder Fort genommen ist, so mag ein jeder plündern, was er kann; doch muß er solches dem Quartiermeister übergeben, und nichts zurückbehalten, oder er wird vor dem Maste bestraft, und verliert sein Vermögen, welches der Compagnie heimfällt. 5.) Finden sich in der Prise Weibespersonen, so muß man sie unberührt lassen und sie bey erster Gelegenheit mit der Schuit oder mit dem Boote ans Land setzen: ist aber in der Nähe kein Land, so werden sie der Gnade der See überlassen. 6.) Wer eine solche Weibesperson schändet, muß mit dem Tode bestraft werden. Dieses geschiehet, um allem Aufruhr und aller Unordnung zuvorzukommen. 7.) Wenn einer desertirt und eingeholet wird, dem werden Nasen und Ohren abgeschnitten, und wird nackend auf eine Insel gesetzet, welches gemeiniglich eine unbewohnte ist. 8.) Wenn sich jemand ergeben hat, so darf man ihn nicht bey Lebensstrafe, mit kaltem Blute tödten oder verwunden, es wäre denn, daß er Widerstand thäte. Doch wird dieser Artikel so genau nicht befolget, zumal wenn sie betrunken sind. 9.) Die genommenen Schiffe müssen sie entweder bey sich behalten oder verbrennen, oder auch in den Grund bohren, und das Volk davon an dem nächsten Ufer an das Land setzen. 10.) Kein Gefangener soll wider seinen Willen angenommen oder in die Compagnie zu treten gezwungen werden, wer sich aber freywillig angiebt, soll auch nicht abgewiesen werden. 11.) Es ist ihnen untersagt, einander zu schimpfen, oder Verweise zu geben, oder über die Religion zu streiten. Auch dürfen sie nicht um Geld spielen, oder etwas anderes unternehmen, das Zank und Uneinigkeit erregen könnte. Auf alles dieses sind besondere Strafen gesetzet. 42 Andreas Blauert 846 Bucquoys Urteil über die Piraten fällt angesichts so viel zu konstatierender Disziplin und Ordnung durchaus positiv aus, ja, er zeichnet an einer Stelle ein fast schon idyllisch zu nennendes Bild vom Leben der Piraten an Bord ihres Schiffes: Wenn sie auf der hohen See sind, so weis ein jeder seine Arbeit, und verrichtet sie sehr genau, auch viel ordentlicher, als ich jemals auf Compagnieschiffen oder andern Fahrzeugen wahrgenommen habe. Es sind meistentheils erfahrene Leute, die sehr wohl wissen, was sie zu thun haben: über dieses hat jeder seinen Vortheil dabey, und will zeigen, daß er in diesem Stücke erfahren sey, und seine Pflicht für das Beste der Compagnie beobachte. Ihr täglicher Zeitvertreib ist, wenn sie sich am Bord befinden, ihr Gewehr zu putzen und in gutem Stande zu erhalten. Sie üben sich beständig damit. An einem Orte sieht man sie mit Kugeln nach der Scheibe schießen, an einem andern fechten sie mit hölzernen Säbeln und Rappieren; wieder an einem andern üben sie sich mit Pistolen zu schießen u.s.w. Dabey spielen die Musicanten, und sie leben, wie Brüder ruhig und lustig mit einander. 43 Doch solche Passagen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen: Bucquoys Gesamturteil, gleich zu Beginn seines Berichts abgegeben, fällt eindeutig negativ aus: Man stelle sich einen Haufen lüderliches und dem Zuchthause entlaufenes Gesindel vor, das verwegen, und alles zu unternehmen im Stande ist, das alle Menschlichkeit in seinem Vaterlande gelassen hat, so hat man von diesem vortrefflichen Volke einen Begriff. 44 An anderer Stelle heißt es über die Piraten: Frauenspersonen nothzüchtigen, sich toll und voll saufen, und alsdenn den Eingeborenen Gewalt anthun, war ihre tägliche Arbeit. 45 Das Bild der Piraten schwankt also bei Bucquoy zwischen eindeutiger Verurteilung und verhaltener Anerkennung ihrer Lebensweise. Das alleine muß heute kein Argument sein, die Existenz einer ›maritimen Gegenkultur‹ (Rediker), wie sie sich auf den Piratenschiffen herausgebildet habe, in Abrede zu stellen. Quellenkritische Argumente stimmen aber eher skeptisch: Denn selbst wenn die Artikelsbriefe als unsere wichtigste Quelle gewisse Hinweise auf eine solche ›Gegenkultur‹ erkennen lassen, so muß die entsprechende Quellengrundlage doch immer noch als sehr dünn und viel zu literarisch-stereotyp erscheinen, als daß sie uns einen lebendigen Eindruck vom Leben an Bord eines Piratenschiffes vermitteln könnte. Forscher wie Arne Bialuschewski haben unlängst denn auch noch einmal davor gewarnt, allzu romantischen Vorstellungen vom Piratenleben nachzuhängen. 46 Vieles spricht dafür, daß der Pirat als ›edler Räuber‹ und Sozialbandit mehr in unseren Köpfen als auf seinen Schiffen zu Hause war und ist. Werfen wir in diesem Zusammenhang aber auch einen Blick auf das bislang wenig bekannte Leben in den Piratensiedlungen auf der Insel Madagaskar. Denn vielleicht wurden ja zumindest einige der Prinzipien »Libertalias« hier verwirklicht. 42 Ebd., 76 - 78. - Vergleichbare Bestimmungen enthalten die von Botting: Piraten (wie Anm. 2), 51 - 53 wiedergegebenen Artikelsbriefe. 43 Ebd., 79f. 44 Ebd., 75. 45 Ebd., 39. 46 Bialuschewski: Piratenleben (wie Anm. 5), 170. Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 847 7. Begegnung von Fremden und Eingeborenen auf Madagaskar Piraten und Abenteurer, die wenigen Händler und Kolonisten, die sich nach Madagaskar verirrten, sie alle benötigten sichere Häfen, Stützpunkte und Siedlungsplätze. Hier kamen sie in der einen oder anderen Form, nicht immer in friedlicher Absicht, mit den einheimischen Madegassen in Berührung. Im Grunde war jedoch keinem Versuch von Europäern und Amerikanern, auf der Insel Fuß zu fassen, vor dem Ende des 19. Jahrhunderts ein dauerhafter Erfolg beschieden. Frankreich erklärte Madagaskar erst 1896 zur Kolonie und mußte es 1958 wieder in die Unabhängigkeit entlassen. Eine vergleichsweise kontinuierliche europäische Präsenz läßt sich immerhin für den Nordosten Madagaskars und hier insbesondere für die Bucht von Antongil nachweisen, die von Piraten und Kolonisten gleichermaßen angelaufen wurde und wo vom Sohn eines europäischen Piraten und einer madegassischen Fürstentochter eine erfolgreiche Reichsgründung vollzogen wurde. Auf diese exemplarische Geschichte des Kulturkontakts und der Kolonisierung Madagaskars möchte ich im folgenden eingehen. Nach der Entdeckung Madagaskars durch die Portugiesen zu Beginn des 16. Jahrhunderts versuchten die europäischen Mächte immer wieder, Handelsposten und Siedlungen an den Küsten Madagaskars zu errichten. Vor allem Frankreich tat sich hier hervor. Ende des 17. Jahrhunderts sollten diese Versuche jedoch zum Erliegen kommen und erst Ende des 18. Jahrhunderts wieder aufgenommen werden. 47 Ideale Bedingungen also für die europäischen und amerikanischen Piraten, als sie auf der »Pirat Round« an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, zur Zeit eines kolonialpolitischen ›Vakuums‹ also, nach Madagaskar kamen. Leider geizt das Gros der Piratenliteratur mit konkreten Informationen über das Leben in den Piratensiedlungen. Auch ihre landeskundlichen und ethnographischen Ausführungen bleiben merkwürdig unbestimmt. Es ist denn auch gerade dieser Umstand, der von Skeptikern immer wieder als schlagendes Argument für den weitgehend fiktiven Charakter der Werke eines Brock, Johnson, Downing oder Bucquoy ins Feld geführt worden ist. Dafür sind vom Ende des 18. Jahrhunderts, als neue Siedlungsbemühungen auf Madagaskar unternommen wurden, Werke erhalten, die, einen neuen Typus von Forschungs- und Reiseliteratur verkörpernd, recht anschaulich über die Verhältnisse auf der Insel und die Entwicklung der Piratengemeinden zu berichten wissen. Zum einen handelt es sich dabei um den Bericht eines gewissen Abbé Rochon, der Madagaskar im Jahr 1768 besucht hat. 48 Zum andern um die Mémoiren des Grafen Benyowsky. Benyowsky, ein gebürtiger Ungar, war eine der schillerndsten Figuren, die je einen Fuß auf madegassische Erde gesetzt haben. Ihn verschlug es nach einem wahrhaft abenteuerlichen Leben - er floh über See aus der sibirischen Verbannung - nach Madagaskar, wo er in französischem Auftrag seit 1774 die Gründung einer Siedlungskolonie, ja, eines idealen Gemeinwesens betrieb. 49 Auch über die Namen und Aktivitäten der Handelsagenten und Kolonialbeamten, die zur Zeit eines Rochon und Benyowsky an der 47 Brown: Madagascar (wie Anm. 1), 53 - 55. 48 Rochon: Reise nach Madagascar (s. Anhang). 49 Benyowsky: Schicksale und Reisen (s. Anhang). - Einem Zufallsfund in einem Hallenser Antiquariat verdanke ich die Kenntnis des Buches von Arkady Fiedler, Heißes Dorf auf Madagaskar, 2. Aufl., Dresden 1955. Der Autor, ein zu seiner Zeit vielgelesener polnischer Wissenschaftler und Reiseschriftsteller, besuchte um 1937/ 38 den Ort Ambinanitelo in der Bucht von Antongil und »hoffte dort zwei Dinge zu finden, seltene Insekten - und die Spur Beniowskis« (S. 7). Andreas Blauert 848 Ostküste Madagaskars tätig waren, wissen wir vergleichsweise gut Bescheid. Einer von ihnen, Nicolas Mayeur, hat Aufzeichnungen über Expeditionen in verschiedene Teile des Landes sowie zur mündlich überlieferten Geschichte hinterlassen. 50 Folgt man diesen Gewährsleuten, dann begannen Madegassen und Piraten, sich immer mehr zu vermischen. So konnte es geschehen, daß in der Person von Ratsimilaho der Sohn eines Piraten und einer Madegassin zum Beherrscher der Nordostküste Madagaskars aufsteigen konnte. Vier Generationen lang vererbte sich diese Herrschaft in der Familie des Ratsimilaho - von den 1720er Jahren bis in die 1820er Jahre - und bestimmten die Malata (Mulatten) und Zana-Malata (Kinder der Mulatten) die Geschicke an der Nordostküste Madagaskars. 51 Ein Mann wie der Abbé Rochon, der 1768 dorthin kam, konstatierte, daß Madagaskar für die Seeräuber und ihre Kinder ein zweites Vaterland geworden war. Freilich wunderte er sich auch, daß Menschen von einem so ehrlosen Handwerke kein schimpflicheres Andenken hinterließen. Seine Erklärung: Die Seeräuber hatten ihren Reichtum mit den Madegassen geteilt. Ganz anders dagegen die Besatzungen europäischer Handelsschiffe, die sich ihren Proviant mehr als einmal mit Gewalt verschafft und ganze Dörfer niedergebrannt hatten. 52 Mit dem Ende der eigentlichen Piratenzeit, also seit den 1720er Jahren, bildete sich an der Nordostküste Madagaskars eine ganz eigene Ökonomie heraus. Ihre Säulen waren die Kriegführung unter Einsatz europäischer Feuerwaffen und der Sklavenhandel. 53 Sehr ausführlich - und keinesfalls freundlich in der Wertung - geht der Abbé Rochon darauf ein: Aber so, wie sie (=die Seeräuber) gezwungen waren, auf ihr schändliches Gewerbe Verzicht zu tun, befolgten sie einen ganz anderen Lebensplan. Sie sannen auf Mittel, wie sie einen Theil ihrer, unkluger Weise verschleuderten Reichtümer wieder möchten erwerben und sich durch Anlegung eines Handlungszweiges, dessen Umfang und Wichtigkeit sie kannten, den Schutz der Europäer verschaffen könnten. Auf diese Weise wurden sie die Stifter des Sclavenhandels in dem Nordöstlichen Theil von Madagascar. (...) Erst durch Unruhen und Spaltungen gelang es den mehr benannten Seeräubern ums Jahr 1722 die Abneigung der Madegassen gegen den Menschenhandel zu bezwingen. 54 Mehrere Europäische Schiffe hatten es vorher umsonst versucht, sie 50 Nicolas Mayeur: Voyage à la cote de l’ouest de Madagascar (pays des Séclaves) (1774), in: Bulletin de l’Académie malgache 10 (1912), H. 1, 49 - 91, hier: 49 - 51 zur Person Mayeurs, seinem Nachlaß usw.; ders.: Voyage dans le nord de Madagascar, au Cap d’Ambre et à quelques iles du Nord-Ouest (novembre 1774 -janvier 1776), in: ebd., 93 - 145 u. 147 - 156 (›Additions‹); ders.: Voyage dans le Sud et dans l’interieur des terres et particulièrement au pays d’Hancove, in: Bulletin de l’Académie malgache 12 (1913), H. 1, 139 - 176; ders: Voyage au pays d’Ancove (1785), in: ebd., H. 2, 14 - 49. - Mayeurs ungedruckte ›Histoire de Ratsimila-hoe roi de Foulepoint et des Betsi-miçaracs‹ erwähnt Gerald M. Berg: The sacred musket. Tactics, technology, and power in eighteenth-century Madagascar, in: CSSH 27 (1985), 261 - 279, hier: 265, Anm. 7. 51 Rochon: Reise nach Madagascar (s. Anhang), 132 - 162. - Siehe auch Macé Descartes: Histoire et géographie de Madagascar dépuis la découverte de l’ile, en 1506, jusqu’au récit des derniers évenements de Tamatave, Paris 1846, 329f.; Deschamps: Pirates (wie Anm. 5), 2. Aufl., 197 - 204; Brown: Madagascar (wie Anm. 1), 92 - 104. 52 Rochon: Reise nach Madagascar (s. Anhang), 133f., hier: 133 das Zitat. 53 Dazu Eric R. Wolf: Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400, Frankfurt/ M. 1986 (amerik. Erstausg. 1982), 223 - 227, besonders 224 und ausführlicher J. M. Filliot: La traite des esclaves vers les Mascareignes au XVIIIe siècle, Paris 1974, 111 - 154; Berg: Musket (wie Anm. 50); Pierre Verin: The history of civilisation in North Madagascar, Rotterdam 1986, 96 - 130. Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 849 zum Verkauf ihrer Gefangenen und Uebelthäter zu bewegen. Alle Negociationen über diesen Punct, wurden anstatt zu gelingen, vielmehr mit Unwillen zurückgewiesen und bisweilen, wenn man List oder Gewalt dabei zu gebrauchen wagte, auf eine fürchterliche Art bestraft. Die Seeräuber kannten den lebhaften Charakter der Madegassen zu gut, als daß sie sich der nähmlichen Mittel bedient hätten; sie sahen ein, es seyen ihrer viel zu wenig, um die Insulaner zu unterjochen oder ihnen einen Handel, gegen den sie Widerwillen fühlten, vorschreiben zu dürfen. Die geringste Gewalttätigkeit in dieser Hinsicht würde ihnen - ihren und noch gewisser, den Untergang ihrer Weiber und Kinder zugezogen haben. Das Zuverlässigste zur Erreichung ihres Zwekkes war: unter jenen Völkern die Fackel der Zwietracht anzuzünden, die innerlichen Kriege zu benützen und die Madegassen dahin zu bringen, daß sie sich ihre durch ihre Menge ihnen lästig werdende Gefangene vom Hals zu schaffen suchten. Aber mitten in all diesem Wirrwar lag es ihren Absichten und ihrer Sicherheit unendlich daran die Verbindungen mit beyden Theilen beyzubehalten, und die Rolle der Vermittler zu spielen. 55 Man würde an dieser Stelle gern mehr über die versprengten Kolonisten, Piraten und Schiffbrüchigen erfahren, die sich damals auf Madagaskar niederließen, zumindest längere Zeit dort lebten und einen Transformationsprozeß der indigenen Gesellschaft einleiteten. Mit Karl-Heinz Kohl können wir sie wohl am treffendsten als ›kulturelle Überläufer‹ bezeichnen. Menschen also, die sich entschlossen hatten, »alle Bindungen an die eigene Kultur aufzugeben, um das von äußeren Zwängen anscheinend so viel freiere Leben der von ihren Zeitgenossen als ›Wilde‹ und ›Barbaren‹ angesehenen Völker zu führen«. 56 Kohl versteht darunter freilich nicht die Bohemiens des 19. und frühen 20. Jahrhunderts oder die Aussteiger modernen Typs, die in der Fremde ihren ganz persönlichen, exotischen Wunschträumen und der zivilisationsmüden Sehnsucht nach einem einfachen Leben unter Palmen nachhängen. Für Kohls Überläufer - ein Beispiel sind ihm neben anderen die franko-kanadischen Waldläufer - sei vielmehr charakteristisch, daß sie den unteren gesellschaftlichen Schichten entstammten und daß sie durch ihr Überlaufen eine elementare Form von Freiheit zu erringen suchten, die sie in der Gesellschaft, aus der sie stammten, nicht besessen hatten. 57 Das dürfte auch für die Mehrzahl der Piraten-Siedler auf Madagaskar und ihre Nachkommen zutreffen. Das Leben auf der Insel war dabei alles andere als sorgenfrei: Nur unzureichend mit europäischen Gütern versorgt, anfällig für Tropenkrankheiten, in ständiger Angst vor aufkreuzenden Marineschiffen lebend, scheint es oft nicht mehr als ein notdürftiges Überleben gewesen zu sein. Den Worten von Woodes Rogers zufolge sollen um 1710 - das war allerdings vor dem erneuten Hoch der Piraterie im Indischen Ozean und auf Madagaskar um 1720 - nur noch wenige Piraten und ehemalige Piraten auf Madagaskar ge- 54 Filliot: La traite (wie Anm. 53), 120 widerspricht Rochon in diesem Punkt. Der Sklavenhandel war auch schon vor Ankunft der Piraten auf Madagaskar verbreitet, allerdings in geringerem Umfang. 55 Rochon: Reise nach Madagascar (s. Anhang), 138f. - Siehe Hermann Hofer: Befreien französische Autoren des 18. Jahrhunderts die schwarzen Rebellen und die Sklaven aus ihren Ketten? oder Versuch darüber, wie man den Guten Wilden zur Strecke bringt, in: Koebner/ Pickerodt: Welt (wie Anm. 17), 137 - 170 zur Bedeutung der Sklavereikritik für die französische Aufklärung. 56 Karl-Heinz Kohl: ›Travestie der Lebensformen‹ oder ›kulturelle Konversion‹? Zur Geschichte des kulturellen Überläufertums, in: Koebner/ Pickerodt: Welt (wie Anm. 17), 88 - 120, hier: 89. 57 Ebd., 93 u. 102 - 104. Andreas Blauert 850 lebt haben. Ihm war berichtet worden, diese Unglücklichen, die so viel Lärmen in der Welt gemacht hätten, wären auf sechzig oder siebenzig Personen gebracht, davon die meisten sehr arm, und in der Insel verachtet wären, ob sie sich gleich da verheiratet hätten. Sie hätten nichts weiter, als eine Fregatte und eine Schaluppe 58 . Hinzu dürfte bei nicht wenigen von diesen Überläufern - Urs Bitterli nennt sie ›Zivilisationsrenegaten‹ - die Erfahrung einer tiefgehenden Fremdheit bzw. Entfremdung getreten sein: Sie kamen sich selbst abhanden, »ohne doch ›Wilde‹ geworden zu sein und zur Glückseligkeit archaischer Daseinsformen hingefunden zu haben« 59 . Oder, wie an dieser Stelle zu ergänzen wäre, großen Gedanken an das ideale Staatswesen Libertalias nachzuhängen. Es bleibt abschließend zu fragen, was heute noch in der Geschichtserinnerung Madagaskars von diesem Teil seiner Geschichte gegenwärtig ist. Grundsätzlich trifft hier zu, was Hermann Teifer am Beispiel der Karibik ausgeführt hat: Die Piratenepisode wird mehrheitlich als ein Teil der europäisch-nordamerikanischen Geschichte und nicht der eigenen Geschichte begriffen. Gerade Madagaskar hat aber, ich habe versucht, das zu zeigen, eine Entwicklung genommen, in der sich die ›fremde‹ und die ›eigene‹ Geschichte berührt und vermischt haben. Künftige Forschungen sollten daher vor allem versuchen, zusätzlich zu den nötigen Korrekturen an ›unserem‹ Piratenbild madegassische Erinnerungen an diese Episode seiner Geschichte freizulegen. 60 Die erwähnten Aufzeichnungen der mündlich überlieferten Geschichte von König Ratsimilaho, dem Sohn eines Piraten und einer Madegassin, könnten einen diesbezüglichen Ausgangspunkt bieten. 61 Vielleicht wird uns dann ja ein Spiegel vorgehalten, in dem wir nicht mehr nur die altbekannten und immergleichen Bilder sehen, die wir uns von uns selbst und von den Anderen machen. 8. Der ›abenteuerliche‹ Pirat Kehren wir nach dem Ende unserer historischen Rekonstruktionen nach Europa zurück. Die Madagaskar-Piraten spielten hier im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eine Rolle in einer Affaire, die ganz und gar phantastische Züge trägt: Der Marquis de Langallerie, ein aus dem Dienst geschiedener französischer General, wollte an der Spitze eines geheimen Unternehmens stehend die militärische und politische Kontrolle über Italien und den Papst gewinnen! Einen diesbezüglichen Vertrag hatte Langallerie mit einem Vertreter des türkischen Sultans geschlossen! Als Lohn sollte Langallerie von den Türken Inseln im Mittelmeer erhalten, auf denen er nach Abschluß des Unternehmens mit seinen Gefährten einen eigenen Staat gründen könnte. Den Madagaskar- Piraten kam eine wichtige Rolle in den betreffenden Planungen zu: Sie sollen zugesagt 58 Rogers: Voyage autour du monde (s. Anhang), 150 bzw. 79 (dt. Teilübers.). - Rogers Aussage widerspricht damit der oben zitierten Einschätzung Rochons vom guten Verhältnis von Piraten und Einheimischen auf Madagaskar (vgl. Anm. 52). Dieser Widerspruch kann von mir nicht zweifelsfrei aufgelöst werden: Rogers’ Sicht scheint mir stark polemisch gefärbt zu sein, ohne genauere Kenntnis der Verhältnisse vor Ort und der sich langsam herausbildenden ›Mischgesellschaft‹. Allerdings zeichnet auch Bucquoy (vgl. Anm. 45) ein grundsätzlich negatives Bild des Verhältnisses von Piraten und eingeborener Bevölkerung. 59 Bitterli: Insel (wie Anm. 17), 25. 60 Teifer: Herren (wie Anm. 21), 258. - Diesbezügliche Beobachtungen und Überlegungen bei Fiedler: Dorf (wie Anm. 49). 61 Vgl. Anm. 50. Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 851 haben, mit ihrer Flotte ins Mittelmeer zu segeln und dort Langalleries Seestreitkräfte zu bilden. 62 Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Langalleries Geschichte zu verifizieren. Aber auch wenn sie völlig aus der Luft gegriffen sein sollte - wofür vieles spricht -, so zeigt sie uns doch, wie notorisch Vorstellungen von den zu Macht und Unabhängigkeit gekommenen Madagaskar-Piraten in Europa am Anfang des 18. Jahrhunderts waren. 63 Konkret sehe ich darin einen Widerhall der 1709 erschienenen »Leben und Thaten des Capitain Johann Avery« des Adrian van Brock, der ausführlich von der Flotte des zu königlicher Macht aufgestiegenen Piraten Henry Every zu berichten weiß. 64 Fragen wir daher im folgenden (noch einmal) nach den wahrnehmungs- und darstellungsleitenden Perspektiven unserer vorrangig benutzten Quellen, den Konsequenzen, die die Wahl dieser Perspektiven für das von und in ihnen entwickelte Bild von Madagaskar und seinen Piraten besitzt, und nach den spezifischen Differenzen dieses Bilds zu dem von uns zuletzt entwickelten. Es läßt sich an dieser Stelle an eine Beobachtung von Michael Harbsmeier anknüpfen, die Entwicklung der Gattung der Reiseberichte im 18. Jahrhundert betreffend. Nach Harbsmeier spaltete sich die Gattung damals in den (traditionelleren) Zweig der abenteuerlichen Erzählung und in den (moderneren) Zweig der wissenschaftlichen Beschreibung auf. 65 Gleiches gilt ganz offensichtlich für unsere Piratenquellen, die ja selbst zu einem Gutteil dem Genre des Reiseberichts zuzurechnen sind. Am stärksten ausgebildet ist das angesprochene antipodische Verhältnis von abenteuerlicher Erzählung und wissenschaftlicher Beschreibung im Falle des gerade erwähnten, weitgehend fiktiven Berichts des Adrian van Brock auf der einen Seite und des Forschungs- und Reiseberichts des Abbé Rochon auf der anderen Seite. Dabei konfrontieren die ›Tatsächlichkeitsfiktionen‹ (Kreuzer) eines Adrian van Brock den heutigen Leser mit einem Verständnis von Fiktion, Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit, das sich grundlegend von unserem heutigen unterscheidet. Überlegungen von Sylvie Steinberg in diesem Band aufgreifend, möchte ich vermuten, daß es in den betreffenden Texten gerade deren romanhafte (fiktionale) Teile sind, die die Wahrscheinlichkeit der Erzählung für die zeitgenössischen Leser verbürgten. 66 Wobei der Begriff der Wahrscheinlichkeit sich hier nicht am Grad seiner Übereinstimmung mit einer objektiven Wirklichkeit mißt, so wie wir diese heute fassen, sondern am Grad sei- 62 Langallery: Mémoires (s. Anhang), 411 - 448 bzw. 377 - 451 (dt. Ausg.). Der Vertrag mit dem Sultan 424 - 430 bzw. 394 - 400 (dt. Ausg.). Erwähnung der Madagaskar-Piraten 431 - 433 bzw. 402 - 403 (dt. Ausg.). Langallerie spricht hier von den Madagaskar-Piraten als les Philibustiers & les Corsaires dont fourmilloit alors l’Isle de Madagascar - die Freybeuters und See-Räuber (...), von welchen ehedessen die Insul Madagascar wimmelte. Die Verhandlungen mit den Piraten hatte der erwähnte Comte de Linange (siehe oben Anm. 32) geführt: Das wären die Früchte der Unterhandlungen gewesen, so der Graf von Linange mit ihnen, während seines Aufenthalts zu Petersburg und Archangel glücklich zu Stande gebracht. 63 Die wichtigste Studie zu Langallerie stammt von A. de Boislisle: Les aventures du Marquis de Langallerie, in: Revue historique 66 (1898), 1 - 42 u. 257 - 300 (freundl. Mitteilung von Gerhard Sälter, Berlin). - Zu den etwa zeitgleichen (vermeintlichen) Kontakten der Madagaskar-Piraten mit der schwedischen Regierung siehe Jacques Macau: La Suède et Madagascar au début du 18me siècle, Aix-en-Provence 1973. 64 (Brock): Leben und Thaten des Capitain Johann Avery (s. Anhang), 62. 65 Michael Harbsmeier: Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit, Frankfurt/ M. 1994, 264. 66 Silvie Steinberg: Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt: Frauen in Männerkleidern vor der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert, in diesem Band. Andreas Blauert 852 ner Übereinstimmung mit dem, was der Auffassung oder besser: dem Horizont des damaligen Publikums entspricht. Dahinter zeichnen sich die Konturen einer Weltsicht ab, für die nicht die Fiktion, sondern die Wirklichkeit (noch) so phantastisch war, daß sie nur mit Hilfe der Imagination wahrscheinlich gemacht werden konnte. Das ›Lügenhafte‹ dieser Texte besteht also nicht etwa darin, daß die wenigen zuverlässigen und überprüfbaren Informationen, die sie enthalten, völlig von phantastischen und deshalb überflüssigen Ausschmückungen überwuchert wären. Vielmehr darin, daß eine nur bruchstückhaft von ihnen erfahrene und erfahrbare Wirklichkeit mittels literarischer Stereotype und Versatzstücke begreifbar gemacht wurde. Man lese in diesem Sinne nur die Ausführungen von Zedlers Universallexikon zur Fauna Madagaskars aus dem Jahr 1739. 67 Aus heutiger Sicht ist festzuhalten, daß es vor allem der ›abenteuerliche‹ Pirat ist, der am Leben geblieben ist. Claus Süßenberger hat ihn als das volkstümliche Pendant zum höfisch geprägten noblen Abenteurer der europäischen Adelskultur des 17. und 18. Jahrhunderts zu charakterisieren versucht. 68 Sein Bild ist seit dem 18. Jahrhundert in einer Vielzahl von Medien und Genres weitervermittelt und weiterentwickelt worden: Der Abenteuer- und Jugendbuchliteratur, später dem Kino und dem Fernsehen, um nur die wichtigsten zu nennen. Und natürlich auch von und in der Geschichtsforschung, sofern sie sich ihrer populären Vorurteile nur unvollständig bewußt ist. Ein aktuelles Beispiel für die ununterbrochene Arbeit am Bild des ›abenteuerlichen‹ Piraten ist der 1996 im Berlin Verlag erschienene Roman »Long John Silver« von Björn Larsson, in dem die gleichnamige Figur aus Stevensons »Schatzinsel« zum Helden einer eigenen Geschichte gemacht wird. 69 Larsson hat, wie er in seinem Nachwort ausführt, die »General History« des Capitain Johnson und moderne Historiker zu Rate gezogen, während er an seinem Roman arbeitete. »Ohne sie«, so betont er, »wäre dieses Buch reine Fiktion geblieben«. 70 Mit dieser Äußerung streut er dem Romanleser freilich mehr Sand in die Augen, als dem Historiker recht sein kann. Denn Larssons Long John Silver bedarf, so meine These, letztlich keiner historischen Verbürgung, da er immer schon ›da‹ ist. Und zwar in einem Raum kollektiver Imaginationen, der mit einigem historischen Kolorit, wie genau oder ungenau im Einzelfall auch immer recherchiert, auszukommen vermag. Die heute auf den Seiten des Feuilletons verbreitete Einschätzung, Romanschriftsteller seien die besseren Historiker, ist daher alles andere als unproblematisch, ist das Ziel des Historikers doch immer die methodisch bewußte und quellennahe Annäherung an die Vergangenheit und nicht die vielen Zwecken dienende Doppelung dieser Vergangenheit im Medium der Fiktion. Was den Historiker im übrigen nicht hindern muß, eine spannende Geschichte zu erzählen, wie das Arne Bialuschewski in seinem Buch über den Piraten Richard Sievers beispielhaft vorgeführt hat. 71 Heute werden in der Figur bzw. im (Gegen-)Bild des Piraten vor allem eine Reihe von Defiziterfahrungen aufgehoben, die in unserer Gesellschaft von vielen täglich ge- 67 Zedler: Universallexikon, Bd. 19, 1739, 120f. 68 Claus Süßenberger: Abenteurer, Glücksritter und Maitressen. Virtuosen der Lebenskunst an europäischen Höfen, Frankfurt/ M. 1996, 25f. 69 Björn Larsson: Long John Silver. Der abenteuerliche Bericht über mein freies Leben und meinen Lebenswandel als Glücksritter und Feind der Menschheit. Aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer, Berlin 1996. 70 Ebd., 478. 71 Bialuschewski: Piratenleben (wie Anm. 5). Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 853 macht werden: Dem an einem Ort Leben und Arbeiten und im Trott des immer Gleichen Gefangensein wird das rastlose Durchkreuzen der Meere und das ungebundene Leben auf fernen Inseln und an unbekannten Küsten entgegengesetzt. Und wer würde sich besser zu einer Bündelung dieser Sehnsüchte eignen als der Pirat, ist doch die Faszination, die sein (vermeintlicher) anti-sozialer Lebensstil auszuüben vermag, noch gesteigert durch die Faszinationskraft des Meeres, das dem Menschen, in einer gelungenen Formulierung, »zuerst und nachdrücklichst den großen Abenteuersinn« 72 eingegeben hat. Doch was ist eigentlich das Abenteuer? Und wer ist ein Abenteurer? Abenteuer ist zwar schnell definiert als »nicht alltägl(iches) Geschehen oder Erlebnis; gewagtes Unternehmen; ritterliche Tat, zugleich auch der Bericht darüber.« 73 Doch das Abenteuer bleibt, was seine ›Nacherlebbarkeit‹ betrifft, notwendig vage, bewegt sich der Abenteurer, erschließt sich das Abenteuer doch in einer Welt, die den meisten von uns nicht nur räumlich verschlossen bleibt. »In uns allen steckt (zwar) ein Abenteurer«, so hat William Bolitho gesagt. »Er ringt (aber) um unsere Gunst mit dem sozialen Menschen, der zu sein wir gezwungen sind. Das eine Leben ist mit dem anderen Leben nicht vereinbar; wir sehnen uns nach dem einen und sind an das andere gebunden.« 74 Es sind meines Erachtens diese Sehnsüchte, die gleichsam das Fundament des heute geläufigen Piratenbilds bilden und die seine andauernde Popularität erklären. Über die historische Realität, den Alltag des Piraten - sei es auf seinen Schiffen, sei es in seinen Siedlungen - kann und will dieses Bild nur sehr bedingt etwas aussagen. Was wiederum den Schluß nahelegt: »Das Abenteuer gibt es nur als erzählte Geschichte.« 75 9.) Ausblick War mein Interesse an den Madagaskar-Piraten schon bislang nicht auf die geläufigen Spekulationen zur Randgruppen- und Außenseiterexistenz dieser Gruppe beschränkt, so eröffnen sich am Ende dieser Untersuchung und auf eine eigene Zusammenfassung ihrer Ergebnisse verzichtend weitere Untersuchungsperspektiven: So vor allem die Betrachtung der zeittypischen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen der bzw. des Fremden in der Frühen Neuzeit. Mithin der ethnologische Blick zurück von den exotischen Schauplätzen des Goldenen Zeitalters der Piraterie nach Europa und auf die konstitutiven Bedingungen und Formen des geistigen und praktischen Ausgreifens unserer Gesellschaften in die Neuen Welten Amerikas, Afrikas und Asiens. Ich kann die Fülle von Einsichten, die die einschlägige Forschung auf diesem Feld erbracht hat, hier nicht resümieren. Wie beschränkt die Fähigkeit und wie begrenzt die Bereitschaft der Europäer bis ins 18. Jahrhundert hinein (und darüber hinaus) war, sich den erschlossenen Welten verstehend zu öffnen, mag aber ein etwas respektloser Blick auf den »Robinson 72 Friedrich Wencker-Wildberg: Raubritter des Meeres: Vitalienbrüder, Korsaren, Flibustiere, Piraten. Eine Weltgeschichte der Seeräuber, Hamburg 1935, 7. 73 Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl., 1986, Bd. 1, 34. 74 William Bolitho: Zwölf gegen das Schicksal. Die Geschichte des Abenteuers, Bergen 1946, 14. - Siehe zum Thema Abenteuer auch Hans von Hentig: Der Desperado, Berlin 1956; Georg Seeßlen: Durch die Wüste in den Abend. 138 verwegene Notizen zum Abenteuer, in: H.-J. Neumann u. Georg Seeßlen (Hg.): Bluebox 1 - Abenteuer. Magazin zur poplären Kultur, Frankfurt/ M. 1987, 9 - 60; Christoph Köck: Sehnsucht Abenteuer. Auf den Spuren der Erlebnisgesellschaft, Berlin 1990. 75 Seeßlen: Abenteuer (wie Anm. 74), 11. Andreas Blauert 854 Crusoe« des mehrfach erwähnten Daniel Defoe aus dem Jahr 1719 vor Augen führen: Auf einem unbewohnten Eiland gestrandet, hat er als erstes nichts besseres zu tun, als eine palisadenbewehrte »Festung« zu bauen, um sich dann, Jahre später und seine Rettung vor Augen, an dem ihm zugewachsenen »förmlichen Reichtum an Untertanen« zu erfreuen. Prägnanter lassen sich grundlegende Dispositionen des Entdeckungs- und Kolonialzeitalters nicht auf den Punkt bringen. Doch darüber wäre an anderer Stelle ausführlicher zu handeln. Denn die Beschäftigung mit der »Pirat Round«, mit den Piratensiedlungen Madagaskars und dem ›abenteurlichen‹ Piraten unserer Imaginationen hat uns schon jetzt auf eine Vielzahl von Untersuchungsfeldern geführt, die in einem Beitrag zur Kriminalitätsgeschichte der Vormoderne nicht ohne weiteres zu erwarten sind. Doch die neuen Horizonte, die sich aus dem Ausguck unseres Piratenschiffes gewinnen ließen, mögen das gerechtfertigt erscheinen lassen. Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 855 Anhang: Benutzte Piraten-, Forschungs- und Reisesowie Memoirenliteratur des 18. Jahrhunderts 76 1.) Benyowsky: Schicksale und Reisen, 1791: Des Grafen Moritz August von Benyowsky, Ungarischem und Pohlnischem Magnaten, und Eines von den Häuptern der Pohlnischen Conföderation, Schicksale und Reisen; Von ihm selbst beschrieben. Erster Band. Dessen Kriegsoperationen in Pohlen und Gefangenschaft in Kamtschatka. Zweiter Band. Fahrt durch das stille Meer über Japan und Formosa nach China; und Errichtung einer französischen Colonie zu Madagascar. Uebersetzt von Georg Forster Churfürstl. Mainzischem Hofrath. Leipzig, im Verlage der Dykischen Buchhandlung. 1791. (engl. Erstausg. vermutlich 1789) (benutzt wurde das Exemplar der UB Konstanz) 2.) (Brock): Leben und Thaten des Capitain Johann Avery, 1745: Leben und Thaten des Capitain Johann Avery, berühmten Englischen Seeräuber, welcher von einem Cajütenjungen zur Königlichen Würde gestiegen. Besitzern der Insul Madagascar, aus dem Englischen übersetzet. Frankfurth und Leipzig, 1745. (engl. Erstausg. 1709) (benutzt wurde das Exemplar der UB Konstanz) 3.) Bucquoy: Sechzehenjährige Reise nach Indien, 1771: Jacobs de Bucquoy, Landmessers und Landchartenverfertigers in Diensten der ostindischen Compagnie, sechzehenjährige Reise nach Indien. Aus dem Holländischen nach der zweyten Ausgabe übersetzt. Nebst einem Auszuge aus Jacob Frankens unglücklicher Reise in den Jahren 1756 - 1760. Mit Kupfern. Leipzig, bey Christian Gottlob Hilscher, 1771. (holl. Erstausg. 1754) (benutzt wurde das Exemplar der UuLB Halle) 76 Es brauchte viel Zeit und Geduld, die einschlägige Literatur bibliographisch zu erschließen und irgendwann in Händen zu halten. Ein besonderer Dank geht in diesem Zusammenhang an Wolfgang Griep von der Eutiner Landesbibliothek für Datenbankrecherchen in der »Bibliographie der deutschsprachigen Reiseliteratur 1700 - 1810« sowie an Günter Allweiss für die Anschaffung einiger Texte für die Universitätsbibliothek Konstanz. Die Genehmigung zur Wiedergabe der Karte auf Seite 838/ 839 erteilte die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle (Saale). Das Kartenoriginal findet sich in Johann J. Schwabe (Hg.): Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande (...), Bd. 2, Leipzig 1748 (Sign: Ob 157,40 od. Pon IIo 167,40). Andreas Blauert 856 4.) Downing: Die neuesten Unruhen, 1738: Die neuesten Unruhen auf der Ostindischen Küste oder Geschichte von dem daselbst aufgekommenen sehr berüchtigten Seeräuber Korrengei Angria und der gegen ihn auch andern Capern ausgelauffenen Englischen Escadre nebst dem Lebenslauf des bösen Jan Plantain Seeräubers auf der Insul Madagascar wie auch einer Nachricht von dem zwischen dem grossen Mogol und dem Angria bereits geführten Kriegen, im Englischen beschrieben von Clement Downing lebendigen Zeugen der meisten Sachen anjezo aus dem Holländischen ins Teutsche übersetzt und mit einer accuraten Charte dieser Insuln versehen. Nürnberg, bey Johann Friedrich Rüdiger, 1738. (engl. Erstausg. 1737) (benutzt wurde das Exemplar der UB Konstanz) 5.) Drury: Journal, 1729: Madagascar: Or. Robert Drury’s Journal, During Fifteen Years Captivity on that Island. (...), London 1729. (engl. Erstausg.) (benutzt wurde die Ausgabe London 1890, vollständ. bibliogr. Angaben in Anm. 13) 6.) Hamilton: East Indies, 1727: A new account of the East Indies, being the remarks of Capt. Alexander Hamilton who spent his time there from (...) 1688 to 1723, 2 Bde., Edinburgh, J. Mosman, 1727. (Erstausg. vermutlich 1726) Teilübersetzung ins Deutsche unter dem Titel: Einige Anmerkungen über die Küsten und Inseln, zwischen dem Vorgebirge der guten Hoffnung, und Capo Guarda Fuy. Von dem Hauptmann Alexander Hamilton, in: Johann J. Schwabe (Hg.), Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande (...), Bd. 5, Leipzig. bey Arkstee und Merkus,1749, 209 - 218. (benutzt wurde das Exemplar der UuLB Halle) 7.) Johnson: Schauplatz der englischen Seeräuber, 1728: Schauplatz der Englischen Seeräuber. Worinnen Ihre Begebenheiten, Leben, Raubereyen und grausame Thaten, von der Zeit an, da sie sich zuerst auf der Insul Providentia niedergelassen, biß zu unserer Zeit. Mit einem Auszug der Gesetze und Ordonnancen von Seeräuberey. Ausführlich zuerst in englischer Sprache beschrieben von Capitän Carl Johnsohn. Nachgehends im Französischen, aus beyden Sprachen aber ins Teutsche übersetzet, aus beglaubten Urkunden continuiret, und mit historisch-geographischen Anmerckungen. Wie auch einer Vorrede von der Seeräuberey der alten und jetzigen Zeiten, vermehret von J. M. D., Goslar, Verlegts Johann Christoph König, 1728. (engl. Erstausg. 1724) Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion 857 (benutzt wurde das Exemplar der UuLB Halle, Angaben zu weiteren Ausg. von Johnson/ Defoe in Anm. 6 - 7) 8.) Langallery: Mémoires, 1743: Mémoires Du Marquis De Langallery, Lieutenant-Général Des Armées De France, Et Genéral-Feld-Marechal-Lieutenant Au Service de L’Empereur Charles VI. Histoire Interessante, Où se trouvent un grand nombre d’Anecdotes qui concernent Mad. de Maintenon, Mrs. de Catinat, de Vendòme, Victor-Amédée Duc de Savoie, ensuite Roi de Sardaigne, le Prince Eugène, Auguste I. Roi de Pologne, la Porte Ottomane, & quantité d’autres peu connues; écrite par lui-mème dans sa prison à Vienne en Autriche. A la Haye, Chez Daniel Aillaud, Libraire dans la grande Sale de la Cour. 1743. (franz. Erstausg.) (benutzt wurde das Exemplar der Württ. LB Stuttgart) Lebens-Beschreibung des Marki von Langallerie, General-Lieutenants der Französischen Armeen, und General-Feld-Marschall-Lieutenants in Diensten Kayser Carl des VI., worinnen sehr viel geheime Nachrichten enthalten, welche die Madame von Maintenon, die Herrn von Catinat und Vendome, Victor Amadeus, Herzogen von Savoyen, nachmaligen König von Sardinien, den Prinzen Eugenius, August I. König in Pohlen, die Ottomannische Pforte, und viel andere wenig bekannte Dinge betreffen; Von ihm selbst, in seinem Gefängnis zu Wien, aufgezeichnet; nun aber wegen ihres besondern Inhalts ins Teutsche übersetzt von C. E. G., Gotha, verlegts Johann Paul Nevius, 1747. (benutzt wurde das Exemplar der ThULB Jena) 9.) Rochon: Reise nach Madagascar, 1792: Des Herrn Abbé Rochon Mitgliedes der Academien zu Paris und Petersburg, Astronoms der Marine, Aufsehers des königlichen physikalischen Cabinets etc. Reise nach Madagascar und Ostindien. Aus dem Französischen übersetzt von Albrecht Christoph Kayser Hochfürstlich Thurn- und Taxischen Hofrath und Bibliothekar. Bayreuth, im Verlag der dasigen Zeitungsdruckerey, 1792. (franz. Erstausg. 1791) (benutzt wurde das Exemplar der UB Tübingen) 10.) Rogers: Voyage autour du monde, 1716: Voyage autour du monde commencé en 1708 & fini en 1711. Par le Capitaine Woodes Rogers. Traduit de l’anglois. Tome premier/ Tome second. Où l’on a joint quelques pièces curieuses touchant la rivière des Amazones & la Guiane. A Amsterdam, chez la veuve de Paul Marret, dans le Beursstraat à la Ronommée. 1716. (engl. Erstausg. 1712) (benutzt wurde das Exemplar der WessenbergB Konstanz) Andreas Blauert 858 Teilübersetzung ins Deutsche unter dem Titel: Woodes Rogers Reise nach Ostindien durch Südwesten, in: Johann J. Schwabe (Hg.): Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande (...), Bd. 12, Leipzig, bey Arkstee und Merkus. 1754, 63 - 79. (benutzt wurde das Exemplar der UuLB Halle) 11.) Snelgrave: Nouvelle relation, 1735: Nouvelle relation de quelques endroits de Guinee, et du commerce d’esclaves qu’on y fait. Contenant (...) III. La relation de tout ce qui est arrivé à l’auteur lorsqu’il fut pris par les Pirates, & de plusieurs autres dangers auxquels il s’est vu exposé. Traduite de l’Anglois du Capitaine Guillaume Snelgrave, par Mr. A. Fr. D. de Coulange. A Amsterdam, aux dépens de la Compagnie. 1735. (engl. Erstausgabe 1734) (benutzt wurde das Exemplar der UuLB Halle) Teilübersetzung ins Deutsche unter dem Titel: Neue Nachricht von einigen Theilen von Guinea und dem Sklavenhandel, im Jahre 1730. Durch Hauptmann Wilhelm Snelgrave, in: Johann J. Schwabe (Hg.): Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande (...), Bd. 3, Leipzig, bey Arkstee und Merkus. 1748, 538 - 594. (benutzt wurde das Exemplar der UuLB Halle) 859 Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés Gerd Schwerhoff Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum Zusammenfassung In der deutschsprachigen Forschung erlebte die Kriminalitätsgeschichte ihren vergleichsweise späten Aufschwung erst an der Wende zu den 90er Jahren dieses Jahrhunderts. Im Kontext der allgemeinen historiographischen »Großwetterlage« erlangte der neue Forschungszweig ein ausgeprägtes kulturgeschichtliches Profil, das z.B. in einer starken Skepsis gegenüber quantifizierenden Methoden oder in der Nutzung von Gerichtsquellen als Zugang zur Alltagsgeschichte zum Ausdruck kommt. Die in der bisherigen Rechts- und Sozialgeschichte dominierende etatistische Perspektive wurde durch eine Sichtweise abgelöst, die den Einfluß der gesellschaftlichen Akteure auf die Kriminaljustiz betont. Diese neuen Perspektiven finden in neueren Arbeiten zu den Sanktionsmechanismen im Ancien Régime, zur Gewalt- und Eigentumskriminalität sowie zur geschlechtsspezifischen Delinquenz ihren Niederschlag. Sie werden im vorliegenden Aufsatz vorgestellt. Den Abschluß bildet die Erörterung des historischen Wandels auf dem Feld der Kriminalitätsgeschichte. Modernisierungstheoretisch inspirierte Modelle wie z.B. die »violence-au-vol- These« oder die Vorstellung von der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung haben hier fruchtbar gewirkt, sind jedoch im Zuge der kulturgeschichtlichen Wende auch für die Kriminalitätsgeschichte fragwürdig geworden. Summary In Germany, the history of crime and criminal justice did not become a distinctive sub-discipline of social history until around 1990 when German scholars discovered the value of judicial records as key sources. Due to the general trend in historiography, the »historische Kriminalitätsforschung« got a special profile. It was strongly influenced by the methodological and theoretical discussions about »historical anthropology« and »micro-history«. The field is dominated by a sceptical attitude towards the impact of criminal statistics; nevertheless, criminal historians use court records often to gain access to the daily lives of the people in the past. While older legal history gave more credit to an etatistic perspective, new criminal history in Germany stresses the possibilities of the actors in front of the criminal justice in the Ancien Régime. In detail, the article highlights new approaches taken on the function and the penal practice of pre-modern courts as well as to the different fields of criminality like violence and theft and on the connection between gender and criminality. Finally, the question of historical change is posed. Theoretical models like the »violence-to-theft«-thesis or the concept of social disciplining (»Sozialdisziplinierung«) have inspired criminal history but also lost their plausibility in the light of ongoing and current cultural debates. Résumé Comme la recherche allemande n’a découvert l’histoire de la criminalité que relativement tard, son essor se situe dans les années 1990. Développé dans un climat propice à l’histoire culturelle, elle se montre particulièrement sceptique envers les approches sérielles et les tentatives de reconstruire le quotidien sur la base des actes juridiques. Par conséquent, l’intérêt principale se porte sur l’influence qu’exercent les acteurs sociaux sur la justice criminelle ayant remplacé la pers- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 860 pective étatique qui dominait l’histoire du droit et l’histoire sociale des années 1970 et 1980. En témoignent avant les travaux dédiés aux pratiques de sanction de l’Ancien Régime, la violence, le vol et le rapport des sexes, le sujet de la contribution. En guise de conclusion sera discuté la place du changement historique dans les débats actuels. Particulièrement fructifiant s’avèrent les modèles inspirés par les théories de la modernité comme, par exemple, la thèse connue sous le terme de »la violence-au-vol« ou le concept de la »Sozialdisziplinierung« et ceci malgré la critique formulée par ceux qui préfèrent l’approche culturelle. Peter Wettmann-Jungblut Von Robin Hood zu Jack the Ripper Zusammenfassung Die historische Kriminalitätsforschung setzte in Großbritannien Anfang der 70er Jahre ein und entwickelte sich zu einer eigenständigen Subdisziplin der Sozial- und Kulturgeschichte, die den Problemen von gesellschaftlicher Ordnung und den Konflikten zwischen dem Spätmittelalter und der viktorianischen Ära nachgeht. Der Überblick versucht erstens, die Entstehung der Kriminalitätsgeschichte anhand allgemeiner Entwicklungstendenzen der britischen Geschichtswissenschaft wie etwa der »history from below« oder der Adaption quantitativer Methoden nachzuzeichen. Zweitens sollen einige Besonderheiten der englischen Strafrechtsgeschichte im Bereich der Strafgesetzgebung, des Strafverfahrens und des Sanktionssystems mit dem bis weit ins 19. Jahrhundert bestehenden »bloody code« thematisiert werden. Der dritte Schwerpunkt liegt auf einer kritischen Darstellung der für Großbritannien erarbeiteten historischen Kriminalitätsmuster, die auch die Frage nach dem Erklärungspotential von Modernisierungs- und Zivilisierungstheorien aufwerfen. Die Diskussion um die historische Rolle des Strafrechts als Mittel der sozialen Kontrolle und als Vermittler von klassenspezifischen Ordnungsvorstellungen steht im Mittelpunkt des abschließenden Kapitels. Summary Historical research on crime and criminal justice started in Great Britain in the early 70s and has become an independent branch of social and cultural history that deals with the problems of social order and the conflicts from the late Middle Ages to the Victorian age. This overview tries to reconstruct the development of criminal history by considering general developments within British historiography, especially the influence of the »history from below« and the adaptation of quantitative methods. The second chapter deals with some pecularities of English penal history with regard to penal legislation, procedure and the system of penal sanctions, exemplified by the »bloody code« that was in force until the early nineteenth century. A critical description of historical patterns of criminality is given in the third chapter that also intends to question the explanatory value of theories of modernisation and civilisation. The final chapter deals with the debate about the historical importance of the penal law as a means of social control and as a transmitter of class-biased conceptions of social order. Résumé La recherche historique de criminalité a pris son essort au début des années soixante-dix en Grande Bretagne. Elle s’ést développée en tant que discipline autonome de l’histoire sociale et culturelle et étudie les problèmes de l’ordre social et des conflits existants entre la fin de moyen âge et Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 861 l’ère victorienne. Cette vue d’ensemble a comme objectif premier de revenir sur les origines de l’histoire de la criminalité en se fondant sur les tendances du développement général de l’historiographie britannique comme, par exemple, de »history from below« ou l’adaption des méthodes quantitatives. Comme deuxième objectif, elle doit se pencher sur quelques particularités de l’histoire du droit pénal anglais dans le domaine de la legislation pénale, de la procédure pénale et du système des santions qu’on retrouve dans le »bloody code« qui fut en vigeur jusqu‘au 19ième siècle. Son troisième but est de faire un exposé critique des formes de la criminalité au cours de l’histoire en traitant la question de la validité des théories de la modernisation et de la civilisation. Le dernier chapitre expose surtout le débat sur le rôle historique du droit pénal comme moyen de contrôle social et comme intermédiaire des conceptions de l’ordre spécifiques des classes. Henrik Halbleib Kriminalitätsgeschichte in Frankreich Zusammenfassung Aus den Traditionen serieller Geschichtsschreibung hervorgehend, lag das Interesse der französischen Kriminalitätsgeschichte zunächst auf den Zusammenhängen von langfristigen Veränderungen der Deliktstrukturen, sozialen Ursachen der Delinquenz und Marginalisierung von Randgruppen. Ein zunehmend anthropologischer Blick führte dann zu einer stärkeren Aufmerksamkeit gegenüber den Funktionen der Gewalt in sozialen Beziehungen und Ehrkonflikten. Zugleich nahm, mit wachsender Skepsis gegenüber den quantifizierenden Methoden und angeregt von Foucault, die Bereitschaft zu, sich mit der Justiz sowie deren Wahrnehmung und Nutzung durch die Bevölkerung zu beschäftigen. Summary In the tradition of serial history, French historians of crime were foremost interested in the relations between long-term changes in the patterns of crime and the social causes of deliquency and marginality. With a more anthropological approach, the focus moved towards the function of violence in social relations and conflicts of honour. At the same time, growing scepticism about quantitative methods as well as the influence of Foucault led to the study of criminal justice and the ways in which it was perceived and used by people. Résumé Issu de la tradition de l’histoire serielle, l’intérêt des historiens français de la criminalité était basé en premier lieu sur les rapports de changements de longue durée des structures de délits, des origines sociales de la délinquance et de la marginalité. C’est à la suite d’une approche de plus en plus anthropologique que les fonctions de la violence dans les rapports sociaux et les conflits d’honneur ont attiré l’attention toujours plus grande des historiens. En même temps, parallelement au sceptiscisme croissant vis-à-vis des méthodes quantitatives et sous l’impulsion de Foucault, on a été plus enclin à s’occuper du rôle de la justice et de la façon dont le peuple la perçoit et l’utilise. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 862 Xavier Rousseaux Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg (14. bis 18. Jahrhundert) Zusammenfassung Der Artikel gibt einen Überblick über den Forschungsstand der Kriminalitäts- und Strafrechtsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg für die Epoche des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Er zeichnet die Genese des Forschungsfeldes nach und konzentriert sich dann auf drei zentrale Problemkreise: Formen der Kriminalität und ihrer Verfolgung; rechtliche und politische Konstruktion von Kriminalität; schließlich die Sozialanthropologie des Konflikts und der Konfliktlösung. Die abschließenden Überlegungen reflektieren Unterschiede und Gemeinsamkeiten der historischen Entwicklung zwischen den nördlichen und den südlichen Niederlanden. Summary This overview is a state of the research in the history of late medieval and early modern crime and justice in Belgium, the Netherlands and Luxembourg. Beginning with the emergence of this field of research, we successively present three main paradigms of research: forms of crime and repression; sociopolitical construction of crime and anthropological uses of conflict and dispute settlement. We conclude on discrepancy in historiography on crime and justice in the former Northern and Southern Low Countries. Résumé Dans cet aperçu historiographique, nous tentons de faire le point sur l’état de la recherche sur la criminalité et la justice criminelle en Belgique, aux Pays-Bas et au Grand duché de Luxembourg. Après avoir abordé la genèse de ce domaine de recherches, nous nous sommes attachés aux thèmes et aux problèmes abordés selon trois axes. Les formes de la criminalité et de la répression, la construction socio-politique des crimes et les usages socio-anthropologique du conflit et de ses modes de résolution. Avant de conclure sur les interprétations différentes des phénomènes dans les anciens Pays-Bas du Nord et du Sud. Peter Blastenbrei Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 1500-1800: Tendenzen und Ergebnisse Zusammenfassung Der Beitrag erfaßt schlaglichtartig die vielfältigen Aspekte kriminalitätshistorischer Forschung im Italien der Frühen Neuzeit und gibt gleichzeitig einen Überblick über bzw. eine Einführung in die wichtigste Forschungsliteratur auf diesem Gebiet. Die italienische Frühneuzeitforschung führte lange Zeit, wie dies auch in Deutschland zu beobachten war, ein Schattendasein und beginnt erst Mitte der 80er Jahre, sich zu einem eigenen Forschungszweig innerhalb der Geschichtswissenschaft zu formieren. Zentrales Anliegen ist die Erforschung der Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Thematischer Dreh- und Angelpunkt der italienischen Kriminalitätsgeschich- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 863 te sind die Bandenproblematik, die Institutionengeschichte der Justiz (insbesondere Kirchenstaat) sowie Sitte und Sexualverhalten. Delinquenz wird dabei vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse betrachtet, steht also in Bezug zu gesetzgebenden Normen und der herrschenden kulturellen Praxis. Die Historische Kriminalitätsforschung hat immer auch Methodenprobleme reflektiert. Sie ist sich durchaus der Tatsache bewußt, daß historische Delinquenz sich nicht realiter in den Gerichtsakten spiegelt, sondern eine historische Rekonstruktionsleistung auf der Basis von Gerichtsquellen bzw. verfügbarer Literatur ist. Die Sozialwissenschaften mußten sich daher auch mit dem Vorwurf auseinandersetzen, die Quellen in unangemessener Weise zu interpretieren. Summary This article describes the various aspects of Italian crime history studies in the Early modern period. It also gives a compact survey of and an introduction into the most important literature in this field. For a long time - until the mid-80s actually - research of the Italian Early modern period was neglected and only then began to be regarded as an independent branch of research within the historical sciences. Its main aim is the study of the social history of the time and the attitudes and mentalities of its people. The central thematic concerns of Italian crime history are the gang issue, the judicial institutional history (especially the so-called »church state«) as well as customs and sexual behavior in general. In this context, delinquency serves as a foil for social development processes. It is related both to legislative norms and the dominant cultural habits. Crime history has regularly referred to methodological problems. One is absolutely aware of the fact that historical delinquency as it occured is not really reflected in court records but is a historical reconstruction based on court records and other available material. The social sciences therefore had to deal with the accusation of not properly interpreting the existing sources. Résumé L’article trace des aspects différents des études historiques de la criminalité italienne pendant la première modernité. Egalement, le texte offre un survol compact de la littérature de recherche la plus importante sur ce sujet. Pour longtemps, la recherche de la première modernité italienne était négligée en Allemagne. Dans les années mi-quatre-vingts on a commencé à la respecter comme un rameau indépendant dans les sciences historiques. Les études historiques de la criminalité traitent en première partie l’histoire sociale de cette époque et examinent comment les mentalités des gens fonctionnaient. Les thèmes centrals sont les problèmes avec les gangs (brigands), l’histoire institutionnelle de la justice (particulièrement les soi-disant Etats de l’Eglise) et, en général, les coutumes et le comportement sexuel. Dans ce contexte, les délits servent comme miroir pour le développement social parce qu’ils se rapportent aux normes législatifs et les habitudes dominantes dans les cultures. La science historique de la criminalité a régulièrement indiqué qu’il y a des problèmes de méthode. Il va pratiquement sans dire que les délits historiques ne se reflètent pas tout justement dans les dossiers des cours, mais sont le résultat d’un grand effort de la réconstruction qui s’appuye sur ces dossiers et autre littérature disponible. Pour cette raison, les sciences sociales sont confrontées avec le reproche de ne pas avoir interprété les sources en convenable manière. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 864 Jens Chr. V. Johansen Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern Zusammenfassung Nach einigen, z. T. bis in die 1940er Jahre zurückreichenden, frühen Pionierarbeiten wuchs das Interesse an der historischen Kriminalitätsforschung und am Studium der historischen Mechanismen sozialer Kontrolle in den letzten Jahren stark an. Seit Beginn der 1990er erstrebte man Vergleiche zwischen den skandinavischen Ländern und führte entsprechende Forschungsprojekte und Tagungen durch. Als gemeinsame Entwicklung wurde hier z. B. eine Verstärkung der sozialen Kontrolle im Gefolge der Reformation und ganz besonders im 17. Jahrhundert deutlich. Wenn auch die lokalen, vor allem die Dorfgerichte, in allen Ländern eine wichtige Rolle spielten, so war deren Anbindung an eine zentrale Hochgerichtsbarkeit doch in den einzelnen Ländern höchst unterschiedlich. Prinzipiell ruhte das System der sozialen Kontrolle auf drei Säulen: auf den weltlichen und auf den kirchlichen Gerichten sowie auf den nichtinstitutionalisierten, informellen Kontrollorganen der Gesellschaft. Dabei stand im 16. Jahrhundert der Kampf gegen die Gewalt und im 17. Jahrhundert das Ringen um die Regulierung der Sexualität im Vordergrund. Später wurden auch ökonomische Vergehen wie Armut oder Schulden verstärkt gerichtlich geahndet. Dabei wurde die Sozialkontrolle keineswegs immer »von oben« verordnet. Sie konnte einerseits vom Volk selber ausgehen und entsprang andererseits - gemäß dem lutherischen Glauben - einem Akt der Selbstdisziplinierung des jeweiligen Subjekts. Summary In recent years the study of social control and historical criminology has attracted many students in the Scandinavian countries. Since the beginning of the 90s there has been an interest in comparing the Skandinavian countries in this respect. The question has been raised whether there is a specific Scandinavian pattern of control and crime that differs from what we find in other parts of Europe. In 1991 a Scandinavian project within the field of the history of crime and criminal justice entitled »Social control and the handling of conflicts in the preindustrial era. The courts as arena for normative and social interaction in the Scandinavian countries 1550-1850« was begun. Certain points of comparison are clear. Social control in all countries was strengthened after the Reformation and especially in the 17th century. There was also a strong tendency in Sweden to strengthen the control of the lower courts by the High courts, a development to which we have no parallel in Denmark. Another common feature is a movement away from violene as the dominant crime towards theft and especially sexual crimes, albeit to a smaller degree. However, local secular courts throughout the period played the central role within the hierarchical system being built since the 16th century. Thus, control was extended by the three main powers in society: state, church and local institutions. They enforced the same norms and at the same pace. In the 16th century king, courts and local authorities fought against violence, and during the 17th century for the control of sexual behavior; later they also battled economic crime, debts, and poverty. Control not only came from above but also from below through popular participation at local courts and assemblies and, according to the Lutheran faith, as an internal process. Control and the solution of conflicts took place before the same institutions. Résumé Quelques études anciennes mises à part, l’historiographie des pays scandinaves n’a commencé que récemment à s’intéresser à la criminologie historique. Dès le début des années quatre-vingts dix, on observe des échanges scientifiques multiples entre les différents pays scandinaves: des Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 865 projets de travail communs, des colloques, des conférences etc. En même temps, on s’est mis à comparer davantage les résultats nationaux et régionaux. Comme trait commun de la recherche actuelle l’on peut nommé l’accent posé sur la question du contrôle social suite à l’introduction de la Réforme ainsi que son renforcement durant le 17e siècle. Même si les tribunaux locaux et les courts communales/ villageoises jouaient partout un rôle capital dans le système pénal, ceux-ci étaient, du point de vue institutionelle, d’un pays à l’autre, différemment ralliés à la justice centrale. En principe, le système du contrôle social s’appuyait sur trois piliers différents: sur les courts laïques, la justice ecclésiastique et sur le contrôle informel exercé par les différentes communautés/ sociétés en question. Au 16e siècle, le centre des activités juridiques se situait dans la lutte contre la violence; le 17e siècle, la sexualité prenait la relève, tandis que plus tard, les courts s’occupaient d’avantages des crimes contre les propriétés, de la pauvreté et de l’endettement croissant. Le contrôle social, cependant, n’était pas toujours octroyée de haut en bas; il fonctionnait aussi bien au niveau horizontal, au niveau de la société, au niveau du »peuple«. Puis, entrait en jeu une troisième force, inextricablement liés à la confession protestante, la conscience individuelle de chaque membre de cette société même. Christoph Schmidt Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz (16. bis 18. Jahrhundert) Zusammenfassung Wegen des starken Interesses der polnischen Historiker an der Geschichte der Frühen Neuzeit und ihrer traditionell engen Verbindung zur französischen Historiographie hat die polnische Geschichtswissenschaft die Untersuchung der historischen Kriminalität vergleichsweise früh aufgenommen. Dabei stand die städtische Delinquenz aufgrund der besseren Quellenlage eindeutig im Vordergrund. Infolge des recht zahlreichen polnischen Adels stellte dieser auch auf der Anklagebank einen gegenüber westeuropäischen Ländern deutlich größeren Anteil. Ein weiterer Unterschied zu Westeuropa begründet sich in der Leibeigenschaft, die den sozialen Beziehungen ein erhebliches Konflikt- und Gewaltpotential aufgebürdet hat. Weitgehend offen ist bislang die Frage, mit welchem Nachdruck das in Europa nahezu einmalige politische System der Adelsrepublik das Projekt der sogenannten Sozialdisziplinierung verfolgen konnte. Summary Due to the vivid interest of Polish historians in the history of the Early modern period with its traditionally close relation to the French historiography, Polish historical research began relatively early with the study of the »history of criminality«. In this context, urban delinquency is clearly the focus of discussions because of better source material. On account of the sheer quantity of members of the Polish nobility, its representatives are to be found more often to stand accused than in other western European countries. Another difference in relation to Western Europe is serfdom, which imposed an enormous potential of conflict and violence on social relations. An important question, yet unsolved, is, how urgently the political system of the »noble republic« performed the so-called social disciplining. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 866 Résumé Grâce à ses contacts aussi étroits que traditionnels avec l’historiographie française, la recherche historique polonaise s’est, relativement tôt, penchée sur la criminologie historique. Par la richesse des documents conservés dans les archives municipales s’explique - en Pologne comme ailleurs - l’accent mis sur la délinquance urbaine. Puisque la noblesse était en Pologne plus nombreuse qu’ailleurs, peu surprend de la voire apparaître en grand nombre devant le tribunal. Maintes autres problèmes difficiles à résoudre était causé par le servage toujours en cours à l’époque. Jusqu’à présent, pour mentionné un troisième champ de recherches en cours, l’historiographie polonaise n’a pu répondre d’une manière satisfaisante à la question dans quelle mesure la république noble, phénomène unique à l’époque, a pu ou su réaliser ce que l’historiographie allemande qualifie de »Sozialdisziplinierung«. Andrea Griesebner und Monika Mommertz Fragile Liebschaften? Zusammenfassung Der Artikel diskutiert den methodologischen Status von ›gender‹ im Feld der Historischen Kriminalitätsforschung, wie sie sich in den letzten zehn Jahren in den deutschsprachigen Ländern entwickelte. Die Autorinnen fassen verbreitete Kritik aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechtergeschichte zusammen und plädieren dafür, neuere Debatten zu berücksichtigen, wie sie insbesondere in der Frauen- und Geschlechterforschung geführt werden. Vor allem feministische ForscherInnen der verschiedenen Disziplinen haben die lange für selbstverständlich genommene Dichotomie von ›gender‹ (kulturell variable Konzepte von männlich/ weiblich) und ›sex‹ (biologische und daher unveränderliche Grundlage von ›gender‹) mittlerweile in Frage gestellt und herausgearbeitet, daß diese Unterscheidung selbst als Produkt historischer Prozesse verstanden werden muß. Dies wirft die Frage auf, was HistorikerInnen finden, wenn sie nach ›Männern‹ und ›Frauen‹ in Gerichtsquellen anderer Epochen suchen. Die Autorinnen argumentieren, daß die programmatische Einschränkung der Historischen Kriminalitätsforschung auf ›Devianz‹ dazu beiträgt, die Idee einer unveränderlichen binären Opposition zwischen ›weiblicher‹ und ›männlicher‹ Kriminalität bzw. ›Devianz‹ festzuschreiben. Statt ›gender‹ zu benutzen, um zwei soziologisch distinkte Gruppen oder Kategorien zu beschreiben, wird vorgeschlagen, ›gender‹ als eine Markierung zu verstehen, die mit historischen Bedeutungen belegt wird. Zwei mögliche Zugänge um die damit verbundenen neuen Fragestellungen zu bearbeiten, werden anhand von Fallstudien illustriert: Ausgehend von einem niederösterreichischen Gesetzbuch des 17. und 18. Jahrhunderts (Ferdinandea) wird veranschaulicht, daß die Bedeutung der ›geschlechtlichen Markierung‹ kaum generalisierbar ist, indem sie in Abhängigkeit zu der im sozialen Raum (Pierre Bourdieu) eingenommenen Position der DelinquentInnen stark variieren konnte. In der Strafdrohung wie auch in der Strafpraxis erlangten verschiedene ›Differenzen‹ Bedeutung, die hier nicht als additiv oder multiplikativ, sondern als ›interagierend‹ konzeptualisiert werden. Das zweite Beispiel befaßt sich mit der ländlichen Gesellschaft der Mark Brandenburg im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert. Dargelegt wird, wie durch die Fokussierung auf Interaktionspraktiken - in diesem Fall Praktiken der Konfliktaustragung - die der Interaktion zugrundeliegenden Bedeutungsmatrices von Geschlecht zu erschließen sind und wie diese die Interaktion in einem spezifischen Praxisfeld organisieren. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 867 Summary This essay discusses the methodological status of ›gender‹ in the field of historical criminology as it has developed over the last decade in German-speaking countries. The authors summarize the wide-spread critique by historians from the field of women and gender studies, particularly those who are working on the history of crime. The paper is a plea for taking into consideration recent theoretical debates on the construction of gender. Mostly feminist scholars of various disciplines have contested the long taken-for-granted dichotomy of ›gender‹ (culturally variable concepts of male and female) and ›sex‹ (biological and therefore unchangeable basis of gender) and have suggested that the very distinction is the result of historical processes. This raises the question of what historians find, when they search for ›men‹ and ›women‹ in criminal sources of past times. It is argued here that the programmatical delimitation of historical criminology as dealing with ›deviation‹ tends to reproduce the idea of a fixed and binary opposition of ›female‹ and ›male‹ criminality, resp. ›deviation‹. Instead of using gender to describe two distinct sociological groups or categories, the authors propose to consider gender as a marker that is invested with historical meanings. Two possible approaches to answering this question are illustrated with results from case studies. The example of a 17th and 18th-century Austrian book of law known as the Ferdinandea shows that the significance of gender varied greatly depending on the different positions of potential ›criminals‹ in the social space (Pierre Bourdieu). The prescribed forms of punishment as well as their consequences for the persecuted persons never depended exclusively on gender but on what has to be conceptionalized as mutually interacting differences. A second example is concerned with the peasant society of Brandenburg in the 16th and 17th centuries. It points out how the focus on practices of interaction - in this case practices of conflict resolution - enables the historian to establish underlying matrices of gender meaning which organise interaction in a specific social field. Résumé Depuis peu de temps, la recherche féministe s’est mis à réviser l’utilité de la distinction classique proposée jadis par l’historienne américaine Joan W. Scott. La distinction entre »gender« (comme entité culturellement et historiquement variable) et »sex« (biologique et stable), serait, selon les critiques récentes, elle-même le produit d’un procès historique et non pas un axiome généralement valable. En quel mesure ceci concerne-t-il la criminologie historique? Griesebner et Mommertz lui reproche de conserver, voire de perpétuer l’opposition binaire entre criminalité masculine et criminalité féminine en réduisant son intérêt principal sur la question de la déviance. Les auteurs proposent de redéfinir le concept de »gender«. Au lieu de l’utiliser pour décrire deux groupes ou catégories distincts du point du vue sociologique, elles le comprennent comme signe chargé de significations historiques. S’ensuivent, pour illustrer leurs réflexions méthodologiques, deux analyses exemplaires, l’une portant sur la Ferdinandea autrichienne, l’autre sur les pratiques judiciaires propre au margraviat Brandebourg pendant le XVI e et XVII e siècle. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 868 Michael Maset Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse für kriminalitätshistorische Forschungen Zusammenfassung Der Beitrag beschäftigt sich mit dem methodischen Nutzen von Michel Foucaults Machtanalyse für die historische Kriminalitätsforschung. Kriminalitätshistorische Forschungen benötigen ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse von Macht, das eine methodische Verknüpfung von ›Struktur‹ und ›Handlung‹, ›Norm‹ und ›Praxis‹ leisten kann. Michel Foucaults Machtanalyse stellt ein solches Instrumentarium zur Verfügung. Summary The reflections focus on the methodological usefulness of Michel Foucault’s analyses of power for historical research on crime. Such research requires adequate methods for analysing power, i.e. methods that establish a methodological connection between ›structure‹ and ›agency‹, ›norm‹ and ›practice‹. Michel Foucault’s analyses of power provides such methods. Résumé Les réflexions se proposent d’étudier l’utilité méthodologique de l’analyse de pouvoir par Michel Foucault pour la recherche historique sur la criminalité. Une recherche de cette type suppose des instruments adéquats pour l’analyse de pouvoir qui permettent d’établir une connexion entre ›la structure‹ et ›l’action‹, entre ›la norme‹ et ›la pratique‹. L’analyse de pouvoir de Michel Foucault constitue un tel instrument. Klaus Graf Das leckt die Kuh nicht ab Zusammenfassung Diese Studie bedient sich eines diskursgeschichtlichen Zugriffs und beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Diskurs über das Strafen, in dem obrigkeitliche und populare Sichtweisen ineinander verschränkt sind. Nach einem Plädoyer für eine überlieferungsnahe Quellenkunde und Quellentypologie der Kriminalquellen werden die »schwarzen Bücher« thematisiert, spätmittelalterliche Strafbücher, welche als weltliche »Sündenregister« auch in den öffentlichen Diskurs der Sprichwörter Eingang gefunden haben. Sie waren allgemein bekannte Symbole für die Erfassung und Ahndung von Normverstößen, Zeichen im Kontext religiöser Kommunikation über Sünde, Verdammung und Teufel. Narrativen Texten gilt der Abschnitt über die Justiz-Erinnerungen mit dem Schwerpunkt auf den sogenannten »Sagen«, Erzählungen beispielsweise über unschuldig Hingerichtete. Sie dürfen nicht getrennt von den anderen Justiz-Erzählungen in der zeitgenössischen Publizistik und Kompilationsliteratur betrachtet werden. Der Hauptteil befaßt sich mit Quellen aus dem Bereich der materiellen Kultur, nämlich mit Schanddenkmälern, also mit der prospektiven Verewigung von Schande, wie sie in Deutschland vor allem in der Frühen Neuzeit in seltenen Fällen gleichsam als pathetisches Ausrufezeichen praktiziert wurde. Die Erinnerung an »exemplarische« Bestrafungen wurde gesichert mit der dauerhaften Ausstellung der sterbli- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 869 chen Überreste von Schwerverbrechern, der Errichtung eigener Schandsäulen für Hochverräter, in der Regel verbunden mit der damnatio memoriae in Form einer Hauswüstung, und mit Inschriften zum Gedenken an Verschwörungen. Es handelte sich um »Justiz-Pädagogik« im Dienste der Generalprävention. Während offen gelassen werden muß, wann die Markierungen der Stellen auf öffentlichen Stadtplätzen, auf denen von der Tradition herausgehobene Hinrichtungen stattgefunden haben sollen, entstanden sind, können Deutungen von Steinköpfen (»Neidköpfen«) als Erinnerungszeichen (»Wahrzeichen«) an bestrafte Missetäter als frühneuzeitliche Fiktionen erwiesen werden. Um solche handelt es sich auch bei den meisten Interpretationen, die sich an das einschlägige Inventar deutscher Rathäuser, insbesondere die »Leibzeichen«, knüpften. Wichtig sind solche »Mißverständnisse« gleichwohl und zwar als Resultate einer Traditionsbildung, die retrospektiv und im narrativen Diskurs die Bedeutung der prospektiven Verewigungspraxis unterstreicht. Die Materialpräsentation beschließt ein Abschnitt über die retrospektive Dimension der Erinnerungskultur, über den »historischen« Diskurs über das Strafen. Ausgehend von der Frage archaisierender Strafjustiz gibt er einige vorläufige Hinweise für eine noch zu schreibende Geschichte (oder Vorgeschichte) der Strafrechtsgeschichte. Am Schluß des Beitrags wird der Gebrauch des von Jan Assmann übernommenen Konzepts der Erinnerungskultur begründet und eine interdisziplinäre Erforschung der Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit gefordert, an der sich außer der Historischen Kriminalitätsforschung vor allem die Rechtsgeschichte und Rechtsarchäologie, die Erzählforschung und dieVolkskunde zu beteiligen hätten. Summary The study deals with the social discourse of punishing, in which authorial and popular opinions merge. The author pleads for a closer reading and categorization of criminal source material. He then discusses the so-called »black books«, late medieval »books of punishment« which, like mundane »lists of sin«, were also introduced in the proverbial discourse. They were widely known symbols of registering and punishing violations against social norms. Furthermore, they were religious modes of expression when talking about sin, damnation and the devil. The section on relating »justice memories« focuses on narrative texts, especially on myths relating executions of innocents condemned to death. These mythical tales should not be studied apart from other forms of narration in journalism and the compilation literature of the day. The main part of the article deals with source material from the material culture, namely with pillories. They immortalize shame and gave it a visible form as to how public punishment was practiced, particularly in Germany, during the Early modern period. »Exemplary« punishments made lasting impressions on the people by exhibiting the mortal remains of dangerous criminals. Pillories were normally constructed for traitors in addition to the so-called damnatio memoriae, a form of authorial devastation, and, finally, inscriptions kept the memory of the infamous end of such conspiracies alive. These actions were part of law and order, so as to prevent crimes in advance. While it has to remain an open question at which time these markers were first erected in the market places where exemplary executions are assumed to have taken place, the »stone heads« (»envy heads«) as symbols (emblems) of punished delinquents turned out to be an Early modern myth, like most of the interpretations based on the interior of German town halls, mostly the so-called »body signs« (»Leibzeichen«). Nevertheless, such »misunderstandings« are important as they are results of a tradition-making process, which retrospectively underlines the importance of this kind of long-term immortalization within the narrative discourse. The presentation of the material available finishes with a section on the retrospective dimension of the remembrance culture, namely on the historical discourse of punishing. Concentrating on archaic forms of criminal justice this article gives, for the time being, some fruitful advice for a history of criminal justice (or prehistory) yet unwritten. In the end, the use of the »memory culture-concept«, adopted from Jan Assmann, is established and an interdisciplinary exploration of the »memory culture« in the field of criminal justice is Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 870 asked for, in which, apart from historical crime research, especially the fields of history, archeology of law as well as narrative and ethnic studies should participate. Résumée Klaus Graf consacre son étude à un »discours pénale« très répandu, mais peu connu et rarement étudié, à un discours où s’entrecroisent représentations populaires et représentations »étatiques«, à un discours inscrit dans la matérialité même des actes de la justice criminelle ainsi que contenu et dans le langage et dans les légendes médiévales. En tête de ses »réflexions fortuites«, l’auteur place les »livres noires«, les »registres pénitenciers« de l’époque, qui référaient à la fois à l’enregistrement proprement dit et à la sanction des infractions commises. Ces livres représentaient des symboles connus par tout le monde et, en tant que tels, ils affectaient l’imagination et le langage de l’époque dans des tournures telles que citées dans le titre de l’étude: la vache ne lêche pas cela. La seconde partie de l’étude est vouée à ce que l’auteur appelle la »mémoire judiciaire« du petit peuple, à une mémoire qui se traduit entre autre dans et par les multiples légendes et miracles colportés au sujet de personnes exécutés à tort. La partie centrale de son étude cependant, Klaus Graf, la consacre au témoignage des images infamantes qui commémoraient cette fois-ci non pas l’injustice de la justice mais rappelaient d’une façon véritablement monumentale, les sanctions exemplaires proférées par cette même justice. À côté des images infamantes proprement dites y trouvent mention entre autre l’exposition publique des »reliques« physique d’un condamné à mort ou l’élévation des stèles infamantes, des monuments véritablement impérissables. Toutes ses peines infamantes étaient, en général, accompagnées d’une damnatio memoriae. Gabriela Signori Ein »ungleiches Paar«: Reflexionen zu den schwankhaften Zügen der spätmittelalterlichen »Gerichtsrealität« Zusammenfassung »Ungleiche Paare« lassen sich wohl kaum vermeiden, wenn, wie in den spätmittelalterlichen Städten nördlich der Alpen, Zweit- oder gar Mehrfachehen weniger die Ausnahme, denn vielmehr die Regel zu bilden scheinen. In seinem Narrenschiff (1494) wettert Sebastian Brant, der damals noch in Basel lebte, heftig gegen Jung, genauso wie gegen Alt, die allein des Geldsäckels zur Ehe bzw. zur ungleichen Ehe schreiten. Besondere Aktualität gewinnt seine Version des Exempels durch einen »Präzedenzfall«, dessen Entstehungszeit in die Antike zurückreicht und der das Basler Schöffengericht zwei Jahre zuvor mehrere Monate lang intensiv beschäftigt hatte. Auf insgesamt 165 Seiten Gerichtsakten breiten Klienten wie Freunde des ungleichen Paares in aller Ausführlichkeit aus, was sie so alles über eine Ehe dachten, die zwei ungleiche Ochsen ziehen (Geiler von Kaysersberg). In den Zeugenprotokollen lösen sich die Grenzen zwischen »Schwank« und »Realität«, zwischen »Gelehrtendiskurs« und »Alltagswissen« auf - eine passende Gelegenheit einmal auch über die kommunikativen Funktionen von Vorurteilen und Stereotypen im Erzählen vor Gericht nachzudenken. Summary If, as in the urban society of the late Middle Ages, remarriage is not the exception but rather the norm, then the »ill-matched pair« must have been in some way a common phenomenon. In his Ship of Fools (1494), Sebastian Brant living still in Basle at the time severely criticizes the young Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 871 as well as the old who marry only for economic reasons. His version of the Exemplum (which goes back as far as antiquity) is of special interest since two years before the publication of the ‘Ship of Fools’ the assessor’s court of Basle dealt extensively with a similar case. In the testimonies of the friends and the clients of this ill-matched couple, filling up 165 pages of the court’s records, there is no clear distinction between »reality« and »farce«, between »discours savant« and »quotidien knowledge«. The witnesses of these people urge us to deal among other things with the power of stereotypes and prejudices in the court enqueries of the late Middle Ages. Résumé Le »couple inégal« perd son caractère hors du commun, si, comme dans les sociétés urbaines du bas moyen âge, les secondes noces sont la règle et non pas l’exception. Dans sa Nef des folz (1494), Sébastien Brant, qui à l’époque vivait encore à Bâle, tempête contre des jeunes et des vieux qui se marient, c.-à.-d. qui se marient mal, uniquement par des raisons économiques. L’Exemplum de Brant, dont les origines littéraires renvoient à l’antiquité, gagne d’actualité par le fait que deux ans auparavant la cour de justice bâloise débattait pendant plusieurs mois un cas tout à fait analogue. Clients et amis du couple en question étalent sur 165 folios tout ce qu’ils pensent d’un mariage qui est tiré par deux boeufs inégaux (Geiler de Kaysersberg). Dans leurs témoignages se mêlent »fabliaux« et »réalité«, »discours savant« et »savoir quotidien«, une bonne occasion, me semble-t-il, pour réfléchir entre autre sur les fonctions communicatives des stéréotypes et des préjugés dans les enquêtes justicières du moyen âge tardif. Ralf-Peter Fuchs Gott läßt sich nicht verspotten Zusammenfassung Der Aufsatz ist eine Vorstudie zu einem größeren Forschungsprojekt mit dem Titel »Soziales Wissen nach RKG-Zeugenverhören«. Er umreißt die Bedingungen, unter welchen Zeugenverhöre in der Frühen Neuzeit stattfanden. Quellenbasis sind drei Verhöre des 16./ 17. Jahrhunderts aus dem westfälischen Raum, die nach Beleidigungsklagen durchgeführt wurden. Zunächst wird, um die Gesprächssituation nachzuzeichnen, beschrieben, wie die Gerichte dabei vorgingen. Wichtig ist hierbei die Widerspiegelung der Parteienkonkurrenz in der Befragung: Nach den Regeln des römisch-kanonischen Zeugenverhörs wurde der Partei, gegen die der Beweis geführt wurde, die Möglichkeit eröffnet, die Zeugen mit Fragstücken (Interrogatoria) unter Druck zu setzen und bestimmte Aussagen gegen deren Willen zu erzwingen. Zum einen werden die Versuche der Zeugen rekonstruiert, sich diesen Zwängen zu widersetzen und sich etwa über Bekundung von Nichtwissen den Fragen zu entziehen. Zum anderen werden die Aussagen danach untersucht, welche Elemente sozialen Wissens zum Vorschein kommen. Nicht die faktische »Wahrheit« der Antworten steht hier im Vordergrund, sondern das, was die Zeugen als plausible »Wahrheiten« darstellten. Das Reservoir an Wissenstypen läßt sich hierbei drei prägnanten Wissensfeldern zuordnen: 1. Einem Feld von Alltagswissen und -regeln im Umgang mit den Nachbarn, 2. dem Feld religiösen Wissens und 3. dem Feld politischen Wissens. Diese Felder sollen für weitere Forschungen innerhalb des Forschungsprojekts einen Grundstock bilden. Eine genauere Skizze des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts ist im Internet zu finden (http: / / www.lrz.muenchen.de/ ~ng/ gfn/ dfg1.html.) Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 872 Summary The essay is a preliminary study to a larger research project entitled »Soziales Wissen nach RKG- Zeugenverören«. It outlines the conditions under which the interrogation of witnesses took place in the Early modern period. The source basis are three interrogations carried out in the 16th and 17th century in the region of Westphalia in connection with actions for defamation. First, in order to indicate the situation, a description is given of how the courts proceeded. An important aspect thereby is the party opposition in the examination process: According to interrogatory rules for witnesses under Roman Canon Law, the party against whom the action was being brought was given an opportunity to cross-examine the witnesses (interrogatoria) and to elicit statements from them against their will. The attempts of the witnesses to resist the pressures and, for example, to evade questions by claims of ignorance is reconstructed. Their statements are then investigated as to what elements of social knowledge they reveal. The focus here is not on the factual truth of the answers but on what the witnesses represent as plausible truths. The reservoir of types of knowledge can be divided into three main categories: (1) A field of everyday knowledge and rules in dealings with neighbors; (2) The field of religious knowledge; (3) The field of political knowledge. These areas will form a ground stock for further research. Further details on the project, which is supported by the German Research Society (Deutsche Forschungsgemeinschaft), are available at the following internet address: (http: / / www.lrz.muenchen.de/ ~ng/ gfn/ dfg1.html.). Résumé Cet article a été rédigé en tant qu’étude préliminaire à un plus ample projet de recherche intitulé »Soziales Wissen nach RKG-Zeugenverhören«. Il donne un aperçu des conditions sous lesquelles se déroulaient les auditions de témoins au début des temps modernes. Les sources en sont trois auditions manées dans la région westphalienne aux 16ème et 17ème siècle suite à des plaintes déposées pour cause d’affront. Tout d’abord, l’auteur explique la procédure judiciaire de l’époque afin de situer les conversations. Il faut souligner ici le reflet de la concurrence des parties dans l’interrogatoire: en effet, suivant les règles de l’audition de témoins canonique romaine, la partie accusée a la possibilité de mettre les témoins sous pression à l’aide de questions (interrogatoria) et de leur arracher certaines déclarations contre leur gré. D’une part, l’auteur reconstitue les tentatives des témoines de résister à cette pression et de se soustraire aux questions, par example en protestant de leur ignorance. D’autre part, il étudie les dépositions en vue d’y détecter les éléments de connaissances sociales qui apparaissent. Ce n’est pas la »vérité« effective des réponses qui se situe ici à l’avant-plan mais ce que les témoins établissent comme »vérité« plausibles. Le reservoir de type de connaissances se laisse ainsi classer de manière exemplaire en trois champs prégnants: 1. Un champ de connaissances concernant la vie de tous les jours et les règles gouvernant les rapports quotidiens avec les voisins; 2. le champ du savoir religieux; 3. le champ du savoir politique. Ces champs constitueront une base pour des études plus approfondies dans le cadre du projet de recherche. Vous trouverez une esquissse plus détaillée de ce projet de recherche conduit par la Communauté de Recherches Allemande (Deutsche Forschungsgemeinschaft) sur le Intenet (http: / / www.lrz.muenchen.de/ ~ng/ gfn/ dfg1.html.). Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 873 Heike Talkenberger Bürger oder Außenseiter? Zusammenfassung Anhand der exemplarischen Analyse der Autobiographie des Luer Meyer aus Osterholz bei Bremen aus dem Jahre 1850 wird zunächst gezeigt, wie sich der Lebensweg des Protagonisten zwischen der Erfüllung der von der bürgerlichen Gesellschaft aufgestellten Normen und deren Verletzung bewegt. Außerdem werden Überlegungen zur Konstitution des Textes der Autobiographie angestellt und das dort entworfene Selbstbild mit dem Diskurs über »den Verbrecher« verglichen, wie er im 19. Jahrhundert geführt wurde. Der Beitrag charakterisiert in einem ersten Schritt die Instanzen, die dem Autor die bürgerlichen Normen vermitteln - Pflichterfüllung, Fleiß, Sparsamkeit, Bescheidenheit, christliches Verhalten - und zeigt ihren Einfluß auf Meyer. Sodann wird das konkurrierende Normensystem der »peer-group« beschrieben: Hier dominieren die Orientierung an Lebensgenuß, mühelosem Gelderwerb, Ungebundenheit und Ablehnung von Autoritäten. Der Lebensweg des Protagonisten zeigt ein Oszillieren zwischen diesen Polen, wenn er sich einerseits als guter Schüler und recht erfolgreicher Zigarrenproduzent beschreiben kann, andererseits aber seit seinem dreizehnten Lebensjahr durch immer neue Betrügereien und Diebstähle straffällig wird und in verschiedenen Arbeits- und Zuchthäusern einsitzen muß. Er bildet keine eindeutige kriminelle Identität aus, versucht vielmehr mehrere Male, zum bürgerlichen Leben zurückzufinden. Entgegen der Annahme vom Verbrecher als dem »Anormalen«, Abweichenden, Kranken, jedenfalls Anderem (als dem Bürger) wird hier eine Selbstkonstitution deutlich, die Bürgerlichkeit und abweichendes Verhalten einschließt. Das Selbstbild ist zwar einerseits vom Diskurs über den Verbrecher bestimmt, wie er Mitte des 19. Jahrhunderts geführt wurde, zum Beispiel in der moralischen Verurteilung der eigenen Taten oder deren Begründung durch die eigenen »Begierden« und »Leidenschaften«, enthält aber andererseits Elemente von Stolz und Selbstwertgefühl. So charakterisiert Meyer sein Leben einerseits als gescheitert, doch seine Kritik an der Realität des Strafvollzugs, die die Diskussion um eine Reform der Strafanstalten verarbeitet, ermöglicht ihm andererseits eine Aufwertung der eigenen Person. Hier zeigt sich die Produktivität der sonst nur als Repression wahrgenommenen Norm im Sinne von Michel Foucault. Summary The exemplary analyses of the autobiography of Luer Meyer (1850) from Osterholz near Bremen shows how the protagonist’s path of life sways between fulfilment and violation of the norms civic society sets up. Moreover, considerations are made concerning the construction of the autobiographic text and a comparison is done between the picture of the self that is developed in the text and the discourse of the 19th century concerning the »criminal«. In a first step, the essay characterizes the instances that act as intermediary of civic norms, like the fulfilment of duty, industry, economy, modesty and Christian behavior. In a second step, the system of competitive norms of the »peer-group« is described where the enjoyment of life, earning money without strain, freedom, and the negation of authorities dominate. Luer Meyer’s path of life shows both systems of norms when he describes himself as a good scholar and a successful producer of cigars, but on the other hand practices deception and theft and makes acquaintance with several jails and working-houses. He doesn’t develop a clear identity as a criminal but tries several times to find back to a civic life. In contrary to the picture of the criminal the 19th century designs where he is considered as abnormal, deviant or ill, in any case the Other of the civic, we see a constitution of the self, that contains both, the civic and the deviant behavior. The picture of the self shows on the one hand Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 874 the influence of the official discourse when Luer Meyer morally condemns his own deeds and speaks of his »passions« as a cause of his criminal deeds. But there are also elements of proudness and selfconciousness when he criticizes the execution of sentences. There he seizes the opportunity to show his own ideas and values, which are based on the discourse of the reformation of the execution of sentences. Here we find an example for the productivity of the norms (Michel Foucault) that are mostly seen as a repression. Résumé L’analyse de l’autobiographie de Luer Meyer d’Osterholz qui vient près de Brême, montre comment la vie du protagoniste oscille entre l’accomplissement et la violation des normes de la société bourgeoise. L’autobiographie qui est considérée comme constitution de l’image de soi, est comparée avec les discours sur le malfaiteur du 19e siècle. La première partie caractérise les instances qui introduisent, avec succès, les normes bourgeoises à Meyer : le sens du devoir et de l’économie, l’assiduité, la réticence et le comportement chrétien. La deuxième partie le système de normes concurrent du »peer group« est décrit, dans lequel la volonté de profiter de la vie, l’argent facile, l’indépendance et le refus d’autorité dominent. La vie du protagoniste oscille entre ces deux modèles : D’un côté, il se décrit comme un bon élève en cultivant avantageusement du tabac. De l’autre côté, il commit des délinquances depuis l’âge de treize ans. A cause de ses escroqueries et ses vols, il est condamné au prison. Malgré sa carrière criminelle, il essai plusieurs fois de retourner à la vie bourgeoise. Au contraire de l’image du malfaiteur comme »anormal«, déviant, malade ou au moins l’autre du bourgeois, on décèle une constitution de soi, qui intègre l’identité bourgeoise et le comportement déviant. D’un côté, l’image de soi est influencé par le discours sur le malfaiteur, quand Meyer condamne moralement ses propre faits, de l’autre côté il contient de l’orgueil et une valorisation de soi. Meyer caractérise sa vie comme échec, mais sa critique de la réalité des prisons qui reprend le discours des réformes, lui permet une revalorisation de sa personne. Ainsi la production de la norme - dans le sens de Michel Foucault se dévoile qui ne peu être considérée comme exclusivement répressive. Peter Schuster Richter ihrer selbst? Zusammenfassung Waren patrizische Gewalttäter Einzelfälle oder kennzeichnet die Oberschicht gerade eine Neigung zur Delinquenz? Am Beispiel der Reichsstadt Konstanz im 15. Jahrhundert ergeben sich überraschende Befunde. Mitglieder der politischen und ökonomischen Elite waren unter den vom Konstanzer Gericht bestraften Bürgern überrepräsentiert. Sie beleidigten, waren gewalttätig und verstießen gegen die Gewerbeordnungen. Deviantes Verhalten war ein Phänomen aller sozialen Schichten. Es kann daher nicht verwundern, daß soziale Ausgrenzung nicht das Ziel der Rechtsprechung gewesen ist. Die meisten Bußen, auch ausgesprochene Stadtverweisungen, konnten durch Geldzahlungen oder Strafarbeit abgegegolten werden. Im Spiegel von Delinquenz erweist sich die spätmittelalterliche Stadt als eine »moral community«. Auch im Bereich der Blutgerichtsbarkeit ist kein Klassenkonflikt auszumachen. Reiche wie arme Bürger waren unter den zum Tode Verurteilten kaum vertreten. Der Galgen drohte vor allem Fremden. An ihnen wurden Exempel statuiert, über die sich die Bürgergemeinde ihrer Rechtsordnung vergewisserte. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 875 Summary Were patrician violators individual cases or do they indicate a general delinquent behavior in the social upper classes of premodern society? The example of the imperial city of Constance contributes some surprising answers to this question. Members of the economic as well as of the political elite were overrepresented among the citizens fined by the court of the city. They were held liable for issuing insults, acts of violence and offenses against the craft-codes. Deviant behavior was common in all social strata. It is therefore not astonishing to find that exclusion was not the aim of the administration of justice. Most fines, even expulsion from the city, could be redeemed by paying money or by work. In the mirror of delinquency, the late medieval city appears as a »moral community«. The death penalty menaced, above all, strangers. It was carried out to make an example of them, and this insured the stability and efficiency of the legal and social order. Résumé Les membres de la noblesse urbaine étaient-ils plutôt rares parmi les criminels ou se permettaient-ils systématiquement plus de libertés envers la loi que d’autres groupes sociaux? A ce propos, l’exemple de la ville impériale de Constance au 15e siècle offre des perspectives surprenantes. Parmi les délinquants comparant devant le tribunal municipal, les élites politiques et économiques de la ville sont plus nombreux que leur portion de la population au total ne le laisserait croire. Ils furent punis pour des insultes, des violences et des infractions aux statuts des métiers. Le comportement déviant fût la marque de toutes les couches sociales. Le but central de la juridiction n’était donc point l’exclusion de tel ou tel strate de la société. Chaque délinquant pouvait se racheter d’une amende et même d’une expulsion par des dons en argent ou des travaux volontaires. A travers ses réactions aux crimes, la ville du moyen âge tardif nous présente l’image d’une »communauté morale«. Même dans le domaine de la haute justice on ne s’aperçoit d’aucun antagonisme de classe, car ni les pauvres, ni les riches figurent parmi les condamnés, la peine capitale étant presque entièrement réservée aux étrangers. Ce fût aux dépens des étrangers que la communauté urbaine s’assurait de la validité de son système juridique et des valeurs le soutenant. Steffen Wernicke Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit Zusammenfassung Urfehdebriefe gelten im deutschsprachigen Raum für das späte Mittelalter als die Quelle mit der höchsten kriminalhistorischen Relevanz. In der Reichsstadt Regensburg haben sich über 3000 dieser Urkunden mit Schwerpunkt auf dem 15. Jahrhundert erhalten, wodurch sich nicht nur qualitative sondern auch quantitative Erkenntnismöglichkeiten ergeben. Über 11000 aktenkundige Personen (Täter, Opfer, Fürsprecher, Bürgen) erlauben einen umfassenden Blick auf Reibungspunkte und Konfliktmuster innerhalb einer spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft. Zentrale Aufgabe des Regensburger Rates war während des gesamten Mittelalters die Schlichtung zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen. Große Bedeutung kam bei deren Entstehung der Macht der Worte zu, die fast immer Gewalttätigkeiten vorausgingen. Frauen waren an dieser Form der Rauf- und Ehrenhändel beinahe völlig unbeteiligt. Dafür standen sie im Mittelpunkt der obrigkeitlichen Aktivitäten zur Hebung der Sittenzucht, vor allem die sogenannten »unendlichen Weiber« wurden um die Mitte des Jahrhunderts verstärkt aus der Stadt getrieben. Seine Bemühungen um Ausgleich und Friedenswahrung suchte der Rat in der Regel weniger mit überzo- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 876 gener Strenge, als vielmehr mit einem wohlabgewogenen System umfangreicher Gewährung von Gnade zu erreichen. Dabei tritt die Vertragsnatur der Urfehde hervor: Als Gegenleistung für die ihm widerfahrene Gnade beschwört der Entlassene bestimmte Auflagen und Verwillkürungen. Summary Recognicances are a key source for historians of late medieval crime. 3000 of them are preserved in the archives of the Imperial city of Regensburg, allowing for qualitative and quantitative modes of analysis. 11000 people are documented as witnesses, victims or perpetrators of crime and open a window onto patterns of conflict and social tension in a late medieval town environment. Throughout the middle ages the Regensburg council acted as arbitrator in such interpersonal disputes. The power of words was of great significance in such disputes, and insults nearly always preceeded violent exchanges. Women were hardly ever involved in such fights for honour. But women were central for moral campaigns by the authorities, prostitutesere increasingly banished from Regensburg since the mid-century. In his measures to find peace and arbitration the council was led mainly by a well balanced system of benevolence rather than harshness. The contractual nature of recognicances enshrined that such benevolence needed to be reciproated by those who had broken the peace with specific acts of redemption and promises of betterment. Résumé Les lettres dites ›Urfehdebriefe‹ comptent parmi les sources les plus importantes pour la criminologie historique allemande. Plus de trois milles lettres se sont conservés dans les archives de la ville impériale de Ratisbonne, la majorité datant du XV e siècle, mentionnant à leur tour plus de onze mille personnes: délinquants, victimes, avocats etc. Ce personelle impressionnant par le nombre permet d’analyser de plus près les conflits typiques d’une société urbaine à la fin du moyen âge ainsi que les mesures prises par le magistrat à qui succombait la tâche de maintenir l’ordre social. Presque toujours, les mots précédaient à l’acte, à la violence physique - un délit exclusivement masculin. Les délits féminins, par contre, étaient étroitement liés à la morale publique. Au milieu du XV e siècle, le magistrat bannissaient à plusieurs reprises les prostitués devant les portes de la ville. Mais, normalement, il évitait de procéder avec trop de sévérité; il préférait de se servir du moyen de la grâce. C’est par le biais de la grâce qu’apparaît la »nature« contractuelle de l’Urfehde. Le prisonnier, relâché par la grâce du conseil urbain, jurait formellement d’obéir aux sanctions mentionnées dans l’Urfehde. Erika Münster-Schröer »Grave gegen Düren« Zusammenfassung Im Jahr 1509 beschuldigte ein Waidfärber namens Johann Grave in Düren, einer Stadt im Herzogtum Jülich, zwei Frauen der Zauberei. Aus diesem zunächst lokalen Konflikt erwuchsen mehrere Gerichtsverfahren an unterschiedlichen Instanzen, die sich über die Jahre 1509 bis 1513 hinzogen. Sie zeigen, auf welche Weise aus der Klage eines Einzelnen eine Reichsangelegenheit werden konnte. Traditionelle und moderne Gerichtsverfahren stehen hier - teilweise konkurrierend - nebeneinander und zeigen die Intensität von Justiznutzung insbesondere durch Johann Grave. Die für diese Zeit schon totgeglaubte Feme spielt in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Rolle, die bisher in der Forschung noch kaum berücksichtigt wurde. Aber auch Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 877 »rechtsrelevantes Verhalten«, das engstens mit alltäglichen Verhaltensweisen verbunden war, läßt sich während des Prozesses vor dem städtischen Gericht gut beobachten. Das Fallbeispiel zeigt sehr deutlich, daß unterschiedliche Vorstellungen von Recht nebeneinander existierten, die sich nicht ohne weiteres unter Aspekten wie »Rechtsnorm« und »Rechtspaxis« auflösen lassen. Die komplizierten Gerichtsverfahren, bedingt durch die verschiedensten Instanzen, die involviert waren, werden rekonstuiert sowie auf dieser Folie Landrecht, Schöffenurteil und Femegerichtsbarkeit untersucht. Im Anschluß daran werden, unter Einbeziehung von Alltagsverhalten und »Gewohnheitsrecht«, weitergehende Fragestellungen thematisiert, die sich mit dem Recht und seiner Durchsetzung befassen. Die »Verwissenschaftlichung des Rechts« insbesondere im Bereich des Verfahrens bedeutete, daß das Recht zunehmend theoretisch wurde. Es wurde zur rechtlichen Argumentation nicht nur im Beurteilen des Einzelfalls, sondern setzte Normen. Johann Grave dagegen setzte Recht mit Gerechtigkeit überhaupt gleich. Mehrfach ließ er in den Klageschriften betonen, daß Lena Ferbers, eine der Frauen, die wegen des Delikts der Zauberei angeklagt war, »wider den heiligen Christenglauben« gehandelt, also die göttliche Ordnung verletzt habe. In gewisser Weise muß es für ihn unfaßbar gewesen sein, daß er trotz intensiver Justiznutzung - angefangen von einer Ebene des Alltags, geprägt von Gewohnheitsverhalten und rechten, bis hin zu den höchsten Gerichtsinstanzen, unter Einbeziehung gelehrter Juristen - in seinen Bestrebungen nicht erfolgreich war. Summary In 1509 a woad dyer named Johann Grave accused two women of sorcery in Dueren, a town in the duchy of Juelich. Several trials in different courts continuing from 1509 to 1513 resulted from this conflict which was only of local interest in the beginning. These trials manifest the way in which the action of an individual could become an affair of the Empire. Traditional and progressive proceedings of law coexist - in some cases competitivly - and demonstrate the intensitiy with which Johann Grave managed to utilize the judicial sytem. The vehmic court presumed dead in this period is, in this context, a factor which should not be underestimated and which, so far, has hardly been taken into consideration by research. But also »behavior relevant to law« which was closely bound up with everyday behavior can be studied during the trial in the municipal court. The example in question demonstrates very clearly that different concepts of law coexisted that cannot be split up into categories like legal »standard« and legal »practice«. The complicated trials conditioned by the variety of courts involved are reconstructed, and, on this basis of comparison, common law, jury verdicts and the vehmic court system are investigated. Subsequently, further questions are posed concerning law and its acceptance, incorporating aspects like everyday behavior and »customary law«. The development of the scientific character of jurisprudence particularly in the field of proceedings meant that law was becoming more and more theoretical. It turned out that legal argumentation is not only used to pass judgements on individual cases but moreover to set standards. Johann Grave, however, identified law with justice in general. More than once he emphasized in the written complaints that Lena Ferbers, one of the women accused of sorcery, had acted »against the holy Christian religion« and, thus, violated the divine order. It must have been fairly incomprehensible to him when he realized that he would not be sucessful in his efforts - despite his intensive utilization of the judicial system, starting at an ordinary level characterized by customary behaviour and customary rights and ending up at the supreme court and consulting savant lawyers. Résumé En 1509, un tenturier pastel qui s’appelait Johann Grave accusait deux femmes d’être des sorcières à Dueren, une ville dans le Duché de Juelich. Plusieurs procédures devant diverses instances résultaient de ce conflict local, qui s’étendait de 1509 jusqu’à 1513. Elles révèlent comment l’ac- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 878 tion d’un individu pouvait devenir une affaire de l’Empire. Les procédures traditionelles et modernes coexistent - partiellement en concurrence - et demontrent l’intensité de l’usage de la justice particulièrement par Johann Grave. Même la cour vehmique n’était pas encore morte; au contraire, on n’en a pas encore assez considéré le role dans la recherche scientifique. Mais aussi »la conduite conforme à la loi« lieé étroitement à la conduite quotidienne est à voir pendant la procédure devant le tribunal municipal. L’exemple montre que des idées différentes du droit pouvaient exister simultanément, qui ne peuvent pas etre classées d’après des aspects comme »règle de droit« et »pratique de droit«. Les procédures judiciaires compliquées qui étaient déterminées par les différentes instances concernées sont reconstruites et, sur cette base, le droit commun, la sentence des echevins et le système de la cour vehmique sont étudiés. Ensuite, des questions continuantes sont formulées portantes sur la loi et son application à l’inclusion des problèmes de la conduite quotidienne et du »droit coutumier«. Le développement de la science du droit particulièrement dans le domaine de la procédure avait pour effet que le droit devenait de plus en plus en théorique, c’est à dire que le droit n’était plus seulement la base de l’argumentation pour les cas individuels, mais qu’il faisait des règles. Gudrun Gersmann Konflikte, Krisen, Provokationen im Fürstbistum Münster Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage der Patrimonialgerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Westfalen, insbesondere im Fürstbistum Münster, und damit einem bisher noch viel zu wenig beachteten Gegenstand. Bis ins 19. Jahrhundert hinein haben vielerorts im westfälischen Raum adelige Gerichtsherrschaften existiert, die weitreichende Kompetenzen in der Kriminal- und Ziviljurisdiktion beanspruchten. Konflikte mit der Landesregierung waren damit vorprogrammiert, die im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert an Schärfe zunahmen: Der Versuch der münsterischen Räte, mit einer Reihe einschneidender Reformen das gesamte Territorium einer einheitlichen, von Münster aus gesteuerten Justiz, zu unterwerfen, stieß auf den erbitterten Widerstand der lokalen Adeligen, die ihre angestammten Rechte und Privilegien bedroht sahen. Ihre Reaktion auf den »Druck von oben« bestand in der demonstrativen Zurschaustellung der eigenen Jusrisdiktionsgewalt: Wie am Beispiel der Hexereithematik gezeigt wird, lieferten insbesondere die unter den Untertanen kursierenden Zaubereigerüchte den adeligen Gerichtsinhabern immer wieder willkommenen Anlaß, ein ihren Zwecken dienliches Exempel zu statuieren. Mit der eigenmächtigen Verfolgung und Verbrennung von Hexen bewiesen sie der Landesregierung, wie wenig sie gewillt waren, die ihnen gesetzten Grenzen zu akzeptieren. Summary The present essay is dedicated to the problem of patrimonial jurisdiction in Early modern Westphalia with special regard to the bishopric of Munster, which until now has rarely been an object of serious investigation. Until the 19th century everywhere in Westphalia there were jurisdictional rights of the local nobility that claimed far reaching competence in criminal and civil affairs. This caused many and increasing conflicts with the bishop’s central government in the late 16th and early 17th century: The attempt of Munster’s town council to make way for a unified central jurisdiction met with the embittered resistance of local nobles who saw their inherited rights and privileges endangered. To the pressure from above they reacted with a demonstrative manifestation of their own jusrisdiction. As I wish to show with regard to the question of sorcery and Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 879 witchcraft, rumors among the people that someone was guilty of sorcery gave proprietors of the noble jurisdiction a good opportunity to set an example that served their ends. By persecuting and executing witches, they showed the central government that they were not willing to accept any limitations to their traditional rights. Résumé Cet article s’occupe d’un aspect négligé jusqu’à maintenant de l’histoire du droit: En Westphalie comme dans d’autres territories allemands, des jurisdictions spéciales tant en matière criminelle qu’en matière civile ont survécu jusqu’au 19ème siècle. C’était surtout la noblesse locale qui, tout au long du 16ème et 17ème siècle, luttait pour le maintien de ces formes de justice privé qu’elle contrôlait de ses propres forces: En défendant ses anciens privilèges on voulait manifester sa résistence vis-à-vis d’une bureaucratie, d’un Etat moderne qui, de son côté, doublait, à partir de la deuxième moitié du 16ème siècle, ses efforts pour unifier et centraliser le système juridique. Le moyen idéal pour démontrer son autorité devenait pour la noblesse la question des sorcières. Jens Chr. V. Johansen Das nahe Gericht Zusammenfassung Der Beitrag basiert auf Gerichtsprotokollen über Gewalt- und Verleumdungsfälle vor dem Patrimonialgericht von Herlufsholm im Südwesten Zeelands und dem dörflich-königlichen Gericht von Sokkelund in der Nähe Kopenhagens im Zeitraum von 1616-1633. Die Auswertung zeigt, daß sich die Anzahl der Fälle verringert, je weiter entfernt vom jeweiligen Gerichtssitz die Verbrechen verübt wurden. Nach unseren derzeitigen Erkenntnissen über die Quote von Gewaltverbrechen und Verleumdungsfällen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts scheint es unwahrscheinlich, daß die Zahl dieser Delikte in den entlegeneren Regionen des Gerichtsbezirkes so viel niedriger ist als in dessen Zentrum. Das umgekehrt proportionale Verhältnis zwischen der Entfernung vom Gerichtssitz und der Häufigkeit von Anzeigen beruht offenbar auf dem Klageverhalten der betreffenden Bauern. Diese fanden es scheinbar nicht lohnend, sich wegen kleinerer Eigentumsstreitigkeiten oder Schlägereien im Dorfkrug an die regulären Gerichte zu wenden. Wir müssen also erklären, wie diese Konflikte ohne die Hinzuziehung der Gerichte gelöst wurden. Eine Erklärungsmöglichkeit besteht in der Hypothese, daß die Gemeindeversammlungen in diesen entlegenen Gebieten eine weitaus größere Rolle im Leben der Dorfbewohner spielten als dies bisher angenommen wurde. Summary As implied by the term »local court«, this paper discusses locality in the sense of geographic range. Using the records of violence and slander cases from the manorial court of Herlufsholm in the southwestern part of Zeeland and the local (royal) court of Sokkelund near Copenhagen during the years from 1616 to 1633, it can be shown that the number of cases decreased the further away from the actual site of the court the crimes were comitted. With the current knowledge of the rate of violent crime and slander in Europe of the 16th and 17th centuries, it seems implausible that the rate of these two crimes would be that much lower in the outlying corners of the court’s jurisdiction than at its center. Yet since there is an inverse relationship between distance to the courts and frequency of cases brought before them, this Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 880 might suggest that the peasants in these areas did not find it worth while to approach the regular courts with, say, the complaint of having been beaten with a mug because of a fight over the rental of a meadow to a third person. We, therefore, have to exlain how these conflicts were solved outside the regular courts. One possibility is that the village assemblies played a far greater role in the lives of those who lived in villages and hamlets further away form a court. If that was the case, the fines metted out at the town assemblies and at the courts must have been roughly the same, or we would find a steady flow of cases away from the courts towards the village assemblies. Actually, such a flow may have occurred. The authorities in Copenhagen certainly registered a constant flow of demands that criminal cases were to be judged by the regular courts and not by the village assemblies. The question of the sense of justice of the peasants of Zeeland, thus, becomes more complex. The court records indicate that, when the courts were near, cases of slander and violence were regularly brought before the courts. Does that mean that the peasants living on the periphery had a weaker sense of justice? That can hardly have been the case, and they undoubtedly expressed that sense of justice in alternative venues instead. Résumé Au fur et à mesure que la distance spatiale entre la cour de justice et le lieu du délit s’accroît, le nombre des infractions portées devant le juge se diminue. C’est le résultat des recherches de l’auteur qui basent sur les enquêtes judiciaires menées par la cour patrimoniale de Herlufsholm dans le sud-ouest de la Zélande et la cour royale de Sokkelund aux environs dans les années 1616- 1633. D’après tout ce que nous savons sur la fréquence des délits tels que la violence physique ou la calomnie dans les sociétés de l’Ancien Régime, il est peu probable que dans les régions les plus éloignées d’un district judiciaire le taux des délits commis soit vraiment plus bas qu’au centre. La différence entre centre et périphérie ne s’explique ni par le délit, ni par le délinquant, mais, bien au contraire, par la disposition de la victime de porter plainte. Apparemment, les rixes et disputes villageois ne valaient que rarement la peine d’être portés devant les cours de justices responsables, mais trop éloignées. Il semble que les assemblées villageois jouaient, dans la périphérie, un rôle décisif, sous-estimé jusqu’à présent. Karl Härter Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation Zusammenfassung Der Beitrag beschreibt die Entwicklung inquisitorischer Strafverfahren in den frühneuzeitlichen Territorialstaaten des Alten Reiches. Die Monopolisierung und Zentralisierung des Systems der Strafjustiz und die Durchsetzung von Policeygesetzen beeinflußten den fundamentalen Wandel von akkusatorischen zu inquisitorischen Verfahren und damit die Durchsetzung des dualen Inquisitionsprozesses sowie eines summarisch-inquisitorischen Policeystrafverfahrens. Zentrale Merkmale waren die strukturelle Zweiteilung des Verfahrens in ein lokales Untersuchungsverfahren, das lokale Verwaltungsorgane durchführten, und ein zentrales Entscheidungsverfahren der zentralen Justizbehörden. Allerdings blieb auch das inquisitorische Strafverfahren auf traditionelle genossenschaftliche Organe, die Mitwirkung der Bevölkerung und unterschiedliche Formen informeller Sozialkontrolle angewiesen. Die Interaktion formeller und informeller Sozialkontrolle beeinflußte wesentlich den selektiven Prozeß der Entscheidungsfindung, der nicht nur den rechtlichen Kriterien, sondern auch utilitaristischen und sozialen Strafzwecken folgte, die Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 881 auf dem Konzept der Policey basierten. Insbesondere bezüglich der Randgruppen und Unterschichten dominierten Etikettierungprozesse und exemplarische, auf Exklusion zielende Strafen. Auf der anderen Seite spielte die soziale Reputation eines Delinquenten, das Vorhandensein oder das Angebot informeller Sozialkontrolle und das Versprechen künftigen disziplinierten Verhaltens eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über Art und Höhe oder die Mitigation von Sanktionen. Damit erhielten die einheimischen Deliquenten die Möglichkeit, Sanktionen mittels Supplikationen mit den Zentralbehörden oder dem Landesherren auszuhandeln und das Supplizieren - das Bitten um Strafmilderung - entwickelte sich zu einem festen, aber kaum normativ fixierten Bestandteil des frühneuzeitlichen Strafverfahrens. Summary The article focuses on the development of inquisitorial criminal procedure in the Early modern territorial-states of the Holy Roman Empire. The monopolization and centralization of the criminal justice system as well as the implementation of police laws influenced the fundamental transformation from accusatorial to inquisitorial procedure, the establishment of the »dual trial by inquisition« (dualer Inquisitionsprozeß), and a summary inquisitorial procedure (summarisch-inquisitorisches Policeystrafverfahren). Its central characteristic was the subdivision into the local procedure of investigation by local adminstrative authorities and the decision-making by central adminstrative authorities. However, the inquisitorial procedure remained dependent on traditional communal institutions, the cooperation of the subjects and various mechanisms of informal social control. The interaction of formal and informal control influenced the highly selective process of decision-making which followed not only legal criteria but also utilitarian und social motives based on the concept of Policey. Especially with regard to marginal groups the inquisitorial procedure was affected by labeling processes and exemplary punishments aimed at excluding the culprits. On the other hand, the social reputation of the delinquents, the presence or the offer of informal social control and the promise of disciplined behavior played an important part in the decision on the manner and measure or the mitigation of punishment. This provided the chance for the native resident delinquents to negotiate the sanctions with the central territorial authorities or the sovereign via supplications, and petitioning (Supplizieren) developed into an established part of criminal procedure. Résumé La monopolisation et la centralisation du système pénal ainsi que l’imposition des ordonnances policières dans les Etats territoriaux de l’Ancien Régime influaient d’une manière décisive le changement fondamental de la procédure accusatrice vers la procédure inquisitoriale. Les traits principaux de ce changement étaient la bipartition structurelle de la procédure inquisitoriale en l’enquête préalable menée par les organes administratifs locaux et le jugement final proféré par la cour de justice centrale. Même la procédure inquisitoriale dépendait donc d’organes communautaires locaux, de la collaboration avec la population ainsi que du contrôle social informel exercé par celleci. Autrement dit, l’interaction entre le contrôle informel et formel se reflétait dans le jugement final. Celui-ci ne s’appuyait pas seulement sur les critères légaux, il poursuivait en même temps des fins utilitaires et sociales, basées sur le concept de ›policie‹. Les peines exemplaires visant à l’exclusion sociale du délinquant étaient appliquées avant tout sur les marginaux et les démunis. Les sanctions corrélaient donc étroitement avec la réputation sociale du délinquant, sa promesse de s’améliorer ainsi que la disposition de son entourage d’exercer un contrôle informel. Par le biais des suppliques, les délinquants issus de la population originaire disposaient également d’un moyen efficace pour négocier la hauteur des sanctions. Les suppliques, la demande de modérer les peines envisagées par la loi, devenait dans les Etats territoriaux de l’Ancien Régime un élément constitutif de la procédure pénale, bien qu’elles ne soient que rarement fixées par écrit, c.-à.-d. par la loi. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 882 Gerhard Sälter Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung Zusammenfassung Der Beitrag diskutiert das Problem von Haftstrafen im Kontext der Diskussion um Disziplinierung. Im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne wandelte sich die Praxis strafrechtlicher Sanktion, indem an die Vielfalt vormoderner Körper-, Ehren- und Todesstrafen, die häufig mit öffentlichen Buß- und Strafritualen verbunden waren, die einheitliche, diskret und differenziert anwendbare Strafhaft trat. Vor allem seit den Arbeiten Foucaults ist dieser Wandel als Aspekt einer allgemeinen Tendenz zur Disziplinierung aufgefaßt worden, deren Techniken im 18. Jahrhundert entwickelt wurden. In der neueren Forschung zur Kriminalitätsgeschichte wurde dagegen betont, daß Inhaftierung auch in der vormodernen Gesellschaft eine verbreitete strafrechtliche Sanktion war und somit nicht als genuines Kind der Moderne aufzufassen ist. Daran anknüpfend untersucht der Beitrag die Logik der Inhaftierung als polizeiliche Sanktion anhand der Repression des Zaubereidelikts zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Paris. Mit der Praxis der Inhaftierung imitierte die Polizei die Logik gerichtlicher Sanktion und Mechanismen informeller sozialer Kontrolle. Sie folgte einer Logik, die auf Reintegration des Delinquenten, Wahrung von Frieden und Ordnung innerhalb der Gemeinschaft und Schutz derselben vor Delinquenz gerichtet war. In den Verfahren zur Untersuchung der Delikte und in der Abwägung des Strafmaßes spielte die Beurteilung der Lebensführung des Delinquenten eine wesentliche Rolle. Anders als in der Gerichtspraxis wurde bei den nichtöffentlichen polizeilichen Verfahren der Leumund jedoch nicht durch die Beteiligung lokaler Gemeinschaften und lokaler Notabeln konstituiert, sondern in einer summarischen Beurteilung von sozialem Umfeld, materiellen Ressourcen und charakterlicher Disposition durch die Polizei selbst. Die Polizei folgte dabei keiner Logik der Disziplinierung, insofern diese als durch Arbeit vermittelte Reproduktion abstrakten Gehorsams verstanden wird. Sie versuchte in ihrer Praxis der Inhaftierung, Mechanismen gerichtlicher Sanktion und informeller Sozialkontrolle zu kopieren. Daß es in Paris überhaupt zu einer Verlagerung von Repressionsfunktionen von den Gerichten auf die Polizei kam, ist mit einer Schwächung informeller Kontrollmechanismen der korporativen Gesellschaft zu erklären, welche die Polizei zu ersetzen suchte. Summary This article discusses imprisonment in the context of social disciplining. The practice of penal sanctions changed with transition from the ancien régime to the modern world. The variety of premodern corps, honor and death-penalties, commonly used in combination with public rituals of suffering, was replaced by a system of uniform, discrete and differentiated applicable imprisonment. Since the works of Foucault, this change is regarded as part of a wider process of social disciplining, whose techniques were developed in the 18th century. Recent studies in the history of deviance and justice have shown, however, that imprisonment was a common penalty even in premodern societies. It therefore can not be regarded as a genuine modern form of sanction. Adopting this discussion, the article focuses on the logic of imprisonment as a sanction imposed by the police of Paris, used in the repression of sorcery in Paris at the outset of the 18th century. While adopting imprisonment as a sanction, the police imitated the logic of cooperation between premodern courts and of informal social control. The logic of the police was that of local communities: reintegration of the offender, maintaining peace and order within the community, and protection against delinquency. Like court-sentences, the procedure of investigating the offence and fixing the sentence was based substantially on a judgement on the offender’s reputation. Unlike them, the procedures of the police were not open to the public. In fact, in contrast to the Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 883 practice of premodern courts, the police replaced the role of local communities and notable persons in the assessment of legal reputation by a summary estimation of the offender’s social environment, his material resources and his character as assessed by the police itself. The police didn’t focus on social disciplining in this procedure, if it is defined as production of submission and obedience by work, but it followed the traditional logic of judicial sanctions, integrating its techniques in a system of police-punishment. The transition from courts to police and from public suffering to imprisonment in Paris at the outset of the 18th century has to be explained by the police’s adaption of its system of repression to a weakening of informal means of social control in urban corporate society. Résumé Cet article traite le problème d’enfermement, relatif à la discussion sur l’évolution de la discipline sociale. Lors du passage de l’Ancien Régime au 19e siècle, les sanctions pénales se transforment. Les anciennes sanctions, variées (châtiments de corps, de l’honneur et de la vie), souvent montrées en spectacle sur la place publique, laissèrent lieu à la peine unique, discrète et modulable de la prison. Depuis les études de Foucault, ce changement a été considéré comme aspect d’une tendance générale à la discipline, dont les techniques employés furent développés durant le 18e siècle. Cependant, les recherches récentes sur la criminalité et la justice ont souligné que l’enfermement était une sanction couramment utilisée dans les sociétés pré-modernes, et par conséquent, ce n’était pas une sanction spécifique à la modernité. Basant sur ces recherches, l’article examine la logique de l’enferment que la police de Parais employait lors de la répression. Par l’enferment, la police reprenait la logique de la punition judiciaire et du contrôle social utilisé dans les communautés des quartiers urbaines : la réintégration des délinquants, le maintien de la paix et de l’ordre aussi bien que la protection contre la déviance. Lors des procédures de la police à huit clos, la réputation était établie par la police elle-même en récoltant des informations concernant l’entourage, les relations sociales, les ressources et la personnalité du prévenu. La police ne tendait pas à discipliner, pour autant que discipliner cherche à établir soumission et obéissance par le travail. L’enfermement par la police tend donc à reproduire les pratiques de sanctions pénales et de contrôle social employés par les communautés, et à intégrer leurs objectifs. Cette transition de la sanction judiciaire à la répression policière et des supplices publiques à la prison est la conséquence même de l’affaiblissement croissant du contrôle informel exercé par les élites sociales, que la police tente à remplacer. Martin Dinges Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit Zusammenfassung Änderungen des frühneuzeitlichen Strafjustizsystems wurden bisher vorwiegend als Ergebnis obrigkeitlicher Politik oder als Antwort auf sozioökonomischen oder demographischen Streß gedeutet. Hier wird die Bedeutung der Justiznutzer herausgearbeitet als diejenige Gruppe, die letztlich darüber entschied, welche Angebote der »Strafjustiz« - die hier untechnisch auch die Sittengerichte einschließt - aufgegriffen wurden. Vor einer Inanspruchnahme der Justiz wurde gegenseitige soziale Kontrolle ausgeübt und die Qualität des institutionellen Angebotes im Lichte dieser Alternative geprüft. Die hier zusammengestellte Empirie (hauptsächlich aus dem Vereinigten Königreich, »Deutschland«, Frankreich und Spanien) zeigt, daß der Weg zu Polizei oder Gericht nur die zuletzt gewählte Option war. Ob diese Wahl getroffen wurde, hing von der Ver- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 884 fügbarkeit und den Kosten der Justiz sowie von der Einschätzung ab, ob sie voraussichtlich entsprechend den Erwartungen der Kläger entscheiden würde. Die anderen Rahmenbedingungen von Justiznutzungen wie die Schwere des Delikts oder Besonderheiten in der Person des Klägers oder Angeklagten werden ebenso wie der Genderaspekt und der Stadt-Land-Unterschied betrachtet. Die meisten Justiznutzungen dienten dazu, die Verhandlungsposition für außergerichtliche Einigungen zu verbessern. Dementsprechend war die grundlegende Intention der meisten Justiznutzer paradoxerweise letztlich die Vermeidung der Justiz. Es wird dafür plädiert, Justiznutzungen lediglich als einen Schritt innerhalb eines Kontinuums von sozialen Kontrollpraktiken zu verstehen. Da deren Rolle in einer gegebenen Gesellschaft ständigem Wandel unterliegt - wie aktuelle Diskussionen über die Rolle verschiedener Sozialkontrollagenturen wieder belegen - müssen staats- oder akkulturationszentrierte Deutungen durch eine entsprechende Beachtung der Rolle der Nutzer erheblich modifiziert werden. Summary Changes in the Early modern system of criminal justice were mainly considered to be effects of state politics. The utilization of these courts was regarded as a response to socio-economic or demographic stress. This paper underlines the significance of the users of the institutions of criminal justice as those who established how frequently the criminal justice system - and its functional equivalents like the church courts - was asked to intervene in the everyday lives of people. Before appealing to court, alternative solutions of social control and the quality of the institutional offer were sought. The evidence presented in this paper (mainly from the United Kingdom, Germany, France, and Spain) suggests that the decision to go to the police or a criminal court was usually the last option. Whether this step was taken or not was dependent upon the availability and the cost of court action and whether the judiciary reacted according to the expectations of its users. Other requirements, like the severity of the crime in question and the personal factors surrounding plaintiff or accused are systematically studied taking into account the issues of gender and the distinction between rural and urban communities. Most uses of criminal courts served to get a better starting position for further extrajudicial bargaining with the adversary. Thus the basic intention of most plaintiffs eventually was to avoid courts. This paper advocates to consider the uses of courts as a continuum of other forms of social control. As their respective importance in a given society undergoes a constant process of recomposition - exemplified in our time by debates concerning public social control agencies -, concepts stressing a state-centered perspective or judicial acculturation must be modified by taking into account the decisive role of the user. Résumé Les changements du système de justice pénale sont souvent considerés comme le résultat de la politique gouvernementale. Des variations de l’utilisation sont interprêtés comme conditionnés par des phenomènes de stress socioéconomique ou démographique. Ce papier souligne l’importance des utilisateurs comme acteurs qui décèdent en dernier lieu sur l’importance de la justice pénale - et de ses equivalents fonctionnels comme les consistoires - dans la vie quotidienne. Avant d’appeler à la justice les usagers considèrent des formes alternatives de contrôle social et la qualité de l’offre institutionelle. Les résultats de recherche presentés (essentiellement sur la France, l’Allemagne, l’Angleterre et l’Espagne) signifient clairement que l’appel à la justice était un dernier ressort de contrôle social. Si on le choisissait ou non était influencé par la disponibilité et le prix de la justice. Il était aussi important si la justice agissait en accord avec les aspirations des utilisateurs. Les autres facteurs influents comme la qualité des delits et les aspects personnels du plaignant et de l’accusé sont systématiquement scrutés prenant en compte les aspects du »gender« et les differences de la ville à la campagne. La plupart des utilisations de la justice servait à préparer une position plus avantageuse pour une négociation extrajudiciaire. Ainsi il paraît que la Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 885 plupart des plaignants déposait une plainte pour eviter en fin de compte la justice. L’auteur plaide de considerer les usages de la justice dans un continuum de formes de contrôle social. Etant donné que leur importance respective dans une société n’est jamais fixée définitivement - comme le montre le débat actuel sur le contrôle social dans l’espace public - des concepts fixés sur le rôle de l’Etat ou prétendant une acculturation juridique doivent être modifié en tenant compte du rôle décisif de l’utilisateur des institutions de justice. Francisca Loetz L’infrajudiciaire Zusammenfassung Während französische Historiker den Begriff des infrajudiciaire selbstverständlich verwenden und diesen in ihrer empirischen Arbeit fruchtbringend umsetzen, ist deutschen Forschern das Konzept in der Regel nicht vertraut. Nur wenige von ihnen stellen sich zusammen mit einigen anglo-amerikanischen Kollegen die Frage nach den außergerichtlichen Formen der Konfliktaustragung. Weder die deutschnoch die englischsprachigen Historiker setzen sich jedoch dabei mit dem Konzept des infrajudiciaire explizit auseinander. Daher versucht vorliegender Beitrag die Facetten und die Bedeutung dieses Konzepts für die Historische Kriminalitätsforschung der Frühen Neuzeit zu diskutieren. Drei Thesen stehen hierbei im Mittelpunkt der Argumentation: 1. Das Konzept des infrajudiciaire verdeutlicht, daß die Betrachtung gerichtlicher Auseinandersetzungen nur einen relativ schmalen Ausschnitt gesellschaftlicher Konflikte erfaßt. Um dem breiten Spektrum von Konfliktregelung besser gerecht zu werden, müssen auch außergerichtliche Formen der Lösung von Konflikten untersucht werden. 2. Vier Kategorien von Konfliktaustragung sind hierbei zu unterscheiden: die vorgerichtlichen Varianten außergerichtlicher Konfliktaustragung, die im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung eine Vorstufe zum Gericht darstellen (1); die alternativgerichtlichen Versionen, in denen die Streitenden mit ihrer einvernehmlichen Einigung entweder in Absage an obrigkeitliche Herrschaftsansprüche das Gericht substitutieren (2) oder diese unter Anerkennung der Justiz und durch die Justiz komplementieren (3). Ferner sind die aus dem Abschluß eines formellen Gerichtsverfahrens entstehenden und damit nachgerichtlich resultierenden Folgen eines Urteils für die Konfliktparteien zu berücksichtigen (4). Um eine Vielfalt von Fragestellungen zu ermöglichen, sollte die Mehrdeutigkeit des Konzepts des infrajudiciaire beibehalten werden. Zur Vermeidung einer Begriffsverwirrung sollte jedoch benannt werden, welche Kategorie außergerichtlicher Konfliktregelung jeweils gemeint ist. 3. Das Konzept des infrajudiciaire eröffnet thematische Perspektiven und stellt konzeptuelle Herausforderungen. Der Blick auf außergerichtliche Formen der Einigung läßt erkennen, daß Konfliktaustragung im Zusammenspiel von formellen Gesetzen und Verfahren einerseits und informellen Normvorstellungen und Rechtspraktiken andererseits stattfindet. Die Praxis des Rechts ist damit nicht mehr allein als Feld obrigkeitlicher Herrschaftsausübung, sondern als kulturelles Phänomen gesellschaftlicher Normbildung und Wiederherstellung des sozialen Friedens historisch neu zu interpretieren. Summary While French historians use the term infrajudiciaire as a matter of course and apply it fruitfully in their work, most German scholars are unfamiliar with this concept. Only a small number of German scholars, together with a small group of Anglo-American colleagues, have investigated pos- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 886 sible forms for the resolution of conflict outside the courts. And neither of the two have explicitly addressed the concept of infrajudiciaire. This paper attempts to assess the different facets of infrajudiciaire and its meaning for historical research into criminality in the Early modern period. The argument focuses on three points: 1. The concept of infrajudiciaire makes clear that the consideration of judicial cases reflects only a relatively narrow band of social conflicts. Extra-judicial means of resolving conflict must also be taken into account if the wider spectrum of the regulation of conflict is to be taken into account. 2. When considering ways of dealing with conflict, four categories can be identified: variations which are in fact pre-court phases, that is, which begin as non-judicial but which then become court cases (1); versions which take place parallel to the courts, in which the opposing parties come to an agreement. These may either take the place of recourse to the courts (2) or be complementary to recognition of and by institutions of justice (3). The consequences of a court decision for the parties concerned - that is the post-court processes - must also be considered (4). In order to enable a variety of approaches, the ambiguity of the term infrajudiciaire should be retained. To prevent confusion, it should however be made clear which category of extra-judicial regulation of conflicts is under consideration. 3. The concept of infrajudiciaire opens new thematic perspectives and offers conceptual challenges. An examination of extra-judicial means of reaching consensus demonstrates that the way conflict is dealt with is an interaction between formal laws and legal processes on the one hand and informal understandings of norms and the practice of rights on the other. The praxis of law can therefore no longer be seen exclusively in terms of an exercise of power by the authorities. Instead, it must be historically re-interpreted as a cultural phenomenon involving the establishing of social norms and the rebuilding of social peace. Résumé Tandis que les historiens français utilisent tout naturellement la notion d’infrajudiciaire qu’ils transposent avec d’excellents résultats dans leurs travaux empiriques, le concept reste généralement peu familier aux chercheurs allemands. Seuls quelques-uns d’entre eux et quelques collègues anglo-américains se posent la question de savoir quelles formes extra-judiciaires peuvent prendre les diverses sortes de conflits. Et même dans ce cas, ni les historiens germanophones, ni les historiens anglophones n’explicitent le concept d’infrajudiciaire. C’est pourquoi j’essaie dans le présent article de considérer les différentes facettes de ce concept et d’en examiner l’importance pour la recherche historique sur la criminalité de l’histoire moderne. Trois thèses forment le coeur de notre argumentation: 1. Le concept même d’infrajudiciaire montre bien que s’occuper de conflits judiciaires c’est se limiter à un secteur relativement étroit des conflits sociaux. Pour pouvoir balayer un spectre plus large des réglements conflictuels, il faut également en examiner les formes extra-judiciaires. 2. Il faut ici distinguer quatre catégories de conflits: les variantes pré-juridiques des conflits extra-judiciaires qui, à un stade ultérieur des discussions, représentent l’étape préparatoire avant d’en appeler au tribunal (1); les versions juridiques alternatives où les parties adverses se mettent d’accord soit pour refuser l’intervention d’autorités judiciaires et se passer du tribunal (2), soit pour reconnaître les autorités officielles et passer un accord suceptible d’être accepté par celles-ci (3). Il faut en outre tenir compte des conséquences pour les parties que peut avoir le résultat d’un jugement après clôture de l’instruction judiciaire formelle et par conséquent post-judiciaire (4). Pour pouvoir considérer la multiplicité des questions qui se posent, il est nécessaire de conserver la complexité de la notion d’infrajudiciaire. Cependant, pour éviter la confusion des différentes notions, il faut spécifier à chaque fois à quelle catégorie de règlement conflictuel extra-judiciaire nous avons affaire. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 887 3. Le concept d’infrajudiciaire ouvre des perspectives thématiques et demande d’affiner les diverses catégories de concepts. Un regard jeté sur les formes des accords extra-judiciaires permet de reconnaître que le règlement des conflits se réalise en combinant lois formelles et procédures d’une part, et les notions que l’on se fait des normes et les pratiques juridiques de l’autre. La pratique du droit n’est donc plus seulement le domaine réservé des autorités judiciaires, mais doit être soumise à une nouvelle interprétation historique en tant que phénomène culturel contribuant à la formation des normes de la société et du rétablissement de la paix sociale. Carl A. Hoffmann Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten als vertikale und horizontale soziale Kontrolle im 16. Jahrhundert Zusammenfassung In verschiedenen Typen von Strafverfahren des 16. Jahrhunderts waren außergerichtliche Einigungen immer wieder integraler Bestandteil. Diese Einigungen bzw. Vergleiche entschieden in unterschiedlichem aber entscheidendem Maße über Straffreiheit, Begnadigung oder Wiedereingliederung des Delinquenten in die Gesellschaft. Exemplarisch wurde dies an folgenden Delikten gezeigt: Totschlag, Körperverletzung, Verschuldung, Beleidigung, »Übelhausen«, Ungehorsam gegen den Familienvorstand und Ehestreit. Die Beispiele entstammen vor allem süddeutschen Städten, insbesondere der Reichsstadt Augsburg. Wesentliches Kriterium für die Notwendigkeit der Einigung war die Bedeutung der Tat für den städtischen Frieden. Ein in die Gemeinschaft zurückkehrender Täter war gezwungen, durch die Einigung mit den Opfern oder ihrer sozialen Umgebung seine »Resozialisierbarkeit« zu beweisen. So läßt sich ein lebendiger Interaktionsprozeß zwischen vertikaler und horizontaler sozialer Kontrolle erkennen. Auf der einen Seite steht der obrigkeitliche Strafanspruch des frühneuzeitlichen Straf- und Polizeirechts, an dem eine sich intensivierende und verbreiternde Strafverfolgung deutlich wird. Auf der anderen Seite steht dagegen die große Bedeutung des privaten Vergleichs für die Wiederherstellung des Rechtsfriedens und damit des Stadtfriedens. Der Täter muß über die Einigung versuchen, sich mit dem Opferumfeld soweit wieder zu vertragen, daß ein konfliktfreies Zusammenleben für die Zukunft wahrscheinlich erscheint. Diese Grundkonstellation hat während des 16. Jahrhunderts Veränderungen erfahren. Während in den meisten Fällen die Einigung im Laufe des Jahrhunderts von Bedeutung blieb, wurde der Totschlag in manchen Städten früher, in manchen später, zu einem peinlich abgeurteilten Delikt. Hierfür dürften neben der allgemeinen Rechtsentwicklung (Carolina) besonders Gründe der Gewaltabschreckung gesprochen haben. In den wachsenden und anonymer werdenden Städten des 16. Jahrhunderts verlor das Mittel des privaten Ausgleichs bei Gewalttaten an disziplinierender Wirkung. Auch auf dem Feld des Schuldrechts ist eine sich intensivierende obrigkeitliche Strafverfolgung festzustellen. In beiden Fällen kann wohl das öffentliche Interesse an einer Verfolgung dieser Delikte als wesentliche Ursache des Wandels gesehen werden. Summary Settlements out of court were integral parts of different types of criminal cases in the 16th century. Such settlements were decisive in impunity from criminal prosecution, amnesty or reintegration of the delinquent into society in cases of homicide, physical injury, indebtedness, insult, disorderly household, disobedience against the head of the family and domestic quarrel. The examples for this study come primarily from south German cities, especially the imperial town of Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 888 Augsburg. An essential criterion for the necessity of such a settlement depended on the perceived importance of the crime for the maintenance of urban peace. Before being allowed to return to society, a perpetrator was forced to prove the possibility of his rehabilitation by coming to an agreement with his victim or the family of his victim. The penal authority of the early modern criminal and police law intensified criminal prosecution. Nevertheless, the legal system still placed great importance on private settlement to restore the legal peace and thus the peace within the city, since such settlements were meant to minimize probable future conflicts within the urban community. Several aspects of this system changed during the 16th century. While in most cases the private settlement preserved its importance, homicide became a crime which could be punished with the death penalty. Presumably this was caused not only by the general development of law (Constitutio Criminalis Carolina of 1532) but also by the perceived necessity of deterrence. Within the 16th century, urban growth and the resulting increase of anonymity meant that the use of private settlement lost ist disciplining effects in acts of violence. Also, in the field of law obligation, we can recognize an intensification of official prosecution. Probably in both cases, concern about the prosecution of offences was the essential reason for change. Résumé Le recours à la réconciliation extrajudiciaire était, à Augsbourg, très fréquent au XVIe siècle, voire la réconciliation extrajudiciaire formait une partie intégrante du système pénale de l’époque. Elle se portait sur des crimes aussi divers que l’homicide, la violence physique, les insultes, le »ménage désordonné«, les infractions contre le quatrième commandement, les querelles conjugales ainsi que l’endettement. C’était par et dans la réconciliation extrajudiciaire que la société réglait les questions centrales de l’impunité, de l’amnistie ou d’une possible réintégration sociale du délinquant. Au centre de ces accords »privés« se situait, sans doute, la paix de la ville. Le délinquant était obligé de démontrer par son arrangement personnelle avec le victime ou avec les »amis« du victime qu’il méritait bien une réconciliation. Dans l’acte de la réconciliation même nous observons, au niveau du contrôle et vertical et horizontal, un processus d’interaction important. Le système légale et juridique, cependant, se transformait durant le XVIe siècle. Tandis que les réconciliations gardaient leur poids d’antan dans le secteur »privé«, des crimes comme l’homicide, la violence physique et l’endettement subissaient une redéfinition décisive. Le meurtre, par exemple, se transforma en un délit sanctionné désormais par la peine de mort. Plusieurs facteurs accéléraient ce changement radical dans le système pénal. Responsable, me paraît-il, n’était pas seulement les changement dans le système légal dû à l’introduction de la fameuse Carolina, mais également la volonté accentuée du magistrat de la ville d’intimider la population urbaine en la menaçant des peines spectaculaires. Pourtant, la cause principale du changement, il faut peut-être la chercher plutôt du coté de l’anonymat croissant qui se répandait dans les villes surpeuplées du XVIe siècle. Or, les transformations décrites ne se limitaient pas aux délits proprement dits comme la violence physique, elles affectaient en même temps la question de l’endettement qui, à fur et à mesure, perdait son caractère »privé« et s’élevait au rang d’un délit à intérêt publique. Heinrich Richard Schmidt Elsli Tragdenknaben Zusammenfassung Der Dichter Niklaus Manuel, ein Laientheologe und Propagandist der Berner Reformation, hat kurz vor seinem Tod 1530 ein bislang in der Forschung weit unterschätztes Stück mit dem seltsa- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 889 men Namen »Elsli Tragdenknaben« verfaßt. In ihm beschreibt er ein bischöfliches Gericht, das eine Eheansprache verhandelt. Dieser Fall ist Anlaß für Manuel, über das geistliche Gericht, wie es ist und wie es sein sollte, nachzudenken. Er stellt uns seine Ansicht eines evangelischen geistlichen Gerichts vor, die einen Einblick in die zeitgenössische Kritik an der alten Kirche ebenso erlaubt, wie sie einen Eindruck von den Reformabsichten der Neugläubigen gibt. Die Alternative, die Manuel entwirft, konzentriert sich auf den Sinn und die geistliche Aufgabenstellung der Kirchengerichtsbarkeit. Er dichotomisiert zwischen »geistlich« und »weltlich« - weltlich ist sie, geistlich sollte sie sein. Seiner Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Reformation entsprechend steht dabei aber nicht die Trennung von Objektbereichen im Vordergrund, so als sollte die Welt weltlich und die Kirche geistlich regiert werden, sondern der Impuls der Vergeistlichung überschreitet die Grenzen zwischen Kirche und Welt entschieden. Es geht - mit Bernd Hamm zu sprechen - um die »Ausdehnung der Normativität der Heiligen Schrift und der Lebensform des Glaubens auf alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens«. Über die Befolgung von Gottes Geboten soll sein Reich auf dieser Erde verwirklicht werden. Das macht aus allen Verbrechen Sünden. Die Obrigkeit hat die Aufgabe, dem Ärgernis zu wehren, mit allen Mitteln, d.h. mit dem Schwert und mit der Predigt. Sünde als Ferne von Gott und seinen Geboten zeigt sich in Gotteslästerung, Fluchen, Sabbatschändung, Hurerei, Ehebruch, Fressen, Saufen, Gewalt und Blutvergießen, Habgier, Diebstahl, Wucher und Übervorteilung, Glücksspiel, Lügen und Meineid. Manuel verlangt die Beseitigung dieser Sünden durch die Obrigkeit, die unter Gottes unbedingtem Gebot steht. Verbrechen in unserem Verständnis sind sie nur zum Teil. Zusammengebunden werden sie durch ihren Bezug auf Gottes Gesetz (Zehn Gebote), gegen das sie verstoßen. Ihre eigentliche Schwere gewinnen sie gerade durch ihren Sündencharakter. »Sünde« und »Verbrechen« sind Aspekte von Taten, gehören aber für Zeitgenossen zusammen wie Feuer und Brennen. Die Grenzen zwischen »geistlich« und »weltlich«, das lehrt uns Manuel, liegen weder zwischen bestimmten Taten, so als gäbe es »geistliche« und »weltliche« Delikte, noch per se zwischen bestimmten Gerichten. In diesem Sinne mahnt uns der Dichter Niklaus Manuel, die sakrale Dimension von crimen in unsere Überlegungen einzubeziehen und »sin and crime« als simultane Aspekte von Delinquenz zu sehen. Summary Shortly before his death in 1530, Niklaus Manuel, a poet, lay theologian and propagandist of the Bernese Reformation, wrote a play with the rather curious title »Elsli Tragdenknaben« [»Elsli Carrytheboy«]. This piece, which has never received due scholarly attention, deals with a matrimonial dispute brought before an episcopal court. The case allowed Manuel to reflect on how ecclesiastical jurisdiction operated at that time and on how it could be improved. The latter amounts to a vision of an ideal evangelical court, which combines criticism of the old Church with ideas of reform. Manuel’s alternative refocuses ecclesiastical jurisdiction on its original purpose: the spiritual correction of evil doers in order to redirect them to the path of righteousness. In line with his vision of a comprehensive reformation, however, Manuel does not envisage a strict division between secular and ecclesiastical government. The spiritual impulse is meant to transform the world as a whole, in the sort of process Bernd Hamm has described as the »extension of the normative power of the Scriptures and the rule of faith onto all areas of private and public life«. Strict observance of divine law is seen as the key to God’s kingdom on earth. Crimes thus become sins to be prevented by all means, i.e. with the government’s sword or through the ministers’ sermons. Sinful distance from God and divine law manifests itself in blasphemy, swearing, Sabbath-breaking, whoredom, adultery, gluttony, drunkenness, violence, bloodshed, avarice, theft, usury, gambling, lies and perjury. Manuel calls upon the authorities to execute their divine calling to eradicate sin. Whilst only partly covered by our modern understanding of crime, all these offences violate God’s commandments. What makes them so severe is their sinfulness. For contemporaries, »crime« and »sin« are as inseparable as »fire« and »flames«. According to Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 890 Manuel, there are no clear borderlines between the »secular« and »spiritual« spheres, neither in terms of offences nor specific courts. The Bernese writer thus challenges us to acknowledge the sacral dimension of Early modern delinquency. Résumé Le peintre-poète Nicolas Manuel, protagoniste de la Réforme à Berne, publia en 1530, quelques mois avant sa mort, une pièce de théâtre au titre étrange: Elsli Tragdenknaben [»porte-le-garçon« = putain]. Cette pièce carnavalesque n’a jusqu’à présent guère suscité l’intérêt des historiens et des spécialistes de la littérature allemande. Manuel y décrit un tribunal ecclésiastique devant lequel Elsli réclame qu’Uli Rechenzahn [»érige-le-pénis«], son mari prétendu, reconnaisse leur relation comme marriage légitime. Pour Manuel il s’agissait de démontrer comment opéraient les tribunaux ecclésiastiques traditionnaux et d’y opposer le modèle d’un tribunal réformé évangelique. Reprenant la critique anticléricale de la Pré-Réforme, Manuel peint le tableau d’un tribunal catholique qui ne s’intéresse qu’à l’argent, tandis que le tribunal réformé prendrait son devoir spirituel au sérieux en s’efforçant d’améliorer le comportement des fidèles. Le modèle de Manuel opposa deux extrêmes: un tribunal orienté vers le spirituel et le pastoral contre un tribunal d’ordre séculier avec orientation punitive. Cependant Manuel n’avait pas l’intention de séparer nettement le monde séculier d’une Eglise conçue comme espace purement spirituel. Il envisageait plutôt une Réforme englobant la vie humaine entière et la sacralisation du monde. C’est bien dans ce sens que l’historien allemand Bernd Hamm a décrit la vision de la Réforme comme »l’extension des normes de l’Ecriture Sainte et d’une vie orientée par la foi à tous les domaines de la vie privée et publique«. Le royaume de Dieu dans le monde ne se réalisera que si les hommes obéiront aux Dix Commandements. Dans cette conception tout crime revêt en même temps le caractère d’un péché. Les autorités ont le devoir de combattre le scandale avec tous les moyens disponibles, non seulement par l’épée mais encore par la prédication de l’Evangile. Le pécheur s’éloigne de Dieu par ses blasphèmes, ses jurements, son mépris de la sainteté du dimanche, ses délits sexuels, par l’adultère, l’ivrognerie, la violence, la cupidité, le vol, le jeu de hazard, le mensonge etc. Toute autorité chrétienne étant à son tour soumise à la loi de Dieu est, d’après Manuel, obligée de réprimer et d’extirper le vice. Les délits comme les péchés ne sont que deux aspects de l’hostilité de l’homme face à Dieu. Il n’y a donc pas deux cours de justice différentes examinant deux sortes différentes de délits. Au contraire, les deux collaborent dans un monde sacralisé et poursuivent le même but. Jusqu’au siècle des lumières, jusqu’à la dissolution de la conception d’un monde sacralisé, crime et péché ne sont que deux aspects simultanés de la délinquence. Frank Konersmann Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation Zusammenfassung Seit den Forschungen Ernst Walter Zeedens in den 50er Jahren finden auch die sozialen Kräfte stärker Beachtung, die für die Entstehung von territorialen Konfessionskirchen im Verlauf des 16. Jahrhunderts maßgebend wurden. Im Mittelpunkt des Interesses standen lange Zeit die fürstlichen Territorialherren und hohen weltlichen Amtsträger, eher selten die Pfarrerschaft und kaum die Kirchengemeinden. Mit dem von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling in den späten 70er Jahren entwickelten Paradigma der Konfessionalisierung sollten dann zwar alle maßgeblichen Faktoren für den konfessionellen Verkirchlichungsprozeß systematisch Berücksichtigung fin- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 891 den, grundsätzlich galt und gilt in diesem Forschungskontext aber, daß die Rolle der Kirchengemeinden unterbestimmt bleibt, worauf Peter Blickle, vor allem aber Heinrich R. Schmidt immer wieder hingewiesen haben. In diesem Beitrag wird am Beispiel des im Südwesten des Alten Reichs gelegenen Herzogtums Pfalz-Zweibrücken für das 16. und frühe 17. Jahrhundert dieses Desiderat aufgegriffen, und die Rolle von Presbyterien, die als Vertretungsorgane kirchlicher Gemeinden verstanden werden können, in verschiedenen Phasen der Entstehung und Konsolidierung einer protestantischen Landeskirche untersucht. Diese Darstellung erfolgt vor allem auf der Quellengrundlage von Kirchenvisitationsprotokollen, die bisher eher selten für die Rekonstruktion der Entstehung von protestantischen Konfessionskirchen genutzt wurden. In dem Beitrag wird die These vertreten, daß sich infolge von Kirchenvisitationen und Kirchenzucht vor Ort neue Formen von Öffentlichkeit ausbildeten, die sowohl von der Landeskirche als auch von den Presbyterien bzw. von den Kirchengemeinden für ihre kirchlichen und sozialen Zwecke genutzt wurden. Summary Since the 50s when Ernst Walter Zeeden published his research more attention has been paid to those social forces that played a decisive role in shaping the churches of the individual dominations in the various German territories during the 16th century. Before, the interest had commonly been focussed on the territorial princes and their high-ranking officials, hardly ever, though, on priests and parishes. Theoretically, according to the paradigm of Konfessionalisierung developed by Heinz Schilling and Wolfgang Reinhard in the 70s and 80s, all factors playing a role in this process should be considered in a systematic way. The role of the parish, however, has largely remained neglected, as Heinrich R. Schmidt has repeatedly pointed out, agreeing with Peter Blickle on this point. This article tries to fill that gap, discussing the example of the presbyteries (i.e. council of elders) of the 16th and 17th centuries in the Duchy of Pfalz-Zweibrücken, situated in the south-west of the Empire. The council of elders, which can be regarded as the representative body in their parishes, is to be examined in different phases of the formation and consolidation of the protestant church in that duchy. The analysis was primarily based on records of church visitations, hitherto only rarely used to reconstruct the formation of the protestant churches. The present contribution postulates new, local forms of public life created by means of church visitations and church discipline. It puts forward the thesis that the latter were used by the councils of elders and the parishes to further their social and ecclesiastical goals. Résumé A partir des recherches d’Ernst Walter Zeeden presentées pendant les années cinquante les forces sociales faisaient plus d’attention sous l’angle, qu’elles jouaient un rôle très important dans le procès de la formation des églises confessionelles pendant le seizième siècle. Auparavant, c’étaient les princes et leurs fonctionnaires, qui se trouvaient au centre de l’intérêt de recherche, mais plus rarement le clergé et à peine la paroisse. Suivant le paradigme de »confessionalisation«, developpé par Wolfgang Reinhard et Heinz Schilling dans les années soixante-dix, tous les facteurs prépondérants pour le développement des églises confessionelles auraient d’entrer en considération systematique, mais en réalité le rôle de la paroisse restait indistinct. Ce problème a souvent été remarqué par Peter Blickle et sutout par Heinrich R. Schmidt. Ce défaut est soulevé dans cet article qui porte sur les prebytères dans le duché de Pfalz-Zweibrücken aux seizième et dixseptième siècles. Pendant cette période là, les presbytères étaient les répresantatifs des paroisses, non seulement des églises luthériennes, mais encore des églises calvinistes. Un des objets d’exploration est le rôle des presbytères pendant les différentes périodes de formation et consolidation de l’église protestante. L’exposition s’appuye en particulier sur les procès-verbaux des visitations de l’église, qui jusqua’à présent ont été utilisés rarement pour reconstruire la formation des égli- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 892 ses protestantes. Cet article défendra la thèse, qu’il se devoloppaient des nouvelles formes de vie publique dans le duché á la suite des visitations des églises et de la pénitence des presbytères. Cette vie publique a été employée par l’église du territoire, aussi bien que pour les paroisses et les prebytères pour leurs buts sociaux et ecclésiastiques. Harriet Rudolph Kirchenzucht im geistlichen Territorium Zusammenfassung Der geistliche Staat der frühen Neuzeit zeichnete sich durch die Existenz zweier Machtzentren, dem Landesherrn und dem Domkapitel, aus. Beide sahen in der Sanktionsgewalt über die Untertanen ein wichtiges Mittel zur Demonstration politischer Macht. Gelang es den Untertanen, den Konflikt zwischen beiden Sanktionsinstanzen zu instrumentalisieren, konnten sie sich der Sanktion mitunter entziehen. Die Verfassungsstrukturen des geistlichen Territoriums dürften deshalb die Prozesse der Disziplinierung und Zentralisierung eher behindert haben. Allerdings darf der Einfluß des territorialen Typus nicht überbewertet werden. Wie in weltlichen Territorien des Alten Reiches unterstützte die Kirchenzucht auch im Hochstift Osnabrück den säkularen Disziplinierungsprozeß. Die geistliche Sanktionspraxis wurde von den Landesherrn geduldet, um die strukturellen Defizite des frühneuzeitlichen Territorialstaates kompensieren zu können. Um die Rolle der katholischen Kirchenzucht in geistlichen Territorien abschließend bewerten zu können, müßten neben der Sanktionspraxis der Sendgerichte auch die anderen Formen katholischer Zucht in den Blick genommen und mit der weltlichen Sanktionspraxis kontrastiert werden. Allerdings ließe sich auch dann nur schwer feststellen, in welchem Maße es religiöse oder zunehmend säkulare Normen waren, die Mentalität und Verhalten der frühmodernen Menschen prägten. Auch die weltliche Sanktionsgewalt baute in der Frühen Neuzeit auf religiösen Normen auf, obwohl sich die Justizbehörden immer seltener explizit darauf beriefen. Summary The Early modern ecclesiastical state had two competing centers of power: the sovereign prince and the cathedral chapter. Each of these used its legal authority - its power to sentence and punish - in order to demonstrate its political power vis-à-vis the other. Subjects who succeeded in instrumentalizing the conflict between the prince and the chapter could sometimes circumvent the law. This situation should have hindered the process of social disciplining in the state. But, if it did, this cannot be attributed solely to the ecclesiastical structure of the state. In Osnabrueck, like in secular states in the Early modern period, the ecclesiastical discipline supported the secular judiciary. Given the structural weaknesses of the territorial government, the prince found it convenient to rely on the disciplinary efforts of the clergy. Evaluating the role of the Catholic authorities in the process of disciplining requires one to look beyond the practices of the Sendgerichte to other forms of Catholic discipline, such as the confessional. Doing so, however, does not resolve the question of whether secular or religious norms had the greater impact on the behavior and views of early modern people. The disciplinary program of the prince's government also relied heavily on religious norms, although its judiciary was far less likely to refer to these explictly. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 893 Résumé L’Etat écclesiastique de la première modernité avait comme charactéristique principale l’existence de deux centres de pouvoir: le pouvoir temporel, représenté par le souverain, et le pouvoir ecclésiastique, représenté par le chapitre. Tous les deux considéraient leur droit de sanction comme un instrument important pour manifester leur pouvoir. Quand les sujets réussissaient à utiliser le conflit entre ces deux institutions pour en tirer des avantages, des fois ils arrivaient à éviter les sanctions prévues. C’étaient donc les structures politiques et juridiques des principautés ecclésiastiques qui empêchaient le processus de la disciplinisation (»Disziplinierung«) et de centralisation (»Zentralisierung«). Néanmoins, il ne faut pas exagérer l’importance de la constitution des principautés ecclésiastiques. Comme dans quelques Etats temporels, dans le territoire de Osnabrueck le pouvoir de sanction ecclésiastique fonctionnait comme appui du processus de disciplination. Les souverains temporels toléraient la sanction écclesiastique, car ils ont pu en trahir un complément pour les défauts de leurs propres institutions judiciaires. Pour mieux pouvoir évaluer la fonction de la »Kirchenzucht« dans les territoires écclesiastiques il faut qu’on ne se limite pas à l’analyse du phénomène des »Sendgerichte«, mais qu’on considèrent toutes les formes de sanction ecclésiastique en comparant celles-ci avec les pratiques de sanction utilisées par le pouvoir temporel. Il faut quand même admettre que même une telle analyse ne résouderait complètement le problème d’expliquer les racines de la mentalité et du comportement de l’homme moderne selon les catégories »réligieux« et »séculier«. La justice était fondé dans les normes religieuses, bien que les juges temporels aites rendu de moins en moins explicite sa dépendance de cette base. Katharina Simon-Muscheid Täter, Opfer und Komplizinnen Zusammenfassung 1502 fiel in der Stadt Basel ein prominenter, einflußreicher und verhaßter Patron der Metzgerzunft einem Mordkomplott zum Opfer. Der Anschlag war von seinen eigenen Zunftkollegen von langer Hand geplant und in der Zunftstube, in ihren Häusern und unterwegs zu den Viehmärkten offen diskutiert worden. Nach dem Mord flohen die beiden Täter ins benachbarte Elsaß, wo sie sich der Strafverfolgung entziehen konnten. Der Fall war von derart großer politischer Brisanz, daß sich die Ratsmitglieder durch einen Eid verpflichteten, die Strafverfolgung unerbittlich und gegen alle Widerstände aus den eigenen Reihen durchzusetzen. Verhört wurden das engere und weitere Umfeld der beiden Täter, Männer wie Frauen. Der Kreis der direkt involvierten Personen umfaßte den größten Teil der metzgerzünftigen Männer bis in die Zunftspitzen hinein. Die offensichtliche Tatsache einer allgemeinen Mitwisserschaft ließ sich nicht abstreiten, Männer und Frauen mußten also vor Gericht besondere Strategien entwickeln, um sich möglichst zu entlasten. Sie suchten, ihr Verhalten nach vorgegebenen, gesellschaftlich akzeptierten Rollenmustern zu modellieren, die vor Gericht angemessen und plausibel klangen. Dafür griffen sie auf geschlechtsspezifische Stereotypen (»die friedliche Frau«, »die aufopfernde Mutter«, »der zürnende Vater«, »der ungehorsame Sohn«) aus dem Fundus des kollektiven "Imaginaire" und auf geschlechtsspezifische Normen zurück. Die auf diese Weise angestrebte Stilisierung wird immer wieder durchbrochen von den Aussagen Dritter, die vor Gericht Gespräche, die sie mit ihnen geführt hatten, referierten. Diese Bruchkanten sind von besonderem Interesse, weil sie die Taktiken und die Diskrepanzen deutlich aufzeigen. Sie geben den Blick frei auf Klientelbeziehungen, in die Männer und Frauen eingebunden waren, auf widerstreitende Loyalitäten und die Hintergründe des Komplotts. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 894 Summary In 1502 a prominent influential and much hated »patron« of the butcher’s guild was assassinated in Basle. The murder plot had been planned long beforehand by members of his own guild; it had been openly discussed at the guildhall, in homes, and on the way to the cattle market. After the deed was done the two murderers fled from justice by escaping to the nearby Alsace. This murder case promoted so much political tension that the members of the town government pledged by oath to prosecute relentlessly and against all opposition from among their own circles. Persons connected with the killers, men and women, were interrogated. The circle of directly involved persons included the larger part of the men in the guild, up to the highest ranks. The obvious fact that there had been general connivance could not be concealed. Therefore, men and women had to develop special stategies in court to clear themselves as well as they could by trying to model their behaviour after the socially accepted masculine and feminine roles, a strategy that was adequatly convincing and plausible. For that purpose they fell back on gender specific stereotypes (»the peace-loving women«, »the devoted mother«, »the stern father«, »the disobedient son«), taken from the stock of the collective »imaginaire«, and on gender specific norms. The stylization thus attempted is time and again broken by statements from third parties who report talks between themselves and those suspected of involvement in the conspiracy. Such statements are revealing and of particular interest since they clearly show the tactics used and the existing discrepancies. In the gap between stylization and statements, clienteles comprising men and women become visible, as well as conflicting loyalties and the background of the plot. Résumé A Bâle, en 1502, un marchand de bétail et boucher influent, notoire et haï par la majorité de ses confrères, fut assassiné. Depuis longtemps, ses propres confrères avaient tramé le complot. Ils avaient discuté le projet à la maison de la corporation, chez eux ainsi qu’en route vers les marchés de bétail. Après avoir commis le crime les deux meurtriers s’enfuirent en Alsace voisine afin d’échapper à la poursuite pénale. Les implications politiques de ce meurtre furent telles que les membres du conseil affirmèrent par serment de poursuivre sans pitié les coupables et de ne pas céder aux pressions. Toutes les personnes liées d’une part ou d’autre aux deux meurtriers, des hommes et des femmes, furent donc interrogées. Presque tous les membres de la corporation des bouchers étaient compromis, des maîtres aux fonctionnaires et aux patrons influents. Vu la complicité indéniable les hommes et les femmes interrogés cherchèrent à développer des stratégies adaptées à ce fait. Pour se justifier ils recourrurent donc aux stéreotypes masculins respectivement féminins provenant du »stock« de l’imaginaire collectif (»la femme pacifique«, »la mère dévouée«,»le père en colère«, »le fils désobéissant«). Mais, ces efforts de styliser leurs rôles furent contrariés par d’autres témoins qui fournissaient d’autres informations en rapportant, par exemple, les conversations menées avec les suspects. Confrontés aux stylisations des suspects, les témoignages révèlent d’une part les contradictions entre les deux »textes«, et, d’autre part, les tactiques employés devant le tribunal. De plus, ils nous permettent de mieux voir le fonctionnement des clientèles ainsi que le problème des loyautés contradictoires et les raisons du complot. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 895 Joachim Eibach Böse Weiber und grobe Kerle Zusammenfassung Quantitative Auswertungen von Gerichtsakten frühneuzeitlicher Städte in den Bereichen Eigentumsdelinquenz und Delinquenz gegen Personen ergeben eine durchgängig höhere Präsenz von Männern als Frauen unter den Angeklagten. Waren Gewalt und Diebstahl also männliche Praktiken? Die Lektüre von Vernehmungsprotokollen erlaubt es, im Hinblick auf eine mögliche Geschlechtsspezifik der Kriminalität ein differenzierteres Bild zu zeichnen. Frauen waren durchaus bereit, physische Gewalt anzuwenden. Männer wurden jedoch generell eher angezeigt. Die meisten Fälle männlicher Gewalt ereigneten sich auf der Straße oder im Wirtshaus. Die meisten Fälle weiblicher Gewalt hingegen ereigneten sich im Haus oder in der Nachbarschaft. Mit Blick auf die verschiedenen räumlichen Kontexte der Fälle ist zwischen Disposition und soziokulturellem Habitus zu unterscheiden. Männer wie Frauen konnten Gewalt anwenden, aber von Männern wurde die Bereitschaft zur Gewalt in bestimmten Kontexten erwartet. In Sachen Eigentumsdelinquenz lag der Anteil weiblicher Beschuldigter generell höher als in Sachen Delinquenz gegen Personen. In Städten des 18. Jahrhunderts lag der Anteil der Frauen mit über 30% zudem weit höher als in früheren Jahrhunderten. Hintergrund ist die Zunahme von Armut und Marginalisierung, die patriarchalische Ordnungskonzepte auf die Probe stellten. Die Analyse von Vernehmungsprotokollen aus Frankfurt a.M. zeigt, daß sowohl männliche als auch weibliche Beschuldigte vor Gericht in strategischer Absicht geschlechtsspezifische Rollenbilder reproduzierten. Die Urteile der Justiz durchkreuzten diese Argumentation jedoch häufig. Summary The article deals with offences against persons and against property, mainly in 18th-century Frankfurt am Main and in comparison to other European towns from the 14th century onwards. Although delinquency statistics of Nuremberg, Cologne and Frankfurt seem to prove that men were by far more violent than women, a close reading of court records, especially examination records, shows that not only men, who were more likely to be charged and convicted, but also women were capable and willing to use physical violence in interpersonal conflicts. Most cases involving men happened in taverns or on the street. Most cases involving women happend in the house or neighborhood. Women could take part in the primarily male sociability of the tavern but did not join in typical rituals like brawls, a needed confirmation of male honor. They played an important role in the establishment of social control within neighborhoods. Delinquencies against property shows a much higher portion of female than male offenders. In 18th-century Frankfurt and Siegen women were charged for well over 30% of the notified crimes. Taking into consideration that many thefts within the house were not reported, the female percentage of »real crime« was probably even higher. Male and female offenders tried to make use of gender role stereotypes in court. But Frankfurt’s criminal courts’ records show that women in general could hardly expect mitigation because of »female weakness«. This suggests the conclusion that in terms of criminality no gender was substantially more active, aggressive or peaceful than the other. Résumé L’analyse sérielle des actes judiciaires de l’Ancien Régime présente, semble-t-il, partout les mêmes résultats: la majorité de ceux qui se virent incriminés soit pour vol, soit pour violence physique étaient des hommes. Est-ce que cela veut dire que les femmes étaient plus paisibles, plus dociles, Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 896 plus conformes? Les enquêtes judiciaires permettent de différencier: les femmes n’étaient pas moins agressives, mais rarement accusées, les hommes, par contre, n’étaient pas plus agressifs, mais plus souvent accusés. La violence masculine était liée à la taverne et à la rue, la violence féminine à la maison ou au voisinage. Les femmes autant que les hommes pouvaient exercer de la violence, tandis que, dans certains cas, les hommes étaient quasiment obligés à recourir à la violence. Comparé à la violence, le pourcentage des femmes incriminées pour un délit contre les propriétés est plus élevé. Dans les villes du 18e siècle, la moyenne de trente pour-cent est sensiblement plus haute qu’auparavant ce qui s’explique d’une part par la paupérisation, d’autre part par la marginalisation croissante des pauvres. Les enquêtes judiciaires de Francfort montrent que les accusés, peu importe leur sexe, reproduisaient devant la cour d’assises intentionnellement ce que l’on attendaient d’eux (gender-rôles). Les sentences prononcées par la cour d’assises, cependant, ne s’y référaient que rarement. Sylvie Steinberg Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt Zusammenfassung Im Archiv der Pariser »Lieutenance de Police« stößt man auf die Spuren von rund einhundert Frauen, die im 18. Jahrhundert wegen des Tragens von Männerkleidern belangt worden sind. Das Anlegen von Kleidern des anderen Geschlechts stellte in der Tat ein Verbrechen dar, das die königliche Gesetzgebung im Namen sowohl religiöser als auch weltlicher Prinzipien unter Strafe stellte. In der Praxis waren die Inspektoren des Sittenbüros, in dessen Zuständigkeit solche Fälle hauptsächlich fielen, vor allem bestrebt festzustellen, ob sich hinter der Verkleidung ein Fall von »Unzucht« verbarg. Auf ihren Bericht hin verhängte der Generalleutnant der Polizei Strafen, deren Höhe in seinem Ermessen lag: Freilassung, Gefängnisstrafe oder Verbannung auf die überseeischen Inseln. Der Fall einer dieser Frauen, Marie-Joseph Barbier, macht die verschiedenen Elemente sichtbar, die bei einem solchen Urteil eine Rolle spielten. Marie-Joseph Barbier war eine Abenteuerin, die aus Flandern, wo sie ein Jahr lang einem Regiment gefolgt war, nach Paris kam und dort 1745 unter dem Namen eines Ritters von Mérins verhaftet wurde. Um sich gegen den Verdacht zu wehren, ein »leichtes Mädchen« zu sein, entwickelt sie eine Verteidigungsstrategie, die sich mehrerer Arten von Verschleierung bedient: leugnen, lügen und eine höchst ausgefeilte narrative Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte, die sie in jeder Etappe (Flucht aus dem Elternhaus, Eintritt in die Armee etc.) wie die Heldin eines Romans aussehen läßt. Dies um so mehr, als Frauen in Männerkleidern zur damaligen Zeit ein ebenso populäres wie kodifiziertes literarisches Motiv darstellten. Das Romanhafte rückt so ins Zentrum der juristischen Konfrontation zwischen einer Angeklagten und einem Polizeibeamten - und es sind gerade diese Bezugnahmen auf das Romaneske, die es der Angeklagten ermöglichen, die Erzählung ihres Lebens wahrscheinlich und im Einklang mit den Normen moralisch achtbaren Verhaltens erscheinen zu lassen. Summary The police archives of Paris during the 18th century contain approximately one hundred cases of women pursued for the crime of cross-dressing. In effect, because of certain religious and civil principles, cross-dressing was a crime punishable by royal law. In practice, the inspectors of the vice bureau mostly attempted to determine if the case at hand of cross-dressing actually hid a case of debauchery. The police reports apply arbitrary sentences: release, imprisonnement, deportation (to the Caribbean islands). The case of Marie-Joseph Barbier can be used to reconstruct the Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 897 elements leading to such an arbitrary sentencing. Marie-Joseph Barbier was apprehended in Paris in 1745 under the name of Chevalier de Merins. She had recently served for a year in a regiment based in Flanders. To defend herself from the accusation of »mauvaise vie« or debauchery, she constructs a defense using several types of dissimulation: denial, lies, and elaborate narrative reconstruction of each step of her life story (running away from her parents, enrollment in the military, etc.). Marie-Joseph Barbier’s narrative presents its main protagonist, herself, as the heroine of a novel. Cross-dressing was a very popular and codified literary motif during this period. The romanesque is thereby at the heart of the judicial confrontation between the accused and the police. It is these romanesque codes of reference that allow the accused to make her life story sound true, to make it correspond to the norms of morally correct behaviour. Résumé La trace d’une centaine de femmes poursuivies pour travestissement à caractère sexuel peut être retrouvée dans les Archives de la Lieutenance de Police de Paris au 18e siècle. Le travestissement est en effet un crime puni par la loi royale au nom de principes à la fois religieux et civils. Dans la pratique, les inspecteurs du bureau des mœurs qui sont principalement chargés de ces cas, s’attachent surtout à déterminer si le travestissement cache une »débauche« ou non. Sur leur rapport, le Lieutenant général de police applique des peines arbitraires: relaxe, peine d’emprisonnement ou déportation aux îles. Le cas particulier de Marie-Joseph Barbier, une aventurière venue de Flandres où elle a été à la suite d’un régiment pendant un an et qui fut arrêtée à Paris sous le nom du chevalier de Mérins en 1745, permet de reconstituer les éléments qui entrent en jeu dans une telle sentence. Pour se défendre d’être une fille de mauvaise vie, Marie-Joseph Barbier élabore une défense qui utilise plusieurs types de dissimulation: la négation, le mensonge et une reconstruction narrative très élaborée qui, pour chaque étape de sa vie (la fuite de chez ses parents, l’enrôlement militaire, etc.) la présente comme une héroïne de roman, le travestissement étant un motif littéraire très populaire et très codifié à cette époque. Le romanesque se trouve ainsi être au cœur de l’affrontement judiciaire entre une accusée et un policier, et ce sont ces références romanesques qui permettent même à l’inculpée de rendre son récit de vie vraisemblable et conforme à des normes de conduite moralement estimables. Winfried Freitag Das Netzwerk der Wilderei Zusammenfassung Die Untersuchung, die sich als erste eingehend mit Wildereidelikten im frühneuzeitlichen Bayern beschäftigt, kommt zu folgendem Ergebnis: Trotz der seit dem frühen 16. Jahrhundert angedrohten Malefizstrafen gingen Wildbretschützen in der Regel nur ein geringes Risiko ein. Die Gefahr ertappt und überführt zu werden, war nicht sehr hoch. Geschah dies dennoch, so bestanden gute Chancen, mit einer leichten Strafe davonzukommen. Denn an den Pfleggerichten fanden sich häufig Beamte, die die Aufdeckung und Bestrafung von Wildereivergehen behinderten, und auch auf die landesherrlichen Jagdbedienten, die dem Obristjägermeister unterstanden und die die Hauptlast des Kampfes gegen die Wilderer zu tragen hatten, war nur begrenzt Verlaß. Die Schützen konnten sich auf ein breites Netzwerk von Abnehmern und Helfern stützen, das neben der Beamtenschaft auch in den Klerus und Adel hineinreichte. Hauptgrund für die mangelnde Bereitschaft von Beamten und Adeligen, sich an der Verfolgung der Wilderer zu beteiligen, dürften die ständigen Streitigkeiten zwischen ihnen und dem Landesherrn um ihre eigenen Jagdrechte gewe- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 898 sen sein. Nicht nur für die einfachen Untertanen, auch für viele Beamte an den Pfleggerichten, landsässige Adelige und für Kleriker - letztere zählten zu den wichtigsten Abnehmern von Wild - waren die kurfürstlichen Jagdbedienten lästige Aufpasser, die man in Schach halten mußte. Auch wenn in den erhaltenen Quellen (Hofratsprotokolle, landesherrliche Mandate, Akten des Obristjägermeisteramtes und der Hofkammer) wildernde Untertanen so gut wie nicht zu Wort kommen, so läßt sich zu ihren Motiven doch feststellen: Der Erlös aus dem Verkauf der Beute spielte eine wichtige Rolle. Ebenso die Selbsthilfe gegen die schweren Schäden, die das Wild auf den Feldern anrichtete. Auch scheint Wildern ein Ausdruck des Protestes und Widerstandes gegen die landesherrliche Jagdgesetzgebung gewesen zu sein. In den Augen der Wildbretschützen und der Bevölkerung, die sie deckte, war unerlaubtes Jagen jedenfalls kein Malefizverbrechen, sondern höchstens ein Kavaliersdelikt. Summary This research is the first to look in-depth into poaching in Early modern Bavaria. In spite of the severe penalties that had threatened poachers since the early 16th century, the risk of their being caught and brought to justice was anything but high. If they were caught, they had every chance of getting off with a lenient punishment. One reason for this was that local judges and bailiffs often obstructed the discovery and conviction of poaching offences. Another reason is that rangers and gamekeepers, who on behalf of the prince had to combat poaching, weren’t always dependable. Poaching was supported by a broad network of assistants and willing customers, including officials of the sovereign, noblemen and the clergy. The permanent friction between them and the prince on the subject of their own hunting rights certainly added to or caused their reluctance to take part in prosecuting the poachers. Not only ordinary subjects but also local officials, the landed gentry and the clergy - the latter were the most important buyers of game and venison - regarded the prince’s rangers and gamekeepers as unwelcome watchdogs who needed to be held in check. Although hardly any statements made by poachers can be found in the sources which have been preserved, it is nevertheless possible to make some observations about their motives. The financial gain from selling their prey was a major factor. So, too, was taking matters into their own hands to combat the serious damage caused by the deer and other game in the fields. Poaching also seems to have been an expression of protest against and resistance to the game laws enacted by the princes. In any case, in the eyes of the poachers and the population who shielded them hunting without permission was not a felony. It was at most a peccadillo. Résumé Cette recherche, la première approfondie sur le délit de braconnage au début des temps modernes en Bavière, aboutit aux résultats suivants: Bien qu’à partir du 16e siècle ce délit ait été déclaré crime capital par les ducs, les braconniers ne couraient en règle générale que peu de risques. Le danger d’être pris en flagrand-délit ou convaincu n’était pas très grand, et même si cela était le cas, les peines étaient minimes. D’une part, le prince ne pouvait pas toujours se fier à ses gardes-chasses et forestiers, d’autre part, une partie de la magistrature s’arrangaient pour éviter la découverte et le jugement des délinquants. Les braconniers pouvaient s’appuyer sur un large réseau d’assistants et de clients. Parmi eux il y avait des membres du clergé, de la magistrature et de la noblesse. Les deux derniers groupes étaient trop occupés à leur querelles permanentes avec le prince concernant leurs propres droits de chasse. Donc, ils n’affectaient pas de zèle pour participer à la répression du braconnage. Non seulement les gens du peuple, mais aussi une grande partie des états privilégiés considéraient les gardes et les forestiers comme un gène qu’il fallait tenir en échec. Les sources conservées contiennent très rarement de déposition des délinquants. Nous pouvons tout de même établir les motifs suivants pour le braconnage: Les gains provenants de la vente du gibier étaient importants et le braconnage constituait une manière à combattre les innombrables dégâts Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 899 causés par les animaux dans les champs cultivés. De plus, il symbolisait une forme de protestation à l’encontre des lois établies sur la chasse. Aux yeux des braconniers et de la population qui cachait leurs délits, la chasse interdite n’était pas un crime capital. Elle n’était qu’une bagatelle. Eva Wiebel Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹ Zusammenfassung Barbara Reinhardtin (1744-1793), ›Schleiferbärbel‹ genannt, und Elisabeth Gaßnerin (1742/ 3? -1788), ›Schwarze Lis‹ genannt, lebten als berüchtigte Gaunerinnen im Südwesten des Alten Reiches und in der Nordschweiz. Ihre Namen sowie Fragmente ihrer Lebensgeschichten sind bis heute überliefert. Erstmals werden hier ihre Biographien aufgrund von Archivmaterial rekonstruiert. Der zweite, rezeptionsgeschichtliche Teil des Aufsatzes beschäftigt sich mit Lebensbeschreibungen und Charakterisierungen der zwei Frauen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Es wird danach gefragt, in welcher Weise sich Realität und Fiktion überlagern und verweben. Vorgefertigte (Charakter)Bilder - Teufelsweib, Meisterdiebin, Verführerin, Raubvogel - konturieren die zu beobachtenden Umdeutungen, Umdichtungen und Auslassungen. Der Beitrag möchte zu einer genaueren Betrachtung der rezeptionsgeschichtlichen Prozesse anregen, an deren Ende die Biographien von Gaunerinnen ›verschwunden‹ sind und sich in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts nur noch fabelhafte (männliche) ›Räuber‹ finden. Summary ›Schleiferbärbel‹ (Barbara Reinhardtin, 1744-1793) and ›Schwarze Lis‹ (Elisabeth Gaßnerin, 1742/ 3? -1788) were famed female thieves who roamed the southwest of Germany and northern Switzerland. Their names and the fragments of their lifes have been passed on until today. The first part of this essay reconstructs their biographies for the first time from the original documents in the archives. The second part deals with the critical approach to the lives and characters of these two women from the 18th to the 20th century. The focus is on the manner in which reality and fiction superimpose. Preconceived figures such as the devil’s wife, master of thieves, seducer or bird of prey determine the transformations, omittments and observed shifts in meaning. This essay would like to spark a more indepth interest into the processes of historical criticism which culminates in the distinction of female thieves and, amazingly, a literature of male-only robbers. Résumé Barbara Reinhardtin, nommée ›Schleiferbärbel‹ (1744-1793), et Elisabeth Gaßnerin, nommée ›Schwarze Lis‹ (1742/ 3-1788), vivaient comme des escrocs notoires dans le sud-ouest de l’Ancien Régime allemand et dans le nord de la Suisse. Jusqu’à nos jours, leurs noms et quelques fragments de leurs vies étaient conservés. Dans la première partie de cet article, leurs biographies sont reconstruites grâce aux nouveaux matériaux des archives différentes. La deuxième partie traite l’histoire de la réception et se consacre aux descriptions de leurs biographies et aux caracterisations de deux femmes du 18e auu 20e siècle. L’article examine comment les histoires cachent la réalité et comment la réalité est tissée avec des contes. On constate que les images préconçues - les femmes du diable, les maîtresses du vol, les séductrices, les oiseaux de proie - construisent les modifications et les omissions. L’article voudrait encourager une observation plus détaillée et plus pré- Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 900 cise des procès de la réception historique qui résultent dans la disparition des biographies féminines de sorte qu’on ne trouve que les formidables filous masculins dans la littérature du 19e et 20e siècle. Otto Ulbricht Rätselhafte Komplexität: Jugendliche Brandstifterinnen und Brandstifter in Schleswig-Holstein ca. 1790-1830 Zusammenfassung Der Aufsatz geht von der ungewöhnlich hohen Beteiligung von Mädchen in den Herzogtümern Schleswig und Holstein an Brandstiftungen zwischen 1790 und 1830 aus. Ein Blick auf die Fälle machte klar, daß die Komplexität der Fallgruppe mehrere nebeneinanderstehende Erklärungen notwendig macht. Das zeigt sich schon bei der Betrachtung des Verhältnisses Dienstherrschaft, Eltern und junge Dienstmägde, denn darum handelte es sich regelmäßig bei den Brandstifterinnen. Was den Dienstherrn schädigte, war bei einem Teil der Fälle die Tat in Wirklichkeit gegen die Eltern, genau gegen einen bestimmten Beschluß der Eltern - nämlich ihr Kind in den Dienst zu geben - gerichtet. Den Wunsch, zurückkehren zu wollen, akzeptierten die Untersuchenden nicht als Erklärung, sie unterstellten vielmehr negativ bewertete Motive wie Rache und manchmal Habsucht. Andererseits verweisen die tatsächlich gegen den Dienstherrn gerichteten Brandstiftungen (wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts, Ausbeutung oder Ehrverletzung) häufig auf eine ganz besondere Machtungleichheit zwischen dem elterlichen Haushalt und dem des Dienstherrn. Auch die Binnenstruktur des Haushaltes (die Gesindehierarchie, das Verhältnis zu den Kindern der Herrschaft) wie auch das Verhältnis der Brandstifterin zu dem (ihr fremden) Dorf konnten eine Rolle spielen. Die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung erleichterte dem Mädchen einen fließenden Übergang vom alltäglichen Umgang mit dem Feuer zum Feuerlegen, zumal dieser auch als eine weibliche Waffe bekannt war. Geht man über die sozialhistorischen Erklärungen i.e.S. hinaus und fragt nach sozio-kulturellen Normen, so kann man feststellen, daß die Brandstiftungen sowohl einen Ausweg aus dem Konflikt zwischen internalisierten Normen und dem ihnen widersprechenden Wunsch, nach Hause zurückzukehren bot, wie auch in Beziehung zur formellen oder informellen Verweigerung des Erwachsenenstatus stehen konnten, wie die Rolle der Konfirmation deutlich macht. Besonders die angeblich motivlosen Taten führen abschließend zur Frage nach der Möglichkeit psychoanalytischer Deutungen, die, auch wenn einige wenige Hinweise auf Zwangshandlungen und deutbare Träume vorhanden sind, jedoch skeptisch beurteilt werden. Dabei fiel der Blick auf ein neues Erklärungsmuster der Gerichtsmedizin, das im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auftauchte: die angebliche Feuerlust von Mädchen in der Pubertät, die insofern willkommen war, als man so die Wirkungen des alten, unveränderten Strafrechts zurückdrängen konnte. Summary Between 1790 and 1830 there was an unusually high percentage of female adolescents among the arsonists in the dutchies of Schleswig and Holstein. A look at the cases makes it clear from the beginning that a number of co-existing interpretations is necessary to explain the crimes. An investigation into the relationships between master, parents and the young servant girls underlines this view. What seemed to be directed against the master was in a number of cases, in fact, directed against the parents’ decision to send the girls into service: the girls wanted to return to them (more often to be precise to their mother). The officials, however, did not believe this to be the Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 901 major motive and rather favored revenge and sometimes avarice as explanations. On the other hand, those cases that were indeed directed against the master (because of excessive beating, exploitation, and severe insults) pointed to a balance of power between the master’s household and that of the parents that was particularly unequal. Other factors played a role too: the hierarchy of servants within the household, the relationship with the master’s children and the way the girls related to their peer group in the new village. The traditional division of labor among the sexes made it easier for girls to turn from the everyday work of lighting the kitchen fire and watching it to setting the farm on fire, the more so as fire was known to be a female weapon. When one moves on from social history in the strict sense to the socio-cultural dimensions of the subject, one can discover a conflict between an internalized norm - under no circumstances to leave the master’s house - and the wish to go home for which a fire could supply a good solution. In other cases again the formal or informal refusal to acknowledge the new status of the adolescents after Confirmation played an important role in causing the crime. It is those crimes for which there seems to be no motive that lead to the consideration of the possibility of a psychoanalytical explanation. Although there are a few examples of compulsive acts and dreams, there does not seem to be much room for such an interpretation. When investigating this point a new line of argumentation came into play, linking arson to puberty: from the 1810s onwards forensic medicine said this developmental stage caused pyromania (Feuerlust) which was quickly picked up in the courtrooms, because it made it possible to limit the effects of the old penal law which had not changed for centuries. Résumé Dans les duchés du Schleswig et Holstein, de 1790 à 1830 un pourcentage élevé et inhabituel de jeunes filles ont participé à des incendies volontaires. En regardant ces faits de plus près, on s’aperçoit qu’il existe plusieurs interprétations possibles afin d’expliquer les délits. On peut souligner un point si l’on analyse les relations entre les maîtres, les parents et les jeunes servantes: les incendies apparement dirigés contre les maîtres étaient en fait dans bien des cas destinés à opposer les décisions des parents d’envoyer leurs enfants au service d’un maître. Cependant les »instructeurs« ont compris ces incendies comme actes de vengeance ou bien d’avidité. D’autre part le cas d’incendie perpetrés contre les maitres (en raison de violence physique, d’exploitation et d’insultes) indique souvent qu’il existe un pouvoir exceptionellement inégal entre les maîtres et les parents. D’autres facteurs ont également joué un rôle tel que la place dans la hierarchie des servants, leurs relations avec les enfants de leurs maîtres et celles qu’elles avaient avec les jeunes gens du village etranger. La division traditionelle du travail parmi les sexes facilitait aux jeunes filles de tourner du travail journalier d’allumer le feu dans la cuisine et de l’oberserver à mettre le feu à la ferme. De plus, le feu était reconnu comme une arme utilisée par les femmes. Si l’on s’écarte du point de vue de l’histoire sociale en sens strict pour analyser les dimensions socio-culturelles, on peut constater l’existence d’un conflit interne (en aucun cas quitter la maison du maître et le désir de rentrer à la maison) pour lequel un incendie serait une bonne solution. Dans d’autres cas le refus formel ou informel de reconnaitre le statut d’adulte, lequel était attribué par la confirmation, jouait un rôle important en causant les incendies. Pour les incendies apparement non motivés, une explication psychoanalytique peut être une possibilité, mais bien que il y ait quelques exemples d’actes compulsives et de rêves, ceux-ci ne semblent suffisant pour permettre une telle interprétation. En examinant ce point une nouvelle interprétation est apparue liant les incendies à la puberté des jeunes filles. A partir de 1810 la médicine légale soutient l’hypothese que la puberté est responsable de la pyromanie, une interpretation adoptée par les tribunaux laquel les permettait commuer les peines bien que le vieux code pénal restait inchangé. Zusammenfassungen/ Summaries/ Résumés 902 Andreas Blauert Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion Zusammenfassung Der Artikel unterzieht zunächst die Legende von der Freien Piratenrepublik Libertalia, die die Piraten Misson und Caraccioli auf Madagaskar gegründet haben sollen, und andere gedruckte Quellen zur Geschichte Madagaskars und seiner Piraten, die uns aus dem 18. Jahrhundert zur Verfügung stehen, einer textkritischen Lektüre. Erst danach kann ein einigermaßen realistisches Bild der Piraterie im Indischen Ozean gezeichnet sowie einige exemplarische Piratenkarrieren vorgestellt werden. Als nächstes wird eine Frage diskutiert, die so alt ist wie die Geschichte der Piraterie selbst: War der Pirat ein einfacher Krimineller, oder gab es auch den ›edlen Räuber‹, den Robin Hood der Meere? Dazu gehört eine Betrachtung des Lebens in den Piratensiedlungen auf der Insel Madagaskar. Abschließend wird der Blick zurück nach Europa gerichtet und eine Annäherung an den ›abenteuerlichen‹ Piraten versucht. Summary The study gives a critical reading of the legend of Libertalia, the story of a pirates’ republic founded on the island of Madagascar, and other printed sources from the 18th century on Madagascar and its pirates. With this in mind, it is then possible to draw a somewhat realistic picture of the history of piracy in the Indian Ocean and to present some typical pirate-biographies. The next question under discussion is as old as the history of piracy itself: Was the pirate just a common criminal, or do we have evidence for a noble Robin-Hood-type of pirate? The, albeit sceptical, answer to this question leads us back to a description of the pirate of our collective phantasies. Résumé L’étude s’ouvre sur une relecture critique de la légende de Libertalia, la fameuse république libre que les pirates Misson et Caraccioli avaient, dit-on, fondée sur l’île de Madagascar. La relecture du dossier historique permet à l’auteur de tracer une image plus réaliste des flibustiers qui couraient l’océan Indien au cours du 17e et du 18e siècles. Dans la deuxième partie de l’étude, Blauert pose la question, à son avis, aussi vieille que la piraterie elle-même, à savoir si le corsaire était un »criminelle ordinaire« ou un Robin Hood des mers. Pour résoudre le problème, l’auteur se plonge dans la vie quotidienne des pirates ayant peuplés les côtes de l’île de Madagascar. En guise de conclusion, Blauert quitte l’océan Indien pour se tourner vers le modèle européen du pirate-aventurier. 903 Autorinnen und Autoren Blastenbrei, Peter. Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Archäologie und Ägyptologie in Heidelberg. Privatdozent an der Universität Mannheim. Gastdozent am Deutschen Historischen Institut in Rom für das akademische Jahr 1999/ 2000. Forschungsschwerpunkte: Frühneuzeitliche Geschichte Italiens und des Mittelmeerraums. Neuere Publikationen: Kriminalität in Rom, 1995; Mannheim in der Revolution von 1848/ 49, 1997, ²1998; Johann Christoph Wagenseil (1633-1705) und sein philosemitisches Konzept (im Druck). Blauert, Andreas, geb. 1956. Studium der Geschichte und der Germanistik in Konstanz. 1988 Promotion. 1997 Habilitation. Seit 1996 Mitarbeit am DFG-Forschungsschwerpunkt »Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts«, zuerst in Halle/ S., dann in Jena. Forschungsschwerpunkte: Sozial-, landes- und verfassungssowie kulturgeschichtliche Themen vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit, Theorie der Geschichte. Neuere Publikationen: Sackgreifer und Beutelschneider. Die Diebesbande der Alten Lisel, ihre Streifzüge um den Bodensee und ihr Prozeß 1732, Konstanz 2 1996; Das Urfehdewesen im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2000. Dinges, Martin, geb. 1953. Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Politik. Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Mannheim. Archivar und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Medizingeschichte des 16. bis 20. Jahrhunderts. Neuere Publikationen: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994; Hausväter, Priester und Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von Martin Dinges, Göttingen 1998; Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, hrsg. von Martin Dinges und Fritz Sack, Konstanz 2000. Eibach, Joachim, geb. 1960. Studium der Geschichte und Germanistik in Konstanz und Tübingen. Wissenschaftlicher Angestellter im Historischen Institut der Universität Gießen (Frühe Neuzeit) und Koordinator des SFB-Projektes »Erinnerungskulturen«. Forschungsschwerpunkte: Kriminalitäts- und Verwaltungsgeschichte, Aufklärungsforschung. Neuere Publikationen: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: HZ 263 (1996), 681-715; Städtische Gewaltkriminalität im Ancien Régime. Frankfurt am Main im europäischen Kontext, in: ZHF 25 (1998), 359-382; Stigma Betrug. Delinquenz und Ökonomie im jüdischen Ghetto, in: Kriminalität und abweichendes Verhalten. Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von Helmut Berding et al., Göttingen 1999; Recht - Kultur - Diskurs. Nullum Crimen sine Scientia, in: ZNR 1999. Freitag, Winfried, geb. 1946. Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik an der Universität München. Leiter des Museums Wald und Umwelt in Ebersberg und der Autorinnen und Autoren 904 Umweltstation Ebersberger Forst. Arbeitsschwerpunkte: historische Familienforschung, Waldgeschichte, Museums- und Umweltpädagogik. Veröffentlichungen: Haushalt und Familie in traditionalen Gesellschaften: Konzepte, Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 5ff.; Das Museum Wald und Umwelt in Ebersberg, in: Museum aktuell 50 (1999), 1079ff.; Historismus als moderne Sozialgeschichtsschreibung? Zu Gerhard Oestreichs ›Fundamentalprozeß‹ der Sozialdisziplinierung (voraussichtlich 2000 in: Zeitschrift für historische Forschung). Fuchs, Ralf-Peter, geb. 1956. Studium der Geschichts- und Politikwissenschaft in Bochum, über mehrere Jahre Museumsarbeit in Witten. Seit 1996 Mitarbeiter am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. Promotion 1996 an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Historische Kriminalitätsforschung, Hexenverfolgung, Regionalgeschichte. Arbeitet zur Zeit im Rahmen einer DFG-Forschergruppe über Zeugenverhöre als Quelle gesellschaftlicher Wissensbestände in der Frühen Neuzeit. Neuere Publikationen: Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525-1805), Paderborn 1999; »In continuirlichem Alarm und Schrecken«. Erinnerungszeugnisse von 1726/ 28 an den Dreißigjährigen Krieg und das kriegerische 17. Jahrhundert, in: Hans Medick, Benigna von Krusenstjern (Hg.): Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 148). Gersmann, Gudrun. Studium der Geschichte, Romanistik, Germanistik und Philosophie in Bochum, Genf und Paris. 1991 Promotion. 1993-1996 Habilitationsstipendium im Rahmen des Meitner-Programms, zur Zeit Leitung des DFG-Projekts »Ein Server für die Frühe Neuzeit« am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Buch- und Zensurgeschichte des Ancien Régime; Geschichte der Französischen Revolution und Rezeption der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert; Hexenverfolgung; Geschichtswissenschaft und Neue Medien. Neuere Publikationen: Frankreich 1848-1870. Die französische Revolution in der Erinnerungskultur des Zweiten Kaiserreichs. (hrsg. zus. m. Hubertus Kohle), Stuttgart 1998. Graf, Klaus, geb. 1958. Studium der Geschichte in Tübingen. 1987 Promotion. Archivausbildung. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 541 »Identitäten und Alteritäten« an der Universität Freiburg i.Br. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungskultur, Kulturgutschutz, Regionale Identität, Stadtgeschichte. Neuere Publikationen: Sagen rund um Stuttgart, Karlsruhe 1999. Griesebner, Andrea, geb. 1964. Studium der Geschichte, Politikwissenschaft, Zeitgeschichte und Feministischen Wissenschaften in Salzburg und Wien. 1998 Promotion. Universitätsassistentin am Institut für Geschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Feministisch und mikrohistorisch perspektivierte Kultur-, Kriminalitäts- und Geschlechtergeschichte des 18. Jahrhunderts, Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaft, feministische Theorie. Neuere Publikationen: Interagierende Differenzen. ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ in einem niederösterreichischen Landgericht im 18. Jahrhundert (Diss.); Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodolo- Autorinnen und Autoren 905 gische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in: Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung 1998, hrsg. von Veronika Aegerter et al., Zürich 1999, 129-137; Historisierte Körper. Herausforderungen für die Konzeptualisierung von ›gender‹ aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in: Unter die Haut. Körperdiskurse in Geschichte(n) und Bildern. Beiträge der 5. Frauen-Ringvorlesung an der Universität Salzburg, hrsg. von Christa Gürtler und Eva Hausbacher, Innsbruck/ Wien 1999, 53-75. Härter, Karl, geb. 1956. Studium der Geschichte und Politik in Frankfurt und Darmstadt. Seit 1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a.M. Forschungsschwerpunkte: Frühneuzeitliche Rechts- und Verfassungsgeschichte. Neuere Publikationen: Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, hrsg. von Karl Härter und Michael Stolleis, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1996, 1998, 1999; Regionale Strukturen und Entwicklungslinien frühneuzeitlicher Strafjustiz in einem geistlichen Territorium: die Kurmainzer Cent Starkenburg, in: Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde 54 (1996), 111-163; Kontinuität und Reform der Strafjustiz zwischen Reichsverfassung und Rheinbund, in: Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780-1815, hrsg. von Heinz Duchhardt und Andreas Kunz, Mainz 1998, 219-227; Fastnachtslustbarkeiten, Hochzeitsfeiern, Musikantenhalten und Kirchweih: Policey und Festkultur im frühneuzeitlichen Kurmainz, in: Mainzer Zeitschrift 92/ 93 (1997/ 98), 57-87. Halbleib, Henrik, geb. 1972. Studium der Mittleren, Neueren und Osteuropäischen Geschichte und Volkswirtschaft in Frankfurt a.M. Forschungsschwerpunkte: Herrschaftskonflikte, Territorium und Justiz in der Frühen Neuzeit. Hoffmann, Carl A., geb. 1960. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Kriminalitätsgeschichte. Neuere Publikationen: Landesherrliche Städte und Märkte im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer ökonomischen, rechtlichen und sozialen Entwicklung in Oberbayern, Kallmünz 1997. Konersmann, Frank, geb. 1961. Studium der Philosophie, Alter und Neuer Geschichte in Gießen und Bielefeld. Wissenschaftlicher Angestellter an der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie in Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Kirchenzucht, Konfessionalisierung, Mennoniten, Agrarmodernisierung und Unternehmensgeschichte. Neuere Publikationen: Kirchenzucht und Kirchenregiment im frühneuzeitlichen Kleinstaat Pfalz-Zweibrücken (1410-1973), 1996; Studien zur Geschichte der Apotheke am Alten Markt in Bielefeld (1663-1996), 1996; ›Kaufmannsgut hat Ebbe und Flut‹. 400 Jahre Familien- und Firmengeschichte Tenge (1572-1990), i.Dr. Loetz, Francisca, geb. 1962. Studium der Anglistik, Romanistik und Geschichte. Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Medizin, Sozial- und Kulturgeschichte der frühen Neuzeit, methodologische Probleme der Geschichtswissenschaft. Neuere Publikationen: Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« Autorinnen und Autoren 906 und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750-1850, Stuttgart 1993; »... nicht durch Einschreiten oder Zwang, sondern durch Belehrung und Warnung«. Polyvalenzen als Modellelemente zur Erforschung der Volksaufklärung, in: Das Volk im Visier, Studien zur Popularisierung der Aufklärung im 18. Jahrhundert, hrsg. von A. Conrad, A. Herzig und F. Kopitzsch, Hamburg 1998, 239-259; Zeichen der Männlichkeit? Körperliche Kommunikationsformen streitender Männer, in: Hausväter, Priester, Kastraten, hrsg. von Martin Dinges, Göttingen 1998, 264-293; La petite délinquance du blasphème. Jurons et jurements dans l’état de Zurich (1450-1798), in: La petite délinquance du Moyen Age à l’époque contemporaine, hrsg. von B. Garnôt, Dijon 1998, 417-430; Gespräche an der Grenze. Französische Sozialgeschichte in Selbst- und Fremdeinschätzungen, in: Historische Anthropologie 7 (1999), 295-318. Maset, Michael, geb. 1968. Studium der Geschichte, Anglistik und Erziehungswissenschaften. Doktorand. Forschungsschwerpunkte: Theorie, Methode und Geschichte der Geschichtswissenschaft, Historische Semantik. Mommertz, Monika, geb. 1960. Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie in Berlin und Barcelona. 1997 Promotion am Europäischen Hochschulinstitut Florenz. Gastwissenschaftlerin, Lehraufträge und Stipendien der Universitäten Wien, Halle- Wittenberg, FU Berlin, ab SS 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin im AK »Frauen in Akademie und Wissenschaft« Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, ab SS 2000 Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung und -theorie, Geschichte der ländlichen Gesellschaft/ Kriminalität, Wissenschaftsgeschichte. Neuere Publikationen: Fehde und Magie. Zur Gewaltdiskussion in der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie, 9. Jg. 2000, Hft. 1, hrsg. v. Egon Flaig und Jan Peters; Haushaltssystem und Akademiesystem in der Astronomie des 17./ 18. Jahrhunderts, in: Forschungsberichte der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften I, Berlin 2000. Münster-Schröer, Erika, geb. 1955. Studium der Geschichte und Germanistik in Düsseldorf und Dortmund. 1991 Promotion. Seit 1995 Leiterin des Stadtarchivs Ratingen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Kriminalität und Strafverfolgung, Hexenverfolgung, Stadt- und Landesgeschichte. Neuere Publikationen: Zauberei- und Hexenprozesse in den Herzogtümern Jülich und Berg, in: M. Saatkamp/ D. Schlüter, Van Hexen un Düvelslüden, Enschede 1995; Die Geschichte der Pfarre St. Jacobus d.Ä. in Ratingen-Homberg (zus. m. H. Weidenhaupt), Düsseldorf 1997; Frühjahr 1945: Exekutionen im Kalkumer Wald und anderswo. Die Ermittlungen der britischen War Crimes Group im Wehrkreis VI - Raum Düsseldorf, in: Ratinger Forum 6, 1999. Rousseaux, Xavier, geb. 1957, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Belgischen Nationalfonds für Wissenschaftliche Forschung; als Assistenzprofessor an der Katholischen Universität Löwen lehrt er Geschichte und historische Soziologie. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kriminalitäts- und Strafrechtsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit in den Niederlanden. Momentan arbeitet er über Kriminaljustiz und Staatsbildung im Benelux-Raum in der Zeit zwischen 1750 und 1830. Autorinnen und Autoren 907 Rudolph, Harriet, geb. 1966. Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Tübingen und London. Assistentin am Lehrstuhl für Geschichte der frühen Neuzeit in Trier. Forschungsschwerpunkte: Kriminalität und Strafrecht in der frühen Neuzeit, Altes Reich: Repräsentationsformen und Wahrnehmung, Sexualität in der frühen Neuzeit. Neuere Publikationen: »Ueberdem ist jeder criminale allen freyheiten ... beraubt« - Strafjustiz in Theorie und Praxis bei Justus Möser, in: Möserforum 3 (1999). Sälter, Gerhard, geb. 1962. Studium der Sozialwissenschaften, Geschichte, Philosophie und Politologie in Osnabrück und Berlin. 1999 Promotion. Forschungsschwerpunkte: Praxis von Herrschaft und Geschichte der Polizei im Vormodernen Europa, außergerichtliche Konfliktregulierung, Formen lokaler Vergesellschaftung. Neuere Publikationen: Gerüchte als subversives Medium: Das Gespenst der öffentlichen Meinung und die Pariser Polizei am Anfang des 18. Jahrhunderts, in: WerkstattGeschichte 15 (1996), 11-19; Denunziationen - Staatliche Verfolgungspraxis und Anzeigeverhalten der Bevölkerung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), 153-165. Schmidt, Christoph. Studium der Geschichte und Slavistik. Professur an der Universität Köln. Neuere Publikationen: Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft in Moskau 1649-1785, Stuttgart 1996; Leibeigenschaft im Ostseeraum. Versuch einer Typologie, Köln 1997. Schmidt, Heinrich Richard, geb. 1952. Studium der Germanistik und Geschichte in Saarbrücken und Mainz. Gegenwärtig Privatdozent und Oberassistent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bern. Forschungsschwerpunkte: Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit im europäischen Kontext, insbesondere Geschichte der Reformation und der Konfessionalisierung. Neuere Publikationen: Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 12), München 1992; Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart, Jena, New York 1995; Vom Fundamentalismus zum Vernunftglauben. Absolutismus und Aufklärung, in: Chronik des Christentums, Gütersloh/ München 1997, 272-321; Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: HZ 265 (1997), 639-682. Schuster, Peter, geb. 1957. Studium der Geschichte, Mathematik, Pädagogik und Betriebswirtschaftslehre. 1991 Promotion. 1997 Habilitation. Privatdozent an der Universität Bielefeld. Seit WS 1998/ 99 Vertretung des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Spätmittelalters. Neuere Publikationen: Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz, Paderborn 1999; Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20. Jhdts., in: HZ 262 (1999), 19-55. Schwerhoff, Gerd, geb. 1957. Studium der Geschichte, Soziologie und Pädagogik in Köln und Bielefeld. 1989 Promotion. 1997 Habilitation. Seit 1998 Heisenberg-Stipendiat der DFG. Ab Sommersemester 2000 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Hexenverfolgung, Geschichte der Kriminalität, Stadtgeschichte, Geschichte der Religiosität. Neuere Publikationen: Akten- Autorinnen und Autoren 908 kundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999; Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, hrsg. von Gerd Schwerhoff und Georg Mölich, Köln 2000. Signori, Gabriela, geb. 1960. Studium der Geschichte, Romanistik und Philosophie in Basel, Genf und Lausanne. 1985/ 86 Promotion. Habilitation 1998. Ab Mai 2000 Heisenberg-Stipendiatin der DFG. Forschungsschwerpunkte (Hohes und spätes Mittelalter): Geschichte der Religiosität, Stadt-, Rechts- und Geschlechtergeschichte. Neuere Publikationen: Humanisten, heilige Gebeine, Kirchenbücher und Legenden erzählende Bauern. Bemerkungen zur Geschichte der vorreformatorischen Heiligen- und Reliquienverehrung, in: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), 203-244; Geschlechtsvormundschaft und Gesellschaft. Die Basler ›Fertigungen‹ (1450 bis 1500), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 116 (1999), 119-151; Absolon und die anderen ... Ein Beitrag zum erzieherischen Gehalt letztwilliger Verfügungen, in: Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 17), Wien 1999, 99-119. Simon-Muscheid, Katharina, geb. 1953. Studium der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte, lateinischen Philologie, Ur- und Frühgeschichte und Ethnologie in Basel. Privatdozentin. Lehrt am Historischen Institut der Universität Bern. Forschungsschwerpunkte: Alkohol und geschlechtsspezifisches Trinkverhalten im Mittelalter und der frühen Neuzeit, städtische Gesellschaft, Frauen und Recht. Neuere Publikationen: Katharina Muscheid (Hg.), Was nützt die Schusterin dem Schmied? Frauenarbeit und Handwerk in der Vormoderne, Frankfurt/ New York 1998; Reden und Schweigen vor Gericht. Klientelverhältnisse und Beziehungsgeflechte im Prozessverlauf, in: Mark Häberlein (Hg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne, Konstanz 1999, 35-52. Steinberg, Sylvie, geb. 1964. Studium der Geschichte an der Université de Paris I (Sorbonne). 1999 Promotion an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales. Forschungsschwerpunkte: Geschlechtergeschichte, Geschichte der Sexualität, Geschichte der Kriminalität. Neuere Publikationen: Le travestissement à l’époque moderne. Recherches sur la différence des sexes. Paris, Fayard, 2000. Un brave cavalier dans la guerre de sept ans, Marguerite dite Jean Goubler, in: Clio 1999, 10, S. 145-154. Le mythe des Amazones et son utilisation politique de la Renaissance à la Fronde, in: Royaume de Fémynie. Femmes et pouvoirs en France à la Renaissance. Actes du colloque de Blois 13, 14, 15 octobre 1995. Paris, Champion, 2000. Talkenberger, Heike, geb. 1956. Studium der Geschichte, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Pädagogik in Hamburg. Archivarin, z.Z. tätig als Fachredakteurin. Forschungsschwerpunkte: Geschlechtergeschichte, Historische Bildkunde, Autobiographik. Neuere Publikationen: Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488-1528, Tübingen 1990; Historische Erkenntnis durch Bilder. Zur Methode und Praxis der Historischen Bildkunde, in: Geschichte. Ein Grundkurs. Rowohlts Enzyklopädie, hrsg. von Hans-Jürgen Goertz, Reinbek 1998, 83-98; Konstruktion von Männerrollen in württembergischen Leichen- Autorinnen und Autoren 909 predigten (1650-1850), in: Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von Martin Dinges, Göttingen 1999, 29-75. Ulbricht, Otto, Apl. Prof., Akad. Rat. Momentane Forschungsschwerpunkte: Historische Anthropologie der Pest sowie Mikrostudien zu unterschiedlichen Problemen, Sozial-, Geschlechter- und Agrargeschichte der Frühen Neuzeit. Neuere Publikationen: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990; Vom Unfug des Hexenprozesses, mithrsg. von Otto Ulbricht, Wiesbaden 1992; Von Huren und Rabenmüttern, hrsg. von Otto Ulbricht, Köln/ Weimar/ Wien 1995; Mikrogeschichte - Versuch einer Vorstellung, in: GWU 45 (1994), 347-367; Die Welt eines Bettlers um 1775: Johann Gottfried Kästner, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 371-398. Wernicke, Steffen, geb. 1964. Studium der Geschichte und der Germanistik in Regensburg, 1992 Magister Artium. Freier Journalist in München. Wettmann-Jungblut, Peter, geb. 1959. Studium der Alten und Neueren Geschichte und der Amerikanistik. Forschungsschwerpunkte: Kriminalitätsgeschichte Süddeutschland und Großbritannien, Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Historische Umweltforschung. Veröffentlichungen: Der nächste Weg zum Galgen? Studien zur Eigentumskriminalität in Südwestdeutschland 1550-1850, Diss. Saarbrücken 1996; Vater- Mutter-Kind. Gefühlswelt und Moral einer Freiburger Familie im 18. Jahrhundert, in: Eva Labouvie (Hg.), Ungleiche Paare: Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, München 1997, 130-151; Penal law and criminality in southwestern Germany: forms, pattern, and developments 1200-1800, in: René Lévy, Xavier Rousseaux (Hg.), Le pénal dans tous ses Etats: Justice, états et sociétés en Europe (XIIe-XXe sieècle), Brüssel 1997, 25-46. Wiebel, Eva, geb. 1970. Studium der Geschichte und Physik in Konstanz. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Reichweite und Grenzen der Integration von ethnischen und religiösen Minderheiten in der Frühen Neuzeit: Süddeutschland und Pennsylvania im Vergleich« in Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Unterschichten, Randgruppen und Minderheiten in der Frühen Neuzeit, Frauen- und Geschlechtergeschichte, frühneuzeitliche (Klein-)Stadtgeschichte. Neuere Publikationen: Gauner- und Diebslisten. Unterschichten- und Randgruppenkriminalität in den Augen des absolutistischen Staats (zusammen mit Andreas Blauert), in: Mark Häberlein (Hg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne, Konstanz 1999, 67-96; Repertorium der gedruckten Gauner- und Dieblisten des 18. Jahrhunderts (Südwestdeutschland-Schweiz-Österreich), zusammen mit Andreas Blauert, i.V. 911 Sachregister Abbitte 571 Abenteuer 843, 853 Acht 408f., 411, 422 Achtbücher 249-256 Adel 93, 97, 162f., 165, 170, 173, 735, 745 - 747, 753 Adeliger 513 Affekt 533 Ageismus 290, 307 Agrarkonjunktur 507 Akkulturation 140, 535, 540 Akkusationsprozeß s. Prozeß Aktenversendung 465 Alkohol 524, 533, 679, 766, 770, 778 Alltagswissen 318 Altersgruppe 540, 543 Ämter 633 Amtsmißbrauch 742 Amtsträger/ Amtsleute/ Amtmänner 31, 34 - 36, 44, 554, 772, 783f., 788, 792, 795 Angst 771, 777 Anklagen, Zahl der 510 Anthropologie 135f., 338 Anthropologie, historische 27 Anwalt 301, 513 Anzeige 520 - 522, 524f., 527, 531, 536, 542 s. auch Denunziation Appellation 408, 413 Appelationsinstanz 412, 708 Appelationsverbot 478 Äquivalenzprinzip 547 Arbeit gemeinnützige 684 Arbeitshaus 344f., 347, 349 Arbeitskonflikte 676 Arbeitsmarkt 529 Arbeitsstrafe 683f. Armenheirat 507 Armut 30, 46, 50f., 135, 184, 354, 513, 532, 760, 770, 780 Artikel 321 Artikelsbriefe 844, 846 Arzt 468 Assizes 71 - 73, 75 Atzungskosten 717 Aufklärung 168, 170, 338f., 342, 354, 672 Aufklärungsquote, -rate 555, 680, 722, 724, 726 Aufstand 263 - 276, 650 Ausgrenzung 374, 377f. Aushalten 815 Aussageverweigerung 534 Auswahlentscheidung 511 Ausweisung s. Strafe Autobiographie 337, 339, 340f., 343f., 349, 352f., 355f. Autorität 344, 349 - 351, 354 - 356 Bagne 483 Bande 127, 726 - 728, 730, 736, 748, 754, 783, 802 Bandit 162f. baditismo 162 - 165, 172 Bann 596 Bastille 491 - 494 Bäuerlicher Widerstand 538 Bauer(n) 538, 590f., 594f. Beamte 132, 429, 465 Beifang 428, 435f. Beklagter 527 Beruf 529f. Besserung 342, 345 Besserungsanstalt 529, 532 Bestätigungsrecht 476 Bettel 762, 764, 766 Bettler 193, 526, 683, 685 Beweis 322, 469 Beziehungsgeflecht 652 Bildung 345f., 354 Blut 533 Blutschande 329 Bruch, sozialer 536f. Bruderschaft 542 Bürger 339, 355, 714 Bürgermeister 322, 325 Bürgschaft 407, 532 Buße 360, 366f., 369, 563 s. auch Strafe Bußprozession 333 Bußstrafverfahren 515 Bußzuchtvorstellung 615, 621 common law 71 Constitutio Criminalis Carolina (CCC) 459, 564, 567f., 579, 631, 640, 672, 675, 677 correctio domestica 680 Sachregister 912 damnatio memoriae 266, 272 Delikt 26, 520, 523f., 540f., Bandendiebstahl 172, 683 Beleidigung 180f., 391f., 398, 403, 448, 450f., 454 - 456, 457, 563, 571f., 577, 670, 676, 684 s. auch Injurie Betrug 390, 399, 401, 683, 686 Blasphemie, Gotteslästerung 104f., 169, 172 Brandstiftung 461 Delikt, opferloses 524 Diebstahl 33, 36, 39 - 42, 45, 47, 49, 90, 93f., 125, 178, 182f., 196, 390, 396, 398 - 401, 461, 541675, 677, 681, 683 - 687, 762, 766f- 769, 775 Ehebruch 36, 181, 304f., 309, 333, 461, 593, 631f., 634, 637, 640 Drohung 372, 398, 403 Eigentumsdelikt 73, 75f., 379, 402, 675, 682, 684 - 687, 725 Einbruch 683, 685f., 768f., 775, 777 Falschmünzerei 196 Fälschung 690f. Felddiebstahl 687 Fornikation 467 Forstfrevel 687 Gewalt- und Tötungsdelikte 28f., 37 - 39, 43, 178, 183 - 186, 361, 365, 367, 372, 376, 383, 390, 393, 402f., 672, 675 - 677, 752 Hausdiebstahl 684f. Hehlerei 196, 683 Inzest 631f., 634, 640, 643 Jugendkriminalität 100, 103, 113 Kapitalverbrechen 682 Kindsmord 43, 104 195, 435, 676 Kleinkriminalität 35, 510, 527 Körperverletzung 448, 450f., 455, 565, 568, 577f., 676f., 681, 685 Malifizdelikt 707 - 709, 740, 749, 753 Meineid 304 Messediebstahl 683 Mord 461, 521f., 649, 676f., 682 Piraterie 831 - 858 Prostitution 45, 100, 106, 195, 679, 692, 694f., 698, 704 Raub 172, 461, 685 Raufhändel 676 Religionsdelikt 26, 126, 587, 597f., 631 Schatzgräberei 467 Schlägerei 451 - 454, 467, 676 - 678, 685, 743 Schmuggel 163 Sittendelikt 29, 49f., 181f., 390, 394f., 402, 522, 675 Sodomie 136, 165 Straßenraub 194, 683, 686 Totschlag 135, 183f., 448, 450 - 452, 461, 531, 563, 565 - 568, 577 - 579, 650, 676f., 682 Unterschleif 718, 733 Unzucht 30, 43 - 45, 104f., 181, 196, 396, 630,633, 639, 643, 690f., 695, 698f., 702, 704 s. auch Ehebruch Verbrechen 514, 520, 583, 587, 596 - 602, 749 Vergehen 510, 520 Vergehen, politisches 366, 374 Vergewaltigung 527f., 698, 702 Viehdiebstahl 686f. Walddiebstahl 687 Wilderei (Wilddiebstahl) 76f., 686, 707 - 757 Zauberei 405 - 408,412, 414, 417 - 419, 437, 484, 490 - 492, 498 Delinquent 337, 339, 345, 353f., 468 Delinquenz/ Devianz 26, 75, 194 - 196 s. auch Delikt Denunziation 36f., 105, 468, 487, 491, 538, 610, 614, 617, 620, 622 Deportation 74 Devianzkonzept 208 Diebstahl s. Delikt Dienstmägde, Dienstjungen s. Hausangestellte Differenzen, interagierende 224 - 231 Diskurs 52, 534 Disziplin, Disziplinierung 49- 52, 163, 167, 240, 459, 481, 484, 514, 560f., 627, 636, 645 s. auch Sozialdisziplinierung Dorf 25, 51, 127, 178, 526 751 Druck, demographischer 525 Duell, -verbot, 163 Dunkelfeld, -ziffer s. Aufklärungsrate Ego-Dokumente 30, 317 Ehe 166, 178, 289, 293, 295f., 506, 518, 527, 563, 576, 589 - 593, 595f., 630, 632 Ehebruch s. Delikt Ehegericht s. Gericht Ehesakrament, Verletzung des 691 Ehre, Ehrverletzung 38, 89, 95-98, 100, 103, 109, 114, 125f., 180f., 319, 321, 366, 373f., 376, 384, 386, 391, 448, 522, 527, 537, 574f., 578, 594, 637, 652, 675f., 678, 680, 682, 684, 688, 697f., 703f., 803, 810f., 813 Sachregister 913 Ehrenstrafe s. Strafe Eid 298, 323, 326f., 329, 381, 397, 419, 651, 675 Eigentumsdelikt s. Delikt Einigung, nicht-, vorgerichtliche 547, 550, 555 Einstellung 317 Einunger 564, 570, 572, 577 Elias, Norbert s. Zivilisationstheorie Eliten 486, 497f., 500, 677 Enkulturation 539f. Entkriminalisierungsschub 543 Entrechtlichung 544 Entwurzelung, soziale 727, 738 s. auch Landstreicherei Erbeinsetzung 289, 297f., 300, 304, 307, 309, 311 Erbfolge 518, 525 Erbschaft 313, 528 Erbschaftsfragen 294 - 296, 300, 305, 307, 313 Erinnerung 316, 790, Erinnerungskultur 245-288, 778, 790, 799 Erzählen 330 Erziehung 337, 354 Etikettierung 459 Evangelium 585 - 588, 591f., 594f., 600 Exempelstrafe s. Strafe Exil s. Strafe Fahndung 31f., 47, 470 Familie 161, 166, 511, 526 Fegefeuer 334 Fehde 78, 192, 368, 373, 415f., 422 s. auch Urfehde Felddiebstahl s. Delikt felony 72, 75, 512 Feme 405, 408 - 411, 413 - 416, 419 - 421, 426 Festungsbau 466 Feuerlust (Pyromanie) 827 - 829 Fiskal 321, 462 Fiktionalität 649, 655 Folter 71, 113, 197, 461, 683, 708, 714, 719f. Forstordnung 750 Fortschritt 506 Frau 180f., 182, 186f., 526 - 529, 532, 538, 540 - 542, 737, 787 s. auch weibliche Kriminalität, Geschlecht Frau in Männerkleidern 689 - 704 Frauenhaus 393, 396f. Freigraf 408, 416, 420 Fremdbild 353 Fremder 525, 532, 853 Frieden 137, 390f., 394, 403f., 514, 518, 536 Friedensrichter s. justice of the peace Stadtfrieden s. Stadt Frömmigkeit 524 Frone 331 Fürbitte 401, 566f., 574 s. auch Gnade Fürsprache 383, 387, 393, 400 Fürstbistum 423 - 446 Galeere 466 Galeerenstrafe s. Strafe Galgen s. Hinrichtungsstätte Gauner s. auch Delikt Gauner- und Diebslisten 763, 765, 782f., 790 Gauner-, Diebs- und Mörderbanden 471 s. auch Banden, Banditen Gebühren 532 Gefängnis 48f., 74, 77, 129, 133, 170, 173, 471, 481f., 484, 635 s. auch Haft, Zuchthaus, Strafe Gefängnisreform 345 Gefangenenaufzeichnung 257 Gefangener, politischer 342 Gegenkultur, maritime 834, 844, 846 Geistliche/ r, -keit s. Klerus Geldbuße 184f. Geldstrafe s. Strafe Gemeinde 510 Gender s. Geschlecht General history 833, 836, 841, 852 Gerechtigkeit 518, 803, 810, 813 Gerede 36 Gericht, -sbarkeit 25, 172, 504f., 553 s. auch Justiz außergerichtliche Lösung, Konfliktaustragung 513f., 545 - 547, 553, 557, 559 Brüchtengericht 630 Chorgericht 525, 588, 594 - 596, 600f. Dorfgericht 130, 517, 522 Ehe- und Sittengericht 507, 516 Femegericht s. Feme Femegerichtsbarkeit 405f. geistliches Gericht 178, 583, 590f., 593 - 597 Gerichtsgebüren 505 Gerichtsgrenzen s. Grenzen Gerichtsherr 517 Gerichtsinstanzen 177 - 179 Gerichtsmedizin 472 Gerichtspraxis 134, 498 Gerichts- und Kriminalquellen 22, 28, 42, 44, 48, 175f., 245 - 288 s. auch Quelle Gerichtsverfassung, -reform 505, 629 Sachregister 914 Gerichtszug 536 Geschworenengericht 71, 73 Gogericht 635, 638 kaiserliche Gerichtsbarkeit 409, 421 Kirchengericht 25, 517 nachgerichtlich 554, 557 Niedergericht 25, 32f., 35f., 43, 47f., 363, 366, 461, 506, 514, 517 Obergericht 505 Patrimonialgericht 423 - 426 Reichshofrat Reichskammergericht 289, 311, 318f., 406, 408 - 415, 419 - 421 Rügegericht 515 Schiedsgericht 563 Schöffengericht 289, 295, 297f., 300f., 411, 414, 418f., 421, 462 Sendgericht 608, 628, 630, 645 vorgerichtlich 550, 555, 557 Vorladung 534 Zivilgericht 517f., 629 Gerücht 290, 301, 327f. Geschlecht 42 - 46, 94, 105f., 180, 526, 532, 542f., 653,669, 673, 675, 677f., 681, 683f., 686, 688, 760, 762f., 787 - 789, 799 Gender 216f. Geschlecht als Kategorie 205, 210 - 215 Geschlechterdifferenzen 216f. Geschlechtergeschichte 205 - 232, 672 Geschlechtsbedeutung 217 Geschlechtsmarkierung 224 Geschlechtsvormundschaft 294, 296f., 298, 312f. Sex-Gender-Konzept 205f., 210, 212, 655 s. auch Frau Geschlechtsverkehr 396, 673 Geschworene/ r 71, 73 Gesellenpriester s. Klerus Geselligkeit 678f. Gesetz 177 - 179 Gesinde 302, 305 - 307, 528, 679, 685, 802f.,805, 808 s. auch Hausangestellte Geständnis 461, 517, 683 Gewalt 70, 78, 89 - 91, 95 - 104, 113f., 125, 175, 360, 362, 368, 371 - 373, 376, 391 - 394, 521f., 527, 538, 542, 671 - 677, 679f., 682, 688, 770, 777f., 788f. Gewalt- und Tötungsdelikte s. Delikt Gewaltdelinquenz s. Delinquenz Gewaltenteilung 506 Glücksspiel 169 Gnade 30, 32, 52, 102f., 111, 113, 135, 137, 400f., 404, 535, 566, 639, 642 Gogericht s. Gericht Gottesdienstbesuch 524 Grabschändung 632 Grenzen 713, 723 Gutsherrschaft s. Herrschaft Habitus 674, 678 Haft 110, 113, 493 Haftstrafe s. Strafe Untersuchungshaft 483, 491f. Händel 676 Handwerksbetrieb 528 Haupternährer 529 Haus 542, 544, 676, 679 Hausdiebstahl s. Delikt Hausdurchsuchung 708, 714f. Hausvater 540, 676, 680, 682, 684 Hausvisitation 610 Hauswüstung 269 - 271, 281 Hausangestellte 528, 802f., 806, 810f., 817, 821 s. auch Gesinde Hebamme 468 Hehlerei s. Delikt Henker s. Scharfrichter Herausforderungslogik 675 Herrschaft 233 Gutsherrschaft 425, 544 herrschaftlich 331 Herrschaftsstreitigkeit 317 Hexerei, Hexenverfolgung 26, 127, 179f., 261, 270, 406f., 412, 414, 437, 444, 462, 512, 537f. Hinrichtung s. Strafe Hinrichtungsstätte 273 - 275, 333f. Hof 528 Hofnamen 710, 728 Hofstelleninhaber 525 Homosexualität, 126, 165f. Hôpital général 483f., 493 Hurerei 524, 589f. s. auch Prostitution Identifizierung (von Personen) 710 Identität 343, 348, 350 - 352, 355, 526 Illegitime 304, 309 Imaginaire 652 Immigrant 385, 396, 402 532, 540 infrajudiciaire 107, 109, 138, 545 - 562 Inhaftierung 484, 486, 488 - 490, 494, 497, 500 s. auch Gefängnis, Haft Sachregister 915 Injurie 38, 137, 324, 436, 571 Injurienklage 442 Injurienprozeß 319 Realinjurie 671 Schelten 571f., 670 Schimpfworte 397, 454, 456 Schmach 571 Schmähen 391, 670 Verbalinjurie 401, 671 s. auch Beleidigung Inklusion 530 Inquisition, kirchliche 26, 126f. Inquisitionsprotokoll 318 Inquisitionsverfahren 47, 105, 113, 321 Instanzenzug 543 Institution 132f., 162, 168 Interagierende Differenzen Interrogatoria 321 ius commune 320, 322 ius de non evocando 408 Jagd 710f., 741f., 746f., 753 Jagdbediente 720, 735, 740, 742f., 748, 751f. Juden 387f., 397 Judengasse 669 Jugendkriminalität 100, 103, 113 Jungfräulichkeit 702f. Jurisdiktion 332 Jurist 133, 162, 165, 167, 171f., 465 Juristenfakultät 461 justice of the peace 72f., 512, 514, 524 Justiz 91, 93f., 101, 106 - 111, 113, 132 - 135, 137, 170, 199 Befriedungsfunktion der Justiz 542 Justizalltag 192 Justizbehörden 169 Justizinstitution 504, 511, 513, 515, 519 Justizmarkt 542 Justizmaschine 515 Justiznachfrage 504 Justiznutzung 37, 505, 508 - 511, 529f., 536f., 540 - 543 Justizoptimismus 510 Justizorgane 162 Justizpolitik 503 Justizpraxis 481, 483f., 514 Justizreform 134, 162, 168 Justizskepsis 510 Justizsystem 177, 508, 553, 555f. Justizvermeidung 536 Strafjustiz 69, 281 - 283, 331, 516 - 519, 529 Zugang zur Justiz 530 Kaiser 670 Kaiserkrönung 677 Kanonisches Prozeßrecht s. Prozeß Kapital, soziales 34 Kapital, symbolisches 673, 675 Kapitalverbrechen s. Delikt Kirche 333 Kirchenbuße 129, 630, 637 s. auch Buße Kirchengemeinde 178, 510, 607 Kirchenkonvent 525 Kirchenvisitation 603 - 625 Kirchenzucht 105, 517, 607 - 609, 612, 614 - 618, 621 - 623, 625, 627 - 645 Kirchenzuchtgrade 612 Kirchenzuchtgremien 622f. Kirchenzuchtpraxis 621 Klage 503, 510, 515, 523, 532f., 539, 572, 577f., 671 Kläger 527, 563, 568, 579 armer Kläger 530 Klägerpreferenz 512 Kleidung 525, 530 Kleine Eiszeit 724 Kleinkriminalität s. Delikt Klerus 721, 729, 731f., 747, 753 Geistliche/ r 535 Gesellenpriester 721, 729 Pfarrer 533 Prälat 729, 732 Klientel 307f., 655 Kneipe 194 Kommerrecht 407 Kommissar 318, 320 Kommunikation 603 - 625, 659 Komplementarität 553, 556f. Kompositionensystem 563, 578 Konfession 139, 332, 637, 644 Konfirmation 816f, 818 Konfiskation 659 Konflikt 135, 137, 542, 628, 639 Alltagskonflikt 140, 508 Konfliktaustragung 218, 222f., 545f. Konfliktlösung, außergerichtliche 514, 545f., 553, 557, 559 Konfliktregelung, -regulierung 34f., 44, 51, 136f., 554, 559f. Konfliktschlichtung 508 Konfliktverschiebung 536 Mutter-Tochter-Konflikt 819f. Konfrontation 473 Konkubinat 165 Sachregister 916 Konnivenz 718f., 734, 744, 746 Konsistorium s. auch Gericht, Kirchenzucht 517 Kontrollagenturen 543 Kontrolle, soziale 26f., 35, 69, 77f., 80, 89, 91, 105, 109, 176, 178, 460, 481, 487, 498, 500, 504, 508f., 511, 515, 519, 526, 536 - 538, 540, 542f., 557 Konzil von Trient 164f. Kopfgeld 727 Körpergeschichte 211 Kosten Krankheit 338 Kriminalisierung 92f., 106, 227, 738f., 747, 753 Kriminalitätsrate 70, 75 Kriminalitätsstatistik 28f., 42, 71, 76, 80, 125, 207 Kriminalität, weibliche 77, 104 - 107, 674, 677 s. auch Geschlecht Kriminalliteratur 784f. Kriminalquelle s. Gerichts- und Kriminalquellen Kulturgeschichte 27, 29 Kultur, politische 318 Kundschaft 292, 294, 296, 313 labeling-approach 71, 209, 341 Laiensystem 520 Landrecht 405, 407f., 411 - 413, 418 Landgerichtsordnung 434 Landstreicherei 193, 717, 738 Läuflingsbewegung 193, 197 Lebensgeschichte 338, 342f. Lebenslauf 339f. Lebenswelt 331 Ledige 529 Legal history 176 Lehrer 533 Leibeigene/ r 193 Leibes- und Todesstrafen s. Strafe Leidenschaft 338f., 347, 350, 354 lettres de cachet 240, 484 - 486, 488, 518, 535 Leumund 535 Libertalia 832f., 836, 840, 841, 846, 850 Liebe 585f., 591f., 594 Lieutenant Général de police 485, 487, 491, 689, 698 Lohnarbeit 526 Loyalität 650 Lynchjustiz 192 Macht 35, 233f. Machteffekte, sekundäre 537 Machtgefälle 518 Machtmißbrauch 193 Machtverhältnisse 236f. Mächtnis 293, 295f. Magd s. Gesinde Magie 221f. Malifizurteil s. Urteil Mann 182, 526 - 529, 540, 676, 678f. Marginalisierung 677, 685 s. auch Randgruppe Markt 669f., 686, 688, 721, 730, 733, 747, 765, 767, 775f., 778, 7l94 Marktökonomie 670 Meineid 304, 330 Mentalität 170, 316 Messe 686, 765, 767, 775f., 778 Messediebstahl s. Delikt Metzgerzunft 650 Mikrogeschichte 27, 43, 51, 136 Militärdienst 466 misdemeanor 72, 520 Mißernte 724f. Mittelpunktsvisitationen 607 Mitwisserschaft 663 Mobilität 513, 526 Modernisierung 24, 139f., 141, 519, 530, 560f. Moral 507, 524, 532 Mord s. Delikt Morgengabe 296f. Motiv 804f., 823 - 825 Müßiggang 524 Nachbar, -schaft 327, 331, 333, 510f., 526, 538, 542f., 680f. Nachtschwärmer 688 navigation acts 840 Netzwerk 659, 720, 728, 730, 736, 748 Nichtjustiz 555 Nichtkonforme/ r 531 Nichtseßhafte/ r 531 Nichtwissen 319, 327, 329 Niedergerichtsbarkeit s. Gerichtsbarkeit Norm 23, 31, 41f., 131f., 338, 341, 343 - 349, 351, 353, 355, 509, 515, 652 Notabel 512f., 535 Notariat 512 Notwehr 567 Oberhof 465 Oberschicht 34, 38, 49, 184, 359 - 366, 368 - 372, 374 - 378, 525 Obrigkeit 187, 586f., 595, 598 Sachregister 917 Öffentlichkeit 289, 623f. Offizial 310, 591, 593, 596 Opfer 522 Ordnung 70, 72f., 79, 507, 511, 522, 525 Ordnungskräfte s. Polizei Ortsansässige 525, 530, 532 Ortsarmenkasse 525 Ortsfremde 530f. Parlement 483, 490 peer group 346f., 349, 682 peinliche Hals-/ Gerichtsordnung s. Constitutio Criminalis Carolina petty crimes 677 Pfarrer s. Klerus pirate round 837f., 847, 854 Piratenrepublik s. Libertalia Policey, Polizei 24, 31, 37, 42, 79f., 138, 163, 170, 196, 466, 481, 483f., 486 - 491, 493, 496 - 498, 500, 504, 522, 708, 746 Policeydiener 676 Policeyordnung 52, 516, 539 Polizeikommissar 524 Polizeistunde 688 Prälat s. Klerus Prävention 338 Präzendenzfall 255 Praktiken 216, 240 Pranger 684, 769 Presbyterialsystem 608f., 611, 614 Privileg s. Feme Professionalisierung 506 Prosopographie 133 Prostitution s. Delikt Protest, sozialer 26, 40 Providenz (Vergeltungstheologie) 587f., 598f., 602 Prozeß 133 s. auch Gericht, Justiz Akkusationsprozeß 71 Prozeßführung (Praxis der) 708, 719 Prozeßordnung 320 Prozeßrecht, kanonisches 319 Prozeß, summarischer 513 Zivilprozeß (civil litigation) 35 Prügel 813 Psychiatrie 543 Psychoanalyse 805, 815f., 823f., 826 Pubertät 823, 825 - 828 Publizistik 260 Quantifizierung 27 - 29 quarter session 72 Quelle 245 - 288, 315 - 317, 335, 562 s. auch Gerichts- und Kriminalquellen, Kriminalliteratur Rache 807, 813, 816, 820f., 825 Randgruppe 41f., 45, 48, 92, 94, 114, 191, 466, 759 s. auch Marginalisierung Rat 300, 322, 327, 359f., 364 - 371, 374f., 377, 564, 567f., 570, 572f., 575 - 577 Ratsgericht 360f., 365, 367f., 370f., 374, 376f. Räuber 93, 759, 761, 788, 794, 796, 800, 832, 846 s. auch Bande, Banditen Raub s. Delikt Raubritter 41, 254 s. auch Fehde Raum, sozialer 229f. Raumwahrnehmung 334 Raum-Wissen 334 Recht s. auch Gericht, Justiz, Prozeß Rechtsbeistand 532 Rechtsbewußtsein 447 - 457 Rechtsform, alternative 549, 553, 555f. Rechtsgeschichte 23, 170, 281 - 286 Rechtskenntnisse 534 Rechtskultur 505f., 539f. Rechtsmittel 478 Rechtsprichwort 298 Rechtsrezeption 505 Rechtssagen 256 - 260 Rechtstag, endlicher 461 Rechtsverweigerung 408, 413, 415 Reformation 583 - 588, 595, 598 regieren 239 Reichsacht 414 Reichsstadt 460 Reinigungseid 407, 419 Reintegration 448, 452 Reisebericht, -literatur 831, 835, 847, 851, 855 - 858 Relation 476 Relegation s. Exil Repräsentation 722 Repräsentationsrecht 408 Resonanz 549, 556f. Rhetorik 536 Richter 320, 465, 513f., 520f., 530, 540, 673f., 676, 683, 688 Ritual 137f., 549, 556, 678f. Rollenmuster 654 Sachregister 918 Rüge 463, 620 s. auch Gericht Sage 256 - 260 Säkularisation 636 Sanktionsangebot 540 Satisfaktion 669, 674 Scham 448, 452 Schande Schanddenkmal 261 - 281 Schänden 670 Schandstrafe s. Strafe Scharfrichter 42, 406, 472 Schauerromantik 285 Scheidung s. Ehe Schicht 530, 532, 728, 759 Schlichtung 298, 303, 313, 511 - 515, 536, 541, 556 Schlüsselamt 611 Schöffe 301, 322, 406 - 409, 412f., 415, 417, 462 Schöffengericht s. Gericht Schöffenkollegium 416 Schöffenurteil s. Urteil Sendschöffen 623 Schreiber 322, 325, 532f. Schriftlichkeit 245 - 288 Schuldanerkenntnis 513f., 529, 532, 541 Schulden s. Verschuldung Schwangerschaft 672f., 683, 688 Schwängerung 467 Schwängerung, außereheliche 522 Schwarze Bücher 249-256 Schwelle 515 second code 678, 684 Seele 342, 346, 350, 355 Selbstbild 339, 344, 351, 353 - 356, 528 Selbsthilfe 511, 513, 522 Selbstreflexion 341f., 352 Selbstregulation, -regulierung, soziale 541, 543, 558 Sex-Gender-Konzept s. Geschlecht Sexualität 126, 162, 165f., 388, 528 Sexuelle Beziehung zwischen Frauen 691 Sicherheit 523 Sittenbüro 691 Sittenreformer 520 Sittlichkeit 518 Sklavenhandel 843, 848 social crime 76, 78, 813 Soldat 526 Sonntagsheiligung 524 Sozialarbeit 543 Sozialbandit 844, 846 Sozialdisziplinierung 240, 332, 508, 535, 815 s. auch Disziplinierung Sozialgeschichte 170, 341 Sozialisationsforschung 343 Sozialkontrollagentur 526, 542 Sozialrebellen 40 Spielsucht 524 Spinnstube 506f. Spitzel 487 Spitznamen 710 Sprichwörter 252 Staat 32, 48, 51f., 125, 130, 138 - 140, 186, 504, 510, 519, 537, 544 Stadt 24f., 38f., 45, 48, 127, 130, 183f., 403, 521, 526, 532, 541, 669 Stadtfrieden 384, 649, 676 Stadt-Land-Vergleich 510 Stadtdiener, -knechte 379, 386f. Stände 320 Steckbrief 470 Stereotyp 290 - 292, 311 - 313, 654 Stilisierung 533 Strafe 31 - 34, 47 - 49, 128f., 196 - 198, 281 - 286, 512 s. auch Gericht, Justiz Ausweisung 402, 491, 493 Brandmarkung 765 Ehrenstrafe 48, 128f., 333, 403, 570, Einzelhaft 355 Exempelstrafe 281 Exil 485, 487 - 489, 493, 495 Galeerenstrafe 568 Geldstrafe 32f., 49, 108, 113, 128, 182, 268 - 370, 373 - 376, 378, 461, 565, 569, 571, 624, 639 Haftstrafe 461, 482, 484, 491, 493 Hinrichtung 73f., 110f., 113, 137, 139, 400, 765, 774, 792f., 796 Landesverweis(ung) 466, 769, 779 Leibes- und Todesstrafen 31, 33, 49, 71 - 73, 128, 197, 375, 378f., 390f., 400, 402, 466, 565, 568, 828 Pranger 779 Privatstrafe 563, 570, 572 Schandstrafe 683f. Sittenzucht 89, 104 - 107, 106, 516 Stadtverweisung 34, 359f., 367 - 371, 374 - 376, 396, 398, 401f., 566f., 570, 573f., 576, 650 Strafandrohung 749 Strafformen 749 Strafgericht 517, 540 Sachregister 919 Strafherr 564, 569-573, 575-577 Strafklage 519 Strafnachlaß 375, 379, 384, 387, 402 Strafpraxis 31, 481, 749 Strafrechtssystem 69, 71f. Strafrituale, öffentliche 481 Strafumwandlung 375 Strafvollzug 70, 73f. Strafwallfahrt 128 Verbannung 92, 113, 400, 402, 565 - 567, 569f., 577 s. auch Stadtverweisung Verweisung 374, 378 Strafrecht 69, 71, 77 - 79, 224, 466 zweigleisiges Strafrecht 33f. Straßenraub s. Delikt Strategie 649, 672 Streß, sozioökonomischer 523, 525 Stuhlherr 416 Subjektkonzept 212 Subkultur 40, 194 Sühne 563, 565 - 567, 571f. Sünde (sin/ crime) 583, 586f., 593, 595, 596 - 602 Supplik 52, 459, 538f., 564, 566f., 573, 639f., 640, 642 - 644 Syndikus (Syndici) 669, 674f. Tanz 524 Tatbestandsmerkmal 534 Täter 530f. Täterprofil 808, 813, 817 - 819 Tatsächlichkeitsfiktion(en) 835, 851 Territorium 24f., 48 s. auch Gericht, Justiz geistliches Territorium 629 Testament 296f., 301, 304, 310, 313 Teuerung 725 Teufel 326, 332, 592, 598 Textinterpretation 215f. Therapie 338f. Toleranzschwelle 522f., 531, 533 Totenhände 278f. Traditionsbildung 272 - 285 Transvestieren 689 - 691, 694, 696, 792, 795, 797f. Tugend, bürgerliche 346 Tumult 669, 673, 676 Türkenkrieg 568 Türkensteuer 303 Typologisierung 558 s. auch Stereotyp Übelhausen s. Verschwendung Überläufer, kultureller 849 Umwelt 337, 339 Unrechtsbewußtsein 747f. Unruhe(n) 676, 678 Unterschicht 91, 94, 98f. Untersuchungsgefängnis s. Gefängnis Untersuchungshaft s. Haft Untertan 539 Unterversorgung 520 Unversehrtheit, körperliche 541f. Unzucht s. Delikt (Ehebruch) Urfehde 292, 298, 312, 459, 573 - 575, 763, 769 Urgicht 775, 795 Urteil 513 s. auch Gericht, Justiz, Strafe Schöffenurteil 405, 408, 411 - 413, 418, 420 Zivilurteil 536 Utopie 836, 843 Vaganten (Vagantinnen) 74, 78, 127, 683, 761f., 765f., 775 Verbrecher s. Delinquent Verfahrensgeschichte 172 Verfolgungsintensität 520, 524 Verfügung, königliche 689, 691f. Vergleich 563, 565f., 577 Verhalten, abweichendes 341, 348, 350 Verhaltenskodex 531 Verhör 469, 473 Verhörprotokoll 652 Vermittler (»Broker«) 731, 736 Vermittlungsperson, amtliche 555, 558 Vermummen 748, 754 Verrat 261 - 281 Verrechtlichung 37, 138 - 140, 540, 543f. Verschriftlichungsprozeß 534 Verschuldung 563, 569 - 571, 577f. Verschwendung563, 572 - 575, 577 Verschwörung 167 Verteidigung 475, 715 Verwandschaft 186, 526 Verweigerungsstrategie 534 Viehdiebstahl s. Delikt Viehkauf 656 violence-au-vol 46f., 125 Visitation 468, 604, 607, 610, 613 Volkskultur 135, 709, 756 Volkskunde, rechtliche 23 Vollstreckung 519 Vortäuschen einer anderen Person 691 Sachregister 920 Waffenbesitz 714 Waffeneinsatz 360f., 370, 372, 374, 377 Wahlfreiheit 518 Wahlmöglichkeit 517 Wahrnehmung 316 Wandel, historischer 46-51 Wanderarbeiter 507 Wanderhandel 762, 775, 780, 784 Wandlungsprozeß, sozioökonomischer 543 Wasserprobe 438 Widem 293, 296 Widersetzlichkeit 632, 640 Widerstand 193, 238, 538 s. auch Protest Wiedergutmachungsprinzip 548 Wiederholungstäter 541f. Wilderei s. Delikt Wirtshaus 678f., 682, 687, 765, 767, 770 Wissen, soziales 317f., 331, 334 Wissenssoziologie 318 Witwe 525, 539 Zeichensystem 331 Zeitwahrnehmung 334 Zeit-Wissen 334 Zeuge 36, 315, 319, 468, 527 Zeugenbeeinflussung 315, 535 Zeugenbefragung 257, 316 - 318, 320, 652 Zigeuner 41f. Zivilisationsrenegaten 850 Zivilisationstheorie 29, 39, 50, 122, 138, 140, 175f., 186, 448 Zuchthaus 48f., 459, 466, 630, 642 s. auch Gefängnis Zucht- und Arbeitshaus 48f., 344, 349, 352f., 482, 484, 774 s. auch Strafe Züchtigung, übertriebene, 808 - 813, 819 Zugang zur Justiz s. Justiz Zunft 138, 542, 649f., 658