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Montaigne und die Kunst der Frage

2008
978-3-7720-5261-3
A. Francke Verlag 
Hans Peter Balmer

Montaigne bildet eine Ausnahme im Mainstream der westlichen Tradition. In einer Zeit fanatischer Religionskriege bezeugen seine "Essais" humanistische Weisheit und kosmopolitische Toleranz. Montaignes Weg führt von der Selbstschilderung zur Beschreibung der Umstände und Maßgaben des Menschseins insgesamt. "Was weiß ich?" heißt die Leitfrage eines Philosophierens auf sokratische Weise, inmitten von Menschen und Dingen. Der Essayist findet so zu einer Neubegründung der Skepsis. Veränderung und Vielfalt werden zu Zeichen der Fülle und der Lebendigkeit. Gewissheit des Wissens und restlose Selbsterkenntnis mögen unerreichbar bleiben, nicht aber Loyalität gegenüber der menschlichen Grundverfassung und die Befähigung, das Dasein recht genießen zu können. So gewinnt er Einsichten, die heute, da Polarisierung und Fanatisierung erneut an der Tagesordnung sind, erst recht interessieren müssen.

Montaigne und die Kunst der Frage Grundzüge der Essais H a n s P e t e r B a l m e r Montaigne und die Kunst der Frage Hans Peter Balmer Montaigne und die Kunst der Frage Grundzüge der „Essais“ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8261-0 5 Inhaltsübersicht Vorwort ............................................................................................... 7 Besonnen unter Fanatikern: ein Philosoph neuen Typs ........... 9 Vorsicht des Fragens: Was weiß ich? ................................................. 9 Humanistische Kontextualität als maßgebliche Protomoderne ...................................................................................... 14 Woraus das Werk erwächst: Ereignisse des Lebens ...................... 22 Erprobungen der Urteilsfähigkeit: Grundzüge der „Essais“ 31 Zunächst zwei Bände: Buch I und II ................................................ 31 Belehrbar, nicht belehrend: der Essay........................................ 31 Zwischen Zivilisation und Barbarei: der Mensch .................... 35 Der quecksilbrige Geist oder Das Profil des Schriftstellers .... 38 Sterben lernen, zu leben wissen .................................................. 42 Zwischen Begehren und Maßhalten: Eros ................................ 45 Instinkt zur Inhumanität: Grausamkeit ..................................... 46 Die Vernunft des katalanischen Theologen, die Skepsis des Fragens und die Möglichkeit der Metamorphose............. 49 Wodurch wir Menschen sind: Selbstannahme und Kommunikation ........................................ 53 Ein zusätzlicher und letzter Band: Buch III..................................... 57 Was jede/ r ganz enthält: die Form des Menschseins ............... 57 Liebe als Leidenschaft und das Risiko der Selbstablehnung ..................................................................... 63 Wahn, Eitelkeit: Verletzlichkeit des Lebens .............................. 65 Öffentlichkeit und Privatheit, Rolle und Person ...................... 67 Lebenskunst oder Was Menschsein vermag............................. 69 Sokratische Hermeneutik der condicio humana ....................... 79 Ein Sprachkunstwerk und seine Wirkung ...................................... 79 Selbsterkenntnis: empraktisches Befragen der menschlichen Verfassung ........................................................... 82 Was Menschen gemäß, was gut für sie sei ...................................... 87 Wissen des Nichtwissens, Genießen des Gegenwärtigen............. 92 Die Spielräume der Freiheit............................................................. 102 6 Nachweise ....................................................................................... 109 Systematisches Literaturverzeichnis ......................................... 119 1. Ausgaben................................................................................... 119 2. Deutsche Übersetzungen ........................................................ 119 3. Hilfsmittel.................................................................................. 119 Bibliographien .......................................................................... 119 Konkordanzen, Lexika, Wörterbücher ................................. 119 Einführungen ............................................................................ 119 4. Biographien ............................................................................... 120 5. Geschichte, Kultur-, Mentalitäts-, Ideen-, Philosophiegeschichte ............................................................. 120 6. Gesamtdarstellungen............................................................... 121 7. Montaigne als Philosoph......................................................... 122 8. Einzeluntersuchungen, Aufsätze, Dissertationen ............... 122 Quellen....................................................................................... 123 Sebundus-Apologie, Theologie, Religion ............................. 124 Interpretationen einzelner Kapitel ........................................ 125 9. Sprache, Stil, Metaphorik, Ästhetik....................................... 125 10. Wirkung..................................................................................... 126 Descartes, Pascal....................................................................... 126 Shakespeare............................................................................... 126 Nietzsche ................................................................................... 126 Andere ....................................................................................... 127 7 Vorwort Montaigne ist dem Verfasser dieses Buches früh begegnet und hat sich seither stets in einer gewissen Nähe gehalten, als eine vertraute, unverwechselbare, unentbehrliche Stimme. Die Gelegenheit, als Hochschullehrer Studierende an dem Austausch teilhaben zu lassen, ermöglichte Überprüfung des Dialogs, Anreicherung, Intensivierung und, so weit als angebracht, Versachlichung. Spuren der ursprünglichen Freude über das erstaunlich Vorgefundene, der Anerkennung gegenüber dem glücklich Gelungenen mochten bleiben. Nun soll mit der Veröffentlichung ein noch größerer Kreis eingeladen werden. Der Schritt erfolgt ein wenig zögernd, aber in der Hoffnung, dass vielen damit Verständigung in der menschlichen Welt, Weitung und Vertiefung ermöglicht wird, Erfreuliches also und vielleicht Hilfreiches. Die Herausgabe geschieht dank dem Entgegenkommen des Verlags zu Montaignes vierhundertfünfundsiebzigstem Geburtstag. Der flüssigen Lesbarkeit halber sind in dieser Buchausgabe alle weiterführenden Hinweise und Erläuterungen zur Forschung weggelassen. Die Anführungen in den Endnoten beschränken sich auf Stellenangaben und Originaltext sowie wörtliche Fremdzitate. Zur vertieften Beschäftigung steht der ausführliche Anmerkungs- Apparat und das vollständige systematische Literaturverzeichnis allen Interessenten in digitaler Version auf der Website des Verlages unter der Internet-Adresse http: / / www.narr.de/ artikel_3583.ahtml zur Verfügung. Der Grundtext, um auch dies vorab festzuhalten, folgt behutsam der neuen deutschen Rechtschreibung (vor allem ss anstelle von ß nach kurzem Vokal); in Zitaten bleibt jedoch die Orthographie der zitierten Ausgaben erhalten. Der Originalwortlaut ist jeweils der ersten unter Sigel angeführten Ausgabe entnommen. Verweise auf weitere Übersetzungen unterstützen das Vergleichen. Ich widme das Buch den Menschen, Frauen und Männern, jüngeren und älteren, mit denen ich über viele Semester an der Universität etwas von jener Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden erleben durfte, die kostbar ist, unersetzlich und nachgerade so 8 sehr bedroht. Der akademische Unterricht war eine unerlässliche Bedingung für das Zustandekommen der Schrift. Der Prozess des Anfertigens vollzog sich langwierig von der Skizze, dem Vortrag, über Protokoll und Ausarbeitung über etliche Stufen. Essayistisch ist es noch immer, das mehr und mehr Kondensierte, berechtigterweise hoffentlich und nicht zum Schaden. Allen Beteiligten sei von Herzen gedankt. Besonderer Dank gebührt Bernadette Malinowski und Adrian Schüller für anspornende Gespräche, für konstruktive Kritik und viele wertvolle Hinweise. Augsburg/ München, 11. Dezember 2007 Hans P eter Balmer 9 Besonnen unter Fanatikern: ein Philosoph neuen Typs Vorsicht des Fragens: Was weiß ich? „Das Wort gehört halb dem, der spricht, und halb dem, der angesprochen ist.“ 1 Ein Satz von Montaigne, ein charakteristischer, geäußert im letzten Kapitel seiner „Essais“. Er zeugt von der humanistisch-dialogischen Einstellung seines Verfassers, seiner Bereitschaft, über das Wort gemeinsame Sache zu machen, kurzum seiner Kennerschaft in Sachen condicio humana, seiner kommunikativen Kompetenz. Und auch wer immer seinerseits zu Montaigne sich äußert, wird dringend sich angewiesen wissen auf ein Gegenüber, auf teilnehmende Hörer, Leser, Gesprächspartner. So folgt man dem frühen Impuls einer Verfahrensweise, die inzwischen als hermeneutisches Denken entfaltet wird. Was somit als unverlierbare Errungenschaft umrissen sich findet, die praktische Situierung des Philosophierens als ausdrückliche Bereitschaft zum Gespräch, ist eben jenes, was - vor Beginn der szientistischen Moderne - bereits Montaignes „Essais“ vorbildlich vergegenwärtigen. Wie doch verhält es sich damit? Ein Gespräch zu führen ist eine Kunst, in mehrfacher Hinsicht. Gelingt es, „sich jeweils des Mitgehens des Partners zu versichern“, so kann in einem Geschehen des Erprobens und des Fragens gegen die scheinbare Festigkeit der Meinungen die zur Debatte stehende Sache „ins Offene gelegt“ und mit ihren Möglichkeiten „in die Schwebe gebracht“ werden. 2 Wie grundsätzlich so verhält es sich in zahllosen Einzelfragen immerfort bei dem, was Montaigne in Worte fasst: Er ist ein Wegbereiter für vieles. Einige weitere Schlaglichter sollen die Situation und den Geist des Michel de Montaigne beleuchten. Es ist die späthumanistische Epoche am Ende des 16. Jahrhunderts. Frankreich ist infolge der Reformation (‚Glaubensspaltung’) während sechsunddreißig Jahren von Religionskriegen zerrissen. Im Zeitraum zwischen 1562 bis 1598 entbrennen insgesamt acht einzelne Kriege. Sie werden zuletzt ausgetragen zwischen der katholischen Liga unter den lothringischen Herzögen von Guise auf der einen 10 Seite und den calvinistisch-protestantischen Hugenotten unter Henri de Navarre, Admiral Coligny und den Prinzen von Condé auf der anderen Seite. Die erbarmungslos fanatischen Auseinandersetzungen sind zugleich Symptome für einen Machtkampf von letztlich gesamteuropäischen Dimensionen. Hinter den feindlichen französischen Parteien standen damals einerseits die katholische Weltmacht Habsburg-Spanien unter Philipp II. samt der jesuitischen Miliz und auf der Gegenseite das protestantische England. Der Papst in Rom, Sixtus V., hat großenteils abgewartet, merkwürdig zwiespältig laviert. Es war, als ob er sich die Zerrissenheit und Schwächung Frankreichs, der ‚Ältesten Tochter der Kirche’, zunutze machen wollte, um eine weitere Machtausdehnung Philipps von Spanien aufzuhalten. Ein Ruhmesblatt ist auch das Verhalten seines unmittelbaren Vorgängers, Gregors XIII., nicht. Auf die Nachricht von dem fatalsten Ereignis der Religionskriege, der sogenannten Pariser Bluthochzeit, dem auf Betreiben der Königinmutter Katharina de Medici veranlassten heimtückischen Massaker an den vorgeblich zur Versöhnung eingeladenen adeligen protestantischen Hochzeitsgästen sowie dem unverzüglich auf Paris übergreifenden furchtbaren Gemetzel an tausenden Protestanten in der Bartholomäusnacht vom dreiundzwanzigsten auf den vierundzwanzigsten August 1572, auf „eines der scheußlichsten Verbrechen der Weltgeschichte“ 3 also, ausgedehnt im Herbst auf ganz Frankreich, reagierte Papst Gregor in Rom mitleidlos und überschwänglich parteiisch: Der Heilige Vater ließ, unter Freudenfeuer und Kanonenschüssen, das Tedeum anstimmen und sogar Gedenkmünzen ausgeben, die, auf der Rückseite seines eigenen Portraits um das Bild des himmlischen Heerführers, des Erzengels Michael, hoch offiziell in Majuskeln die Inschrift führten UGONOTTORUM STRAGES (Niedermetzelung der Hugenotten). In einem Brief bedeutete der Summus Pontifex dem Rex Christianissimus, der römische Papst dem König von Frankreich, „dies Ereignis sei ihm hundertmal angenehmer zu hören gewesen als fünfzig solcher Siege wie bei Lepanto gegen die Türken“. 4 Gegenüber einer auch in vielen übrigen ihrer Züge grausamen, mörderisch-fanatischen Zeit hebt Montaigne sich ab. Er macht die wundersame Ausnahme eines Besonnenen, eines, um es mit Voltaire zu formulieren, „der wissend war in einem Jahrhundert der 11 Unwissenheit, Philosoph unter Fanatikern“. 5 Da war also ein Einzelner, ein Hochgestellter am Beginn der modernen Welt, vergleichbar allenfalls Erasmus und dem Kanzler Michel de L’Hôpital, der zurücktrat aus dem Parteiengezänk, aus Hass und Krieg. Er ließ es sich stattdessen angelegen sein, die Lage zu überdenken, im Einzelnen und im Grundsätzlichen. So gelangte er zu Einsichten, die heute, da die Moderne in die Krise gelangt und statt friedlich spielerischer Toleranz schrecklicherweise erneut Polarisierung und Fanatisierung an der Tagesordnung sind, erst recht interessieren müssen. Die intellektuelle Welt hatte seinerzeit bekanntlich kaum auf Montaigne gehört, sondern auf den, der alsbald sich auf seine Schultern stellen sollte: der rationalistische Denker René Descartes. Mittlerweile, unter den Auspizien der sich zu Ende neigenden neuzeitlichen Epoche, erheben sich Stimmen, die den Cartesianismus und also die mechanistisch-technologische Selbst- und Weltauffassung beinahe als ein Verhängnis betrachten. Angesichts der dualistischen Hinterlassenschaft nimmt sich Montaigne als Integralist und Humanist aus, und als Skeptiker, als einer mithin, der sich nicht restlos und triumphierend dem einen, more geometrico (‚auf geometrische Weise’) abgeleiteten, apodiktischen Wissen zu überlassen vermag. Anhand des wichtigsten Vertreters der Skepsis im 16. Jahrhundert ist grundsätzlich nach der Tragweite der Skepsis in der Neuzeit zu fragen. Es zeigt sich, dass ihre urteilsenthaltende, differenzierende Sicht und ihre Mäßigung als Gegenkraft gegen jeglichen Fanatismus wirksam werden, den mörderischen Wahn, um einer vermeintlich unverrückbaren Wahrheit willen Scheiterhaufen zu errichten, erst Bücher, dann Menschen zu verbrennen, überhaupt Blut zu vergießen und die Welt ins Verderben zu führen. Anders als Descartes setzt er nicht triumphierend ein über alle Zweifel erhabenes konsistentes ego cogitans ins Zentrum. Ungleich vorsichtiger als der Denker des methodischen Zweifelns, bleibt er unbeirrt bei nichts Gewichtigerem als bloß der Frage Que sais-je? Kein auftrumpfendes ‚Ich denke, Ich existiere’, sondern lediglich die vorsichtige Frage ‚Was weiß ich? ’. Die Subjektivität ist demzufolge etwas höchst Gebrochenes und Ungewisses, und so auch nichts schlechthin Tyrannisches und gar Hassenswertes. Dass er 12 den Mut aufbringt, dies zu bezeugen vor der verhärteten Welt, das ist seine denkwürdige Leistung. Um dies Frappierende mit einer weiteren Sentenz zu beleuchten, ist Folgendes zu erwägen: „Die Frauen haben gar nicht so unrecht, wenn sie die in die Gesellschaft eingeführten Sittengesetze ablehnen - sind sie doch von den Männern ohne ihre Mitwirkung festgelegt worden.“ 6 Das ist eine Äußerung nicht aus der modernen Frauenbefreiungsbewegung. Das hat ein Mann niedergeschrieben, vor über vierhundert Jahren, dank außergewöhnlicher Bedachtsamkeit. Es macht erstaunen, wie Montaigne in seiner intellektuellen Unabhängigkeit (so wie später in der Aufklärung Voltaire) immerfort zum Fürsprecher jener wird, die irgendwie ins Abseits geraten sind: die Andersartigen, die Fremden, die Kinder, die ‚Wilden’, die ‚Monstren’, die ‚Hexen’, die Juden, die ‚Ketzer’, die Verirrten und Versprengten jedweder Couleur. Von allem Menschlichen fasziniert, offen und empfänglich dafür wie wenige, gelangt Montaigne dazu, unvoreingenommen die Menschenwürde so weit zu fassen, dass sie verlässlich alle umgreift. Und mehr noch! Montaigne ist nicht nur Humanist in dem Sinne, dass ihm nichts Menschliches fremd sein darf, sondern sein Mitgefühl erstreckt sich darüber hinaus auf die gesamte natürliche Welt und im Besonderen auf die tierlichen Mitkreaturen. Und in diesem Zusammenhang nun ein dritter Satz: „Wenn ich mit meiner Katze spiele - wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir? “ 7 Auch dies ist nicht nur witziger Einfall und satirische Bemerkung, sondern ein skeptisches Argument, das die menschliche Arroganz mäßigen und eindämmen soll. Demnach stehen wir Menschen weder über noch unter dem Sonstigen in der Welt. 8 Allein der Wechsel der Optik, die bewusst geübte, artistische Perspektivik, sind befreiend, selbst wenn sie nur als Experiment, als Versuch, als Essai vorgenommen würden! Und ein letzter Satz sei vorangestellt, einer, der sich ein bisschen drastisch ausnimmt. Auch das ist Montaigne manchmal: kynisch im Sinne jener anderen aus der Antike überkommenen popularphilosophischen Tradition, die sich nicht blenden lässt von den Vorurteilen und dem, was landläufig gilt. In kynisch-satirischem Zusammenhang also ist es gesagt, wenn Montaigne in einem der letzten Sätze der „Essais“ schreibt: „Selbst auf dem höchsten Thron 13 der Welt sitzen wir nur auf unserm Arsch.“ 9 In einer der Übersetzungen ins Deutsche, die zur Verfügung stehen, jener von Johann Daniel Tietz aus dem 18. Jahrhundert, liest es sich wie folgt: „Wir sitzen auch auf dem erhabensten Throne von der Welt doch, mit Ehren zu vermelden, auf unserem Steise“. 10 Das ist prüde, betulich, zopfig. Formuliert in einer Sprache, die nachgerade anachronistisch ist, weder die Montaignes, noch die unsrige. Montaigne selbst verwendet keine Kautelen, er äußert sich unumwunden, gelegentlich sogar krass, besonders hinsichtlich dessen, was mit den Körperfunktionen und den erotischen Erfahrungen zu tun hat. Das macht nicht zuletzt die Größe der „Essais“ aus, dass darin der ganze Mensch umfasst ist, und ziemlich vorurteilslos - gemäß der kynischen Devise ‚Natürliches ist nicht schändlich’ (naturalia non sunt turpia) - in einer Unbefangenheit, wie sie danach, von wenigen Ausnahmen wie etwa Shakespeare, Lichtenberg und Goethe abgesehen, für Jahrhunderte abhanden kam. 14 Humanistische Kontextualität als maßgebliche Protomoderne Wie Montaigne lesen? Kaum systematisch, nicht linear von A bis Z. Die „Essais“ sind auch keineswegs von der ersten bis zur letzten Seite zügig niedergeschrieben worden. Die Entstehungsgeschichte des Textes erstreckt sich über zwei Jahrzehnte, die siebziger und achtziger Jahre des 16. Jahrhunderts, die beiden letzten der sechs Lebensjahrzehnte, die dem Autor gegeben waren. Er selbst entwickelt sich, mehr noch, konstituiert sich in dem Prozess des Schreibens. So sehr, dass er, in Verwunderung über die wechselseitige Verlaufsform der schriftstellerischen Existenz, ausrufen kann: „Ich habe mein Buch nicht mehr gemacht als mein Buch mich gemacht hat.“ 11 Montaigne operiert anfänglich mit einer recht äußerlichen Methode der Montage von loci communes, der Kompilation von Topoi der klassischen Literatur. Er macht sich im Fortgang zusehends frei von derartig konventionell-humanistischer ars inveniendi, um zu sich selbst zu kommen, zur peinture de moi und in der Selbstschilderung schließlich zur Beschreibung der condition humaine, der Umstände und Maßgaben des Menschseins überhaupt. Zwar entwickelt er weder eine systematische Anthropologie noch gar eine Ontologie, und er verfasst auch nicht eine Autobiographie, noch einen Roman oder sonst ein Stück fiktionale Literatur. Es geht ihm vielmehr in stetig zunehmender Reflexivität darum, zu entdecken und zu erproben, was es auf sich habe mit der menschlichen Situation, innerhalb derer aller Handel und Wandel, alles Sprechen und Denken sich entfaltet. Die Ermittlung, Überprüfung und Veranschaulichung der condicio humana, das ist das Charakteristische und Bedeutsame, welches sein essayistisches Verfahren zu einem spezifisch moralistischen Denken, zur unverwechselbaren und unersetzlichen Leistung eines Künstlerphilosophen macht. Im Bestreben, die Selbstvermittlung und die Vermittlung an die anderen über Literatur zustande zu bringen, redigiert, korrigiert und erweitert er den unter den Händen ihm entstehenden Text unablässig. In allen kritischen Ausgaben werden drei redaktionelle Schichten unterschieden: Der Buchstabe A steht für die erste Auflage, erschienen in Bordeaux im Jahr 1580, enthaltend das Erste und das Zweite Buch. Der Buchstabe B markiert die zweite Aufla- 15 ge, Paris 1588: Buch Eins und Zwei, vermehrt um etwa sechshundert Zusätze, und, neu hinzugefügt, Buch Drei. Der Buchstabe C schließlich bezieht sich auf den Text der posthumen dritten Auflage, Paris 1595, nämlich Buch I-III, angewachsen um etwa ein Drittel infolge beinahe eintausend neuerlicher Einfügungen. Diese drei Jahre nach Montaignes Tod herausgegebene dritte Auflage ist aber längst ersetzt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man anhand jenes Exemplars der zweiten Auflage von 1588, das Montaigne in seinen letzten Lebensjahren als Handexemplar gedient und worin er bis zu seinem Tod eigenhändig Korrekturen und Ergänzungen eingetragen hatte, des sogenannten „Exemplaire de Bordeaux“, eine kritische Ausgabe erstellt. Nachgerade ist dies die in wissenschaftlichem Gebrauch verbindliche Textausgabe: die sogenannte „Édition Municipale“. Die Lektüre, die Montaignes innerliche Entwicklung, die Veränderung seines Denkens mitvollziehen will, hat also analytisch-kritisch und, auch rein sprachlich gesehen, recht voraussetzungsreich zu geschehen. Als ein südwestfranzösischer Autor einer Zeit, die noch keine Sprachnormierung durch eine Académie Française kannte, schreibt Montaigne ein perigordinisch und mehr noch gascognisch geprägtes Mittelfranzösisch, einen Typ der langue d’oc, kraftvoll und treffend, seinem eigenen Bekunden nach jedoch nicht ganz so fein wie die langue d’oil der nördlicher (um Paris) gelegenen Île de France. Vielfach bildet noch dazu Latein den Untergrund, nicht nur in Form der mehr als eintausenddreihundert Zitate lateinischer Philosophen und Literaten. Es stehen drei deutsche Gesamtübersetzungen, zwei veraltete und eine neue zur Verfügung. Mitte des 18. Jahrhunderts erschien die Ausgabe von Johann Daniel Tietz. Es ist eine durchaus beachtliche Übertragung der damals repräsentativen französischen Montaigne-Ausgabe von Pierre Coste. Zum Ende desselben Aufklärungs-Jahrhunderts folgte als zweite deutsche Gesamtübertragung die von Johann Joachim Bode. Sie ist 1908 durch Otto Flake und Wilhelm Weigand neu vorgelegt worden, 1915 in zweiter Auflage. Die bedeutendere Tietz-Übertragung, die unter anderem Nietzsche benutzt hatte, und zwar als ein Geschenk des Ehepaars Richard und Cosima Wagner zu Weihnachten 1870, ist erst wieder im Jahr 1992, zu Montaignes vierhundertstem Todestag, neu aufgelegt worden. Beide Übertragungen sind allerdings in jeder Hinsicht 16 überholt. War also bis vor kurzem zu beklagen, dass eine literarisch adäquate, ungekürzte Montaigne-Übertragung in zeitgenössischem Deutsch fehlte, so hat sich das glücklicherweise nunmehr geändert. Seit September 1998 ist die von Hans Stilett in zehn Arbeitsjahren angefertigte Übersetzung verfügbar. Sie liegt in wertvoller bibliophiler Aufmachung als Foliant, als überragender Quartband in Hans Magnus Enzensbergers ‚Anderer Bibliothek’ sowie praktischerweise auch als dreibändige Taschenbuchausgabe vor. (Diese ist mit der Originalausgabe allerdings nicht seitenidentisch und in der Übersetzung bereits stellenweise revidiert.) Endlich „Essais“ in flüssigem Deutsch! Jedes Hindernis der Lektüre ist weggeräumt: keine Textstufenmarkierung, keine fremdsprachlichen Zitate, diese sind vielmehr weitgehend in deutschen Reimen wiedergegeben. Zugang zu dem Humanisten Montaigne (und über ihn zu den studia humanitatis überhaupt) wird hoffentlich der ergänzende Kommentar- und Materialband schaffen. Montaigne also ein französischer Autor des 16. Jahrhunderts. Kann man, soll man sich heute darauf einlassen? Denkend, denkerisch gar? Auf einen, wohlgemerkt, der sich als etwas noch nie Dagewesenes ankündigt: „Neue Erscheinung: ein Philosoph ohne Vorbedacht und Plan! “ 12 Die Antwort der Philosophen war lange Zeit hindurch: nein. Schon Descartes und Pascal, für die beide die Würde des Menschen, dessen Wesenskern und Daseinsgewissheit, ganz und gar im Denken besteht, haben nein gesagt. Und noch Kant, bei dem die neuzeitliche transzendentalphilosophische Option aufs gründlichste entfaltet wird, bietet Kategorien autonomer Rationalität und Systematik auf, vor denen alles Empirische und Nichtsystematische als bloß rhapsodisches Daherreden aus dem Bezirk strenger Philosophie verbannt bleiben muss. Die strikte Moral ungebrochener Aufklärung gelangt bekanntlich dahin, kategorisch zu fordern: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“ 13 Mit Kants Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft sollte gewährleistet sein, dass „die empirisch bedingte Vernunft“ von der Anmaßung abgehalten wird, „ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen.“ 14 Jedwede Maxime für sich erreicht nach dem Königsberger Denker nicht den Status der Gesetzlichkeit und Moralität, weil sie, wie er 17 findet, fälschlich die Vernunft „den Bedingungen des Subjekts gemäß“ bestimmt. Angebracht ist für den Moralphilosophen demgegenüber das Gesetz als das objektive Prinzip, gültig nicht nur für einzelne Individuen und nicht bloß umrisshaft-typisch, noch lediglich deliberativ-konsiliatorisch, sondern strikt, kategorisch, unbedingt verbindlich „für jedes vernünftige Wesen“ als „der Grundsatz, nach dem es handeln soll.“ 15 Wenn Kant also ausdrücklich einen in diesem Sinne „kritischen Moralisten“ 16 fordert, den kompromisslosen Philosophen der reinen praktischen Vernunft, so bleibt andererseits, auf einer pragmatischen Ebene der empirisch bedingten Vernunft mit ihren Maximen als Regeln des gesunden Menschenverstandes und als lediglich hypothetischen Imperativen, dennoch deren Anteil an der Lebensgestaltung, an der Bestimmung des Willens eingeräumt. Es ist dies umso beachtlicher, als das mindestens seit Plato herkömmliche, protophilosophische Verdikt, die Zurücksetzung nämlich und sogar Ausgrenzung alles bloß Meinungshaften, Literarischen, Rhetorischen, sich bei Hegel nochmals weitgehend wiederholt. Essayistische Schriften wie die von Montaigne zählen demnach lediglich „zum gesunden Menschenverstand.“ 17 Mit „Gedankenblitzen“ 18 solcher Art sei immer die Berufung auf das Gefühl als ein „inwendiges Orakel“ 19 verbunden, so dass eine rationale Auseinandersetzung nicht statthaben könne. Davon kann allerdings bei Montaigne schwerlich die Rede sein. In Wirklichkeit geschieht die Mitteilung durch reflektiertes Empfinden, das in Wort und Begriff sich artikuliert. Kollateral und in indirekter Weise wird so höchst wirksam auf die Übereinkunft mit andern gedrungen. In linearer Dialektik und systematischer direkter Mitteilung hingegen bleiben die emotionalen und voluntativen Seiten unberücksichtigt. Und mit erstrebter „Gemeinsamkeit der Bewusstseine“ (so Hegel) allein ist ganzheitlich erlebbare Einheit kaum zu erzielen. Eine Wende tritt mit Nietzsche ein. Er stellt Montaigne und die ihm folgenden französischen Moralisten über den Idealismus der kanonischen (metaphysisch-platonischen) Philosophie. Sie scheinen ihm (wie das vormalige, alsbald verdrängte Denken im tragischen Zeitalter) redlicher, gedanklich fruchtbarer, menschlich bedeutsamer. Er konnte mit dieser Hochschätzung zum Teil Schopenhauer fortführen. Von vielleicht noch breiterer Wirkung in der 18 akademischen Philosophie war aber wohl Diltheys Toleranz gegenüber dem, was er als ‚Philosophie des Lebens’ zur Geltung zu bringen verstand. Zusammengenommen mit dem angelsächsischen Pragmatismus (Peirce) und der ‚Common sense’- Philosophie (Moore), beschleunigt schließlich durch den zutiefst skeptischen und in der Form überwiegend aphoristischen Wittgenstein, wuchs mehr und mehr das Verständnis für das, was als humanistisch-literarische Wahrheits- und Weisheitssuche vom Mainstream des cartesianisch-transzendentalphilosophischen Ideals methodisch exakter Begründung und logisch-deduktiver Systematik links liegen gelassen worden war. Neuerdings ist nun förmlich eine Empfehlungs- und Werbeschrift für Montaigne erschienen, verfasst von dem angloamerikanischen Wissenschafts- und Moralphilosophen Stephen Toulmin, einem Schüler Wittgensteins. 20 In seiner Einschätzung der gegenwärtigen Krise der (von Descartes herstammenden) neueren Philosophie gewinnt Montaigne überragende Bedeutung. Sarkastisch bemerkt er sogar, es würden wohl nur wenige ihre „ewige Wohnung“ statt „auf derselben Wolke wie Shakespeare, Rabelais und Montaigne“ lieber auf jener von Descartes und Newton nehmen wollen, den zwar „exakt denkenden, aber seelisch trüberen Genies des 17. Jahrhunderts“, wie er findet. 21 Das ist denn doch verblüffend, dass mittlerweile die Vertreter der Wissenschaften zwar nach wie vor als die exakten angeführt werden, die klaren, distinkten; zugleich aber, und das ist neu, als die im humanen Sinn defizitären. Wissenschaftliche Rationalität, angemessen kontextualisiert, ist mithin nicht rein formal-logisch, sondern stets auch von materialen und funktionalen Aspekten her zu fassen. Mit anderen Worten: Rhetorik und Topik, die menschlichen Disziplinen sind zu Unrecht verleumdet, die praktische Philosophie ebenso zu Unrecht außer Kurs gesetzt gewesen. Unumwunden und uneingeschränkt, als gälten keinerlei übergeordnete Kriterien, heißt es stattdessen: „Die Tatsachen der Wissenschaft und Philosophie des 20. Jahrhunderts beruhen auf der aristotelischen Phronesis oder praktischen Weisheit.“ 22 Phronesis, das ist bekanntlich für Aristoteles eine Tugend. Und zwar die mittlere unter den fünf dianoetischen, das heißt oberen, rationalen, kognitiven Tugenden: nach wissenschaftlicher Er- 19 kenntnis (epist m ), technischem Hervorbringen (téchn ) sodann und vor intuitivem Verstand (noûs) und darüber hinaus Weisheit (sophía) rundweg das Herzstück oder aber, mit einem anderen Bild, das Zünglein an der Waage zwischen einerseits wissenschaftlichtechnischen und andererseits intuitiv-sapientialen Wissensformen. Dinge der Praxis, die Angelegenheiten der Phronesis lassen sich demnach stets nur im Ungefähren sichtbar machen. Die Zeichnung des Umrisses, die Orientierung am Typischen und also Nicht- Exakten, ist der richtige Weg, um eine relative Klärung dessen, was jeweils sich zeigt, zu erreichen. Es wird daher das Gute, das in der Praxis als dem gelingenden Lebensvollzug liegt, nicht in der Weise theoretischer Vernunft erfasst und befördert, sondern in einer Reflexion, die der Praxis selbst angehört. Die Neuzeit war demgegenüber einem Ideal der Theorie verschworen. Seit dem 17. Jahrhundert lag das Leitbild in der platonischen Forderung nach Episteme, das heißt theoretischer Erfassung in Gestalt begreifender Wissenschaften und einer sie grundlegenden gleichfalls nach dem Bild der Wissenschaft ausgerichteten Philosophie. Gesucht war das Allgemeine, das Gedankliche. Dieses galt als das Wahre, nicht das Singuläre, Konkrete, Individuelle. Zur ausschlaggebenden kulturellen Größe in der Moderne vermochten die Wissenschaften aufzurücken, weil da in umfassender Weise das begriffliche Wissen systematisch aufzubereiten und insofern Gewissheit und Sicherheit zu erwarten war. Statt Stabilität und Strenge solcher Art ist aber schließlich doch wiederum Flexibilität vonnöten. Die Fähigkeit des Anpassens an die Erfordernisse der jeweiligen Situationen wird geradezu überlebenswichtig. Es ist dies, gemäß Toulmins ‚New Philosophy of Science’, ein Paradigmenwechsel, im Verständnis des wissenschaftlichen Wissens zunächst, sodann aber auch in den Bereichen der Politik, der Gesellschaft, der Wirtschaft, Literatur und Kunst. In der Beschreibung und Analyse der jüngsten Vorgänge zeigt sich überraschenderweise, dass die Epoche der Moderne im Zeichen theoriezentrierter Wissenschaftlichkeit sozusagen eingeklammert wird. Denn das, was ansteht, behelfsmäßig Postmoderne genannt, gibt sich zugleich als etwas zu erkennen, was als Prämoderne bereits einmal angeklungen und zu Wort gekommen, dann aber, aus politischen Notwendigkeiten, ungenutzt hintangesetzt worden war: humanisti- 20 sche Weisheit nämlich samt der ihr eigenen kosmopolitischen Weite und Toleranz. Sie verkörpert für Toulmin die maßgebliche Protomoderne. Vor ihr nimmt sich der Cartesianismus als etwas Nachrangiges aus, als eine Art Gegenrenaissance. Das epochemarkierende Symbol für die Wende zum Rationalismus des 17. Jahrhunderts ist Toulmins Einschätzung zufolge die Ermordung König Heinrichs IV. von Frankreich durch den Fanatiker Ravaillac in Paris am 14. Mai 1610. Der kluge, noble und volkstümliche Monarch, der zunächst als Heinrich von Navarra das protestantische Lager angeführt, dann aber - Paris vaut bien une messe, ‚Paris ist eine Messe wert’ - zum Katholizismus konvertiert hatte, dieser erste Bourbone auf dem Thron hatte nach sechsunddreißig Jahren der Religions- und Bürgerkriege 1598 in der Kathedrale zu Nantes ein Toleranzedikt unterzeichnet und feierlich erlassen, das ein friedliches Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in einem geeinten modernen Frankreich garantieren sollte. Diesen schönen Hoffnungen machte seine Erdolchung ein jähes Ende. Toulmin bewertet die gewaltsame Beseitigung Heinrichs IV. als „den Zusammenbruch eines kosmopolitischen Systems, das bisher vieles vom Besten im Leben und Denken Europas getragen hatte.“ 23 In der Folge zerfielen überall in Frankreich und ganz Europa die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse. Es begann die verheerende Epoche des Dreißigjährigen Krieges. So scheint es erklärlich, warum die Suche nach Gewißheit seit etwa 1630 so großen Anklang fand. Die Schwerpunktverschiebung in der Philosophie vom Praktischen zum ausschließlich Theoretischen - wonach statt lokaler, besonderer, zeitgebundener und mündlicher Fragen globale, allgemeingültige, zeitlose und schriftliche in den Mittelpunkt rückten - war keine Marotte von Descartes. Alle Vertreter der modernen Philosophie förderten die Theorie, werteten die Praxis ab und betonten sämtlich das Bedürfnis nach klaren, deutlichen und sicheren Grundlagen der Erkenntnis. 24 Die Hauptthese des Wissenschaftshistorikers Toulmin lautet demnach, dass das moderne Streben nach Gewissheit nichts Autonomes ist, sondern in Wirklichkeit „eine zeitgebundene Antwort auf eine bestimmte historische Herausforderung - auf das politische, gesellschaftliche und theologische Chaos, das sich im Dreißigjährigen Krieg niederschlug“. 25 Die Folge war eine Abkehr von der 21 „freundlichen Vernünftigkeit“ der Protomoderne und ein neues verbissenes Bemühen um die „Beweisbarkeit der menschlichen Erkenntnis in Formen, die nur den Dogmatismus der Religionskriege fortsetzten.“ 26 1685 war es konsequenterweise denn auch soweit, dass Ludwig XIV. in Fontainebleau das Religionsedikt seines Großvaters Heinrich IV. in aller Form widerrief und, zum krönenden Abschluss einer langen Periode gewaltsamer Gegenreformation, Frankreich als wiederum einheitlich katholisches und absolut monarchistisches Land resakralisierte. Mit dem Revokationsedikt war geradezu eine Massenemigration verbunden: die Verbannung sämtlicher protestantischer Pastoren und die Vertreibung von zweibis dreihunderttausend großenteils beruflich hochqualifizierter Hugenotten aus Frankreich. Montaigne hingegen hatte ein ganz und gar anderes Konzept verfolgt. 22 Woraus das Werk erwächst: Ereignisse des Lebens Michel de Montaigne lebte von 1533 bis 1592. Sein Erwachsenendasein fiel also in die zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts und trug sich vorwiegend auf Montaigne zu, fünfzig Kilometer östlich der Hafenstadt Bordeaux, im Tal der Dordogne. Dort jedenfalls ist er geboren, dort ist er gestorben und dort hat er jenes einzige Werk verfasst, womit er Eingang fand ins menschheitlichuniversale Schrifttum: die „Essais“. Gut und Schloss Montaigne hatte, reich geworden durch Handel mit Lebensmitteln, der Urgroßvater von den Erzbischöfen von Bordeaux erworben. So war die Grundlage geschaffen für den endgültigen Aufstieg der bürgerlichen Familie Eyquem in den Adelsstand. Michels Vater, Pierre Eyquem, hatte mit der Kaufmannstradition der Familie gebrochen, war Soldat geworden, hatte als Offizier König Franz I. in den italienischen Kriegen gedient. Aus Italien hatte er Eindrücke der Renaissance mitgebracht, so auch die Idee, seinen Sohn Michel nicht mit Französisch, vielmehr mit Latein als Umgangssprache aufwachsen zu lassen. 27 Dem Vater hat Montaigne denn auch immer eine ungewöhnliche Liebe und Anhänglichkeit bezeugt. Die Mutter hingegen (die den Sohn auf Montaigne überleben sollte), wird nie namentlich erwähnt. Vielleicht, weil sie Protestantin war oder wegen ihrer Abstammung aus dem iberischen Judentum. Montaigne besuchte das humanistische Gymnasium, das Collège de Guyenne in Bordeaux. Das Studium der Rechte, anfänglich wohl auch der Philosophie, in Bordeaux und Toulouse schloss er vermutlich als licentiatus iuris ab, als graduierter Jurist. Einundzwanzigjährig, als der Vater Bürgermeister von Bordeaux wird, übernimmt der Sohn das durch den Vater gekaufte Amt eines Parlamentsrats, zuerst in Périgueux, dann in Bordeaux. Mit dieser Funktion sind Dienstreisen an den Königshof verbunden. 28 Für eineinhalb Jahre lebt der junge Ratsherr in Paris. Das erste bedeutende, sogar das allüberragende Ereignis in Montaignes Leben ist - eine Todeserfahrung. Als Fünfundzwanzigjähriger hatte er mit dem Parlamentskollegen Étienne de la Boétie, einem um drei Jahre älteren Autor, den er bereits aus dessen Schriften schätzen gelernt hatte, eine Freundschaft geschlossen, die er selbst als die leidenschaftliche Erfahrung seines Lebens an- 23 sieht. Schon im Ersten Buch der „Essais“ spricht er hymnischüberschwenglich von dieser „höchsten Freundschaft“. 29 Er stilisiert das Erlebte im Rahmen der antiken Freundschaftsethik. Und er greift voraus in romantische Gefilde, wenn er als Erklärung und Begründung für das Zustandekommen und Bestehen dieser einzigartigen Beziehung zunächst gar nichts, nach langem Nachdenken (in der dritten Auflage) noch immer nichts weiter anzuführen weiß als die Formel: „Weil er er war, weil ich ich war.“ 30 Nebenbei bemerkt: Es handelt sich hierbei der Form nach um ein Isokolon, einen Parallelismus membrorum sozusagen, eine symmetrische Stilfigur, die ein paar Zeilen weiter in emphatischer Erweiterung bekräftigt wird. Im Kontext nimmt sich dies (verdeutlichend kursiviert) wie folgt aus: Zu nichts scheint die Natur den Menschen mehr bestimmt zu haben denn zu einem gesellschaftlichen Wesen. Aristoteles sagt, die guten Gesetzgeber hätten sogar in höherem Maße als für die Gerechtigkeit für den Schutz der Freundschaft Sorge getragen, und wirklich bildet sie die Krönung der Gesellschaft. Alle jene menschlichen Beziehungen nämlich, die aus geschlechtlichem Bedürfnis oder Gewinnstreben, aus öffentlicher oder persönlicher Notwendigkeit entstehn und gepflegt werden, sind um so weniger schön und edel und daher um so weniger wahre Freundschaften, als sich hier andere Gründe, Zwecke und Erwartungen beimischen. 31 Bei dem, was wir gewöhnlich Freunde und Freundschaft nennen, handelt es sich allenfalls um nähere Bekanntschaften, die bei gewissen Anlässen oder um irgendeines Vorteils willen geknüpft wurden und uns nur insoweit verbinden. Bei der Freundschaft hingegen, von der ich spreche, verschmelzen zwei Seelen und gehen derart ineinander auf, daß sie sogar die Naht nicht mehr finden, die sie einte. Wenn man in mich dringt zu sagen, warum ich Étienne de la Boétie liebte, fühle ich, daß nur eine Antwort dies ausdrücken kann: ‚Weil er er war, weil ich ich war.’ Was immer ich über die Freundschaft im allgemeinen und über die unsere insbesondere sagen mag: Hier war es eine auf mir unerklärliche Weise eingreifende Schicksalsmacht, die diesen Bund gestiftet hat. Wir suchten uns, noch ehe wir uns gesehen hatten, aufmerksam gemacht durch Berichte, die jeder über den andern vernahm und die in uns sofort eine stärkere Zuneigung auslösten, als man von dergleichen Hörensagen hätte erwarten können - ich glaube gar, durch eine Fügung des Himmels. Wir umarmten uns schon in unsren Namen. Bei der 24 ersten Begegnung, die zufällig auf einer großen städtischen Feier und Geselligkeit erfolgte, fühlten wir uns so zueinander hingezogen, ja so miteinander bekannt und verbunden, daß wir von Stund an ein Herz und eine Seele waren. Er schrieb darüber ein hervorragendes lateinisches Gedicht, das inzwischen veröffentlicht ist und worin er das Ungestüm unserer wechselseitigen Zuneigung erklärt und entschuldigt, die derart rasch zur Vollkommenheit gedieh. Da sie nur von so kurzer Dauer sein sollte und so spät begonnen hatte - waren wir doch damals beide schon gestandene Männer, er sogar einige Jahre älter als ich -, durfte sie keine Zeit darauf verschwenden, sich nach dem Muster der lauen landläufigen Freundschaften zu entwickeln, die einen langen und behutsamen vorherigen Umgang miteinander erfordern. Die unsere hatte kein andres Vorbild als sich selber, nur an sich selber ließ sie sich messen. Es war nicht ein bestimmter Beweggrund, auch nicht zwei, nicht drei, nicht vier und nicht tausend, sondern was weiß ich welche Quintessenz aus allem, die meinen ganzen Willen ergriff und mitriß, um sich in seinen zu versenken und darin zu verlieren; die seinen ganzen Willen ergriff und mitriß, um sich in meinen zu versenken und darin zu verlieren: mit gleichem Wetteifer, mit gleichem Hunger. Ich sage verlieren, denn wir behielten wahrhaftig nichts, was uns noch gehört hätte, nichts, was entweder sein oder mein gewesen wäre. 32 Étienne de La Boétie, Jurist, Politiker, Kenner und Übersetzer antiker griechischer Texte, mit einer Vorliebe für die Stoiker, hatte nicht nur Sonette verfasst, sondern vor allem eine visionäre politische Kampfschrift „Von der freiwilligen Knechtschaft“. 33 Der kühne, von mitreißender Rhetorik getragene Text war möglicherweise veranlasst durch die Aufstände in der Guyenne gegen die Salzsteuer (la gabelle) und deren blutige Niederschlagung durch Heinrich II. Unter der antiken wie mittelalterlichen Idee des freiwilligen Dienens entlarvt La Boétie jene knechtische Gesinnung in den Menschen, die auf Freiheit, Freundschaft und Volkssouveränität Verzicht leistet und lieber einem selbstsüchtigen Tyrannen untertan sein will. Leidenschaftlich werden gegen Servilität und Dummheit Maximen des Naturrechts in Erinnerung gerufen. Demonstriert wird, wie ein Ich von gesundem Menschenverstand und Klarsicht sich an die verblendeten, korrumpierten Zeitgenossen zu wenden versteht, um sie zur Solidarität eines nicht resignierenden Wir aufzurufen. Ansätze einer sozialethisch-politischen 25 Anthropologie werden entfaltet, welche die Mechanismen der Gewalt bloßstellen und hierarchisch-autoritäre Gesellschaftsformen als unvereinbar mit der Freiheit und Würde des Menschen kenntlich machen. Der ‚heilige Name der Freundschaft’ bleibt im Rahmen dieses Traktats zur politischen Psychologie übrigens reserviert für ein Gut, das niemals einem Tyrannen zuteil wird. Im Jahre 1563 jedoch stirbt Étienne. Montaigne berichtet über das Erlebnis dieses Sterbens in einem ausführlichen, sorgfältig stilisierten Brief an den Vater 34 und bezieht daraus ohne Zweifel eines der zentralen Motive für das Schreiben der „Essais“: das Gedenken an den verstorbenen Freund, die Fortführung und Ersetzung des freundschaftlichen Dialogs und die alles durchziehende Todesthematik. Ursprünglich trug sich Montaigne sogar mit dem Gedanken, den „Essais“ ein Zentrum zu geben, indem er in der Mitte von Buch Eins das Hauptwerk seines Freundes, den „Discours de la servitude volontaire“ unterbrächte. Das hat er - bedeutsam auch dies - denn doch nicht getan. Er hat immerhin dem Kapitel über die Freundschaft ein weiteres angefügt, welches die neunundzwanzig Sonette La Boéties wiedergibt. 35 Und er hat darüber hinaus aus dem Nachlass des Freundes einiges, versehen mit eigenen Widmungen, in Paris publiziert und obendrein an hoher Stelle brieflich um Lektüre und Verbreitung geworben. Zur Ablenkung, wie er meint, beschließt Montaigne sich zu verlieben und heiratet, auf Wunsch zudem seines Vaters, Françoise de la Chassaigne, die Tochter und Schwester von Kollegen im Rat zu Bordeaux. Die einundzwanzigjährige junge Frau brachte ein beträchtliches Vermögen in die Ehe ein. Im Lauf der Jahre gebar sie sechs Töchter, von denen allerdings nur eine, Léonor, über das Säuglingsalter hinaus am Leben blieb. Bald, 1568, stirbt auch der Vater, Pierre Eyquem. Als ältester von sechs überlebenden Brüdern und drei Schwestern wird Michel Eigentümer und Herr auf dem angestammten Familiensitz. Er nennt sich fortan - als erster und letzter seines Geschlechts - stolz Michel Seigneur de Montaigne. Vollends wird er nun zum Schriftsteller. Mit einer Übersetzung zunächst, besorgt in Pietät gegenüber dem Vater. 1569 publiziert er die „Théologie Naturelle“, eine umfangreiche Schrift des Katalanen Raimundo Sibiuda, die er, wie gesagt, auf ausdrücklichen Wunsch seines Vaters aus dem Lateinischen ins Französische über- 26 tragen hatte. 1570/ 71 tritt das ein, was man als Lebenswende bezeichnen muss. Der Achtunddreißigjährige verkauft sein politisches Amt, gibt seine öffentlichen Funktionen (zunächst) auf und zieht sich - auch aus dem Umgang mit Freunden und Frauen - zu den Büchern in einem Eckturm seines Anwesens zurück. (c) Die Bibliothek liegt im zweiten Stockwerk eines Turms. Das Erdgeschoß wird von meiner Kapelle eingenommen, das erste Stockwerk besteht aus einem Schlafgemach mit Nebenraum, wo ich mich oft hinlege, um allein zu sein; und darüber nun befindet sich die Bibliothek, die früher als große Kleider- und Wäschekammer diente und der unnützeste Raum meines Hauses war. Hier verbringe ich die meisten Tage meines Lebens und die meisten Stunden der Tage. Nachts halte ich mich nie dort auf. (...) Jeder Ort der Zurückgezogenheit braucht einen Wandelgang. Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze; mein Geist rührt sich nicht, wenn meine Beine ihn nicht bewegen - wie es allen ergeht, die ohne Buch studieren. Die Form der Bibliothek ist rund (außer einem graden Stück Wand, das für Tisch und Stuhl so eben ausreicht). Daher läßt sie mich mit einem Blick alle meine in fünf Reihen übereinander aufgestellten Bücher sehn. (...) Hier also bin ich ganz zu Hause, hier suche ich ganz mein eigener Herr zu sein und diesen einzigen Winkel sowohl der ehelichen und töchterlichen als auch der gesellschaftlichen Gemeinschaft zu entziehn. Überall sonst bin ich Herr nur dem Namen nach, in Wirklichkeit aber redet mir jeder dazwischen. Arm dran ist meines Erachtens, wer bei sich zu Hause nichts hat, wo er bei sich zu Hause ist, wo er sich verbergen, wo er mit sich selbst hofhalten kann. 36 Zur Bekräftigung dieses Rückzuges in eine ganz auf sich gestellte, beschauliche Daseinsform lässt er auf den Deckenbalken philosophische Sentenzen als Maximen und Merksprüche anbringen, insgesamt siebenundfünfzig. 37 Und an die Wände kommen zwei lateinisch abgefasste Inschriften. In der ersten ist festgehalten: Im Jahre des Heils 1571, im Alter von achtunddreißig Jahren, am Vorabend der Kalenden des März, seinem Geburtstag, hat sich Michel de Montaigne, seit langem der Bürden des Parlaments und der öffentlichen Pflichten müde, in voller Lebenskraft in den Schoß der gelehrten Musen zurückgezogen, wo er in Ruhe und Sicherheit die Tage verbringen wird, die ihm noch zu leben bleiben. Vergönne ihm das Schicksal, diese Wohnung der süßen Weltflucht seiner Ahnen zu 27 vollenden, die er seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht hat. Die andere Inschrift, die ebenfalls von einer Weihe spricht, eine veritable Konsekration zum Ausdruck bringt, hält Folgendes fest: Des (...) Freundes beraubt (...) hat Michel de Montaigne, der das Andenken dieser wechselseitigen Liebe durch ein einzigartiges Zeugnis seiner Dankbarkeit weihen wollte und keine bessere Weise finden konnte, das zum Ausdruck zu bringen, diesem Andenken diese Stätte des Studiums gewidmet, an der er seine Lust hat. 38 In den Jahren zwischen 1571 und 1573 verfasst und redigiert Montaigne den Großteil der Kapitel des Ersten Buches. Sind die zuerst verfertigten Texte von eher unpersönlicher Art, 39 aus der Kompilationsliteratur herkommende Gehversuche, ein tastendes Hinfinden zu einem allmählich selbständigen Urteil im Bereich der menschlichen Angelegenheiten, so individualisiert sich Montaignes Schreiben und Reflektieren zusehends. Es kommt zu dem, was man Ich- Entdeckung nennen kann. Die Gedanken der rationalen Theologie Sebonds, die er übersetzt und publiziert hatte, haben Montaigne nicht losgelassen. Als Frucht seiner weiteren Beschäftigung damit findet sich in den „Essais“ eine Apologie de Raimon Sebond (II 12), worin der rationalanthropologische Ansatz weitergeführt, hinsichtlich der Möglichkeit einer stringenten Begründung in Glaubensdingen aber in Frage gestellt wird. Mehr noch: Im Ringen mit den Problemen der sogenannten Natürlichen Theologie findet Montaigne zu einer Position der Skepsis - und damit zu einer entscheidenden Grundlage der philosophischen Neuzeit. Zur Besiegelung der Zurückhaltung im Urteil lässt er eine Medaille prägen mit dem Bild einer im Gleichgewicht befindlichen Waage und dem Wahlspruch Que sais-je? (Was weiß ich? ). Zwischen 1577 und 1580 entstehen die Hauptpartien des Zweiten Buches. 1580 erfolgt zu Bordeaux die Erstveröffentlichung der „Essais“. Diese Erstausgabe umfasst zwei Bände: der eine enthält auf fast 500 Seiten die 57 Kapitel von Buch Eins, der andere auf 650 Seiten die 37 Kapitel von Buch Zwei. Die „Essais“ sind sogleich ein Erfolg, so sehr, dass Montaigne sie sogar dem König Henri III überreichen kann. 28 Im selben Jahr 1580 begibt sich Montaigne auf eine große eineinhalbjährige Reise. 40 Er reist um der Bewegung willen, um unterwegs zu sein. Äußere Veranlassung für das Unternehmen lag in der bereits etwa vier Jahre andauernden gravierenden Erkrankung an Nierensteinen. Da er wenig Zutrauen in die Kunst der Ärzte hatte, suchte er Linderung in berühmten Heilbädern, in Plombières, Baden an der Limmat, Lucca. Ein weiteres Motiv war zweifellos die kosmopolitische Gesinnung des Künstlerphilosophen und mittlerweile selbstbewussten Autors. Ihn verlangte nach konkreter Überprüfung und weiterer Anregung seiner Kenntnis von Welt und Mensch. Er reiste also mit kleinem Gefolge, vier jungen Edelleuten, einem Sekretär, sonstigen Bediensteten, über Paris nach Ostfrankreich, durch die Nordwest-Schweiz, Süddeutschland, Tirol und über den Brenner nach Italien. Er weilt in Augsburg, „der schönsten Stadt Deutschlands“; 41 in Trient, Verona, Padua, in Venedig, Bologna und in Florenz. Höhepunkt ist Rom, caput mundi, die Hauptstadt der alten und neuen Welt. Dort werden alle seine Bücher konfisziert und vom Maestro del Sacro Palazzo, einem Dominikanermönch, mit Zensurauflagen 42 versehen, ohne dass sie freilich erfüllt würden. Montaigne wird Augenzeuge des weihnachtlichen Pontifikalamtes in Sankt Peter, eines Papst-Défilés, einer öffentlichen Hinrichtung, eines Exorzismus, einer Beschneidung, des Karnevals und der Massen-Flagellationen am Karfreitag. Und er erreicht nach einer Privataudienz bei Gregor XIII., dem bedeutenden, damals neunundsiebzigjährigen Pontifex, die Erfüllung eines Herzenswunsches: er wird Civis Romanus, Bürger der Ewigen Stadt. Auf einer Wallfahrt nach Loreto, unternommen in Erfüllung eines Gelübdes hinsichtlich der geschwächten Gesundheit seiner einzigen überlebenden Tochter, lässt er ein Gemälde anbringen, das unter dem Schutz der Madonna die Tochter, seine Frau und ihn selbst zeigt, unter der Inschrift: „Michael Montanus, Gallus Vasco, Eques Regii Ordinis“ (Michel de Montaigne, Franzose aus der Gascogne, Ritter des königlichen Ordens). 43 1581 erreicht ihn die Nachricht, dass er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt worden war. Er möchte eigentlich nicht, doch als er, nach dem Besuch Sienas, einem zweiten Romaufenthalt und der Rückreise über Mailand, Turin, Lyon, zwei Monate später zu Hause in einem Brief des Königs nachdrücklich aufgefordert wird, 29 willigt er ein. Nach Ablauf der zweijährigen Amtsperiode wird er, was äußerst selten ist, wiedergewählt. 1584 nimmt Heinrich von Navarra, der künftige König Henri IV, mit Gefolge für zwei Tage Aufenthalt auf Montaigne. Dabei verzichtet er auf alle Sicherheitsmaßnahmen wie Vorkosten und Ähnliches. Drei Jahre später kommt es nochmals zu einem ähnlichen Aufenthalt. Montaigne vermittelt in Verhandlungen zwischen Heinrich von Navarra und dem Gouverneur der Guyenne, Marschall Matignon, (der den französischen König vertritt). Die Pest bricht aus, jene entsetzliche Epidemie, der jeder Dritte, Vierte zu erliegen pflegt, der vormals in Europa binnen eines Jahrzehnts, zwischen 1345 und 1355, fünfundzwanzig Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Montaigne muss mit all den Seinen sein Anwesen verlassen und für Monate vagabundieren. Nachdem bereits 1582 die „Essais“ und auch die „Théologie Naturelle“ in zweiter Auflage erschienen waren, arbeitet Montaigne an den dreizehn Kapiteln des abschließenden und zweifellos bedeutendsten Dritten Buches. Es erfolgt 1588, in Paris nunmehr, die erste auf volle drei Bücher erweiterte Publikation der „Essais“, ab jetzt entgegen damaliger Gepflogenheit ohne Aufzählung der Ehrentitel ihres Verfassers. In Paris ist Montaigne einmal mehr in politischer Tätigkeit in der Umgebung Heinrichs III. Später weilt er als Beobachter bei den Generalständen in Blois. Der Autor der „Essais“ macht als Fünfundfünfzigjähriger die Bekanntschaft mit Marie de Gournay le Jars, einer jungen Verehrerin, die alsbald zu seiner geliebten Wahltochter wird und sich fortan als engagierte Nachlassbetreuerin und kompetente Herausgeberin bewähren sollte. Er wird Opfer eines Überfalls der Ligisten, ein andermal sogar einer Einkerkerung in der Bastille, woraus er freilich auf Intervention der Königsmutter Katharina de Medici nach einigen Stunden wieder entlassen wird. Aus dem Jahr 1590 sind zwei Briefe an König Heinrich IV. überliefert, von denen der erste als eine Art politisches Testament angesehen wird. Im zweiten geht es, in einem nicht ganz eindeutigen Zusammenhang, um Geld. 1592, am 13. September, in seinem sechzigsten Lebensjahr, stirbt Montaigne. Seinem letzten Willen entsprechend wird er beigesetzt in der Klosterkirche des damals jungen, streng asketischen Feuillantiner- Ordens in Bordeaux. Zum vierhundertsten Geburtstag, 1933, ist in 30 Paris, gegenüber der Hauptfront der Sorbonne, in einem kleinen grünen Park, dem Square Painlevé, ein Denkmal errichtet worden. Es zeigt den Weisen sitzend, mit übereinandergeschlagenen Beinen, lächelnd. Montaigne Bronze, Paul Landowski 31 Erprobungen der Urteilsfähigkeit: Grundzüge der „Essais“ Zunächst zwei Bände: Buch I und II Belehrbar, nicht belehrend: der Essay Entscheidend für das Verständnis ist bereits der Titel, den Montaigne dem „in seiner Art auf der Welt einzigen Buch“ gibt. 1 Er lautet im Original: „Essais de Messire Michel, Seigneur de Montaigne, Chevalier de l’Ordre du Roi, et Gentilhomme ordinaire de sa Chambre“ (zwei Bände, Bordeaux 1580). Lässt man die persönlichen Ehrentitel weg, so bleibt als Werkbezeichnung: „Essais de Michel de Montaigne“. Einen derartigen Buchtitel hatte es zuvor nicht gegeben. Essay war damals noch keineswegs eine literarische Gattungsbezeichnung. Um an dieser Stelle eine kleine philologische Erläuterung einzuschalten: Von den im Französischen gebräuchlichen Verben, die ‚versuchen’, ‚erproben’ bedeuten, ist essayer beziehungsweise als Substantiv l’essai (m.), zusammen mit tenter beziehungsweise la tentative (mit der Bedeutung erster Versuch), das schwächste, vor dem stärkeren tâcher beziehungsweise la tâche oder gar s’efforcer beziehungsweise l’effort (m.), welche beide in gesteigerter Weise ‚ernsthaftes Bemühen’ meinen, ‚Anstrengung’, ‚Kraftaufwand’. Das französische Wort essai leitet sich übrigens aus dem lateinischen Nomen exagium beziehungsweise dem Verb exigere ab, womit eine Bedeutungsbreite aufgewiesen ist, die vom Ab- und Erwägen bis hin zum exakten Betreiben und zum Prüfen (im Examen) reicht. Darüber hinaus existieren Mutmaßungen, der Essay könnte nach dem Provenzalischen asag beziehungsweise assays zunächst die den Troubadouren auferlegte Liebesprobe gemeint oder aber nach dem spätrömischen Hapaxlegomenon sexhagium (ein bloß einmal vorkommendes Wort für ‚Sechzigstel’) eine zunächst merkantile und sodann literarische ‚Kostprobe’ bedeutet haben. 32 Damit zurück zu Montaigne. Er verwendet den Begriff ‚Essais’ nur im (indefiniten) Plural für das ganze Buch. Es scheinen ihm sogar aus dem Geschriebenen virtuell unendlich ‚Essais’ hervorzugehen. 2 Die Untereinheiten hingegen nennt er selbst nicht ‚Essai’, sondern ausdrücklich Kapitel. 3 Was also wird damit vorgestellt? Der Titel signalisiert „eine neuartige persönliche Leistung des Schreibers“ 4 . Laut Vorwort (Au lecteur, geschrieben am 1. März 1580) besteht Montaignes Ziel darin, ein Selbstportrait zu zeichnen. Damit ist dem Leser deutlich gemacht, dass er nicht irgendwelche Inhalte zu übernehmen hat, kein Wissen, keine Erkenntnis, dass er nicht geführt und in keiner Weise belehrt wird, sondern es werden nichts mehr und nichts weniger angekündigt als (durchaus unabschließbare) „Erprobungen des Herrn von Montaigne“ 5 . Man hat demnach keinen Traktat zu erwarten, keine Abhandlung, kein Lehrbuch, keine Unterrichtung und keinen Zuwachs an Wissenschaft. Es sind nicht die Verlautbarungen einer Autorität und keine Ergebnisse nachzuvollziehen. Es geht bei dieser ‚ersten philosophisch relevanten Veröffentlichung in französischer Sprache’ um etwas völlig anderes: um einen Dialog, ein freundschaftlichvertrauliches Gespräch von Gleich zu Gleich. Für dies nur in tastenden Versuchen anzugehende Menschlich-Bedeutsame will Montaigne aufrichtig sich selbst zur Sprache bringen und damit einen Leser erreichen und anregen, der gleichfalls redlich, unabhängig, selbständig und darüber hinaus - als wirklich zureichender Partner - durchaus kreativ sich verhalten möchte. Es wird so eine neue Weise der Aufmerksamkeit eingeübt, der Mitteilung und Verständigung, ein sonst unerreichbarer Grad intellektuellschöpferischer Lebendigkeit. Um der Aufrichtigkeit willen präsentieren sich die „Essais“ als ein Register voller Widersprüche, einem Verfahren des Zusammentragens und Anhäufens folgend, aggregatorisch, assoziativ und rhapsodisch, ohne festen Bauplan und zu keinem System sich fügend. Das gilt nicht zuletzt für die Aufteilung in Bücher und Kapitel. Auch dafür gibt es kein Ordnungs- und Einteilungsprinzip. Lediglich hinsichtlich der einhundertsieben Einzelüberschriften lässt sich feststellen, dass sie von zweierlei Art sind: Es gibt einerseits welche, die eine Behauptung enthalten. Sie beginnen oft mit dem Verhältniswort Que. Beispielsweise Que philosopher c’est apprendre à mourir, Philosophieren heißt sterben 33 lernen (I 20). Gelegentlich wird einfach eine Sentenz angeführt: Par divers moyens on arrive à pareille fin, Durch verschiedene Mittel gelangt man zu ähnlichen Zielen (I 1). Demgegenüber findet sich als zweite (und sehr viel häufigere, im Dritten Buch ausschließliche) Art von Überschriften jene, die nicht ein Urteil voranstellt, sondern lediglich ein Thema nennt. Diese Überschriften werden häufig eingeleitet mit der Präposition De. Zum Beispiel: De la cruauté, Über die Grausamkeit (II 11), De trois bonnes femmes, Über drei vortreffliche Frauen (II 35). Doch auch daran hat die Interpretation kaum Handhabe. Der Verfasser schert sich wenig um Titeltreue. Die Kapitel-Überschriften sind ganz traditionell, nichts anderes als Gemeinplätze, übernommen aus den verbreiteten Sammlungen: Florilegien und Kompilationsbüchern. Sie benennen noch gelegentlich ein Sujet, sind im Ganzen aber verblasst zu nurmehr beiläufigen Untergliederungen des Gesamttextes. Es ist jedoch schwerlich von der Hand zu weisen, dass Montaigne durch die Heuristik einer gebräuchlichen Findungslehre schließlich in Buch Drei zu Titeln findet, die denn doch kennzeichnende Stichworte abgeben (Du repentir, Über das Bereuen, 2; De la vanité, Über die Eitelkeit, 9) oder gar, im allerletzten Kapitel, eine Evokation darstellen, in deren Zeichen der Kreis sich schließt, die Spirale ins Imaginär- Unendliche konvergiert: Über die Erfahrung (De l’experience, 13). Es handelt sich also bei Montaignes „Essais“ um ein Register seiner Lebenserprobungen. 6 Die „Essais“ sind zunächst lediglich die Aufreihung reflektierter Erfahrung, darin dann aber zugleich deren stetige Vertiefung und Verdichtung. Sie sind eben deswegen kein Journal, nicht die bloß extensive Erfassung und Komplettierung, sondern ganz im Gegenteil - das macht die geradezu musikalische Leichtigkeit dieses Weltbuches aus - mehr und mehr das Gewahrwerden einer einzigartigen Beweglichkeit, Vielheit und Lebendigkeit im menschlichen Dasein. Erprobt und entfaltet wird näherhin das Vermögen der Urteilskraft. Montaigne kann rundweg sagen, sie sei es, die in den „Essais“ ihre Versuche ablege. 7 In artistischem Erproben der eigenen Urteilsfähigkeit, in klugem Unterscheiden und sorgfältigem Auswählen, vollzieht sich Selbstvergewisserung als der Versuch der Identifizierung und Selbstwerdung. Etwas ausgesprochen Modernes also! Es handelt sich mithin nicht um ein Buch der Identität. Sichtlich ist dergleichen 34 nicht fixierbar für einen lebendigen Menschen. Wohl aber gibt es den offenen Verlauf fragender Identifizierung: Woraus bestimme ich mich in meinem Dasein? Bin ich durch Gedanken repräsentiert? Gibt es Mitteilung, Verständigung? Ist unsereins überhaupt konstant und kohärent oder nicht? In den „Essais“ geht es daher nicht darum, irgendwelchen Gegenständen gerecht zu werden, sondern - in Anknüpfung allenfalls an eine irgendwo zu einem Thema geäußerte Sentenz - das eigene Urteilsvermögen zu erproben und sich der Bewegung zu überlassen, selbst wenn die Darstellung groteskerweise ganz woanders endet als sie eingesetzt hat. Das bringt allerdings mit sich, dass Widersprüche unaufgelöst stehen bleiben. Von einer teleologisch zur Vollendung kommenden und nach Hause findenden Dialektik kann keine Rede sein. Vielmehr werden allenthalben Differenzen hervorgetrieben. Dem scheinbar Bekannten und Erkannten wird stets noch eine Nuance hinzugefügt, eine weitere Version, die den Begriff, den man sich von was auch immer gebildet hat, wiederum in Frage stellt. Es kommt darauf an, alles „stückweis und von Fall zu Fall gesondert“ zu beurteilen. 8 Distinguo ist „das erste und letzte Wort“ 9 einer Urteilskraft, die als Kunst der Unterscheidung und der Dezentrierung und insofern der Desillusionierung und Selbstbescheidung sich vollzieht. Selbstironisch weiß Montaigne zu bemerken, er trage seine Gedanken vor „wie die Schulkinder ihre Aufsätze: belehrbar, keinesfalls belehrend.“ 10 Er schreibt mithin, um vordringlich die eigene Belehrbarkeit zu aktivieren, nicht weil er irgendwen über irgendetwas zu unterweisen hätte. All dies berechtigt dazu, den Werktitel „Essais de Michel de Montaigne“ seinem Sinn nach als Erprobungen der Urteilsfähigkeit 11 wiederzugeben und darunter nicht etwa einhundertsieben abgezirkelte Ergebnisse zu verstehen, sondern einen durchaus offenen Gesamtprozess. Vorgetragen werden wie gesagt nicht Vorschriften, nicht Doktrinen, streng genommen nicht einmal Einzelessays. Es geht vielmehr um freie Urteilsbildung im Dienst der Selbstformung der Person und ihrer Kommunikation. Dafür Raum freizuhalten, das allerdings ist der denkbar lebhafteste Ausdruck einer Liebe zur Weisheit. Und allein darin ist Montaigne Philosoph. Nicht weil er eine Lehre hätte, sondern weil er eine Haltung der Offenheit verkörpert, der Liebe und der Anerkennung. 35 Zwischen Zivilisation und Barbarei: der Mensch Hauptthema der „Essais“ ist der Mensch, dass auf ihn, den durch und durch unbeständigen, kein festes und einheitliches Urteil zu gründen sei. 12 Weit davon entfernt, in rationalistischcartesianischer Weise als denkende Substanz bestimmt zu sein, erscheint der Mensch als schlechterdings ‚nicht feststellbar’: als schillernd, fluktuierend; dem Wasser verwandt und dem Wind. Nicht allein die Handlungen, sondern das ganze Verhalten und Gebaren, alle Meinungen und überhaupt alles Menschliche ist demnach schwankend und unbeständig, Stückwerk und Flickwerk - im Ganzen unabsehbar und also auch nur von Fall zu Fall zu beurteilen, durchaus situativ, kontextbezogen, niemals total, niemals prinzipiell und niemals abstrakt. Mehr noch: Es gibt im Bereich der menschlichen Dinge nichts Substantielles, alles ist akzidentell, okkasionell, vermischt und ganz dem Zufall unterworfen. „Wir leben von ungefähr“: nous vivons par hazard. 13 Hasard, ein Wort arabisch-spanischen Ursprungs (das später im Zusammenhang von Nietzsches „Zarathustra“ wieder auftaucht), semantisch verwandt dem griechischen Wort tych , dem lateinischen fortuna, aber auch sors und fatum. Es bedeutet Glück, Zufall (cas fortuit), von ungefähr, Los, Schicksal. Die rationalen Möglichkeiten des Menschen, sein Verstand und seine Vernunft, seine Urteilskraft, seine Klugheit und alle seine Diskurse, alle diese Befähigungen verschaffen keine gänzliche Unabhängigkeit gegenüber dem Schicksal. Es ist unweigerlich die höhere Macht. Unbeständigkeit und Verschiedenheit ist allerdings nicht nur zwischen den einzelnen Menschen zu bemerken, sondern auch in einem jeden selbst. Montaigne findet „ebensoviele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den andern“. 14 Das Individuum erscheint ihm als eine Vielheit, eine Ansammlung zahlloser Stücke, die alle weitgehend ihr eigenes Spiel treiben. Damit ist, von vornherein und folgenreich bis zu Nietzsche und in die polyzentrische Postmoderne hinein, jede Handhabe für die Behauptung einer zentrierenden Subjektivität entzogen. Die phänomenale Verschiedenheit des Wirklichen, innen wie außen, ist, entgegen der parmenideisch-platonischen Substanzontologie, unübersteiglich. In solch antiidealistischem, beinahe atomistischem 36 Rahmen bewegt sich Montaignes Œuvre. Das buchstäblich letzte Wort der zweibändigen Originalausgabe der „Essais“ von 1580 lautet: diversité, Verschiedenheit. 15 Entsprechend tritt uns Montaigne entgegen als ein Vorläufer der komparatistischen Anthropologie. 16 Es werden eine Vielzahl kurioser Bräuche und Gewohnheiten geschildert, wie sie bei Menschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten bestehen. Zeitgeschichtlichen Anlass boten zahlreiche Entdeckungen: die Neue Welt, ein Seeweg nach Ostindien, aber auch die Antike, die zwischenzeitlich vergessene eigene Vergangenheit. Unter dem vergleichenden Scharfblick erwächst eine grundsätzliche Skepsis bezüglich des Normativen überhaupt. Mehr und mehr wird deutlich, dass das meiste nur usuell gilt und in der Weise von Vorurteilen, selbst das Gewissen nicht ausgenommen. Wünschenswert ist daher eine gewisse Distanz und Gelassenheit, die dazu führt, nicht so sehr am Anders- und Fremdartigen sich zu stoßen als vielmehr einen Blick zu gewinnen für die Ungereimtheiten des Eigenen und allzu Vertrauten. Gleichwohl tritt Montaigne ein für die Anerkennung der in einem Staate jeweils geltenden Gesetze. Als Geschädigter der Religions- und Bürgerkriege hat er „allen Geschmack an Neuerungen verloren“. 17 Allerdings ist keineswegs einem knöchernen Konservativismus das Wort geredet. Gewahrt werden sollen die Entfaltungsmöglichkeiten des lebendigen Lebens. Und das besagt nicht zuletzt, dass es im Dienst des öffentlichen Wohls flexibel zu sein gilt. Die in der Neuen Welt entdeckten ‚Wilden’ 18 lehren Montaigne, dass die Zivilisierten der Alten Welt, die oft genug überheblichen sogenannten Christenmenschen, in vieler Hinsicht als die eigentlichen Barbaren dastehen. Keineswegs ist ausgemacht, dass von vornherein eine klare Grenze verläuft zwischen Zivilisation und Barbarei. Freilich ist es ein seit der Antike, namentlich des Tacitus „Germania“, bewährtes Verfahren, die eigene Welt in Frage zu stellen, indem man ihr eine exotische Fremde als Spiegel vorhält. Montaigne tritt ein für Toleranz, Vielheit, einen Kulturrelativismus und vor allen Dingen für einen lern- und aufnahmebereiten, geradezu brüderlichen, statt kriegerisch-gewaltsamen Umgang mit denjenigen, die man aus Dünkel schlechterdings zu Barbaren erklären möchte. Stattdessen wird nunmehr meistenteils die Natur 37 gegen Vernunft-Einbildung in Anschlag gebracht. Die Wirkung von Montaignes Schilderung der ‚Menschenfresser’ reicht von Shakespeare („The Tempest“) über eine leitbildliche Tradition vom guten Wilden - so noch bei Rousseau - bis hin zur strukturalen Anthropologie des Claude Lévi-Strauss. Obendrein gibt Montaigne den folgenreichen Anstoß zu einer ungemein subtilen psychologischen Denkweise. Er betont, man „sollte es vernünftigerweise unterlassen, unser jeweiliges Tun nur von außen zu beurteilen: Man muss tief bis ins Innere vordringen, um zu erkennen, welche Triebfedern unsre Bewegungen auslösen.“ Klugerweise gibt er bereits die sehr beachtliche Maßgabe mit: „Das ist freilich ein riskantes und höchst verantwortungsvolles Unternehmen - deshalb wünsche ich, dass sich möglichst wenig Leute leichtfertig daranmachen.“ 19 Montaigne weiß auch um die folgenreiche Bedeutung der Kindheit und der Erziehung. 20 Er plädiert in jeder Hinsicht für Freizügigkeit und Allseitigkeit, und er fordert Distanz zu aller Pedanterie. 21 Auf geradezu künstlerische Formung des Urteils kommt es an und experimentelles Einüben von Haltungen. Den Brennpunkt bildet die horazische Devise ‚Weise werden’: sapere aude 22 , aber nicht in einem einseitig intellektuellen, kognitivistischen Sinn (wie später auf dem Höhepunkt philosophischer Aufklärung), vielmehr in einem umfassenden Sinn von Geschmack (sapor) als sinnennaher Geist, des Selbstverkostens der Dinge und der Freude daran, des direkten zwischenmenschlichen Kontakts und der unmittelbaren Erfahrung der weiten Welt. Reisen ist daher ein bevorzugtes Erziehungsmittel unterwegs zu sokratischem Kosmopolitismus. Die Philosophie als Bildnerin des Urteils und der Sitten hat den Vorzug, sich überall zu finden. Montaignes Essayistik insgesamt belegt seine Konzeption der condition humaine. (a) Stets ergreife ich die erstbeste Sache, die der Zufall mir bietet. Ich finde sie alle gleich gut. Dabei plane ich nie, sie erschöpfend darzulegen, (c) denn von nichts sehe ich das Ganze (noch tun das jene, die versprechen, es uns sehn zu lassen). (...) Gewiß würde ich es wagen, einen Gegenstand von Grund auf abzuhandeln, wenn ich mich weniger gut kennte und vor meinem Unvermögen die Augen schlösse. So aber lasse ich hier ein Wort und 38 dort ein andres als dem Ganzen zusammenhanglos entnommene Probestückchen fallen, ohne Plan und Versprechen, und bin deshalb weder dem Leser noch mir selbst gegenüber verpflichtet, mich streng an die jeweilige Sache zu halten; vielmehr kann ich nach Lust und Laune meine Meinung ändern und mich dem Zweifel und der Ungewißheit anheimgeben - sowie meinem maßgeblichen Wesenszug: dem Nichtwissen (ma maistresse forme, qui est l’ignorance). Was immer wir tun, enthüllt uns. (...) Die Dinge mögen jedes für sich ihr Gewicht, ihr Maß und ihre Eigenart haben; in unserm Inneren aber teilt die Seele sie ihnen so zu, wie sie es für richtig hält. (...) Reden wir uns daher nicht mehr auf die äußere Beschaffenheit der Dinge hinaus: Wir sind es, an die wir uns halten müssen! Unser Wohl und Wehe hängt von nichts anderem ab. 23 Anhand der archetypischen Konfiguration von dem lachenden Demokrit und dem weinenden Heraklit (beziehungsweise Diogenes und Timon) wird die Frage aufgeworfen, bei welchem der beiden die menschliche Realität überzeugender zur Darstellung komme: ob sie nämlich eher tragisch oder aber eher komisch sich ausnimmt. Montaigne nun macht kein Hehl aus der Überzeugung, das menschliche Leben, in sich vielfach lächerlich sogar, verdiene weit eher belacht als beweint zu werden. Vor allem verschärft sich nochmals der Blick dafür, dass nicht die Dinge an sich bestimmend sind für uns, sondern die Dinge in dem Maße wie unsere (möglicherweise charakteristisch temperierte) Seele sie auffasst und bewertet. Fazit demnach: „Das Besondere unsres Menschseins besteht darin, dass wir zugleich des Lachens fähige und lächerliche Wesen sind.“ 24 Der quecksilbrige Geist oder Das Profil des Schriftstellers Ein starker Zug der „Essais“ liegt bekanntlich in der stetig wachsenden Selbsteinsicht ihres Autors, denn er bedeutet das Bewusstwerden eines experimentierend-reflektierenden Vorgehens, einer veritablen Kunstfertigkeit, die schließlich sich geradezu als Lebenshaltung herausstellt. Als ich mich kürzlich nach Hause zurückzog, entschlossen, mich künftig soweit wie möglich mit nichts anderem abzugeben, als das Wenige, was mir noch an Leben bleibt, in Ruhe und für mich zu verbringen, schien mir, ich könnte meinem Geist keinen größeren 39 Gefallen tun, als ihn in voller Muße bei sich Einkehr halten und gleichmütig mit sich selbst beschäftigen zu lassen - hoffte ich doch, daß ihm das nunmehr, da er mit der Zeit gesetzter und reifer geworden ist, leichter fallen werde. Nun aber sehe ich, daß umgekehrt der Geist vom Müßiggang verwirrt, zum ruhelosen Irrlicht wird; wie ein durchgegangnes Pferd macht er sich selber heute hundertmal mehr zu schaffen als zuvor, da er für andre tätig war; und er gebiert mir soviel Schimären und phantastische Ungeheuer, immer neue, ohne Sinn und Verstand, daß ich, um ihre Abwegigkeit und Rätselhaftigkeit mir mit Gelassenheit betrachten zu können, über sie Buch zu führen begonnen habe. So hoffe ich, ihn mit der Zeit dahin zu bringen, daß er selbst sich ihrer schämt. 25 Offensichtlich vollzieht die Errungenschaft sich abermals als ein Dementi der Tradition, nämlich als eine Absage an das altehrwürdige Ideal der Kontemplation. Hier bezeugt einer, dass das Leben in beschaulicher Muße keineswegs zur Autarkie im Bedenken des Denkwürdigsten führt, zum höchsten Glück in der Einigung mit dem Übersinnlich-Geistigen, Ewigen, Göttlichen. Statt nach der Idealnorm führt der Geist sich überraschend ungebärdig auf, wie ein durchgegangenes Pferd, wütet gegen sich selbst und zerfällt in die Vielheit bedrängender Bilder. Eine Situation aggressiver Instabilität, beunruhigend, womöglich bis an den Rand der Psychose führend, derer sich der Schreiber nun aber mit der Tätigkeit des ‚Registerführens’ zu erwehren versteht, indem er zum Schöpfer der „Essais“, zum beherzten Erfinder des selbsttragenden philosophischen Schriftstellers wird. Derart erweist sich ganz handfest, wie keineswegs nur der Autor irgendein Buch macht, sondern wie ebenso sehr das Buch den Autor macht. Die Tätigkeit des Schreibens wirkt reinigend, entlastend, kommunikationserhaltend und also am Ende gar lebensrettend. Inmitten von Bemerkungen über Ehe, Familie, Kinder und Kindererziehung und noch weiteren menschlichen Angelegenheiten entfaltet der Intellektuelle, der Literat, der Philosoph Montaigne unversehens eine andere, tiefere Frage: die nach der Bedeutung von Produktivität überhaupt. Und, gleichsam im Sinn der platonischen Eroslehre, wonach das letzte Bestreben des Menschen dahin gehe, im Schönen das Wahre hervorzubringen, hebt er auf die geistig-kulturelle Produktivität ab. Soll etwas Beständiges zu Tage 40 treten, so ist darauf zu achten, dass möglichst die Vernunft herrscht. 26 Bei aller Betonung des Materiell-Sensuellen wird nicht etwa regressiv eine Lebensform begünstigt, in der die Ratio abdankt, vielmehr wird ihr die Führung der Naturbestrebungen zugestanden. Unumgänglich stellt sich die Frage, auf welche Art von Produktivität es letztlich ankommt. Für Montaigne läuft es praktisch auf die Alternative hinaus: aut liberi aut libri, Kinder oder Bücher. Aufschlussreich jedenfalls ist die Tatsache, dass Montaigne das Werk, sein Buch, die „Essais“ und die Autor-Künstlerschaft als „andere Art von Vaterschaft“ bezeichnet. 27 Wörtlich merkt er an: „ich weiß nicht, ob ich es nicht bei weitem vorzöge, ein vollkommen wohlgestaltetes Kind aus dem Schoße der Musen als aus dem Schoße meiner Ehefrau erzeugt zu haben.“ 28 Und die musische, die literarische Option scheint ihm umso berechtigter, als Väter gewöhnlich ihren leiblichen Söhnen sich kaum mitzuteilen pflegen. 29 Mithin wird das Problem erörtert, worin eigentlich die Berechtigung zur Mitteilung liege, dann nämlich, wenn es sich um Selbstdarstellung handelt, die Eröffnung von Montaignes (innerer) Erfahrung. 30 Geht es an, von sich selbst zu reden? Und dabei nicht etwa - wie Julius Caesar oder andere Akteure der Weltgeschichte - mit Werken und Taten aufwarten zu können, sondern nichts weiter als lediglich gedankliche Einfälle und das eigene Naturell zu schildern? Vor diesem Hintergrund macht Montaigne bedeutsame Ausführungen zu Vorhaben und Methode (philosophischliterarischer) Selbsterkenntnis. Das Ich, das sterbliche, schreibt es sich etwa unsterblich? Ist dies das verborgene Motiv zur Abfassung eines Werkes, das er schließlich, in aller Bescheidenheit, als das einzige Buch in der Welt von seiner Art bezeichnet. 31 Zum Stil der „Essais“ hält Montaigne fest, dass sie nicht rhetorisch sind, nicht manipulativ sophistisch, noch in einem äußerlichen Sinn humanistisch. 32 Es ist also nicht auf Worte abgesehen, überhaupt nicht auf bloße Literatur, sondern auf gedankliche Einsicht und mehr noch auf Urteilsbildung. Cicero, der Musterautor der Humanisten seit Francesco Petrarca, dient Montaigne vor allem dazu, die eigene Position zu profilieren, sie gegenüber der antischolastischen, klassischen Ciceronianismus-Latinität der Humanisten als bereits stärker individualisierte Artikulationsweise abzugrenzen. Dem Autor der „Essais“ liegt daran, weise zu wer- 41 den, nicht bloß gelehrter und beredter. 33 Cicero, wenngleich an Eloquenz unübertrefflich, macht zu viel Umschweife, ist zu langatmig, zu marktschreierisch auch und operiert zu viel mit bloßen Kenntnissen und allerhand Wissenskram. Die „Essais“ hingegen dienen nicht der Steigerung der Beredsamkeit, sondern sie dienen der Einsicht und dem Handeln. 34 Sie sind also in einer deutlich philosophisch-ethischen Absicht publiziert. Gemäß der alten Devise facere docet philosophia, non dicere 35 kann auch Montaigne festhalten: „Meine Philosophie besteht im Tun, in der natürlichen Praxis des Hier und Heute“. 36 In der Reflexion seiner schriftstellerischen Erfahrung entwickelt Montaigne Ansätze zu einer Poetik, die nicht nur als Literarkritik, sondern als Hermeneutik allgemein bedeutsam ist. 37 Es ist zum Staunen und bezeugt Genialität, wie es einem, der nur relativ wenige Jahre schriftstellerisch tätig sein konnte, möglich war, derart tief einzudringen und das Gesichtete auch noch persönlich mitzuteilen, ohne irgendwie pedantisch oder sonst lästig zu werden. Das Kriterium von Montaignes Denken und Schreiben ist er selbst, ausschließlich und in möglichst unverstellter Natürlichkeit. Alle darüber hinausgehenden Ambitionen, aber auch alle bloße Sachlichkeit und Gelehrsamkeit lehnt er ab. Mit dem Experiment, das er anstellt, dass er nämlich sich auf die „Erprobung seiner natürlichen Fähigkeiten“ 38 beschränkt, alles daraufhin erwägt und formt, wird er zur einzigartig kritischen, ja genuin moralischen Instanz. Die Neuerung, die unerhörte: Ein einzelner Mensch vertraut seiner Urteilskraft. Das Ziel des Bemühens ist die Erkenntnis seiner selbst und solche Erkenntnis, die dazu führt, „recht zu leben und recht zu sterben“. Sich selbst erfährt und beschreibt er als „quecksilbrigen Geist“, und sein Vorgehen ist entsprechend intuitiv, aperçuhaft, aphoristisch. (b) Was sich mir nicht auf Anhieb erschließt, tut es um so weniger, je mehr ich mich hineinbohre. Ohne solch muntres Drauflosgehn schaffe ich nichts, denn zu langes Bemühen (c) und übertriebne Anstrengung (b) machen mir den Verstand trübe, müde und matt. (c) Die Dinge verwirren sich dann und verschwimmen vor meinem Blick. (b) Ich muß ihn abwenden und kann ihn nur in immer neuen Anläufen zu ihnen zurückführn - so wie man uns ja auch sagt, wir sollten, um den Glanz 42 eines Scharlachtuchs richtig beurteilen zu können, die darübergleitenden Augen mehrmals plötzlich schließen und wieder öffnen. 39 Bücher, in diesem Zusammenhang, sind immerhin hilfreich. Entsprechend der antiken Maxime aut prodesse volunt aut delectare poetae 40 („Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter“) nennt Montaigne zuerst Bücher, die gefallen (delectare): Boccaccios „Decameron“, Rabelais, Vergils „Georgica“ als Gipfel literarischer Kunst überhaupt, schließlich Lucan, Terenz. Sodann zählt er jene Bücher auf, die nützlich sind, indem sie belehren und anregen (prodesse): An erster Stelle Plutarch mit den „Moralia“ und den „Parallel-Biographien“. In ähnlicher Weise bedeutsam als Kundiger in den mores, als Moralist (der Sache, wenngleich noch nicht dem Begriffe nach) ist Seneca, mit den „Epistulae morales“ hauptsächlich. Als vorzüglich gelten die einhundertzwanzig senecanischen Briefe nicht etwa wegen der stoischen Ideen, sondern wegen ihres prudentiellen Gehaltes und aphoristischen Denkstils. Hier findet sich „das Mark der Philosophie, in einfacher und treffender Weise vorgetragen“. 41 An den Geschichtsschreibern, beispielsweise an Jean Bodins Methodentrakat, 42 entwickelt Montaigne beachtliche Ansätze einer Kritik der Historiographie. Drei Stufen einer Skala werden unterscheidbar: schlichte, hervorragende und schließlich mittelmäßigunbedeutende Geschichtsschreibung. 43 Aber es geht noch weiter, einerseits in Richtung einer Hermeneutik der Historiographie und andererseits in Richtung einer exemplarisch scharfsichtigen Kritik, wie zum Beispiel an der Leistung des florentinischen Historikers Francesco Guicciardini. 44 Vollends findet so Montaigne, woran ihm zuhöchst liegt: Menschenkenntnis, differentielle Tiefenanthropologie, die Menschen in ihren unterschiedlichen Motivationen und Intentionen. 45 Sterben lernen, zu leben wissen Auch in Kapiteln, die vielfach im engeren Sinn als philosophische Erörterungen bezeichnet werden, ist Philosophieren unverhohlen als ein Geschäft der Desillusionierung anzusehen. Baut Montaigne anfänglich auf Vernunft, vernünftigen Willen, fortgesetzte Meditation, um die Übel und Schmerzen des Daseins zu überwinden, so 43 ersetzt er, insbesondere hinsichtlich des Todes, immer mehr eine Methode der Vorbereitung durch eine Methode der Ablenkung. Die anfänglich große Nähe zu Seneca weicht der Distanzierung. Die gewöhnliche Meinung, verfemt in der Philosophie seit Plato, ja Parmenides, erfährt eine Aufwertung. In dem berühmten Text „Philosophieren heißt sterben lernen“ 46 , ausklingend in einer eindrücklichen Mahnrede von Mutter Natur 47 , sind sozusagen „zweitausend Jahre Todesreflexion aufbewahrt“. Im Titel ist eine Behauptung aufgegriffen, die zum Grundbestand der philosophischen Überlieferung gehört, die These nämlich, dass Philosophieren Sorge um das Heil der Seele jenseits des sterblichen Lebens in der materiellen Welt sei. Direkt von Cicero übernimmt Montaigne den Satz, das ganze Leben der Philosophen sei eine Bekümmerung um den Tod: tota enim philosophorum vita (...) commentatio mortis est. 48 Der lateinische Begriff commentatio bedeutet Studium, sorgfältiges Erwägen, reifliches Überlegen, aber auch Vorübung und Vorbereitung. Nun ist freilich der Römer Marcus Tullius Cicero keineswegs der Urheber dieser Idee, vielmehr ist commentatio mortis eine direkte Übersetzung aus dem Altgriechischen. In einem der folgenreichsten Texte überhaupt, im Dialog „Phaidon“, lässt Plato den Sokrates sagen, richtiges Philosophieren sei melét thanátou: Bekümmerung um den Tod, Einübung in den Tod. 49 Es ist dies eine Formulierung, die allerdings bei Aristoteles keine Parallele hat. In der spätantiken Bemühung um eine Harmonisierung der Philosophie Platons und Aristoteles’ wird daraus gleichwohl eine von sechs verschiedenen Definitionen von Philosophie. Damit ist eine Richtung benannt, die, genau besehen, noch das Denken des deutschen Idealismus bestimmt, namentlich Fichte, Hegel, Hölderlin. Und auch Nietzsche lässt noch, wenngleich in einem tragischen Sinne, seinen Zarathustra zum „sterben lernen“ aufrufen, nämlich nicht zu spät, nicht zu früh (wie demgemäß namentlich „der Hebräer Jesus“), sondern „zur rechten Zeit“. 50 Und gar noch in einem der bedeutendsten Werke der Philosophie des 20. Jahrhunderts, in Heideggers „Sein und Zeit“, welches freilich hierin insbesondere an Sören Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“ anschließt, wird das Sein des Daseins als Sorge bezeichnet und als Inbegriff der Sorge um ‚das mögliche Ganzsein des Daseins’ erst recht das ‚Sein zum Tode’ festgehalten. 44 Montaigne seinerseits hängt in dem frühen Text „Philosophieren heißt sterben lernen“ zunächst auch platonisch-stoischen Einstellungen an, so wie sie ihm eben noch nahegebracht worden waren durch den verfrühten Tod seines stoisch orientierten Freundes La Boétie. Demnach kann der Tod verachtet werden (contemnere mortem). Die Vernunft vermag dem Weisen eine derartige Festigkeit und Seelenruhe zu verschaffen, dass er sich über Schmerz und Tod erhaben und einem Reich des Geistes zugehörig fühlen darf, wo, wie alle Übel der sinnlich-materiellen Welt, auch der Tod nicht wirklich hinreicht. Aber damit, dass der Tod als „das Ziel unserer Laufbahn“ angesehen wird, hat es nicht sein Bewenden. 51 Die stoische Überhebung über den, der nicht andauernd seines Sterbens eingedenk zu sein vermag, weicht allmählich einer gelasseneren Einstellung. Montaigne entwickelt beispielsweise folgende Phantasie: „Mit eingezognem Kopf stürze ich mich dann blindlings in den Tod: wie in einen lautlos lauernden dunklen Abgrund, der plötzlich zuschnappend mich verschlingt und mit einem schweren, völlig fühl- und schmerzlosen Schlaf überwältigt.“ 52 Und weiter, zeitbezogener: „Ich lasse den Orkan dieser Kriegswirren mich umbrausen, ja, kaure mich in ihn hinein - möge sein Wüten mich blenden, möge er mich mit einem blitzschnellen und unfühlbaren Schlag dahinraffen.“ 53 Mit derartigem Sichfügen in „den gewohnten Lauf des menschlichen Lebens“ 54 ist nun aller Anspruch auf Heroisierung und Vergöttlichung des sterblichen Menschen abgewiesen. Demgegenüber treibt einer wie der Stoiker Seneca allzu viel Selbstüberredung. 55 So ergibt sich schließlich eine Vorstellung, die den Tod nur noch als unausweichliches Ende imaginiert und nicht mehr als Ziel überhöht: (b) Falls ihr nicht zu sterben versteht: - keine Angst! Die Natur wird euch, wenn es soweit ist, schon genau sagen, was ihr zu tun habt, und die Führung der Sache voll und ganz für euch übernehmen; grübelt also nicht darüber nach. (...) Durch die Sorge um den Tod trüben wir das Leben, und durch die Sorge um das Leben den Tod (...) Die Philosophie befiehlt uns, den Tod stets vor Augen zu halten, ihn vorauszusehen und vorauszubedenken, und dann gibt sie uns Verhaltensregeln an die Hand, die gewährleisten sollen, daß diese Voraussicht und dieses Vorausbedenken uns ja nicht weh tue. Genauso 45 machen es die Ärzte, die uns in Krankheiten stürzen, damit sie etwas haben, an dem sie ihre Arzneien und Künste ausprobieren können. (c) Haben wir nicht zu leben gewußt, ist es abwegig, uns sterben zu lehren und so das Ende dem Ganzen zu entfremden. Haben wir jedoch ruhig und standhaft zu leben gewußt, werden wir gleicherweise zu sterben wissen. Das ganze Leben der Philosophie ist eine Vorbereitung auf den Tod. Damit mögen sie sich brüsten, soviel sie wollen. Ich hingegen meine, dass der Tod zwar das Ende des Lebens sei, nicht aber dessen Ziel (le bout, non pourtant le but de la vie); zwar sein Schlußpunkt, seine äußerste Grenze, nicht aber sein Zweck. 56 Kann man sich gleichwohl mit dem Tod, einmalig wie er ist, in irgendeiner Weise vertraut machen? 57 Zur Erläuterung dieses existentiellen Problems berichtet Montaigne, recht drastisch, von dem Widerfahrnis eines Reitunfalls, wodurch er selbst einmal in Todesnähe geraten war. Ganz ähnlich wie später die Sterbeforschung kommt er zu der Auffassung, Sterben könne nichts Schreckliches, müsse viel eher etwas der Süße des Einschlafens Vergleichbares sein. 58 Zwischen Begehren und Maßhalten: Eros Unmittelbar auf das Thema Tod folgt Eros, das andere der beiden allumfassenden Themen, konstitutiv für Literatur und Philosophie seit Plato und den Vorsokratikern. Das Fluidum der „Essais“, die Intimität, die dadurch zustande kommt, dass Michel de Montaigne sich die Freiheit nimmt, das ganze Spektrum seines Fühlens, Wollens und Denkens mit all seinen Widersprüchen, Konflikten und Unvereinbarkeiten vor sich selbst einzugestehen und auszusprechen, dieses Zu-Tage-treten-Lassen einer wundersam ungesäuberten Lebendigkeit, dieser Swing gewissermaßen, dieses eigentlich erotische Schreiben, das äußert sich ein erstes Mal zusammenhängend bezeichnenderweise in dem Kapitel „Über die Macht der Phantasie“. 59 Bekanntlich ist schon im Wort Phantasie eine enge Verbindung zum Bereich jenes Eros gegeben, der seit Urzeiten mit einem Beinamen Phanes genannt wurde. Offenbar gibt es keine erotisch gesteigerte Lebendigkeit ohne Phantasie, ohne die Zärtlichkeit der Bilder, ohne Einbildungskraft, Poesie und schönen Schein. Im Übrigen ist der Erotiker Montaigne aber durchaus Auf- 46 klärer und unbefangener als viele nach ihm. Nicht länger für Liebeszauber plädiert er, nicht für Magie und Hexerei in Sachen Potenz und Fruchtbarkeit, vielmehr für Aufrichtigkeit, Natürlichkeit und Gelassenheit. So lässt sich seines Erachtens beispielsweise die Anspannung, die mitunter wohl als Erwartungsangst zu sogenanntem Versagen führt, am leichtesten dadurch lösen, dass die ängstliche Verkrampfung von vornherein zugegeben wird. 60 Die Amplitude der Darlegungen schwingt sich übrigens von handfester Geschlechtlichkeit bis hinauf zu den Höhen des platonischen Eros. Auf das Begehren und dessen Einschränkung in der Ehe kommt Montaigne im Kapitel „Über das Maßhalten“ zurück. 61 Hier wird er melancholisch, ja pessimistisch; schließlich entringt sich ihm die (rhetorische) Frage, ob der Mensch nicht ein elendes Tier sei. 62 Mitunter kann sogar einer wie Montaigne geradezu erschrecken machen, wenn er die Vorgänge beim Lieben erwägt und sagt, selbst die Wollust sei in ihren Tiefen voller Schmerz. 63 Im Kapitel „Nichts genießen wir in seiner Reinheit“ 64 wird dies ausdrücklich betont und weiterhin dargelegt, dass der Schwäche unsres Menschenloses nur ein unlösbares Ineinander von Lust und Leid, Freude und Schmerz entspricht. Montaigne, in dieser Hinsicht dialektisch, tragisch und wahrhaft weise denkend, ist weit entfernt von der Behauptung, alle Lust, anders als Weh und Leid, wolle Ewigkeit. Er ist ganz im Gegenteil der Meinung, vor der Last einer reinen, umfassenden und fortwährenden Lust würden wir schleunigst die Flucht ergreifen. Instinkt zur Inhumanität: Grausamkeit Was garantiert, worin besteht eigentlich Menschlichkeit? Ist sie in erster Linie angeborene Güte (Unschuld, Milde, Sanftmut, Duldsamkeit, Wohlwollen) oder aber Tugend, angestrengte, vielleicht sogar heroische Haltung? Beides findet nicht Montaignes uneingeschränkte Anerkennung. Die Erfahrung lehrt, dass Güte als Veranlagung der Schwäche nahekommen kann und etliche Tugenden aus Unvermögen herstammen können. Für den doctor subtilis in moralibus (den denkbar feinsinnigsten Moralisten) erweist sich das zureichende Urteilen über menschliche Qualitäten als ungleich 47 komplizierter. Wie, das exemplifiziert er an seiner eigenen Person. 65 Zufall, Veranlagung, Temperament, Naturell, Erziehung, Glück, solcherlei bloß führt er zur Erklärung seiner Verhaltensweisen und allfälligen Qualitäten an. Die relative Unschuld seines Temperaments (seine Gutmütigkeit, ‚Tugendhaftigkeit’) ironisiert er als eine ‚Unschuld der Einfalt’. 66 Begünstigt ist mithin eine möglichst umfassende Natürlichkeit und Leichtigkeit der Sitten ohne Verkrampfung und weithergeholte Selbstdeutung. Groß freilich ist der Abscheu vor der Grausamkeit, der schändlichsten aller Fehlhaltungen, dem Gipfel der Bosheit. 67 Grausamkeit ist der diametrale Gegensatz zur Humanität, der eigentliche Instinkt zur Inhumanität. Es handelt sich wohl in der Tat dabei um kaum fassliche Lust am Schädigen, Freude am Quälen, Gier zu töten; schlechthin destruktive Aggressivität; das ‚radikal Böse’ sozusagen. Grausamkeit besteht in Gefühllosigkeit, letztlich in Unerreichbarkeit für menschliche Regungen, Ausfall des Humanen. Und an der Stelle argumentiert Montaigne sogar in deontologischer Weise ethisch, indem er nämlich nachdrücklich eintritt für Mitgefühl mit den Menschen und die ungehinderte Entfaltung des Lebens, in einem geradezu ökologischen Horizont ausdrücklich auch auf Tiere und Pflanzen sich erstreckend. Er spricht von einem Respekt, einer Ehrfurcht vor dem Leben, einer allgemeinen Pflicht sogar der Menschlichkeit: (a) Jedenfalls empfinden wir eine gewisse Achtung, eine allgemeine Verpflichtung zu menschlichem Verhalten (un general devoir d’humanité), die uns nicht nur mit den Tieren, die ein Gefühlsleben haben, verbindet, sondern sogar mit Bäumen und Pflanzen. Gegen Menschen sollen wir gerecht sein, gegen die anderen Wesen, die dafür empfänglich sind, freundlich und gütig: es besteht ein geheimes Band zwischen ihnen und uns, ein gegenseitiges Aufeinander-angewiesen-Sein (...).“ 68 Dies ist ein entscheidender Unterschied, angesichts des nachfolgenden Siegeszugs des Cartesianismus, für den Tiere und überhaupt ‚bloß’ Natürliches, der menschliche Körper nicht ausgeschlossen, beliebig zurichtbare Maschinen sind. Keine Trennung zwischen Mensch und außermenschlicher Natur machen wie Montaigne hingegen Diderot, aber auch Franz von Assisi, Schopenhauer, die Buddhisten, Orphiker, Pythagoreer. 48 Das Gewissen nimmt Montaigne als eine nicht unproblematische Größe, eine mitunter überwältigende Macht, die dazu treibt, „dass wir in eigner Person uns verraten, anklagen und bekämpfen“. 69 Darauf kann so Inhumanes wie die Folter errichtet werden. Im historischen Kontext der Religions- und Bürgerkriege wird daher eine kühne unzeitgemäße Kritik der Folter vorgetragen. Wenngleich auf dem Papier seit 1580 verboten, blieb zur Erpressung von Geständnissen vor Gericht die Folter überall im Schwange. So ganz und gar selbstverständlich, dass sogar der geistliche Zensor aus dem römischen Heiligen Offizium unter anderem auch Montaignes Verurteilung der Folter beanstandete und Berichtigung verlangte. Auch andere Formen der Grausamkeit, beispielsweise das Duell, den tödlichen Zweikampf um männliche Ehre, beanstandet Montaigne. 70 Der religiöse Fanatismus, der über die frühe Neuzeit so viel Leid brachte, wird, in gänzlich unbefangener Weise, der Kritik unterworfen. 71 Nicht zuletzt mit einer ‚Unzeitgemäßen Betrachtung’ sozusagen, nämlich einer Apologie des römischen Kaisers Julian. Flavius Claudius Iulianus (361-363), wie er mit vollem Namen hieß, war als Neffe Kaiser Konstantins christlich erzogen worden, hatte sich aber dessen ungeachtet zu einem Gegner des Christentums entwickelt. Eben dafür ist ihm der Schmähname Apostata (‚der Abtrünnige’) angehängt worden. In Wirklichkeit wollte Julian nicht so sehr eine ‚heidnische Restauration’ als vielmehr die Fortdauer der antik-paganen Bildung und im Übrigen Toleranz gegenüber allen religiösen Richtungen, nicht das Christentum in privilegierter, gar absoluter Position. Er hat wohl das christliche Staatskirchentum zu gewissen Reparationen herangezogen, die Rückgabe und Instandsetzung einer Anzahl ‚heidnischer’ Tempel verlangt. Aber er hat kein Blutvergießen aus religiösen Gründen veranlasst noch gewollt. Zwang in Gewissensentscheidungen lehnte er durchweg ab. Und eben diesen Fakten entsprechend ist Montaignes Darstellung einer historischen Größe jenseits des gängigen Vorurteils. 49 Die Vernunft des katalanischen Theologen, die Skepsis des Fragens und die Möglichkeit der Metamorphose Die „Apologie für Raymond Sebond“ 72 ist nicht nur der umfangreichste Text der „Essais“ (in der ‚Édition de la Pléiade’ über einhundertsiebzig Seiten, rund ein Fünftel des Gesamttextes), sondern auch das philosophisch gewichtigste Kapitel, ein den Rahmen sprengender kolossaler, beinahe systematischer Traktat, den der Autor selbst zum Schluss eine „lange und langweilige Abhandlung“ nennt. 73 Da verschiedentlich darauf zurückzukommen ist, sei in aller Kürze vorerst Folgendes wiederholt beziehungsweise erläutert: Montaigne hatte, auf Wunsch seines Vaters, Sebonds Schrift „Theologia naturalis sive liber creaturarum“ aus dem Lateinischen ins Französische übersetzt und in Paris 1569 unter dem Titel „Théologie Naturelle“ veröffentlicht (und war damit erst zum Publizisten geworden). 74 Der Autor Raimundus Sabundus, das ist der Katalane Ramón Sibiuda, hatte im fünfzehnten Jahrhundert in Toulouse als Magister der Theologie, der Artes und der Medizin gewirkt und war wiederholt Rektor der dortigen Universität. In den drei letzten Jahren vor seinem Tod am 29. April 1436 hatte er ein umfangreiches Buch verfasst, dessen Titel auf Deutsch lautet: „Das Buch der Geschöpfe oder das Buch über den Menschen“. Es umfasst einen Prolog und, in sechs Teilen, insgesamt dreihundertdreißig Kapitel. 75 Es war ein neuartiges Projekt und hatte zum Ziel, den Menschen durch Betrachtung der Geschöpfe auf allen Seinsstufen (esse, vivere, sentire, intelligere, velle libere; sein, leben, fühlen, denken, frei wollen) erst einmal vor sich selbst zu bringen, und ihn sodann, über die Stufenleiter der Natur und sich selbst hinaus, über die Stufenleiter der Gnade zu Gott zu führen. Dabei geht Raimund von einem Korrespondenzverhältnis zwischen Geschöpfen und Schöpfer, Mensch und Gott aus, so dass der Mensch aus der eigenen Verfassung heraus theologisch argumentieren kann. 76 Näherhin ist der Toulouser Magister damit befasst, die Wahrheit der christlichen Religion im Verlauf von Schöpfung, Erlösung, Vollendung aus bloßer Vernunft aufzuzeigen. Er will die Religion sozusagen aus der Welt als einem durch den Schöpfer eigenhändig geschriebenen Buch der Geschöpfe (liber creaturarum) herauslesen und 50 insgesamt in der Art eines umfassenden Wissens vom Menschen beweisen. Raimunds einzige Schrift ist ein an Laien gerichtetes theologisches Werk, worin das Dasein Gottes und die Wahrheit des Christentums und also ausdrücklich ‚alles Heilsnotwendige’ 77 auf rein rationalem Wege, ohne Schriftzitate und andere Autoritätsbeweise und auch ohne Verwendung scholastischer Terminologie, prompt und verlässlich aufgewiesen werden. Insbesondere sollte auch deutlich werden, dass der christliche Glaube nicht gegen die Natur ist, vielmehr für die Natur und zu ihrer und insbesondere des Menschen Erfüllung und Vervollkommnung. 78 Ihre Argumente entfaltet Sabundes „Natürliche Theologie“ im Gefolge des Anselm von Canterbury und namentlich des Raimundus Lullus. Die Wirkung des neuartigen Buches war beträchtlich. Sie erstreckte sich vor Montaigne schon auf Nikolaus von Kues, später unter anderem auf Pascal, Grotius, Comenius und François de Sales. Doch es hatte auch Kritik gegeben und sogar kirchliche Indizierung. Montaigne macht sich nun seinerseits daran, eine Verteidigungsschrift zu verfassen. Darin unternimmt er es, die Einwände, die gegen die sebundische „Natürliche Theologie“ vorgebracht werden, zu entkräften und zu widerlegen. Von Anfang an rückt er indes von allzu großem Vernunftoptimismus, dem überschwenglichen Zutrauen in die Erkenntnisleistung des Verstandes ab. Die menschlichen Überlegungen und Vernunftschlüsse versteht er insgesamt als bloßen Stoff, der erst noch in Form zu bringen ist. So dies geschieht, geschieht es durch die Gnade Gottes. Sie ist es, die dem brachliegenden menschlichen Rohstoff schließlich Gestalt und Bestand und Wert verleiht. In dieser gleichermaßen frommen wie durchaus philosophischen Weise, beinahe im Rahmen des aristotelisch-thomistischen Hylemorphismus als der Lehre von der Zusammensetzung aller endlichen Wesen aus Materie und Form, erweist sich das Menschlich-Materielle als angelegt auf Erfüllung durch die Form des Göttlichen. Insofern billigt Montaigne den Argumenten Sebonds, in sich zumindest ebenso stichhaltig wie irgendwelche anderen auch, eine vorbereitende und einführende, eine propädeutische Bedeutung zu. 79 In der genaueren Prüfung allerdings, ob denn überhaupt durch logisch-rationales Denken irgend Gewissheit zu erlangen sei, findet Montaignes Auseinandersetzung mit Sabunde zu einer Neubegründung der Skepsis. 51 Und mit dieser Wiederbelebung der antiken Skepsis ist eine unumgängliche Voraussetzung geschaffen für das philosophische Denken der Neuzeit. Näherhin verläuft Montaignes Denkweg folgendermaßen: Zunächst einmal betrachtet er den Menschen für sich allein und ganz auf sich gestellt. 80 Er entwickelt so Grundzüge einer Lehre vom Menschen, unterbreitet womöglich mit der Apologie die erste philosophische Anthropologie überhaupt. Hauptsächlich am Mensch- Tier-Vergleich entfaltet, fasst sie den Menschen fern der herkömmlichen Anthropozentrik als gleichrangig eingegliedert in die große Gemeinschaft aller Lebewesen. 81 Anders als seine animalischen Mitgeschöpfe leidet allerdings der Mensch an einem, wie Montaigne meint, verheerenden Hang zu Einbildung, Anmaßung und dünkelhafter Selbstüberhebung. Und in diesem Zusammenhang, als Heilmittel nämlich gegen die menschliche Überheblichkeit, empfiehlt Montaigne den Pyrrhonismus, die Lehre des antiken Skeptikers Pyrrhon. Er sagt darüber: (a) Noch nie haben Sterbliche etwas so offensichtlich Wahrheitsgemäßes und Heilsames ersonnen wie die Lehre des Pyrrhon. Sie stellt den Menschen als nackt und leer dar, so daß er seine natürliche Schwachheit erkennt, die ihn für eine von außerhalb, aus der Höhe kommende Kraft empfänglich macht (...) (b) - als ein weißes Blatt, bereit, den Finger Gottes alle Worte nach dessen Gefallen hierauf niederschreiben zu lassen. 82 Abgesehen von derartig skeptisch-frommer Rezeptivität scheint dem Menschen nichts weiter zuzustehen als sich „durch Mutmaßungen dem Wahrscheinlichen zu nähern suchen“. 83 Insofern werden Vernunft und Sprache, die Wissenschaft, aber auch Religion und Politik in kritischer Weise eingegrenzt, insgesamt auf ein menschliches Maß zurückgeführt. Zuhöchst kann nicht ein Satz stehen, nicht Proposition, Assertion, Enuntiation, nicht ein Urteil, welcher Art auch immer, nicht eine Erkenntnis. ‚Auf dem Gipfel der Betrachtung’, dem apex theoriae, ist ausdrücklich nichts anderes vorzubringen als ‚nur’ das Offene einer Frage: „Was weiß ich? “ 84 Im Zeichen derartig vorsichtiger Fraglichkeit und mit Hilfe einer ihr gemäßen neuen Sprache soll in erster Linie ermöglicht sein, bestehende Gegensätze auszuhalten, nicht aber ihretwegen oder aus noch so gutgemeinten Absichten dem Fanatismus zu verfallen, 52 der Gewalt und dem Krieg. Que sais-je? lenkt den Menschen auf seine wirkliche Lage und letztlich das Individuum auf sich selbst zurück. Die Frage stellt sich ganz konkret: Ich, was weiß ich? Das Bemühen um Reflexion, um die ihrerseits bereits von schier unüberwindlichen Schwierigkeiten angegriffene Selbsterkenntnis soll die Menschlichkeit des Menschen, sein friedliches Sich-Einfügen in Natur und Gesellschaft ermöglichen. In bestürzend moderner Weise erscheint die Existenz für sich so verschwindend gering wie ein „Blitzstrahl im endlosen Lauf einer ewigen Nacht“. 85 Bei aller unabgeschlossener Fraglichkeit bleibt, jenseits von Rationalismus und Fideismus, gleichwohl der Transzendenzbezug. Montaigne zitiert die Bibel und wiederholt einen Vorwurf des Apostels Paulus: „Da die Menschen sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben verwandelt die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein Bild des vergänglichen Menschen.“ 86 Gegenläufig dazu soll Gott gewahrt werden, freilich als eine letztlich „unbegreifliche Macht“. 87 Der Anspruch, das, was unter Menschen Gott genannt wird, im strengen Sinne zu erkennen und zu beweisen, bleibt ausgeschlossen. Anders als Anselm von Canterbury und Thomas von Aquino, ähnlich aber wie zuvor im 14. Jahrhundert der innovative Franziskaner Wilhelm von Ockham, ist Montaigne der Auffassung, angesichts göttlicher Erhabenheit, unbedingter Freiheit und Souveränität sei es ausgeschlossen, dass Gott „sich von unsren Schlüssen binden und fesseln ließe“. 88 Bei aller Zurückhaltung kann Montaignes Erkenntniskonzeption beinahe illuministische Züge annehmen. Der Verstand, demzufolge kaum in der Lage, sich selbst zuverlässig zu kennen, ist letztlich nichts weniger als die Vernunft selbst. Die Vernunft nun allerdings, laut Montaigne, die (a) wohnt im Herzen Gottes. Dort ist ihre Herberge und feste Burg, und von dannen kommt sie, wann immer es ihm gefällt, uns einen Strahl hiervon erschauen zu lassen, so wie Pallas ihres Vaters Haupt entsprang, um sich der Welt zu offenbaren. 89 Montaigne, der in der Zeit der Religionskriege beharrlich dem alten Glauben treu bleibt, distanziert sich gemäß den gegenreformatorischen Beschlüssen des Konzils von Trient von überzogenen Begründungsansprüchen der Religion. Er tritt (averroistisch vielleicht und ähnlich wie Ignatius von Loyola) für eine weitgehende 53 Trennung von Glauben und Denken ein. 90 Mit Nachdruck hervorgehoben wird allerdings die Einzigartigkeit des Vaterunsers: „es sagt alles, was zu sagen not tut und ist für alle Gelegenheiten vollkommen angemessen.“ 91 So klingt das Apologie-Kapitel durchaus fromm und gottesfürchtig aus. Eingedenk der menschlichen Nichtigkeit, angesichts der Schwierigkeiten, die sich der Erkenntnis allein schon des „eignen Wesens in den Weg stellen“ 92 , deutet Montaigne, noch weit vorsichtiger, gleichwohl die Möglichkeit einer Umgestaltung an. Metamorphose, so lautet das letzte Wort des enormen Kapitels. Aber die entscheidende Umgestaltung, die sich damit am Horizont abzeichnet, will er nicht von selbstgeleisteter (stoischer) Tugend abhängen sehen. Sondern allein dank des Glaubens scheint ihm schließlich eine „göttliche und wunderbare Verwandlung“ in Aussicht zu stehen: divine et miraculeuse metamorphose. 93 Wodurch wir Menschen sind: Selbstannahme und Kommunikation Ein eigenes Kapitel 94 handelt vom Dünkel, der Anmaßung, der Einbildung, der Selbstüberschätzung, dem falschen Stolz, der narzisstischen Eigenliebe gemäß einem überwertig-geschönten Bild. Es ist in den Augen Montaignes die eigentlich angeborene Krankheit des Menschen. 95 Demgegenüber setzt er auf ein integres Selbstwertgefühl, wirbt für eine angemessene, realistische Selbsteinschätzung, eine stabile Selbstachtung, die Selbstannahme ohne Wenn und Aber. Das schließt die Abkehr von Verstellung ein und den Mut stattdessen, der zu sein, der man ist und möglichst so sich zu zeigen, wie man ist. 96 Bei aller Berechtigung von Maske und Rolle im gesellschaftlichen Spiel klingt hier ein Verlangen nach Authentizität, Aufrichtigkeit, ja (quasi religiöser) Lauterkeit an, wie es während der Neuzeit die französische Moralistik und noch den Existentialismus des 20. Jahrhunderts wie auch Ricœurs phänomenologisch-hermeneutische Ethik des Selbst bestimmen wird. Den Satz, dass „Wahrhaftigkeit der Anfang einer großen Tugend sei“, den Montaigne aus Plutarch zitiert, will schließlich André Gide den „Essais“ schlankweg als Motto voranstellen. 97 Aber Montaigne lehrt nicht, sondern er berichtet. Er gibt eine eingehende 54 Beschreibung seiner Selbsterfahrung, ohne irgendeinen wesentlichen Bereich auszulassen, mit allem, was dazugehört: sowohl die condition matérielle de notre être, der Körper in Freuden wie in Leiden als auch ein hoch entwickelter, feinsinniger Geist, ein unbestechliches Urteilsvermögen, eine ungetrübte Apperzeption, ein Sensorium, Klugheit, Geschmack. Schließlich ergibt sich eine ungemein differenzierte, durchaus ambivalente und ironische Selbsteinschätzung: (a) Schwerlich dürfte irgendein andrer sich geringer schätzen, ja irgendein andrer mich geringer schätzen, als ich mich selbst. (c) Ich zähle mich zur gewöhnlichen Art, außer darin, daß ich mich hierzu zähle - schuldig der niedrigsten und nichtswürdigsten Charakterfehler, doch ohne sie zu leugnen oder zu bemänteln; und allein darin eben sehe ich meinen Wert: daß ich weiß, wie wenig ich wert bin. Sollte sich unter diesen Schwächen auch Dünkel finden, so hat ihn mir die Tücke meines Naturells eingeträufelt, aber nur oberflächlich, denn er ist mir keineswegs so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er dem prüfenden Blick meines Verstandes erkennbar wäre. Ich bin allenfalls besprenkelt damit, aber nicht durchtränkt. (a) Die Wahrheit ist, daß von mir, was die Werke des Geistes in welcher Form auch immer betrifft, noch nie etwas hervorgebracht wurde, das mich völlig befriedigt hätte; der Beifall andrer aber gibt mir nichts. Ich habe einen heiklen und wählerischen Geschmack, namentlich mir selbst gegenüber; ohne Unterlaß verwerfe ich, was von mir kommt, und bei allem fühle ich mich vor Schwäche wanken und weichen. Nichts ist mir eigen, was meinem Urteil standhielte. An sich habe ich einen durchaus klaren und sichren Blick; sobald es aber ans Werk geht, verwirrt er sich, wie ich es am deutlichsten bei meiner Beschäftigung mit der Dichtung erfahre. Ich liebe sie unendlich, und ich verstehe mich recht gut auf die Schöpfungen andrer; will ich mich aber eigenhändig damit befassen, stelle ich mich wahrhaftig nicht geschickter an als ein Kind. Kurz, ich finde meine Sachen unausstehlich. 98 Montaignes Herzensanliegen besteht darin, das Wirkliche zu erfassen, 99 in angemessenem Urteil alles für das zu nehmen, was es ist. Und das ist wohl in der Tat die Grundaufgabe, die unseresgleichen überhaupt gestellt ist. Über die Rolle der „Essais“ in diesem Prozess gibt der Autor weiteren Aufschluss. 100 (c) Indem ich dieses Porträt nach mir formte, mußte ich, um die wesentlichen Züge aus mir herauszuholen, derart oft die rechte Haltung 55 einnehmen, daß das Modell selber erst feste Konturen darüber gewonnen, sich gleichsam selber erst ganz durchgestaltet hat. Indem ich mich für andre malte, legte ich klarere Farben in mir frei, als sie es ursprünglich waren. Ich habe mein Buch nicht mehr gemacht, als es mich gemacht hat: ein Buch, das mit seinem Autor wesensgleich ist, nur mit mir beschäftigt, unabdingbarer Teil meines Lebens und nicht auf außerhalb seiner selbst liegende Ziele gerichtet wie alle Bücher sonst. 101 Ein paar Zeilen weiter wird diese Einstellung verdichtet zu einer ausgesprochen ethischen Überzeugung mit einer klaren Priorität auf dem Individuellen: Von der Natur wurden wir mit der Fähigkeit beschenkt, uns weitgehend mit uns allein zu unterhalten, und häufig fordert sie uns eigens hierzu auf, weil sie uns zu der Erkenntnis führen will, daß wir zwar einen Teil von uns der Gesellschaft schuldig sind, den größren jedoch uns selbst. 102 Was derart entfaltet wird, ist gleichwohl eine Kultur des Wortes, und nicht etwas bloß Artistisches, sondern zugleich etwas - nun doch Ciceronianisch-Rhetorisches, etwas, was zurückführt in die Gesellschaft, in die Politik und in das Ganze der Kultur. Das Wort ist nicht Selbstzweck, sondern der Garant einer im Letzten sozialethischen Akzentuierung. Daran nämlich, wie eine Gesellschaft es mit dem Wort hält, daran hängt letztlich ihr Zustand überhaupt: (a) Da wir uns allein durch das Wort verständigen können, verrät, wer es fälscht, die Gesellschaft. Das Wort ist der einzige Weg, auf dem Denken und Wollen der Menschen miteinander kommunizieren, es ist der Mittler unsrer Seelen. Wenn es uns verlorengeht, geht der Zusammenhalt zwischen uns verlorn, und wir haben keine Kenntnis mehr voneinander. Wenn es uns betrügt, zerstört es all unsern Umgang, und alle Bande des menschlichen Miteinander werden zerrissen. 103 Wahrhaft grundlegend also ist die Sprache, die gesprochene, lebendige, vitale, jenes Erste, womit Menschsein steht und fällt, in einem jeden Einzelnen und in allen samt und sonders: „Nur durch das Wort sind wir Menschen und zur Gemeinschaft fähig.“ 104 57 Ein zusätzlicher und letzter Band: Buch III Zur Erinnerung: Das Werk „Essais de Michel de Montaigne“, das sind in der ersten Auflage zwei Bücher, geschrieben in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts, veröffentlicht in zwei Bänden zu Bordeaux anno 1580. Danach geht Montaigne, siebenundvierzigjährig, auf eine große Reise. Im November 1582 kehrt er zurück, um ein öffentliches Amt zu bekleiden, das des Maire et Gouverneur de Bordeaux. Gleichfalls 1582 veranstaltet er selbst eine zweite Auflage der „Essais“ I/ II (versehen bereits diesmal mit einigen Korrekturen und Zusätzen). Er denkt und schreibt weiter an seinem Werk: immerfort Einschübe und darüber hinaus dreizehn weitere Kapitel für ein zusätzliches Drittes und letztes Buch. Es ist als der bedeutendste Teil anzusehen, es enthält die ausgereiftesten Kapitel. Fern des anfänglichen Literaturstudiums, des Kompilierens von Klassiker-Stellen, beschreibt Montaigne nun vornehmlich sich selbst und gelangt, was mehr ist, von der Selbstdarstellung schließlich zur Konturierung des Menschseins insgesamt. Hier liegt denn auch die Legitimität philosophischer Beschäftigung mit diesem Stück der Weltliteratur: der Skopos, der Montaigne freilich nicht von Anfang an deutlich vor Augen gestanden haben muss, liegt eindeutig in einer Menschen- und Lebenskunde von letztlich philosophischer Bedeutung. Was er vorbringt, ließe sich bezeichnen als ebenso genialer wie fruchtbarer Ansatz zu sachgerechter praktischer Orientierung im Bereich der condicio humana. Was jede/ r ganz enthält: die Form des Menschseins Des Autors reife Einstellung kommt besonders prägnant in der Eingangspassage des Kapitels „Über das Bereuen“ zum Ausdruck. 1 Montaigne führt da aus, dass er, anders als üblich, darauf verzichtet, Menschen leiten und bestimmen zu wollen und sich stattdessen mit dem Versuch einer Schilderung seiner selbst begnügt. Ohnehin lasse sich in einer Welt der Bewegung nichts gegenständlich fixieren. Alles unterliege der Zeit. Nur Momentaufnahmen und Perspektiven seien möglich. Wäre es anders, so sagt er, dann allerdings würde er sich nicht unentwegt erproben, nicht ausschließlich als Lernender derart essayistisch sich verhalten, sondern er würde 58 in diesem Fall zu einer Lösung zu kommen suchen. 2 Nun aber, da keiner darauf angewiesen ist, von andern sich Form vorgeben zu lassen, so hat umso mehr ein jeder die Möglichkeit und die Aufgabe, sich um sich zu bemühen und in der Arbeit an sich selbst darauf zu kommen, dass eben hier die Quelle ist, aus der das lebensrelevante Philosophieren entspringt. Es geht also nicht um die Frage, ob wir etwa Reue zu empfinden haben bezüglich dessen, was wir sind. Oder anders gesagt, ob wir am Ende wünschen müssen, anders zu sein als wir tatsächlich sind. Die eigentliche Aufgabe besteht geradezu darin, „das menschliche Leben seinen genuinen Gegebenheiten gemäß zu leben“. 3 Und das ist die Antwort aus dem Munde des Sokrates, des weisesten aller Philosophen, 4 und insofern zugleich die entschiedenste Absage an eine Lebensform der Machtentfaltung, wie sie im Altertum namentlich in Alexander dem Großen verkörpert schien. Ganz aufs Pragmatische verkürzt, lautet die Devise, die Montaigne als den Wahlspruch und Kehrreim des (xenophontischen) Sokrates hochhält, schlicht und einfach: „Je nachdem man kann.“ 5 Diese elementare Maßgabe wird auf den letzten Seiten der „Essais“ als sogar göttlicher und also schlechterdings vorzüglichster Auftrag bestätigt. Der Mensch, heißt es nun, habe den Auftrag, conduire l’homme selon sa condition. 6 Die conduite, die Lebensführung des Menschen, erfolgt gemäß seiner condition. Was hat es damit auf sich? Hierzu fällt ein Satz, der nicht nur der meistzitierte der „Essais“ geworden ist, sondern in der Tat auch der bedeutendste ist. Mit ihm steht und fällt das ganze Unterfangen. Er ist sozusagen selbstevidentes Axiom des menschlichen Gemeinsinns und Fixstern der montaigneschen Essayistik. Dieser Satz besagt: chaque homme porte la forme entiere de l’humaine condition. Auf Deutsch und im Kontext: Ich schildere ein niedriges und ruhmloses Leben. Nun gut. Man kann die ganze Moralphilosophie ebensogut an ein gewöhnliches Privatleben anknüpfen wie an ein ereignisreicheres Leben; ein jeder trägt die gesamte Form des Menschseins in sich. 7 Es ist dies, wie immer wieder bemerkt, eine Behauptung, durchaus assertorisch-kategorisch vorgetragen, ohne Einschränkung und Vorbehalt, vielmehr mit erheblichen Implikationen begriffs- und 59 ideengeschichtlicher sowie sogar spekulativer Art. Was also ist mit diesem Satz ausgesagt? Drei Punkte sind zunächst hervorzuheben: Erstens: Der Vorrang des einen, ungeteilten Menschseins vor jeder Differenzierung und Spezialisierung. Ein jeder, eine jede, ob Frau, ob Mann; ob jung, ob alt; ob hoch, ob niedrig; ob gesund, ob krank, ob Beheimateter, ob Fremder, ob wohlgestaltet, ob Monstrum, ein jeder, in der ganzen ‚Unendlichkeit von Formen’, ist - unabdingbar - voll und ganz Mensch. Zweitens: Das definitive Bestimmtsein durch die gemeinsame Lage aller und die Gesetze des Lebens. Ein jeder ist - unentrinnbar und optionslos - Mensch, nicht beispielsweise Engel oder Gott, und auch nicht Tier, nicht Pflanze. Eine jede menschliche Existenz ist ausgesetzt zwischen Geburt und Tod, in dem einen Umkreis menschlicher Angelegenheiten angesiedelt, eine unteilbare Einheit von Körper und Geist, Leib und Seele. Drittens: Die Würde und Autonomie des Menschen. Der Mensch kann nicht etwas anderem schlechthin untergeordnet werden. Er selbst ist die Autorität, von der die Sinndeutungen und Zwecksetzungen in Ethik und Moral ausgehen. In Montaignes indikativischer Formel ist nichts weniger als die Unumgänglichkeit der Humanität festgehalten, die uneingeschränkte Anerkennung der Menschheit in einem jeden menschlichen Individuum. Die Formel ist, so gesehen, der Sache nach nicht allzu weit entfernt von dem späteren ominösen kategorischen Imperativ, den der preußische Aufklärungs-Denker Kant unter anderem bekanntlich in die Variante fasst: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ 8 Dies besagt, umgangssprachlich ausgedrückt, ungefähr so viel wie: ‚Handle so, daß du die Menschheit in der Person eines jeden einzelnen anerkennst’. Man kann noch einen Schritt weiter gehen und in Montaignes Verschränkungsformel sogar schon etwas von jener im 19. Jahrhundert durch Karl Marx konkretisierten menschheitlichen „Assoziation“ angelegt sehen, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ 9 . Außer der allgemeinen Übereinkunft in der einen condicio humana hebt Montaignes Satz ein Weiteres ausdrücklich hervor: dass 60 nämlich ein jeder Mensch die ganze Form des Menschseins repräsentiere: la forme entiere (forma integra). Im Begriff der Form aber ist eine Fülle ausgesprochen spekulativer Bestimmungen mitgegeben. Zu diesen Konnotationen einige Andeutungen: Menschsein ist durch Form (das bestimmende Prinzip der scholastisch-aristotelischen forma substantialis) geprägt, nicht einfach als Materie vorhanden. Es verwirklicht sich als Gestalt, bietet einen Anblick, ein Bild. In dynamisch sich wandelnder und doch ähnlich bleibender Gestalt erweist sich immerzu, dass der Mensch in einem Verhältnis steht zu sich selbst wie zu seinesgleichen, denn es ist (nach aristotelisch-boethianisch-thomistischer Tradition) die Form, die kommunikabel ist und universal. Diese Verhältnisse artikulieren sich differenziert und prozessual, als konkrete Ausgestaltungen nämlich der Möglichkeit der Entwicklung, der Entfaltung, der Kultur und der Bildung näherhin. Um es in Anlehnung an Plessners philosophische Anthropologie zu sagen: „Jede Gestalt als die ‚geprägte Form, die lebend sich entwickelt’, wird selbst eine eigenwillige Welt unter den Welten, ein Gleichnis des Alls. Das Einzelne bedeutet nun Individualität und beansprucht gleiche Selbständigkeit wie das umfassende Ganze des Daseins.“ 10 In erster Linie stellt sich daher die Aufgabe des Verstehens seiner selbst und der anderen. Und also zugleich der Liebe, zunächst und - wie schon Sabundus und beispielsweise Erasmus betonen - unabdingbar seiner selbst, sodann auch der anderen, denn Verstehen und Liebe hängen wechselseitig voneinander ab. Liebe, so führt Sabundus breit aus, ist das erste Geschenk. 11 Ihr eignet die Kraft der Einigung und Umbildung, 12 nämlich das Vermögen schließlich der Verwandlung des Liebenden in das Geliebte. 13 Die Rede von der Gesamtform des Menschseins (als scholastische forma superaddita) hält nicht nur die Erinnerung wach an die biblische Überlieferung vom Menschen als Kreatur des Schöpfers (conditio conditoris), der, scholastisch gesprochen, als das Sein schlechthin (primus actus formalis) allem Geschöpflichen Anteil an seinem Sein verleiht. Im Wort Form schwingt zugleich die Vorstellung mit, dass der Mensch insbesondere Bild und Gleichnis Gottes sei. 14 Folglich besteht seine Aufgabe darin, danach sich zu richten und dementsprechend, korresponsiv also, sich und die Menschheit überhaupt zu erbauen. 15 Das ist die eigentlich menschliche Bildung 61 (formatio). Es ist zugleich die wahre Lebenskunst, jene erste und höchste künstlerische Tätigkeit, die der Einzelne an sich selbst wahrzunehmen und auszuüben hat. Nicht zuletzt auch deshalb Montaignes Distanzierung gegenüber den weitverbreiteten Formierungsanmaßungen: „Die anderen stülpen den Menschen ihre Formen über; ich dagegen berichte nur und stelle einen einzelnen vor, der kaum Form aufzuweisen hat.“ 16 Die Möglichkeit genauer Erkenntnis der Beschaffenheit des göttlich-menschlichen Seins, also des So-Seins über das Dass-Sein hinaus, die besteht nicht. Wie es im Übrigen auch dem biblischen Bilderverbot (Ex 20,4) entspricht. Es bleibt daher das Verwiesensein auf Zeichen und Symbole. Der Einzelne kann sich selbst zum Spiegel werden, aber auch den anderen, sowie sie ihrerseits ihm. In überhaupt allem Wahrnehmbaren bieten sich Aspekte und Facetten des Einen und Ganzen, das als solches uneinholbar bleibt. Dies alles ist bereits Thema der sabundischen „Natürlichen Theologie“! In eben der Weise reflektierend und handelnd, kann der Mensch die göttliche Dimension des Wirklichen analog erschließen, ja mit ihr ansatzweise übereinkommen, bis dem ganzen Werk der Schöpfung und Erlösung zu guter Letzt die Krone aufgesetzt, die Vollendung hinzugegeben wird. Schon in der „Apologie de Raimond Sebond“ hieß es, dass es die Form ist (die gnadenhafte forma superaddita), welche der in sich trägen und unfruchtbaren, unförmigen Materie (sic! ) der menschlichen Vernunftschlüsse erst Gestalt, Bildung, Licht und Wert verleiht. Es ist christliche Gnadentheologie, woraus hervorgeht, dass in erster Linie eine jede einzelne Person (als forma specialissima), zugleich mit der ihr anhaftenden kreatürlichen Niedrigkeit und Bedingtheit, gleichsam überwölbt wird von der einen ganzen hohen Gestalt und dem einen ganzen erhabenen Wert des Menschseins überhaupt. (a) Unsere menschlichen Überlegungen und Vernunftschlüsse sind gleichsam ungeformter und brachliegender Rohstoff, den in Form zu bringen nur die Gnade Gottes vermag: Sie erst gibt ihm Gestalt und Wert. (...) unsere Ideen und Überlegungen ermangeln keineswegs jeglicher Substanz, bleiben aber ungeformte Masse, unbestimmt und unerleuchtet (...). 17 Viel von diesen Ideen hat Montaigne außer bei Raimundus Sabundus in einem mehr politischen Kontext auch bei seinem Freund 62 La Boétie lesen können. An einer Kernstelle des „Discours de la servitude volontaire“ („Von der freiwilligen Knechtschaft“) finden sich folgende Ausführungen: Die Menschen seien von Natur aus alle nach einer Form und nach dem gleichen Entwurf gebildet (tous ... de même forme et ... à même moule), damit unter ihnen Anerkennung, geschwisterliche Liebe und solidarische Hilfe Raum gewinne. Allen sei die ganze Erde zum Aufenthalt gegeben, allen im selben Hause Wohnung bereitet, und alle seien nach dem gleichen Muster geschaffen, damit jeder sich im anderen spiegele und gleichsam selbst erkenne. Dank Stimme und Sprache sei Verständigung ermöglicht und gemeinsame Willensbildung. Die ursprüngliche Intention liege daher nicht bloß darin, dass alle vereinigt, sondern - als zugleich Gesellige wie auch wahrhaft Freie - schließlich überhaupt eins würden. 18 Montaignes Satz tradiert überdies einiges, was ein Jahrhundert zuvor in besonderer Deutlichkeit im neuartigen antischolastischen philosophischen Denken des deutschen Kardinals Nikolaus von Kues zu Begriffe gebracht worden war. Nikolaus hatte seinerseits die Terminologie der in neuplatonischer Tradition stehenden Schule von Chartres übernommen. Ihr zufolge gibt es eine göttliche Form (forma divina), welche als Form aller Formen (rerum omnium forma) die Vielheit der Formen entfaltet und diese wiederum in gewisser Weise zu Einem zusammenfaltet. Form in diesem transzendenten Sinne heißt Vollkommenheit und Ganzheit (forma, id est perfectio et integritas). Cusanus zufolge ist in jedem Einzelteil das Ganze enthalten, leuchtet überall das Ganze hervor. Das konkrete Einzelne ist näherhin zu verstehen als Ausfaltung dessen, was zuvor in dem Einen Ganzen als Einfaltung enthalten ist. In dem Buch „De coniecturis“ („Mutmaßungen“) entwickelt Nikolaus eine ars coniecturalis, eine subtile Kunst des Mutmaßens und Abwägens als symbolische Jagd, als Erprobungen einer belehrten Unwissenheit (docta ignorantia), die der Essayistik, die Montaigne erfindet, in gewissen Grundzügen nahekommt. Darin heißt es programmatisch, „unser Streben (sei) am brennendsten darauf gerichtet (...), in uns selbst die Kenntnis des Wahren zu erfahren.“ 19 Ferner ist, was den menschlichen Bereich betrifft, Folgendes ausgeführt: Die menschliche Natur insgesamt ist auf menschliche Weise eingeschränkt, und, da sie alles entsprechend dieser Arteinschränkung 63 einfaltet, kann sie zu allem auf menschliche Weise hinkommen. Menschsein ist auf menschliche Weise realisierte Unendlichkeit. Ihm eignet die Möglichkeit, alles in einem Umkreis menschlicher Dinge zu entfalten. Indem die Menschlichkeit solcherart sich entfaltet, gelangt sie nicht über sich hinaus, sondern erfährt alles Ausgefaltete als zuvor in sich enthalten. 20 Der menschliche Geist, verstanden als Abbild der einen göttlich-allmächtigen Form (imago omnipotentis formae), ist entsprechend seinerseits Form der menschlich-mutmaßlichen Welt (coniecturalis mundi forma). Unter Menschen gibt es niemals ein schlechthin genaues Erfassen der Wahrheit und keinesfalls ein unverkürztes Verstehen des einen durch den anderen. Direkte Mitteilung ist also nicht möglich. In der Schrift „Vom Sehen Gottes“ heißt es, die Menschheit, in allen Menschen eine einfache und eine, finde sich in allen und in den einzelnen Menschen. Die Natur des Menschseins sei mit dem einen Menschen nicht mehr verbunden als mit einem anderen, und sie sei gleichzeitig dem einen in so vollkommener Weise verbunden, als ob sie keinem anderen verbunden wäre. Schließlich liest man: Es ist die Gestalt, die der gestalthaften Natur das Sein gibt. Ohne sie kann es keine eigengestaltliche Form geben, da diese ihr Sein nicht durch sich hat. Sie stammt von jener, die durch sich selbst ist und vor der es keine andere gibt. Die Form, die der Eigengestalt das Sein gibt, ist die absolute Form. 21 Montaignes antiplatonische Essayistik wäre so gesehen doch in einem wesentlichen Sinn die Einlösung des platonisch-neuplatonischen Programms der Philosophie: Selbstsein aus dem Ganzen des Seins heraus. Diese anfängliche grundlegende „Sorgfalt auf sich selbst“ 22 , nun aber erst recht herausgestellt als ein kreativer Prozess individueller Selbstgestaltung. Indem solcherart einer wird, was er ist, entspricht er der sokratischen Forderung, mit sich übereinzustimmen. Mehr noch, indem er es an sich selbst nicht fehlen lässt, erfüllt er die allerdings unerlässliche Bedingung, dass ihm auch das Sein nicht fehle. Liebe als Leidenschaft und das Risiko der Selbstablehnung Um nun zurückzukehren auf die Ebene der Konkretion, so fallen verschiedene Formen des Austauschs und Verkehrs in Betracht: 64 Umgang mit Menschen, Freunden also und Frauen, aber auch mit Dingen, Büchern namentlich. 23 Leben, wirklich leben, nicht bloß da sein, heißt in Austausch sein und sich nach außen wie nach innen beweglich halten. Am günstigsten ausgestattet ist, wer gewissermaßen über „eine Seele mit mehreren Stockwerken“ verfügt. 24 Denn das Leben selbst ist eine nicht einförmige, unregelmäßige und vielgestaltige Bewegung. 25 Über einen Umgang spezieller Art, den erotischen nämlich, handelt, ausgesprochen galant, ein Kapitel unter dem Titel „Über einige Verse des Vergil“. 26 Es sind Verse fürs Erste aus der „Äneis“ 27 . Sie schildern den ehelichen Verkehr von Venus und Vulkan (Aphrodite und Hephaistos heißen sie bei Homer). Einige Seiten später wird neuerdings zitiert, andere Verse, diesmal aus Lukrez 28 , die nun aber ein außereheliches Liebesabenteuer besingen, jenes ominöse der Venus mit Mars (Aphrodite mit Ares). Es ist eine berühmte Szene, die sich schon bei Homer 29 findet und auch in der Malerei, beispielsweise bei Botticelli, Tintoretto, Veronese, Rubens, des Öfteren dargestellt geworden ist. Montaigne würdigt die Trefflichkeit und überhaupt den Rang von Lukrez’ demokritischepikureischer Poesie. Offensichtlich gibt es in den „Essais“ eine Tendenz zu einer gewissen Assoziationenkonstanz, mehr oder weniger fixen Themenkonstellationen. So erscheint wiederum die Verbindung von Liebe und Tod, Eros und Thanatos. Sodann die Dissoziierung von Ehe und Liebe. Ehe demnach ist eines, ein durchaus Bedeutsames und Respektables, jedoch Liebe im elementaren Sinn ist ein anderes. Erotisch-leidenschaftliche und -freizügige Liebe lässt sich nicht an anderes binden, nicht vertraglich regeln, noch gar garantieren. Des Weiteren findet sich erneut die Unumgänglichkeit der Mäßigung, freilich nicht in stoisch einseitiger Weise bloßer Vernunftherrschaft über die Affekte, sondern Mäßigung in allem, denn auch die Vernunft kann übertrieben werden, die Moral allzu rigide ausfallen. Liebenswert ist zuallererst eine Weisheit, die fröhlich ist und umgänglich. 30 Liebe, das sagt Montaigne unumwunden, ist, wenn nicht gar schlichtweg das vegetative Grundbedürfnis und vitale Vergnügen, die entsprechenden „Gefäße zu entleeren“ 31 , so doch „(b) das Verlangen nach sinnlichem Genuss (c) durch ein Wesen, das man ersehnt.“ 32 Insbesondere bei einem solchen Sehnen nach einem Wesen, das den 65 Liebenden entzückt und begeistert (nach dem Modell von Eros und Psyche, Amor und Cupido), ist eines unerlässlich: Illusion, Einbildung, Phantasie. „Liebe ist eine Leidenschaft, die aus einer Mischung besteht von recht wenig wirklicher Substanz und viel mehr Hirngespinsten und unruhiger Erwartung: dementsprechend sollten wir sie befriedigen und ihr dienen.“ 33 Man soll der Liebe geben, was ihr Teil ist: „(b) Die Lebensweisheit hat nichts gegen die natürliche Sinnenlust einzuwenden (...); (c) sie predigt Mäßigung, nicht Flucht vor ihr.“ 34 Die Liebe, körperlich, fleischlich, wie sie ist, ist der Punkt, an dem der Mensch stark (vielleicht am meisten) Gefahr läuft, sich nicht anzunehmen: „Was ist der Mensch für ein Untier, wenn er vor sich selber Abscheu empfindet, (c) wenn ihm seine Lust zum Ärgernis wird, wenn er sich als einen Fluch betrachtet! “ 35 Obwohl sich auch Montaigne über die Umstände der konkret-physischen Liebe mitunter geradezu entsetzt äußert, sie mit Lukrez eine „ewige Wunde“ 36 nennt und obendrein wie so viele philosophische und poetische Naturen die dichterisch besungene Liebe entschieden über die realisierte stellt, macht er die weitverbreitete Abwertung, Entsinnlichung und Sublimierung denn doch nicht mit. Er ist einer der Ersten, nach Boccaccio und Aretino und vor Shakespeare und Lichtenberg, die hier, in puncto puncti, 37 unbestechlich insistieren: Das geschlechtliche Verhalten des Menschen nimmt er als natürlich, selbstverständlich, richtig und gerecht. Er kann auch kein Verständnis dafür aufbringen, dass darüber nur „verlegen zu sprechen gewagt wird“. Anstandslos werde von Töten geredet. Aber vom Lieben nur in gezwungener, verdrückter Form. Und einsichtig merkt er an: Was nicht ausgesprochen werden dürfe, das nehme umso mehr Raum in der Vorstellung ein. 38 Mit alldem gebührt Montaigne in der Tat das Verdienst, in der Neuzeit „die menschliche Geschlechtlichkeit zum philosophischen Thema erhoben zu haben“. 39 Wahn, Eitelkeit: Verletzlichkeit des Lebens Unter dem Titel „Über Wagen“ stehen Seiten, die zu jenen zählen, die Montaigne am meisten Ehre machen: Zeugnis, ebenso unzeitgemäß wie unbestechlich, seiner Indignation über die Gräueltaten der (spanischen) Konquistadoren in der Neuen Welt. 40 Hier hätten 66 die Chancen einer zeitgerechten, nicht rückwärtsgewandten Renaissance gelegen: Welche Wiedergeburt wäre dies gewesen, und welch ein Aufschwung für dieses ganze Weltgetriebe, wenn unser erstes Beispiel und Auftreten vor ihren Augen diese Völker zur Bewunderung und Nachahmung der Tugend entflammt und zwischen ihnen und uns eine brüderliche Gemeinschaft und Eintracht aufgerichtet hätte! (...) Wir haben uns im Gegenteil ihrer Unwissenheit und Unerfahrenheit bedient, um sie nach dem Beispiel und Vorbild unserer Sitten desto leichter (...) zu jeder Art von Unmenschlichkeit und Grausamkeit abzurichten. Wer hat jemals den Vorteil des Handels und Schachers so hoch angeschlagen? So viele Städte sind dem Erdboden gleichgemacht, so viele Völker ausgerottet worden, (...) und die reichste und schönste Weltgegend ward verwüstet, um mit Perlen und Pfeffer Handel zu treiben: kalte und tote Siege. 41 Über die entsetzliche Unmenschlichkeit, in der etwa mit dem König von Peru verfahren wurde, noch über Zwangstaufe und Hinrichtung hinaus, kann sich Montaigne gar nicht fassen. 42 Was da geschah, war in den Einzelheiten „gegen alles Völkerrecht“ 43 und insgesamt ein einziger Bumerang für den Dünkel der christlichzivilisierten Welt: Es erweist deren Defizit an Güte und Menschlichkeit. 44 Auch gegen den Aberglauben der Hexenverfolgung ergreift Montaigne das Wort. 45 Ganz entgegen der Tendenz der Zeit zu blindem Verfolgungswahn, spricht er sich dafür aus, vor allem anderen die Unwissenheit einzugestehen, stets vorsichtig zu sein, mit dem Wahrscheinlichen sich zu begnügen, der Unschärfe alles Aussagbaren Rechnung zu tragen, lieber den Zweifel anzunehmen als einer zu Fanatismus und Mordbrennerei führenden (vermeintlichen) Gewissheit anzuhängen und den Balken im eigenen Auge nicht zu übersehen. Montaigne seinerseits weiß anzubringen: Ich habe auf dieser Welt noch kein handgreiflicheres Ungeheuer und Wunderding gesehen als mich selbst. Mit der Zeit und Gewohnheit macht man sich mit allem Befremdlichen vertraut; doch je mehr ich mit mir umgehe und mich kennenlerne, desto mehr verwundert mich meine Ungestalt (ma difformité), desto weniger kenne ich mich in mir aus. 46 Ein ganz bezeichnendes Textstück handelt „Über die Eitelkeit“ 47 , gemäß dem auch an die Deckenbalken in Montaignes Studierzim- 67 mer geschriebenen Kehrvers per omnia vanitas (alles ist eitel) aus dem aus hellenistischer Zeit stammenden, von Montaigne überaus geschätzten biblischen Buch des Predigers (Ecclesiastes, Kohelet). Es handelt sich hierbei um jenes Kapitel, das laut Villey das ganze Dritte Buch überragt. In der Tat ist hier ein großer thematischer Reichtum versammelt wie Schreiben, Sterben, Reisen, Politik und so fort. Hier findet die Montaigne eigene Achtsamkeit dem Leben gegenüber Ausdruck: Was ein zartes Ding, das Leben, und wie leicht zu verletzen. 48 Und diese empfindsame, feine, so einfach störbare ‚Sache’ Leben ist von Fortuna regiert, nicht von der Weisheit. 49 Montaigne beschreibt es als „eine stoffliche und körperliche Bewegung, seinem ganzen Wesen nach unberechenbar und nie vollendet.“ 50 Dem so und nicht anders verfassten Leben gilt es gerecht zu werden. Der Essayist bemüht sich eben darum. Das aber heißt, vor allen Dingen sich als Menschen zu erkennen und nicht in irrläuferischer Jagd nach Vollkommenheit als einem rein geistigen Maß, das für ein übermenschliches Wesen gilt, sich selbst zu verfehlen. Öffentlichkeit und Privatheit, Rolle und Person Unter der Überschrift „Über das Nützliche und das Rechte“ 51 wird das Dritte Buch eröffnet, also mit einer Stellungnahme zur Thematik des Politischen, der umsichtigen Förderung des Gemeinwohls, 52 indem eine eher antinomische als eindimensionale Handlungsorientierung aufgewiesen wird: der Gegensatz von utile und honestum, um die lateinischen Termini zu nennen wie sie namentlich Cicero 53 gebraucht. Demnach steht nicht fest, ob die praktische Orientierung ausschließlich (oder vordringlich oder vielleicht überhaupt nicht) im Hinblick auf Brauchbarkeit, Nutzen, Profit, tatsächlich also im Rahmen einer bloßen Zweck-Mittel-Relation zu erfolgen habe. Bekanntermaßen entwickelt sich die neuzeitliche politische Ethik stark in diese utilitaristische, opportunistische, egoistische Richtung. Bereits bei Machiavelli und Guicciardini ist alles auf Erhaltung und Steigerung der Macht abgestellt, despotische Selbstbehauptung bis zum Letzten. Der Politiker Montaigne hingegen kann sich mit der Ausschließlichkeit des utilitaristischen Gesichtspunktes nicht zufriedengeben. Er macht außerdem einen 68 anderen Maßstab geltend, das in sich selbst Gute, und will im Ganzen eine gewisse Dialektik gewahrt wissen. Das Plus, was so ins Spiel kommt, ist das Ehrenhafte, das eigentlich Menschliche, das Charakterliche, dem schon Cicero unter der Idee des vir bonus Priorität eingeräumt wissen wollte. Aus der - ungeachtet der vorausgegangenen Kritik Lorenzo Vallas sich behauptenden - Wertschätzung der honestas, französisch honnêteté sollte sich schließlich das gesellschaftliche Leitbild der französischen Klassik ergeben: jenes des honnête homme, zunächst noch an den Adel gebunden, alsbald aber ins Bürgertum übergehend, in England als gentleman eingeführt, schließlich geradewegs den aufrechten Menschen bedeutend. Für Montaigne ist die qualifiziert ethische, das heißt zuletzt dem Gewissen verpflichtete, eigentlich humane Orientierung unerlässlich. Gleichwohl nimmt er es niemals übertrieben, noch gar fanatisch damit. Typisch für seine klug unterscheidende Einstellung ist die Aussage, er wolle „der richtigen Partei bis ans Feuer treu bleiben“, aber wenn irgend möglich „nicht bis hinein“. 54 Aus der Erfahrung des Politikers Montaigne wird das Verhältnis zwischen öffentlich-gesellschaftlicher Rolle und Person beleuchtet. Vorrang hat eindeutig das Individuelle, Persönliche, Private. Obgleich jene wahre Selbstliebe, die jeder sich schuldet, zu den höheren, den Eingeweihten vorbehaltenen Mysterien zählt, so stellt sich doch einem jeden die Hauptaufgabe in seiner persönlichen Lebensführung. 55 (b) Die meisten unserer Tätigkeiten sind einem Possenspiel vergleichbar: ‚Die ganze Welt spielt Possen.’ Mundus universus exercet histrioniam. Wir müssen unsere Rolle anständig spielen, aber eben als die Rolle einer Theaterfigur: aus der Maske und der Aufmachung soll man nicht ein wirkliches Lebewesen machen wollen; aus dem Fremden nicht das Eigene: können wir denn die Haut nicht von dem Hemd unterscheiden? (...) Manche formen sich um und verwandeln sich in so viele neue Gestalten und neue Wesen, wie sie Ämter übernehmen; sie gehen bis zu der Leber und den Därmen gespreizt einher und nehmen ihre Amtswürde bis auf den Abtritt mit: ich kann ihnen nicht beibringen, einen Unterschied zu machen zwischen dem Gruß, der ihnen selbst gilt, und dem, der ihrem augenblicklichen Auftrag oder Gefolge oder ihrem Reittier zugedacht ist: sie werden aufgeblasen, und ihre natürliche Redeweise wird hochgeschraubt, je nach der Höhe ihres Amtssessels. 69 Der Herr Bürgermeister und der Herr Montaigne sind immer zweierlei gewesen, sauber geschieden. 56 Lebenskunst oder Was Menschsein vermag Die beiden letzten Kapitel der „Essais“ stehen inhaltlich in enger Verbindung, insofern als Montaigne hier seine wesentlichen Einsichten der Figur des Sokrates sozusagen einverleibt. Es ist daher nicht falsch, wenn man mit der Forschung die beiden das gesamte dreiteilige Werk beschließenden Textstücke als eine einzige ausgedehnte sokratische Meditation auffasst. Sehen wir also zu, in welcher Figuration Montaignes philosophische Kunst sich schließlich verabschiedet. Dem Titel „Über die Physiognomie“ 57 entsprechend handelt Kapitel zwölf zunächst von den Gesichtszügen, den schönen womöglich, der gefälligen Erscheinung und Gestalt (womit nun freilich für Montaigne so bedeutende Menschen wie Sokrates und La Boétie und sogar er selbst, zumindest was die Körpergröße anlangt, von Natur aus nicht ausgestattet waren). Montaigne widerspricht jener seit Aristoteles’ „Physiognomika“ überlieferten Annahme einer Kongruenz von Außen und Innen. Es ist jedoch weit darüber hinaus ein bedeutender Text. Er stammt aus den späteren Jahren, als Montaigne am Ende einer vierjährigen Tätigkeit als Bürgermeister allerhand unheilvolle Erfahrungen durchmachte: Bürgerkrieg, Hungersnot und eine Pestepidemie, die in der zweiten Jahreshälfte des Jahres 1585 allein in Bordeaux vierzehntausend Todesopfer gefordert haben soll. Unter all diesem Erlebten festigt sich Montaignes weisheitliche Konzeption: Nicht hochgetriebene Vernunft und Kunst, sondern in schlichter Natürlichkeit einfach gelebte Menschlichkeit kann als Maßstab dienen. Der Natur folgen, das ist die oberste Regel. 58 Und als Inkarnation dieses Ideals figuriert der Philosoph Sokrates. Das Kapitel wie gesagt ist in weiten Partien ein großes Lob auf Sokrates als das Inbild einer menschlichen Weisheit. 59 Sokrates demnach steht mit den Füßen fest auf dem Boden, hält sich in den Schranken des Menschlichen. Seine Erfahrungssätze und Gleichnisse sind aus dem alltäglichen Treiben der Menschen hergenommen, so dass ein jeder sie versteht. Seine eigentliche Leistung besteht in einem bewussten Zurückbeugen aller 70 Tendenzen ins Große und Erhabene, Weltlose, Übermenschliche, Vollkommene zurück zu einem natürlichen ursprünglichen Maß. Mit diesem Zurücklenken auf das Menschliche ist paradoxerweise aber das Höchste vollbracht: nämlich aufgezeigt zu haben, was Menschsein in sich ist und vermag. Und Montaigne hält dafür, in einem jeden, wie beschaffen auch immer, liege ursprünglich ein Reichtum, größer als er denkt. 60 Daher ist wenig Unterweisung vonnöten, kaum Doktrin, um gut und gedeihlich zu leben. In jedem Fall ist es die immanente Aufgabe des Lebens selbst, sich zu ordnen, zu führen und - sich zu ertragen. Der springende Punkt hierbei ist abermals der Mensch selbst, freilich in wesentlicher Inegalität, der Differenziertheit in der condition humaine selbst: „Die Menschen sind ungleich an Neigung und Stärke“; zu ihrem Besten können sie jeweils nur „auf ihre Weise und auf verschiedenen Wegen“ gelangen. 61 Folgerichtig betont Montaigne nochmals ausdrücklich, dass er selbst nichts anderes verfolge, als nur ganz herauszustellen, was denn nun wirklich sein Eigen ist, und sein Eigen von Natur. 62 Montaigne, der von sich selbst ironischerweise im Vergleich zu veritablen Majestäten bemerkt, er sei „nur ein Kartenkönig“ 63 , formuliert hier, in Ergänzung sozusagen zu den Ausführungen in dem Kapitel „Über die Reue“ und sich von allem Musterhaften absetzend, sein Ecce homo: Ich habe nicht daran gearbeitet, wie Sokrates, durch die Stärke der Vernunft meine natürlichen Anlagen zu bessern, noch durch Kunst meine Neigungen aus der Bahn zu bringen. Ich lasse mich gehen, wie ich gekommen bin. Ich bekämpfe nichts; Geist und Körper leben bei mir aus eigener Verträglichkeit in Friede und Eintracht zusammen. 64 „Über die Erfahrung“, 65 das dreizehnte und letzte Kapitel von Buch Drei, das Schlusskapitel somit der „Essais“ überhaupt, ist nicht nur spät verfasst - und nimmt seine Sonderstellung gewiss nicht nur aufgrund des Abfassungsdatums ein -, sondern es ist seinem Inhalt nach auch deutlich eine Art Konklusion, Zusammenfassung, Finale. Und dieser Beschluss ist fokussiert im Begriff der Erfahrung, von dem noch die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts festhält, er widerlege nicht nur voreilige Verallgemeinerungen, insbesondere die einseitigen Idealtypisierungen der methodisch-exakten Wissenschaften, sondern er umfasse zuerst immer Erfahrung der Nichtigkeit und sei vor allen Dingen 71 „Erfahrung der menschlichen Endlichkeit“ 66 , und der eigentlich Erfahrene sei niemand als einzig „der radikal Undogmatische“ 67 , der sich keineswegs durch ein spezielles Kennen und Können als lediglich durch eine unerhörte „Erfahrungsbereitschaft“ 68 auszeichne. Das alles tritt an Michel de Montaigne auf wahrlich exemplarische Weise hervor. In ihm, so ist deshalb immer wieder gesagt worden, zeichnet sich die Situation des modernen Menschen ab, die, nun ganz auf sich gestellt, in unentrinnbarer Weise als Selbsterfahrung sich vollzieht. Im letzten Kapitel der „Essais“ zeigt sich Montaigne auf der Höhe seiner moralistischen Meisterschaft als Künstlerphilosoph: Der umfangreiche Text ist zugleich deutlich strukturiert, traktathaft beinahe, wie auch aufgelockert und verstellt durch Humor, Ironie, Nonchalance bis hin zu grotesken Einzelheiten wie etwa, dass der Herr von Montaigne auf Melonen versessen ist oder winters wie sommers als Beinkleid mit einem Seidenstrumpf auskommt. Doch in derlei liegt auch etwas von der Metamorphose des Sokrates zum Silen, 69 jenem zweibeinigen halbmenschlichen Tierwesen, jüngere Generation der Satyrn, die allesamt zum Gefolge des Dionysos gehören, also zum ‚Urbild des unzerstörbaren Lebens’. In dem großen Finale, einer wunderbaren Rhapsodie, einer sprachgewordenen Galliarde, einem wahren ‚Hymnus auf das Leben’ traktiert Montaigne seine ‚Physik’ und seine ‚Metaphysik’. Mit diesen beiden Stichworten sind denn auch die beiden Hauptteile des Kapitels „Von der Erfahrung“ benannt: Montaignes Einsicht in die Lebensführung einerseits in physischer, andererseits in ethisch-moralischer Hinsicht. Seine ‚Physik’ ist folglich in wesentlichen Teilen Medizin, Kritik an den Normen der Medizin und den Ärzten, ist unkonventionell-eigenständige Erfahrungsmedizin, Diätetik. In gesellschaftlicher Hinsicht erweitert sich die Kritik auf die Normen des Rechts und die Juristen. Seine ‚Metaphysik’ indessen ist ein schließlich virtuoses Philosophieren an den philosophischen Doktrinen vorbei, etwas von (demokritisch-epikureischem) Gelächter, durchaus aber Offenheit und Empfänglichkeit für das Leben in seiner unerschöpflichen, nicht feststellbaren Lebendigkeit und Vielfalt. Dem Diptychon der beiden Hauptteile ist eine lange Einleitung vorangestellt: sie betrifft die Erfahrung überhaupt. In den ersten vier Sätzen birgt sich, so moderat im Ton wie fest in der 72 Sache, kritische Erkenntnislehre. Montaigne beginnt wie eines der angesehensten, wirkmächtigsten, berühmtesten Bücher der kanonischen Philosophie: die „Metaphysik“ des Aristoteles, das Erste Buch der Ersten Philosophie. Dessen allererster Satz lautet bekanntlich: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen“. 70 Montaigne nun, im Rückblick auf beinahe zwanzig Jahre anhaltender Erprobungen der Urteilskraft, setzt ein: Es gibt keine natürlichere Begierde als die Begierde nach Erkenntnis. Wir erproben (nous essayons) alle Mittel, die uns zu ihr führen können. Wenn uns die Vernunft (la raison) im Stich läßt, so wenden wir uns an die Erfahrung (l’experience), die ein schwächeres und minder vornehmes Werkzeug ist; doch die Wahrheit ist eine so große Sache, daß wir kein Mittel mißachten dürfen, das uns zu ihr verhelfen kann. Die Vernunft hat so viele Gestalten (tant de formes), daß wir nicht wissen, an welche wir uns halten sollen; die Erfahrung hat deren nicht weniger. Der Schluß, den wir aus der Ähnlichkeit der Ereignisse folgern wollen, ist unzuverlässig, zumal sie nie ähnlich sind: es gibt in diesem Schauspiel der Dinge keine so allgültige Eigenschaft wie die Verschiedenheit und Vielfalt. 71 Laut Montaigne bleibt irreduzibel Verschiedenheit und Vielfalt, Ungleichheit, Differenz. So beschaffen und geartet ist die Natur. Und ihr will Montaigne entsprechen. So beschaffen und geartet ist gleichfalls das menschliche Sein und Tun. Und dieses gilt es zu verstehen und nach der Natur zu führen. Das Bemühen um Orientierung, um Erkenntnis und Normen ist insofern „ein sprunghaftes und unablässiges Streben ohne vorgezeichnete Bahn und Absicht“. 72 Alles, was Menschen finden können, hält sich in einem Hell-Dunkel, einem Gemisch, einer Zwei- und Vieldeutigkeit, entsprechend dem, was schon zu Beginn des Philosophierens Heraklit, der Denker des Werdens, formulierte, indem er im Hinblick auf Apollo, den Herrn zu Delphi, sagte: „Er spricht nicht aus, er verbirgt nicht, sondern er gibt ein Zeichen.“ 73 Und an eben der Stelle, da Montaigne auf Heraklits Apollo-Deutung zurückgreift, kommt er auch auf La Boétie, den verstorbenen geliebten Freund zu sprechen. Auswendig zitiert er Verse von ihm, Zeilen, die offenbar beide verbindende bevorzugte Wasser-Metaphorik zur Erläuterung der menschlichen Lage anführend: 73 So rollt im ruhelosen Bach dem Wasser endlos Wasser nach, und jede Welle folgt im Wandern der einen und enteilt der andern: Sieh dort, wie diese jene scheucht und selber dann der nächsten weicht! Sieh Flut in Flut sich fortergießen: Der Bach bleibt gleich, doch nie das Fließen. 74 Angesichts der durchgehenden Fluktuanz kommt Montaigne bereits zu einer Einsicht, die nahe heranführt an die spätere Radikalhermeneutik universaler Interpretativität, wie Nietzsche sie formulieren wird und wie sie der dezentrierten Postmoderne zum selbstverständlichen Ansatz wird: „Wir haben mehr damit zu schaffen, die Auslegungen auszulegen, als die Dinge selbst“. 75 Und etwas weiter, sichtlich auf die durch Martin Luther ausgelösten reformatorischen Kontroversen und Querelen anspielend, heißt es: „Unsere Deutungen sind an das Wort gebunden. (...) Man tauscht ein Wort gegen ein anderes aus, und oft gegen ein noch unbekannteres.“ Im Kontext des gelernten Juristen: (b) Unsere Deutungen sind an das Wort gebunden. Ich frage zum Beispiel, was Natur sei, was Wollust, ein Kreis, die Erbnachfolge. Solche Fragen bestehen aus Wörtern und werden mit gleicher Münze beantwortet. Ein Stein ist ein Körper. Wenn dann aber jemand weiterfragt: und was ist ein Körper? - Eine Substanz. - Und was ist eine Substanz? Und so fort, dann würde sich der Antwortende schließlich geschlagen geben müssen. Man tauscht ein Wort gegen ein anderes aus, und oft gegen ein noch unbekannteres. Ich weiß besser, was ‚Mensch’ bedeutet, als ich es von ‚Lebewesen’ wüsste, oder von ‚sterblich’ oder von ‚vernünftig’. Um einen Zweifel aus dem Weg zu räumen, gibt man mir drei neue; das ist wie mit dem Haupt der Hydra. Sokrates fragte einmal den Menon, was Tugend sei. Dieser antwortete, es gebe die Tugend eines Mannes und die einer Frau, eines Staatsbeamten und eines Privatmannes, eines Kindes und eines Greises. ‚Das ist ja ausgezeichnet’, rief Sokrates; ‚wir suchten nach der einen Tugend, du aber bringst uns gleich einen ganzen Schwarm. Wir stellen eine Frage, und wir erhalten als Antwort einen ganzen Bienenkorb voll neuer. So wie kein Ereignis und keine Form anderen völlig gleichen, so sind sie doch auch untereinander nicht völlig ungleich. (c) Die Natur hat alles sinnvoll gemischt. Wären unsere Gesichter nicht einander ähnlich, so 74 könnte man den Menschen nicht vom Tier unterscheiden; wären sie nicht gleichzeitig auch einander unähnlich, so könnten wir den einen Menschen nicht vom anderen unterscheiden. (b) Alle Dinge hängen durch einen gewissen Grad von Ähnlichkeit zusammen; jedes Gleichnis hinkt. Und die Beziehung, die wir aus der Erfahrung ableiten, ist stets lückenhaft und unvollkommen; immerhin berühren sich die Vergleiche an dem einen oder anderen Punkt. 76 An Stelle der vermeintlichen Stringenz einer logisch-rationalen Begriffswissenschaft bevorzugt Montaigne Ähnlichkeit, Wahrscheinlichkeit, Mutmaßung, wie zuvor Cusanus und Lichtenberg dereinst. Es geht also unweigerlich unscharf zu und schief, wenn die Normen der Moral und des Rechts festgelegt werden und sodann nach ihnen geurteilt, gehandelt und sanktioniert wird. Klein sind hier die Schritte, die ins Abseits führen: „Wie viele Verurteilungen habe ich gesehen, die verbrecherischer waren als das Verbrechen selbst.“ 77 In diesem Zusammenhang formuliert Montaigne ein glühendes Bekenntnis zur Freiheit, die er in erster Linie als persönliche Freiheit und Ungebundenheit versteht. Ich bin so versessen auf meine Freiheit, daß ich mich bereits eingeengt fühlen würde, wenn man mir den Zugang zu irgendeinem Winkel Indiens verwehren wollte. Und solange ich anderswo freies Land und freie Luft finde, möchte ich nicht an einem Orte versauern, wo ich mich verstecken müßte. Mein Gott, wie schlecht könnte ich die Lebensbedingungen ertragen, in denen ich manche Leute sehe, die durch ein Zerwürfnis mit unseren Gesetzen auf eine kleine Ecke unseres Reiches festgenagelt sind, denen der Zutritt zu den großen Städten, zu den Höfen, ja sogar die Benutzung der öffentlichen Straßen versagt ist! Wenn jene Gesetze, denen ich diene, nur meine Fingerspitze bedrohen würden, ginge ich ohne Zögern fort, um andere zu finden, gleichgültig wohin. 78 Und das führt auf die Quintessenz aus der ganzen einleitenden Erörterung, dass nämlich „nur die eigene Erfahrung“ geeignet ist, über das zu belehren, was einem not tut. 79 Nicht erhabene Philosophie, sondern lebensnahe Klugheit bietet die angemessene Orientierungsweise. Nicht die Wissenschaft und nicht die Bücher und nicht den Cicero und nicht irgendeine Autorität gilt es zu verstehen, sondern in erster Linie sich selbst. Hier ist Stoff genug, um weise zu werden. In jedem einzelnen Fall ist Leben ein ganzes Leben und allen Geschicken ausgesetzt. Die Einzelfälle und die Indi- 75 viduen sind sowieso kaum adäquat zu erfassen, so dass ein jeder skeptisch zu sein hat vor allen Dingen gegenüber der Leistungskraft seines eigenen Urteilsvermögens. Und dieses, Montaigne betont es eigens, nimmt bei ihm einen höchsten Rang ein. 80 So ist denn allein schon die Selbsterkenntnis, geschweige denn alle danach sich richtende weitere Erkenntnis, eine schwierige Wissenschaft: (b) Die Ermahnung zu beherzigen, daß jeder sich selbst erkennen solle, muß wirklich höchst wichtig sein, da der Gott der Wissenschaft und des Lichts sie an der Vorderseite seines Tempels anbringen ließ: gleichsam als Summe all seiner Ratschläge. (...) Die Schwierigkeiten und Dunkelheiten jeder Wissenschaft werden nur denen bewußt, die bis zu ihnen vorgedrungen sind, denn um wahrnehmen zu können, daß man nicht weiß, bedarf es eines bestimmten Maßes an Erfahrungswissen: Man muß eine Tür aufzustoßen versucht haben, ehe man erkennen kann, daß sie uns verschlossen ist. (...) Dies gilt folglich ebenso für die Wissenschaft der Selbsterkenntnis, denn gerade daß ein jeder mit derart unangefochtner Überzeugung behauptet, sich hierauf trefflich zu verstehn, zeigt deutlich, daß kein einziger sich darauf versteht (...). Ich, der ich mich mit keiner andren Wissenschaft befasse, finde in dieser eine so unendliche Tiefe und Vielfalt, daß mein Lernen als einzige Frucht hervorbringt, mich fühln zu lassen, wie viel mir zu lernen bleibt. Meiner so immer wieder erkannten und einbekannten Unzulänglichkeit verdanke ich meine Neigung zur Bescheidenheit, zum Gehorsam gegenüber den mir vorgeschriebnen Glaubenssätzen, zur beharrlichen und kühlen Mäßigung meiner Meinungen sowie zum Haß auf jene so abstoßend streitsüchtige Vermessenheit, die ausschließlich an sich selber glaubt und festhält: Todfeindin von Denkzucht und Wahrheitsfindung. 81 Und entsprechend fällt denn auch die Mitteilung in diesem Bereich aus: „Ich schreibe meine Erkenntnisse in unzusammenhängenden Stücken nieder, wie eine Sache, die man nicht auf einmal und im Ganzen mitteilen kann.“ Ironischerweise erwägt er sogar, es werde kaum ausbleiben können, dass man vom Verfasser der „Essais“ denken wird, er habe sich befleißigt und bemüht, „sich durch Unkenntlichkeit bekannt zu machen.“ 82 Und ein paar Sätze weiter, nicht minder drastisch und paradox, der augenzwinkernde Hinweis auf das Menschliche, Allzumenschliche: 76 Dieses ganze Sammelsurium, das ich hier von mir gebe, ist letzten Endes nichts anderes als ein Verzeichnis von Versuchen in meinem Leben (un registre des essais de ma vie); [eines Lebens mithin,] das, was seine innere Gesundheit anbetrifft, ein anschauliches Lehrbeispiel dafür gibt, wie es nicht sein soll. 83 Was nun andererseits die physische Lebensführung, die angemessene Diätetik und somit die Kritik an der Schulmedizin betrifft, so ist Montaigne weniger zögerlich, vielmehr ganz entschieden, voller Humor, mitunter bis zur Respektlosigkeit. Auf diesem Feld scheint ihm alles nahezu Sache der Gewohnheit und nicht der Experten oder der (Lehr-)Bücher: „Die Gewohnheit formt unser Leben.“ 84 Nachdruck fällt darauf, auch „die Einbildung zufriedenzustellen“; denn gerade diese Seite des menschlichen Wesens gilt als besonders wichtig. 85 Ein gedeihliches Leben erfordert Beweglichkeit und vor allem Geduld. Durch Ungeduld richten wir uns zugrunde. 86 Es gibt ja doch im elementaren Sinn kein Entkommen und Entrinnen. „Wir müssen die Gesetze unseres Daseins sanftmütig ertragen.“ 87 Wie in der Musik, wo selbstverständlich jede Komposition Töne der unterschiedlichsten Art verwendet, so kann auch das menschliche Leben nur in der Weise der Mixtur, als Gemisch gegensätzlicher Elemente, guter und sogar übler, bestehen: 88 als Übereinstimmung des Unstimmigen, „des Wider-Spännstigen Fügung wie bei Bogen und Leier“, als Auf und Ab, Tag und Nacht, Leben und Tod, so sagte schon Heraklit; als concordia discors, so formulierte Horaz; als coincidentia oppositorum, so schließlich der Begriff des weisen Philosophen aus Kues. Darin eingeschlossen bleibt, ausdrücklich auch auf den letzten Seiten der „Essais“, die Unvermeidlichkeit des Endes: „Du stirbst nicht, weil du krank bist; du stirbst, weil du lebst.“ 89 Zum Leben selbst gehört sein Vergehen. So ist es nun einmal bestellt um uns, so sind wir eingerichtet. Das ist unsre Kondition. Nochmals gibt Montaigne bis in alle Einzelheiten ein psychophysisches Porträt seiner selbst. Und das Fazit von alledem ist die Selbstannahme. Dies ist nicht zu übersehen: Noch vor der Selbstgestaltung und der Selbstsorge steht bei Montaigne der schlichte Akt der Selbstannahme. Das eben ist es, was die „Essais“ zu einer ebenso unumgänglichen wie einzigartigen, gleichermaßen realistisch-moralistischen wie zutiefst religiösen expliziten Ethik der 77 Selbstannahme macht. Selbstannahme ist der Inbegriff jener glücklich errungenen Versöhntheit, worin nach den antiken Gewährsleuten, den Doxographen, bereits für Heraklit überhaupt die Vollendung des Lebens bestanden haben soll. 90 Und dies, obgleich alles Menschliche hinfällig ist, näher besehen, „fast nur Wind“, und auch wir selbst, „in allem nichts als Wind.“ 91 Da tritt nun zu dem Denker des Flusses der Dinge jener Philosoph der Bibel hinzu, Kohelet, der unvergesslich in allem nichts als Wind sah. Und gestützt auf ihn, formuliert Montaigne neuerlich seine realistische Pragmatik und seine Warnung vor platonisierenden Aspirationen nach dem ewig Festen und Beständigen: Ich selbst, der ich mich rühme, so bereitwillig die Annehmlichkeiten des Lebens zu umfassen, finde, wenn ich näher hinschaue, fast nur Wind darin. Aber was soll’s, wir sind in allem nichts als Wind. Dabei liebt es der Wind, weiser als wir, einfach zu brausen und zu wehen; er begnügt sich mit dem, was seinen Aufgaben gemäß ist, ohne Eigenschaften zu ersehnen, die ihm nicht entsprechen, wie Bestand und Festigkeit. 92 Das allgemeine und menschliche Gesetz fordert hingegen, vornehmlich dem Genuss des Gegenwärtigen sich zu überlassen, und zwar kunstvoll, kultiviert, nämlich als Freuden, die geistig sinnlich und sinnlich geistig sind. 93 Nicht ein Leben ausschließlich des Leibes noch ausschließlich der Seele ist wahrhaft menschengemäß, auch nicht die vielgepriesene beschauliche Muße, sondern nur der sokratische Weg der Mitte, in Gebaren und Verhalten. Das besagt nicht mehr und nicht weniger als in jedem Fall die Handlungen, die die Natur, die Montaigne eine sanfte und vor allem weise und gerechte Führerin nennt, durch unsere Bedürfnisse als lebensnotwendig und angemessen uns auferlegt, unverbrüchlich auszuführen. 94 Der wichtigste und höchste Beruf heißt Leben. Und die uns obliegende eigentlich ethische Tat besteht im Ausüben von Lebenskunst, im unspektakulären Können des Lebens. Des Menschen „großes und rühmliches Meisterwerk ist es, den Gegebenheiten gemäß zu leben“. 95 Was einem förmlich zur Ehre gereicht, ist „Entspanntheit und Unbeschwertheit“ durchaus. 96 „Die Größe der Seele“ sieht Montaigne „weniger im Streben nach oben und nach vorn als in der Fähigkeit, sich einzuordnen und zu begrenzen“. Die Seele hält rechtens „alles für groß, was genügend ist“. Und sie zeigt ihre Höhe darin, daß sie die mittleren Dinge „den hervorra- 78 genden vorzieht“. 97 Und dann in vielzitierter Formulierung die zentrale Einsicht: Nichts ist so schön und vernünftig, als auf rechte Weise und wie es sich gebührt, ein Mensch zu sein, und es gibt keine schwierigere Wissenschaft, als dieses Leben recht und natürlich zu leben; und die schlimmste aller Krankheiten ist die, unser Dasein zu verachten. 98 Das eigentlich Menschliche liegt in nichts anderem sonst als „den Menschen seinem Wesen gemäß zu führen“. 99 Ausdrücklich allerdings nimmt Montaigne von der Menge der Durchschnittlich- Menschlichen als schlechthin inkommensurabel jene „verehrungswürdigen Seelen“ aus, die als die wenigen Bevorrechtigten sich „durch die Inbrunst ihrer Frömmigkeit und ihres Glaubens zu einer beständigen und eindringlichen Anschauung der göttlichen Dinge erhoben haben“. 100 Das jedoch ist laut Montaigne etwas durchaus Exzeptionelles, ein überirdisch-gnadenhaftes Privileg, keinesfalls dem gewöhnlichen Streben erreichbar, noch auch zur Richtschnur dienend. Mit überspanntem Streben, „überhimmlischen Gedanken“ pflegen vielmehr „unterirdische Sitten“ einherzugehen. Der Versuch, dem Menschsein zu entrinnen, ist Torheit: „statt sich in Engel zu verwandeln, verwandeln sie sich in Tiere“. 101 Selbst noch die Verzückungen und Dämonerien, die mitunter sogar auch dem Sokrates zugeschrieben werden, hält Montaigne für schwer verdaulich. Erhöhungen, Mirakel und Extravaganzen sind ihm verdächtig und zuwider. Das Verlangen nach anderen ungemischt-reinen Daseinsweisen hält er für die Kompensation eines Unvermögens, den Mangel an verständiger Nutzung der eigenen Anlagen und Befähigungen. In das allgemein-menschliche Muster sich einzufügen und, fern allen Purismus und Eskapismus, mit dem menschlichen Maß sich zufrieden zu geben, das ist und bleibt die unumgängliche Aufgabe. Für einen Menschen ist nichts als das wahrhaft Menschliche jenes, was ihm am besten ansteht und des höchsten Lobes würdig ist. Und so lautet in der vielzitierten Formulierung die Quintessenz von Montaignes menschlicher Philosophie: „Es ist eine höchste und fast göttliche Vollkommenheit, sein Dasein auf die rechte Weise genießen zu können.“ 102 79 Sokratische Hermeneutik der condicio humana Ein Sprachkunstwerk und seine Wirkung Nachdem die Vorfragen zum Verständnis der „Essais“ behandelt sind, Fragen also, die den Verfasser und seine Zeit betreffen, und näherhin den Textbestand, die Umstände seiner Entstehung und die Bedingungen seiner adäquaten Rezeption; und nachdem überdies das Werk selbst unter einigen als wesentlich erscheinenden Aspekten dargestellt und auf diesem Wege einem tieferen Verständnis nahegebracht worden ist, steht nun noch, in Form einer Skizze wenigstens, ein kritischer Rückblick aus. Der Versuch einer philosophischen Würdigung der „Essais“ ist wohl der schwierigste Teil des ganzen Unterfangens. Und dass dem so ist, dafür gibt es mehrere Gründe. Als Erstes gilt es sich klarzumachen, dass Würdigung noch nicht geleistet ist mit einer Erinnerung der Wirkungsgeschichte. Die Wirkung der „Essais“ ist sogleich stark und anhaltend. Das beginnt unmittelbar mit René Descartes und Blaise Pascal, die beide in unterschiedlicher Weise und höchst dezidiert reagieren. Vom humanistisch Schwebenden der Frage Que sais-je? schreitet Descartes voran zur Methodengewissheit exakter Wissenschaft. Pascal hingegen, nicht minder vertraut mit den neuen naturwissenschaftlichen Verfahren, versucht entschieden eine Neubegründung der christlichen Religion als eines unumstößlichen Fundamentes. Jedoch nicht nur in Frankreich entfalten die „Essais“ unmittelbar große Wirkung, sondern - vermittels der alsbald verfertigten Übersetzung von John Florio - gleichermaßen auch in England. Francis Bacon, der andere Urheber des neuzeitlichen Szientismus, verfasst seinerseits „Essays“ und stellt ausdrücklich neben die methodische Systematisierung des Wissens die Berechtigung aphoristischästhetischer Erschließungs- und Mitteilungsformen. Auch John Locke, namentlich in seiner Pädagogik, rezipiert Montaigne. Die weitere Wirkung in Frankreich sei hier nur durch denkerisch so bedeutende Namen wie Diderot, Voltaire und Rousseau gekennzeichnet. In Deutschland folgen Hamann, Lichtenberg und Nietz- 80 sche. Im 20. Jahrhundert schließlich ist Montaigne wirksam bei Merleau-Ponty, Albert Camus, Alain und Lévi-Strauss, sowie beinahe überall in der wesentlich durch Nietzsche ausgelösten Postmoderne: bei Lacan, Lyotard, Foucault, Butor, Kristeva, und, was den ateleologischen ordo fortuitus angeht, im Dekonstruktivismus des Jacques Derrida und am stärksten wohl in den wesentlich fragmentarischen, zutiefst skeptischen, einzigartig auf das Selbst reflektierenden ‚Neo-Essais’, den insgesamt so zu nennenden ‚Erprobungen des Roland Barthes’. Es ist das montaignesche, nicht das cartesianische Subjekt, ein ‚unsicheres’, ‚unreines’, als das Barthes sich einbringt, als das er eingesteht, ‚nur Essais hervorgebracht zu haben’, und so allerdings dafür kämpfend, ‚jeden sich verfestigenden Diskurs zu verhindern’, letztlich also eine Erfahrung bezeugend unter dem ‚berühmten, altmodischen’ Namen ‚Sapientia: keine Macht, ein wenig Wissen, ein wenig Weisheit und so viel Würze wie möglich’. 1 Größer freilich, und das ist die zweite anzubringende Einschränkung, als in der Philosophie ist die Wirkung Montaignes aber wohl in der Literatur, und zwar beinahe sämtlicher europäischer Sprachen. Allen voran bei Shakespeare, in Nietzsches Augen schlechthin Montaignes ‚Vollender’. Und in der Tat sind die „Essais“ nicht von vornherein ein klassischer Text der Philosophie wie beispielsweise Descartes’ „Meditationes“, Bacons „Novum Organon“ oder gar Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Die „Essais“ sind zunächst und vor allem ein literarischer Text. Und nicht irgendeiner, sondern unbestritten Bestandteil der Weltliteratur. Der Text ist denn auch erst einmal unter literar-ästhetischen Aspekten zu würdigen. Der Leser hat sich bewusst zu sein, dass er es mit einem Sprachkunstwerk zu tun hat. Also nicht etwa mit einem (Gebrauchs-)Text, der einen eindeutigen Zweck hat, wie beispielsweise ein Vorlesungsskript in der Art etwa der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles. Was Montaigne vorlegt, ist Sprachkunst. Allerdings ist sie weder episch noch lyrisch noch dramatisch und nicht eigentlich fiktional. Es ist ein Stück Prosakunst ohne Erzählen. Der Stil und die Sprache dieser gleichermaßen lässigen wie elaborierten Prosakunst sind zu untersuchen, zu beschreiben, namentlich hinsichtlich ihrer Mikro- und Makrostruktur, des Wechsels etwa im Satzbau von Lakonismen bis zu umfangreichen Peri- 81 oden, der Metaphorik, der Zitiertechnik, der Verwendung von Anekdoten, Sprichwörtern, Allegorien, aphoristischen und maximenartigen Zuspitzungen, des Humors, der Ironie. Zu betrachten ist außer der Komposition fernerhin die Intention, die Wirkabsicht und -weise des Textes; sodann sein Verhältnis zu älteren, gleichzeitigen und nachfolgenden ähnlichen Texten. Ein eigenes Thema ist der spannungsreiche, eher distanzierte, niedrig gehaltene Bezug zur Rhetorik. Das Hauptaugenmerk aber wird zweifellos auf das schriftstellerische Selbstbewusstsein fallen, das Montaigne in den „Essais“ in ganz ungewöhnlich präziser und differenzierter Weise überall an den Tag legt. 82 Selbsterkenntnis: empraktisches Befragen der menschlichen Verfassung Nun fällt freilich Montaignes nichtfiktionale Prosakunst nicht ohne weiteres in eine bestimmte literarische Gattung, insbesondere handelt es sich nicht einfach um autobiographische, noch diaristische Literatur. Für seinen neuartigen, unbestimmten, in literarischer Weise sich vollziehenden Versuch wählt Montaigne die Bezeichnung „Essais“. Und im Hinblick darauf muss schließlich gesehen und gesagt werden: Dieses einzigartige Werk, Bestandteil der Weltliteratur, ist mehr. Da hat einer, was gar nicht zu übersehen ist, mit literarischen Mitteln ein Stück dessen geleistet, was man am ehesten als ‚Arbeit an sich selbst’ bezeichnen wird. Was ihn angetrieben hat, das ist, vor jedem sonstigen Ehrgeiz, die Erforschung und Gestaltung seiner selbst: konkret, umfassend und aufrichtig. Dieses freilich nicht als Selbstzweck, sondern - und damit betritt er die Ebene wirklich philosophischer Relevanz - in der nach und nach immer deutlicher sich zeigenden Absicht, in empirisch-experimenteller Weise Verständigung darüber zu suchen, was am Menschen das Menschliche ist, was überhaupt ihn zum Menschen macht, was einer aus sich machen kann, in welchem Umkreis er sich zu verwirklichen vermag. Was dieser französisch schreibende Autor am Ende des 16. Jahrhunderts verfasst und publiziert hat, ist ein ‚Versuch’, ein offener, unabgeschlossener, dem Auftrag zur Selbsterkenntnis in adäquater Form nachzukommen. Es ist die Aufforderung, die in Delphi am Tempel des Apollo geschrieben stand, als die göttliche Begrüßung an die Menschen: gn thi sautón, Erkenne dich selbst! 2 Sieh dich an! Verwechsle dich nicht! Schöpfe das Mögliche aus! Wahre die Grenzen! Sei besonnen! Hüte dich vor Hybris! Du bist nicht ein Gott! Lebe ein menschliches Leben! Es ist eben die Ethik, die von Anfang an das philosophische Denken der Griechen wesentlich bestimmt hat. Und hier liegt denn auch der Anlass und die Berechtigung, Montaignes Unterfangen als qualifiziert philosophisches zu würdigen. Nachgerade war aus dem delphischen Auftrag offenbar eine so schwierige und komplizierte Sache geworden, dass sie nur in der verwickelten Textur der „Essais“ prozessual überhaupt anzugehen war. „Dies widerfährt mir“, so bemerkt Montaigne, „dass ich mich 83 da nicht finde, wo ich mich suche, und mich viel eher von ungefähr antreffe, als durch alle Bemühungen meines Verstandes.“ 3 Hinsichtlich der menschlichen Unzulänglichkeit zweifelt der Essayist an der Rationalität des Handelns 4 und ist überzeugt, daß der Mensch sogar in seinem Begehren nicht zu erkennen weiß, was ihm not tut, daß wir also nicht nur im Genuß, sondern schon in den Wunschvorstellungen uns nicht einig werden können, was wir zu unsrer Befriedigung brauchen. Lassen wir unsern Geist sich zurechtschneidern und zusammennähen, was immer er will - er wird nicht einmal zu wünschen vermögen, was ihm wirklich paßt. 5 So aber verläuft Montaignes Schaffen erst recht in den Bahnen sokratischen Philosophierens. Denn Sokrates war es, der als Erster und unüberbietbar der delphischen Maxime gemäß Philosophie betrieb. Als ein prágma, wohlgemerkt, eine Tätigkeit voller Bewegung und Leben, nicht eine Doktrin und noch nicht einmal unter Verwendung von grámmata, nicht in der Form des Geschriebenen, vielmehr suchend, forschend, die eigene Existenz geburtshelferisch einsetzend, im Dienst nämlich an den Denk- und Lebensmöglichkeiten des jeweiligen Gesprächspartners und also letztlich der gemeinsamen Sache vernünftiger Verständigung. Ganz nach diesem archetypischen Modell ist Montaignes Schaffen existentiell und praktisch. Sein Suchen und Fragen ist auf den Menschen und den menschlichen Lebensvollzug bezogen - mäeutisch, zetetisch, elenktisch, philosophische Geburtshilfe insgesamt -, gleichermaßen sich einlassend wie andererseits ohne sich zu verlieren. Die Welt dient als Spiegel. 6 Der Blick wird zurückgewendet auf sich selbst. In der Reflexion brechen konkrete Fragen auf, Sätze, offen, inkomplett, ungesichert: Was bin ich denn inmitten meiner Angelegenheiten? Und was eigentlich ist unsre Situation? Mit einer solcherart intendierten Philosophie der menschlichen Dinge ist ein Bedenken und Erwägen der menschlichen Lage zutiefst mitgegeben. Mehr noch: Sie steht und fällt mit dem praktischen Akzeptieren der condicio humana. Denn dies ist die Voraussetzung zu einem Leben, das schließlich als die eigentlich menschliche Kunst wahrgenommen und vollbracht wird. Montaignes Denken unterscheidet sich wie das sokratische Denken von der prototypischen Form der Philosophie als Theorie. Um die nachträgliche Distanzierung praxisbezogenen Denkens von der 84 Ersten Philosophie zum Ausdruck zu bringen, bedient sich Sokrates einer Fabel des Äsop und wendet sie auf den ältesten namentlich bekannten Philosophen an: den Thales von Milet, der um sechshundert vor Christus in entschiedener Weise die theoretische Position bezogen und als Protophilosoph und Kosmologe gelehrt hatte, die eine arch , den Grund von allem zu kennen, nämlich das Wasser. Von diesem Thales lässt nun Plato den Sokrates berichten, er sei einmal, während er sich mit dem Himmelsgewölbe beschäftigte und nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen. Darüber habe ihn eine witzige und hübsche thrakische Dienstmagd ausgelacht und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor der Nase und den Füßen läge, verborgen bleibe. 7 Solcher Spott treffe alle, die, absurd und komisch, die theoretische Position einnehmen, also etwas Höheres erreichen wollten als normale Sterbliche, und gleichzeitig unfähig seien, das normale Leben zu bestehen. Der Erzähler dieser gewiss uralten Satire über das Sonderbare, Lachhafte, auch wohl Gefährliche reiner Philosophie, Sokrates, dem Spätere die Sentenz in den Mund legen, was über uns hinausgehe, gehe uns nichts an, 8 hatte in der Tat eine Wende vollzogen, sich von der Naturphilosophie abgewendet und stattdessen nunmehr nach den menschlichen Dingen gefragt. Aber war mit diesem Bereichs- und Themenwechsel das Prekäre der philosophischen Situation wirklich behoben? Fände der Witz der thrakischen Magd hier nichts, worüber sie sich aufzuhalten hätte? Mitnichten. Es ist niemand anderes als Michel de Montaigne, der die alte Anekdote in charakteristischer Weise zuspitzt und so die Kritik an der Einstellung des Philosophen verschärft. Er führt aus: Ich bin ganz einverstanden mit der milesischen Magd, die den Philosophen Thales dabei beobachtete, wie er unablässig mit der Betrachtung des Himmels beschäftigt war und die Augen nur nach oben gerichtet hatte, und ihm schließlich irgend etwas in den Weg warf, um ihn zum Stolpern zu bringen und dadurch daran zu erinnern, es sei noch Zeit, seine Gedanken mit den Gegenständen in den Wolken zu befassen, wenn er erst über das Bescheid wisse, was vor seinen Füßen liegt. Es war ein guter Rat, den sie ihm gab, mehr auf sich selbst die Aufmerksamkeit zu richten als auf den Himmel. 9 85 In Montaignes Version ist die Magd aufgewertet von der bloß (schadenfreudig) Lachenden zur Akteurin, Helferin, zur praktischen Philosophin. Sie ist es, die den Theoretiker, bevor er fällt, umsichtig und beherzt dazu bringt, den Blick zu wenden, nicht länger nur nach oben zu schauen und in den Wolken zu hängen, sondern unmittelbar vor sich hin, auf die eigenen Schritte und überhaupt auf sich selbst zu achten. Damit aber nicht genug. Es geht Montaigne nicht nur um einen Wechsel des Blicks, sondern um Kritik am Vertrauen auf theoretisches Wissen überhaupt. Für ihn ist es ausgemacht, dass der Mensch weder physisch noch geistig sich kennt, dass, ausdrücklich wird es hinzugefügt, auch die Vernunft „sich selbst nicht kennt“. Was aber, so wird daher gefragt, „kann einer kennen, der sich selbst nicht kennt? “ Demzufolge nimmt er einen berühmten Leitgedanken der Sophistik auf, den sogenannten Homo-mensura-Satz, die extensiv anthropologische Behauptung des Protagoras, der Mensch sei das Maß aller Dinge, und bemerkt: „Wahrhaftig Protagoras spaßet, wenn er den Menschen, der nicht einmal sein eigenes Maß weiß, zum Maß aller Dinge macht.“ Auch dieser Satz war Montaignes Einschätzung zufolge „nur ein Gespött“. In seiner Konsequenz gab er „uns Anleitung, die Nichtigkeit sowohl des Zirkels, als des Zirkelnden, zu schließen“. Und sogleich kommt er, in ebenfalls überraschender Weise, auf den Archegeten der Philosophie, den berühmten Weisen aus Milet, zurück: „Wenn Thales sagt, die Selbsterkenntnis falle einem Menschen sehr schwer, so lehrt er ihn, dass ihm die Erkenntnis aller anderen Dinge unmöglich ist.“ 10 Das ist offensichtlich Radikalskepsis hinsichtlich der Möglichkeit von reiner Erkenntnis überhaupt und die Propagierung eines neuen, kaum zielstrebigen, eher rezeptiv-meditativen wie auch ironisch-spielerischen Typs von Denker, die Figur des ‚Philosophen ohne Vorbedacht und Plan’; 11 jenes mithin, „der auf den Zufall der Wahrheit, die wie von selbst aus dem schon gelebten und unwiderruflichen Leben ihm zufällt, warten und sich ihr überlassen kann“. Die Philosophie, die so zu gewinnen ist, „wächst aus dem Leben heraus, aber sie formt und normiert es nicht, sie greift ihm nicht vor“. 12 Ein solches beiläufiges oder sogar nachträgliches Denken - primum vivere, deinde philosophari - entsteht und besteht durchaus empraktisch 13 , metapraktisch-theoretisch aber keines- 86 wegs. In der Bezogenheit auf die Dinge ist der Denkende der eigentlich Bedingte. Und mit der Deutung dieses Bezugs ist und bleibt Philosophieren nicht mehr und nicht weniger als immanente Befragung und Auslegung der genuinen menschlichen Verfassung: Hermeneutik der condicio humana. Praktisches Philosophieren ist nichts anderes als das Philosophieren überhaupt, insofern es, klug und kommunikativ, der Wahrheit des Konkreten Rechnung trägt und also, bei aller unausweichlicher Reflexivität und Dialektik, dennoch in der Nachbarschaft der Dinge sich aufhält und das Leben, individuell und kollektiv, bestmöglich einzurichten sucht. 87 Was Menschen gemäß, was gut für sie sei Es war, wie gesagt, Friedrich Nietzsche, der den Essayisten Montaigne als Vollender des Sokrates gewürdigt hat. Und Sokrates ist ihm der Weise schlechthin. Auf ihn, den „einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen“, läuft alles hinaus. Charaktere der unterschiedlichsten Art, die, in individuell angemessenen Lebensformen, nach der „Freude am Leben und am eigenen Selbst“ ausgerichtet sind, treffen schließlich auf Sokrates, dessen Eigentümlichstes Nietzsche folglich als „ein Anteilhaben an allen Temperamenten“ vermutet. Überdies schätzt er an ihm eine „fröhliche Art des Ernstes“, eine „Weisheit voller Schelmenstreiche“; jenes also, was seines Erachtens „den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht“. 14 Anderwärts sagt Nietzsche: Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in allem, was er tat, sagte - und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermütigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es gegeben hat: er war ebenso groß im Schweigen. 15 Tatsächlich ist Sokrates zurückhaltend-skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit des Wissens und der Weisheit. Er verfügt über keine Doktrin. Er verzichtet auf schriftliche Mitteilung. Er bedient sich der Ironie. Aus dem heraklitischen Fluss der Dinge entfernt er sich nicht so weit und so radikal, dass er wie Parmenides das Sein und Plato die Ideen abtrennt und zur eigentlichen Wirklichkeit erklärt. Gleich den Sophisten distanziert er sich von herkömmlichen Werten wie sie namentlich im Mythos und in der Polis-Sittlichkeit hochgehalten wurden. Gleich den sophistischen Rhetoren sieht er seine Domäne nicht in der Naturphilosophie, sondern in der adäquaten sprachlichen Behandlung der menschlichen Dinge. Im Zentrum steht die Selbstsorge. 16 Zwar ist sokratisches Forschen darauf aus, möglichst nach dem Wesen zu fragen, also etwa nach Gerechtigkeit, Tapferkeit, Frömmigkeit, Freundschaft, Schönheit, Liebe, Lust, Weisheit, Wissen, Tod, Unsterblichkeit und Ähnlichem. Aber bei allem Verlangen nach einem philosophischen Apriori des Wesens der Dinge wird das Forschen und Suchen niemals linear und direkt. Es vollzieht sich vielmehr über Umwege, 88 Abschweifungen, Widersprüche, Zurücknahmen und bricht unversehens ab, endet oft genug aporetisch im Unbegehbaren. Sokrates „fragt immerzu und erregt Disput, legt ihn aber niemals bei, stellt niemals zufrieden und sagt, er besäße keine andere Wissenschaft, als die Wissenschaft zu widersprechen“. 17 Andererseits wird die gewöhnliche Alltagseinstellung, die seit Parmenides unter Verdikt stehende (undeutliche und unstete) Meinung, ohne weiteres zum Anknüpfungspunkt des Philosophierens genommen. Man mochte ihn fragen, was man wollte, stets führte er den Fragenden zuerst darauf, daß er ihm von seiner früheren und gegenwärtigen Lebensart Antwort geben mußte, die er prüfte und beurteilte, denn er war überzeugt, daß alles, was man sonst lernen könnte, zweitrangig sei und überflüssig. 18 Von den konkreten Umständen, nicht aber von einem absoluten Standpunkt aus, kann sich ein Prozess entfalten, der Wissen als etwas bereits Latentes in Grenzen manifest macht, den Erwerb von Erkenntnis als einen Vorgang des Lernens ins Werk setzt. So ist bereits Sokrates „ein Denker in Bewegung“ 19 , ganz so wie wir einen „Montaigne en mouvement“ 20 anführen können. Im Bild des Sokrates fallen die unterschiedlichsten Züge zusammen: nicht nur solche der sagenhaften Sieben Weisen mit Thales an ihrer Spitze, sondern auch solche der Gestalten aus der Umgebung des Dionysos. Vor allem die aus der Schar der Satyrn herausragende Figur des weisen Silen, des Ziehvaters des Dionysos, wurde auf Sokrates übertragen. Aus der Antike ist die Sage überliefert, dass der phrygische König Midas den weisen Silen lange im Wald gejagt und schließlich gefangen gesetzt habe, um von ihm dessen Weisheit zu erlangen und zu erfahren, „was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei“ 21 . Welche tiefste Weisheit also hat der Silen dem Midas mitzuteilen? Er gibt ihm die entsetzliche, pessimistische Auskunft, dass das Beste ist, nicht geboren zu sein, das Zweitbeste aber, so schnell wie möglich wieder abzutreten. Das heißt, er verkündigt ihm „die Nichtigkeit des menschlichen Daseins“. 22 Das hindert Midas freilich nicht daran, als Preis für die Freilassung des weisen Silen von Dionysos törichterweise zu erwirken, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Erst als er feststellen musste, dass damit auch alles, was er als Nahrung zu sich nehmen wollte, in das ungenießbare Edelmetall sich 89 verwandelte, löste er sich aus Verblendung und Überheblichkeit, wurde einsichtig und fand zur Akzeptierung der menschlichen Daseinslage. Mit der Parabel wird deutlich gemacht, dass es die ausschlaggebende Aufgabe ist, die Erfahrung der Nichtigkeit, der Hinfälligkeit, des Leidens, der Sterblichkeit angemessen zu verarbeiten. In dieser Weise „sich selbst Rechenschaft geben“ 23 ist freilich keine leichte und keine ausschließlich rational zu bewältigende Obliegenheit. Sokrates ist daher so gut wie der weise Silen „kein reiner Vernunftmensch, sondern eine lebendige, in sich widersprüchliche und suchende Gestalt“. 24 Der sokratisch Philosophie treibende, anders als der heroisierte, namentlich stoische Weise (sapiens), steht nicht über den Dingen, ist nicht erhaben über das Gewöhnliche, befindet sich vielmehr in lebendigem Vollzug mittendrin. Alles in allem lässt sich Montaignes Schaffen als Erneuerung sokratischen Philosophierens verstehen. Offensichtlich greift er auf ganz bestimmte, eher philosophiekritische als -enthusiastische Positionen zurück. Kaum auf Plato, kaum auf Aristoteles, und auch kaum auf Augustin und Thomas von Aquin. Sondern mit Vorliebe auf die nichttheoretische spätantike, hellenistischrömische Lebensweisheit, wie sie vorherrschte in der Periode des sogenannten Hellenismus, um dreihundert vor bis um vierhundert nach Christi Geburt, als die Stadtstaaten der klassischen Epoche im Imperium Alexanders des Großen aufgegangen waren. Eine geweitete, unsicher gewordene Welt ließ nicht mehr die vertraute Identifikation mit der Polis zu. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte nun einerseits der Einzelne in seinem individuellen Selbstsein und andererseits die Gesamtheit aller Individuen, die kosmopolitische Menschheit. Vordringlich war fortan die auf sich gestellte Lebensbewältigung, die Selbstsorge, die individuelle Glückssicherung. Es sind im Wesentlichen vier unterschiedliche Richtungen, die im Anschluss an die Figur des Sokrates zur Zeit des Hellenismus florierten: die stoische, die kynische, die skeptische und die epikureische. Sie alle greift Montaigne auf. Die Kyniker, in schroff provozierender Entgegensetzung gegen jeglichen Anstand und alle zivilisatorischen Standards, wahren vor allen Dingen die individuelle Selbständigkeit, sind gleichzeitig aber erklärte Kosmopoliten. Sie suchen das Glück in weitestgehender Unabhängig- 90 keit von Natur und Gesellschaft, in Einfachheit und Genügsamkeit mit dem Allernotwendigsten. Die wohl berühmteste kynische Position ist formuliert in der Anekdote, wonach der Herr der Welt, Alexander der Große, auf den wie ein Hund vor einer Tonne am Boden liegenden Diogenes trifft und statt unterwürfiger Anerkennung seiner Welteroberung von dem ‚Zyniker’ als Zeichen unverrückbarer Selbständigkeit und einziges Bedürfnis den Wunsch ‚Geh mir aus der Sonne! ’ zu hören bekommt. Die maßgebliche Alternative zu der alexandrinischen Welteroberung ist gleichwohl nicht bereits in Diogenes, sondern erst in Sokrates repräsentiert: „Wenn man Alexander fragt, was er versteht, so wird er antworten: ‚Die Welt unterwerfen’, wenn man den Sokrates danach fragt, so wird er sagen: ‚Die eigentlichen Aufgaben erfüllen, die das menschliche Leben uns stellt’; das ist ein viel umfassenderes, gewichtigeres und berechtigteres Können.“ 25 Die Stoiker sodann setzen nicht minder auf Autarkie, Unabhängigkeit von überhaupt allem Äußerlichen, Affektlosigkeit, Apathie, Tugend und Pflicht als unumschränkte Vernunftherrschaft. Aus den Megarikern, und außerdem vorbereitet durch Arkesilaos’ kritische Wendung zur sogenannten Neuen Akademie, entwickeln sich die Skeptiker; sie befleißigen sich der Ataraxie, der seelisch-gemüthaften Unerschütterlichkeit, indem sie keine Urteile fällen und nichts entscheiden, vielmehr alles in der Schwebe lassen (epoch ). Von den Kyrenaikern mit ihrem Ideal der Heiterkeit leiten sich schließlich die Epikureer her: sie erblicken das höchste Gut in der Lust, nämlich in Schmerzfreiheit und Wohlbefinden als kalkuliertem maßvollem Genuss (hedon ). Alle diese spätantiken Philosophenschulen des Hellenismus finden in den „Essais de Michel de Montaigne“ ein vielstimmiges Echo. Dabei sind für Montaigne zweifellos der skeptische und der epikureische Ansatz von größerer Bedeutung als der stoische. Der Heroismus der Stoa, ihr Ertragen und Entsagen (anéchou kaì apéchou, sustine et abstine) ist für Montaigne, anders als vordem für seinen Freund La Boétie, keine ernsthafte Versuchung. Die zuweilen bestechende Überlegenheit stoischer Tugend und Pflichterfüllung ist ihm vielmehr Anlass zur Entwicklung einer vorwiegend deskriptiven Anthropologie, die den Menschen umfassender und differenzierter wahrnimmt und ihn, in allerdings schonender Wei- 91 se, zuweilen demaskiert. Die Ausführungen beispielsweise über Cato den Jüngeren, das Urbild römischer Tugend infolge des kaltblütigen Freitodes aus Treue zum Ideal der politischen Freiheit, stehen sichtlich in ironischem Zwielicht. Hat er die ‚noble Aktion’ vielleicht doch nur aus Furcht vor Cäsar getan oder gar bloß aus Eitelkeit? 26 Recht besehen, gehört überhaupt der Stoizismus für den fortgeschrittenen Essayisten ins Kapitel menschlicher, allzumenschlicher Überheblichkeit. Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich Montaigne bezeichnenderweise vom Neustoizismus des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Für den Verfasser der „Essais“ ist die Empfindungslosigkeit kein Ideal. 27 Der Mensch selbst ist demnach nicht derart fixiert, als dass selbst dermaßen elementare Empfindungen wie Lust und Schmerz eindeutig, übergangslos und unverrückbar wären. Gänzliche Empfindungslosigkeit (Apathie, Indolenz) hingegen wird als gleichbedeutend mit der Vernichtung des Menschen überhaupt angesehen. „Er hat ebensowenig Ursache, den Schmerz beständig zu fliehen als die Lust allezeit zu suchen.“ 28 Bedeutend für Montaigne bleibt allerdings das von der Stoa bereits aus dem Kynismus übernommene Ideal des naturgemäßen Lebens. 29 Doch anders als für die Stoiker ist für den neuzeitlichen Essayisten ein der menschlichen Natur gemäßes Leben nicht einfach ein mittels Vernunft von allen Trieben und Leidenschaften freigehaltenes, tugendhaftes Leben. Im Gegenteil, er ist der Überzeugung der kynischen Philosophen, dass man besser von Tieren und Naturvölkern lernen kann als von sogenannten Kulturvölkern. Übernommen wird denn auch eher der gleichfalls bereits die Stoa inspirierende heraklitische Hintergrund. 92 Wissen des Nichtwissens, Genießen des Gegenwärtigen Die Skepsis indessen ist ständiges Ferment in Montaignes Denken. Dennoch ist Montaigne nicht schlechthin und ausschließlich als Skeptiker zu verstehen. Skeptisches Denken ist für ihn eine Strategie, ein Mittel der Entwaffnung von Dogmatismen und Fanatismen, der Stärkung von Gelassenheit und Toleranz. Die Lektüre des Sextus Empiricus, seiner „Hypotyposeis“ hat sein sich entwickelndes Denken nachhaltig geprägt. Der Skeptizismus heißt auch Pyrrhonismus, nach dem Begründer der Schule, Pyrrhon von Elis aus dem vierten Jahrhundert vor Christus. Er steht unter der Devise der Zurückhaltung im Urteil, da kein Urteil jemals unumstößlich begründet sein kann. Gemäß der Urteilsenthaltung werden die Pyrrhoniker auch Epechisten oder Ephektiker (ephektikoí) genannt. Montaignes Erneuerung der pyrrhonischen Skepsis kommt am deutlichsten im Apologie-Kapitel zum Ausdruck. Dessen erste Sätze lauten: Zweifellos ist das Wissen (la science) für uns überaus wichtig und nützlich. Jene, die es verachten, zeigen damit deutlich ihre Dummheit. Gleichwohl schätze ich seinen Wert keineswegs so maßlos hoch ein, wie das einige tun - zum Beispiel der Philosoph Herillos, der in ihm das höchste Gut darin sah und der Meinung war, es könne uns weise und zufrieden machen (nous rendre sage et contens). Ich glaube das ebensowenig, wie die Behauptung andrer, das Wissen sei die Mutter aller Tugend, alles Laster aber die Ausgeburt der Unwissenheit (l’ignorance). 30 Es entspricht dies, in der vorsichtig abwartenden Haltung, etwa dem, was im 20. Jahrhundert der Skeptiker Ludwig Wittgenstein in folgende Sentenz bringt: „Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ 31 Wie Wittgenstein (und Kant und Pascal) liegt Montaigne daran, eine Grenze zu ziehen zwischen dem, was gewusst werden kann, und dem, was den/ die anderen Bereich/ e ausmacht: des Fühlens, des Glaubens, des Schauens und Schweigens. Welche Gewissheit also, Ideal der Philosophie seit Augustin, ist erreichbar? Näherhin: ist es möglich, „durch Gründe und Vernunftschlüsse zu einiger Gewissheit“ zu gelangen? Das ist die Leitfrage, die Montaignes wie schon die des 93 Raimund von Sabunde. Anstatt dessen vermeintlich zu schwache Gründe zu stärken, grenzt Montaigne erst recht ein. Sein Bestreben zielt darauf ab, „die Vernunft der Schwäche zu überführen“. 32 Die Vernunft, anders als in der stoischen ‚Mystik’, fasst Montaigne nicht als Übernatur und göttlichen Funken im Menschen, sondern als Natur, ‚Materie’ sogar. So ist sie auch keineswegs ‚die Oberaufseherin über alles’. Ihretwegen haben die Menschen keine Sonderstellung inne. Sie sind ‚weder höher, noch niedriger als der übrige Teil’. Unbeschadet gewisser Abstufungen gilt doch: „Alles steht unter der Aufsicht der einzigen Natur.“ 33 Das bedeutet einerseits eine Ermahnung zum Leben, wird das Leben doch durch Gelassenheit, Akzeptieren, eine gewisse ‚Einfalt’ angenehmer. Andererseits ist damit eine Warnung vor Überschätzung der Wissenschaft verbunden: Mit ihr, indem wir sie überziehen, vergessen, dass sie nur ein winziger Bereich in einem Meer von Unwissenheit darstellt, ziehen wir uns womöglich die Pest an den Hals. 34 Vorbild ist auch hier Sokrates, der sich ausschließlich dadurch von der durchschnittlichen menschlichen Einbildung abhob, dass er sich nicht für einen Gelehrten und Weisen hielt. 35 Angesichts dieser Ausgangslage kann die Methode der Wahl nichts anderes als der Zweifel sein. Das besagt, in der Formulierung Ciceros: antworten, ohne etwas gewiss zu behaupten, allem nachforschen, aber meistenteils vorsichtig bleiben und noch vor einem selbst auf der Hut sein. 36 Das Ziel der skeptischen Zurückhaltung im Urteil ist Ataraxie, eine „Lebensart, die von allen heftigen Bewegungen frei ist, welche durch den Eindruck der Meinungen und der Wissenschaft, die wir von den Dingen zu haben glauben, verursacht werden“. Die Ephektiker, anders als die ungebremsten Hektiker, nämlich die Umtriebigen, Geschäftigen und Verbissenen, nehmen Abstand von allem Zorn und Eifer, sie „streiten ganz gelassen“. Und in der Tat: „Sollte man eine Sache, die uns zu bejahen oder zu verneinen vorgelegt wird, nicht als zweifelhaft betrachten dürfen? “ 37 In erster Linie die eigene „Freiheit zu behaupten und die Sachen ohne Verbindlichkeit und ohne Sklaverei zu betrachten“? Eher „unschlüssig zu bleiben“ als zwangsläufig sich in irgendwelche Irrtümer zu verwickeln? Urteilen bewegt sich ja doch unentrinnbar in einem Zirkel von Vorurteilen. Überdies urteilt ein jeder von dem ihm gemäßen Standpunkt aus, bezieht die ihm mögliche Perspektive. 94 Überhaupt, und das führt nahe an die Einsicht, dass wir nicht die Dinge an sich erkennen, sondern bloße Erscheinungen uns vorstellen: „Die menschlichen Augen können die Dinge nicht anders sehen als nach ihrer Art der Erkenntnis.“ 38 Montaigne schreibt, wie er ausdrücklich sagt, „nicht um die Wahrheit zu verkünden, sondern um sie zu suchen“. 39 Leitend ist dabei die Überzeugung: „Wir sind geboren, die Wahrheit zu suchen; sie zu besitzen, gehört einer höheren und größeren Macht an.“ 40 Dieser Satz wird sogleich durch Charrons großenteils die „Essais“ systematisierendes Manual „Über die Weisheit“ weiterverbreitet. 41 Er steht freilich in einer alten bis auf Philo, ja Sokrates- Plato zurückreichenden religionsphilosophischen Tradition. 42 Selbst der Kirchenlehrer Augustinus hatte formuliert, er wolle Gott (die Wahrheit, das höchste Gut, das glückselige Leben) lieber im Nichtfinden finden als im Finden doch nicht finden. 43 Und noch der Antikartesianer und Sokratiker Lessing macht den Wert des Menschen von der Suche nach der Wahrheit, nicht aber von ihrem Besitz abhängig. Der berühmten Maxime zufolge ist die Wahrheit zuletzt für Gott allein, 44 jegliche menschlichen Erkenntnisse sind dagegen lediglich fermenta cognitionis, Fermente bloß des Wahren. Man könnte die Problematik - es handelt sich um das sokratische Wissen des Nichtwissens, die augustinisch-cusanische docta ignorantia - auch mit Worten aus Hölderlins „Empedokles“ wiedergeben. Sie lauten: „Was wir sind und suchen, können wir nicht finden, was wir finden, sind wir nicht“. Was kommt in derlei Paradoxa zum Ausdruck, wenn nicht das Bewusstsein der endlichen Kreatur, für die die Wahrheit in vollem Umfang und ganzer Größe niemals zum Besitz werden kann? Die Grundregel des Denkens und Erkennens lässt sich in der Tat am besten in einer Frage ausdrücken: Was weiß ich? 45 So wird alles Wissen begrenzt durch ein damit einhergehendes unspektakuläres, fragendes Ge-wissen, die stetige Ermahnung zu einer eigentümlichen intellektuellen Redlichkeit. Dies freilich als Regulativ im Dienst einer existentiellen Aufrichtigkeit: Nicht alles soll man wissen wollen, mit vielem soll man unmittelbar umgehen, die „natürlichen Ergötzlichkeiten und Bequemlichkeiten“ sogar „genießen“ und ganz besonders sich „aller seiner Leibes- und Seelenkräfte gehörig und ordentlich“ bedienen. 46 Eine ausgesprochen pragma- 95 tisch-phänomenale Einstellung ist angezeigt. Die konkreten Sachen, die ‚Dinge’ also, verdienen gegenüber den abstrahierten Ursachen den Vorzug. In sichtlichem Wortwitz heißt es: Sie lassen die Sachen (les choses) fahren und forschen den Ursachen (les causes) nach. Welch hübsches Ursachengefasel! (Plaisans causeurs.) Die Kenntnis der Ursachen gehört dem allein, der über den Sachen waltet, nicht uns, die wir sie leidend empfangen und unserer Natur gemäß uns ihrer voll und unverkürzt bedienen können, ohne Einblick in ihren Ursprung und ihr Wesen zu haben. Kurzum, das Recht zum Gebrauch der Dinge wie deren Hinnahme und Genuss überhaupt werde verfehlt durch Wissensdünkel. 47 Zuletzt ist demnach auch Gott, in der ihm zugeschriebenen Allmacht und Souveränität, nicht zu begreifen, sondern, als Folge der Gnade seiner freigebigen Zuwendung, gläubig zu verehren. In diesem Punkt, so gut wie in manchen anderen, bewegt sich Montaigne in den Bahnen des nominalistischen Denkens des Franziskaners Wilhelm Ockham aus dem frühen vierzehnten Jahrhundert. (a) Gibt es (...) etwas Eitleres, als Gott durch unsere Analogieschlüsse und Spekulationen enträtseln zu wollen, ihn und die Welt nach unserm Vermögen und unsren Gesetzen zu reglementieren und uns dem Höchsten gegenüber jenes winzigen Schnipsels Verstand zu bedienen, das unsrer natürlichen Beschaffenheit zuzugestehn er geruht hat? 48 Derlei ist nichts als eitle Selbstbespiegelung, Anmaßung, Anthropomorphismus. Aber so ist der Mensch: „sehr unbesonnen. Er kann nicht eine Milbe machen, und macht ganze Dutzend Götter“. 49 Die Maßgabe der Besonnenheit hingegen gibt auch hier der Weise aus Athen: „Nach Auffassung des Sokrates, und nach meiner ebenfalls, urteilt man am verständigsten über den Himmel, wenn man gar nicht über ihn urteilt“. 50 In Wahrheit ist, außerhalb des Glaubens, alles Kontingenz und Hinfälligkeit: „Wer den Menschen, ohne ihm zu schmeicheln, ansieht, sieht weder Wirksamkeit noch Vermögen bei ihm, welche nicht den Tod und nicht die Erde verraten.“ 51 In den Himmel dringen, das kann auch der schärfste Verstand nicht; noch weiter gefehlt: allein schon das irdische Territorium kann er nicht ergründen. 52 (b) Warum gefällt es doch nicht einmal der Natur, uns ihren Busen zu öffnen, uns die eigentlichen Mittel und die Ausführung ihrer 96 Bewegungen sehen zu lassen und unsere Augen dazu geschickt zu machen? Großer Gott, was für Mißbrauch, was für Irrtümer würden wir in unserer armen Wissenschaft finden! (c) Ich müßte mich sehr irren, wenn sie eine einzige Sache bei dem rechten Punkte faßt (...). 53 Doch damit nicht genug: eine kritische Prüfung zeigt, dass noch nicht einmal die Erkenntnis unserer selbst und der Dinge, die „wir in den Händen haben“, geradezu und ohne Schwierigkeit möglich ist. Wir sind uns näher als uns die Weiße des Schnees oder die Schwere eines Steines ist. Wenn sich der Mensch nicht kennt, wie kann er seine Kräfte und Wirkungen kennen? Vielleicht besitzen wir einige wahre Erkenntnis; aber nur von ungefähr. 54 Die Vernunft ist buchstäblich zu allem fähig, ihr darf man „nicht glauben, wenn sie von sich selbst redet: so wird sie kaum geschickt sein, von fremden Dingen zu urteilen“. 55 Gründe lassen sich für alles finden, und „auf die angenommenen Gründe kann man sehr leicht alles bauen, was man will“. 56 Nach innen aber hat die Vernunft, Aristoteles zum Trotz, den Hang zu einem regressus in infinitum: „Keine Vernunft kann sich ohne eine andere Vernunft festsetzen. Also gehen wir ohne Ende zurück.“ 57 Erkennen ist Angleichen, unentrinnbar Anthropomorphismus. Insofern lässt sich zugespitzt sagen: die Vernunft ist eitel, die Philosophie ein verfälschtes Gedicht, die Wahrheit von ungefähr. Und so auch gilt es Philosoph zu sein: von ungefähr. „Alle Dinge, die von unserem eigenen Nachdenken und unserer eigenen Geschicklichkeit herkommen, sowohl wahre als falsche, sind ungewiss und streitig.“ 58 Nicht allein dem Wahrnehmungsvermögen, sondern ebenso der Urteilskraft gegenüber ist Vorsicht geboten: sie ist abhängig von der Augenblicksverfassung, den Leidenschaften, den Stimmungen, den Gewohnheiten, dem Zufall und insbesondere den fünf Sinnen. Unsicher ist sogar die Grenze zwischen Wachen und Schlafen, und noch nicht einmal die strikte Antithetik dieser beiden Zustände kann als gewiss gelten. Montaignes Fazit demnach: Es ist keine beständige Wirklichkeit verfügbar, und wir haben keine Gemeinschaft mit dem wirklichen Sein. Die ganz und gar auf Teleologie, ja Ontologie verzichtende Weltkonzeption fasst er in die Worte: 97 Es gibt überhaupt kein Dasein, das beständig wäre - weder das unsre ist es, noch das der Dinge. Samt Verstand rollen und fließen wir wie alle sterblichen Wesen ohne Unterlaß dahin. So läßt sich nichts Sicheres von einem aufs andre schließen, befinden sich Urteilender wie Beurteiltes doch in fortwährendem Wechsel und Wandel. Und zur Erläuterung und Bekräftigung ist unmittelbar ein längeres Zitat aus Plutarch angefügt: Wir haben keinerlei Anteil am wahren Sein, denn die ganze Natur des Menschen bleibt immerdar an Geburt und Sterben gebunden und tritt dazwischen nur dunkel in Erscheinung: ein Schatten und ein ungewisses, vages Wähnen. (...) Da somit alle Dinge dem Wandel von einer Veränderung zur andern unterliegen, sieht sich der Verstand auf seiner Suche nach etwas wirklich Greifbarem genarrt, weil ihm nichts, was greifbar und von Dauer wäre, unter die Finger kommt - ist doch alles entweder im Werden und deshalb noch nicht ganz da, oder es beginnt, ehe es ganz da war, zu vergehn. 59 Gekennzeichnet ist eine derartige Weltkonzeption der Fluktuanz, außer durch die Metaphorik des Wassers, der Luft und des Feuers, durch Schlüsselbegriffe wie Veränderlichkeit, Wechsel, Schwanken, Verschiedenheit, Vielheit. In alledem spiegelt sich deutlich die eigentümliche Erfahrung der beginnenden Neuzeit. Die allüberall hervortretende Vielfalt konnte nicht länger durch den mittelalterlichen Ordnungsgedanken abgedrängt werden. Es musste, unterstützt durch Heraklit und Plutarch, zu einer Pluralisierung der Ordnungen kommen. 60 Die paradoxe Feststellung der Vielheit als der einzigen durchgängigen ‚Einheitlichkeit’ wurde verstärkt durch die nominalistische Sprachskepsis, die zur Vielheit der Dinge die Vielheit der (beliebigen) Bezeichnungen hinzubrachte und insgesamt eine Verlagerung von der metaphysischen Wesenserkenntnis auf die Ebene der Sprache einleitete. (a) Es gibt den Namen (le nom), und es gibt die Sache (la chose): Der Name ist ein Schall (une voix), der die Sache bezeichnet und bedeutet; er ist also kein Teil der Sache oder ihres Wesens, sondern eine der Sache völlig äußerliche, ihr bloß beigelegte Zutat. 61 An die Stelle des zeitenthobenen statischen ordo rerum tritt, bei Montaigne so gut wie bei Machiavelli, Giordano Bruno und anderen mehr, die vicissitudo rerum, die durchgängige Dynamik, die 98 ständige Veränderung aller Dinge. Gegenüber dem herkömmlichen metaphysischen Platonismus mit seiner Axiomatik des Unwandelbaren, Stetigen, Ewigen ergibt sich im neuzeitlichen Weltbild geradezu eine Umwertung. Bewegung, Wandel, Veränderung, Vielfalt sind im Rahmen aufgewerteter Immanenz nicht länger Zeichen der Defizienz, sondern der Produktivität, der Fülle und der Lebendigkeit. Das ist nahezu gleichbedeutend mit einer - bereits durch Juan Luis Vives angebahnten - Tendenz zur Naturalisierung, insbesondere der antistoischen Tendenz zur Naturalisierung der Vernunft. Dabei wird die ‚fürsorgliche’, ‚gerechte’ und ‚weise’ ‚Mutter Natur’ allerdings mitunter idealisiert, überraschend und paradox, bis hin zu einem Inbild der Einheit und Beständigkeit, das im Innersten eines jeden Individuums denn doch den unverrückbaren Gegenpol zu aller Inkonsistenz und Vielheit bilde: (b) Da ist keiner, der, falls er sich ausforscht, nicht in sich eine ihm eigne Form entdeckte (une forme sienne), eine Grundform (une forme maistresse), die sich gegen die Erziehung und gegen den Ansturm all der Emotionen zu behaupten sucht, die ihr feind sind. 62 Freilich verdient dieses Grundmuster der Natur keineswegs blinde Gefolgschaft, bezüglich des betroffenen Einzelnen nicht, und bezüglich der anderen schon gar nicht. Von da aus nun sich selbst zum Maßstab und Prüfstein für alles Übrige zu machen, das, so verbreitet es ist, nennt Montaigne, aus einer vorgeordneten Haltung von Offenheit und Toleranz heraus, ausdrücklich ein Zeichen von Dummheit. 63 Hand in Hand mit Montaignes Aufwertung der Natur geht schließlich seine Zuwendung zur epikureischen Tradition, die, im Rahmen einer ateleologischen, aggregatorisch-transitorischen Weltkonzeption und entsprechend frei von übertriebener metaphysischer Besorgnis, immerhin in Lust und Freude, in Wohlbefinden und Vergnügtheit, in Zufriedenheit und Gelassenheit hohe Güter sieht. Eine vieldiskutierte Frage ist hierbei wiederum, ob sich der Essayist damit aus der orthodox-christlichen Tradition entfernt, oder ob es im Gegenteil legitimerweise so etwas wie einen christlichen Epikureismus geben könne, als eine Ethik des Genießens nämlich und als humanisierendes, aufklärendes, säkularisierendes Moment in Religion und Kirche. Ganz neu und unerhört ist 99 eine solche Vorstellung keineswegs! Das Christentum hatte in seiner Frühzeit wohl einen Weg ‚zwischen Plato und Epikur’ beschritten. Mit den Anhängern des Weisen im Garten, den Epikureern stimmten die Christen zumindest in der Ablehnung sowohl stoischer Vergöttlichung wie auch gnostischer Dämonisierung der Welt überein. Zu Beginn der Neuzeit hatte namentlich Lorenzo Valla, immerhin unter Nikolaus V. Beamter am päpstlichen Hof in Rom, den Christen als einen ‚Epikureer höherer Ordnung’ interpretiert. Nicht, wie vordem ganz am Beginn des Mittelalters Boethius wollte, die stoische Schule, sondern die epikureische stünde demnach dem Christentum näher. 64 Durch Valla schon wird die Ehre als Inbegriff sämtlicher Tugenden und der praktischen Vernunft überhaupt illusionslos demaskiert, vielfältiger Kritik ausgesetzt und gänzlich dem naturbezogenen, wandelbaren Begriff der Lust untergeordnet. Ebenso die ‚Philosophia Christiana’ des Erasmus von Rotterdam schloss epikureisch-hedonistische Elemente ausdrücklich ein. Und auch hier sind Begriffe leitend wie Vielheit, Abwechslung, Verwandlung, Fülle der Dinge wie der Worte. Das Lebens- und Weltgeschehen wird als Maskenspiel, als Komödie angenommen. Illusion, Schein gelten als durchaus unerlässlich, um überhaupt den Alltag zu bestehen, dem Lebensekel zu entgehen, heiter zu sein, bei Trost zu bleiben, vor dem Wahnsinn gefeit. Zerstört man die Illusion, wird erwogen, so ist das Spiel verdorben. 65 Vor hochgestochenen platonisch-metaphysischen wie danach ausgerichteten christlich-dogmatischen Ansprüchen mag es bedauerlich sein, sich zu täuschen. In Wirklichkeit ist sich nicht zu täuschen wohl das Allerbedauerlichste. Montaigne schließt hier an. Dem Körper samt Empfinden und Begehren ist so gut wie der Geist-Seele Raum zu gewähren. Die condicio humana besagt wesentlich die unverbrüchliche Einheit von Seele und Leib. Seele allein ist nicht der ganze Mensch. Das hält Montaigne mit der christlichen Religion der Inkarnation und der Auferstehung des Fleisches fest, gegen Plato und allen gnostischen und spiritualisierenden Überschwang: Jene, die unsere wesentlichen Bestandteile trennen und voneinander absondern wollen, haben unrecht. Im Gegenteil, man sollte sie enger vereinigen und zueinander gesellen. Man muß die Seele dazu anhalten, nicht sich abseits zu schlagen, mit sich selbst zu beschäftigen, den 100 Körper zu verachten und zu verleugnen (sie kann es auch gar nicht tun, es sei denn in betrüglicher Spiegelfechterei), sondern sich an ihn zu schließen, ihn zu umfangen, zu betreuen, ihm beizustehen, über ihn zu wachen, ihn zu beraten, aufzurichten und auf den Weg zurückzuführen, wenn er irregeht, kurz, sich ihm zu vermählen und als Gatten zu dienen: auf dass ihr Tun und Lassen nicht verschieden und widersprüchlich erscheine, sondern einstimmig und einhellig. Die Christen haben eine ganz besondere Anweisung über diese Vereinigung: denn sie wissen, dass die göttliche Gerechtigkeit diese Gemeinschaft und Verbindung von Leib und Seele umfaßt; so sehr, dass sie den Leib ewiger Belohnung fähig hält; und dass Gott das Tun des ganzen Menschen ansieht. 66 Um davon abzulassen, immerzu den Ausstieg aus der humanen Daseinslage zu suchen, akzentuiert er vor allem auch Elemente epikureischen Denkens. Auch wenn wir uns nicht restlos kennen können und deshalb lieber außerhalb unserer selbst nach allen möglichen Erkenntnissen anderer Dinge suchen, gilt es doch in erster Linie loyal zur menschlichen Grundverfassung zu stehen. Sein Dasein auf die rechte Weise genießen zu können, das ist die eigentliche dem Menschen mögliche Vollkommenheit. Lob verdienen nicht in erster Linie Mirakel, Extravaganzen und Eskapaden, auch nicht Lebensweisen bloß des Gebrauchens und Benutzens wie es beispielsweise in seiner stoischen Militanz Seneca äußerstenfalls zugesteht. 67 Vielmehr das, was da ist, genießen, sich daran zu erfreuen vermögen, das ist es! Ganz so wie es die Lebensweisheit des Horaz besingt, die die „Essais de Michel de Montaigne“ beschließen: frui paratis. Was bereitliegt, genießen. Mit dem Erreichbaren sein Auskommen finden. Das abermals ist Kritik an einer (christlichen) Tradition, die, namentlich seit Augustin, ein Genießen nurmehr des Göttlichen als einzigen Selbstzweck zulassen wollte; und es ist die Wiederaufnahme einer alten Überlieferung, die, etwa in den Worten Pindars, zu raten sich anschickte: „Nicht nach übermenschlichem Leben trachte, sondern das Mögliche schöpfe aus.“ 68 Offenbar ist der Mensch ein Wesen, das es wie kaum etwas anderes fundamental nötig hat, immerfort sich zu ermahnen, in seiner Uneinheitlichkeit, Instabilität und Exzentrik balancierend ein schönes Gleichgewicht zu suchen und, in respektvoller Verbundenheit mit allem Lebendigen, jene Harmonie 101 zu bezeugen, deren noch so flüchtige Gestalt immerzu ersehnt wird. 102 Die Spielräume der Freiheit Zum Schluss lässt sich also Folgendes andeutungsweise zusammenfassen: Was unter der Hand dem Autor Montaigne entstanden war, die „Essais“, blieb der niemals an sein Ende gelangende Versuch, in der Selbsterkundung der menschlichen Grundbefindlichkeit schlechthin eingedenk zu sein. Über sie, die sogar im Einzelnen, fern jeder zwanghaften Identität, unweigerlich als etwas Vielheitliches sich gezeigt hatte, wollte Montaigne in ganzer Gelassenheit Verständigung ermöglichen, in höchst komplexer Suchbewegung, essayistisch-experimentell. Um nämlich daran humane Selbstorientierung zu gewinnen, und um, durchaus auch in politischer Rücksicht, über einen Anhalt unverbrüchlicher Loyalität zu verfügen. Und solch vorsichtige Selbstverständigung sollte wohl noch immer gelten. In der Krise der Moderne, nach all ihren absolutistischen und totalitären Abenteuern, bestätigt sich, dass es den Ansatz bei einem archimedischen Punkt, von dem aus alles in den Griff zu bekommen wäre, in Wahrheit niemals gab und gibt. Es bleibt daher nichts als der jeweiligen Standpunktbezogenheit in allen Versuchen zu erkennen und zu handeln gewärtig zu sein und jederzeit darüber Rechenschaft abzulegen, dass es stets ein Horizont der Endlichkeit ist, worin der Umgang mit allem Menschlichen sich hält. Es ist insofern unumkehrbar, einem Philosophieren zuzuneigen, das als praktisches der Differenz Rechnung trägt. Denn durchs Vereinzelte, Sich-Widersprechende, geschichtlich Sich-Wandelnde, Kontingente gilt es hindurchzufinden. Insofern ist der ‚Abschied vom Prinzipiellen’ unwiderruflich und zu Recht als Wende zur Skepsis zu beschreiben, als Replik auf die menschliche Endlichkeit. Vernunft unter den Bedingungen der Endlichkeit besagt nichts anderes, als dass Rationalität immerzu und aufs Ganze unabsehbar aus dem Kontext der konkreten Lebenswelt zu entwickeln ist. Gegenüber dem transzendentalen Anspruch auf Selbstbegründung unbedingter Vernunft respektiert menschenkundige Kritik das Leiblich-Intersubjektive, wie es primär im Affektischen sich meldet, und dringt gegen allen Deduktionismus darauf, (maximen-ethisch) die Phänomene zu wahren und in angemessener, kunstgerechter Weise Verständigung zu suchen. 103 Gewiss zeigt sich, dass die der Praxis zugehörige Reflexion an Grenzen stößt und in Bewegungen gerät, die darüber und über allen pragmatischen Diskurs hinauszudrängen scheinen. Ein abgründiger Zwiespalt durchherrscht sichtlich das Dasein. Seit jeher sehen die maßgeblichen Denker alles Menschsein unter der Widerspenstigkeit von Weltbindung und Weltenthobenheit. Einerseits ist durch Metaphysik, Religion und Wissenschaft Distanz gefordert zur ‚natürlichen’ Weltlichkeit bis hin zu Besitz- und Sorglosigkeit und Selbstverzicht, um des ‚wahren’ Seins inne und der Perfektion teilhaft zu werden. Dagegen steht die Tendenz zu rückhaltloser Weltaufgeschlossenheit, zu handfester Zugehörigkeit, einschließlich Besitz, Sorge (um sich), Selbstbehauptung, konstruktive Auseinandersetzung, kreative Verständigung. Indessen bleiben Antinomien. Geschlossene Identität ist unerreichbar. Was anderes denn sind wir, fragt Montaigne, „als Zwiespalt und Zwist“. 69 Und merkt an: „Wir sind, ich weiß nicht wie, doppelsinnig“, mit der irritierenden Konsequenz, „dass wir das, was wir glauben, nicht glauben, und dass wir das nicht abtun können, was wir verdammen“. 70 „Alles, was wir sind“, so resümiert schließlich noch die fortentwickelte moderne Phänomenologie, „sind wir auf Grund einer faktischen Situation, die wir uns zu eigen machen und unablässig verwandeln durch eine Art von Entzug, der gleichwohl nie zur unbedingten Freiheit wird“. 71 Steht es aber so, dass die verständliche Welt insgesamt sich überhaupt nur hermeneutisch-inventorisch, artistisch eigentlich konstituiert, so bleibt praktisches Wissen anders als gegenständliches Erkennen prinzipiell unabschließbar und stets situativ (individuell, sozial und geschichtlich) eingebunden. Der Lebensvollzug lässt sich daher nicht objektivieren oder systematisieren. Was von der Praxis fassbar und verständlich wird - ein jeweiliger Umkreis menschlicher Angelegenheiten als Konkretionen sich vollziehender Freiheit -, das kann nur indirektapproximativ mitgeteilt und in seiner letztlichen Intentionalität allenfalls als ‚negative Anthropologie’ aufgewiesen werden. So ist immerhin der menschlichen Grundsituation entsprochen, die als je verschieden sich konstituierende Praxis der Freiheit zu verstehen ist. Aufgerufen und in Gang gehalten wird, bei aller Skepsis und allen Widrigkeiten, die Reflexion der Erfahrung, der Prozess der Verständigung. Das aber ist von enormer Bedeutung: 104 Das Dasein ist, als Unterwegssein, Existieren, Interagieren, nicht ein bloßes Vorhandensein, sondern ein Sich-ins-Werk-Setzen. Das Leben zu führen, diese elementar ethische Aufgabe, das ist das eigentliche Kunstwerk. Und es vollzieht sich, wie gesagt, als Reflexion und in Kommunikation. Mit dem Appell an die Freiheit der Individuen in ihren konkreten Bindungen sind alle möglichen Extremhaltungen abgewiesen: Steckenbleiben in besinnungsloser Unmittelbarkeit, asketischer Weltverlust, Selbstverlust an das Abstrakt-Allgemeine, ganz zu schweigen von fundamentalistischer Verhärtung in blindem Gehorsam gegen unverrückbare Vorgegebenheiten, seien sie nun religiöser, moralischer, juridischer oder sonstiger Art. Im Gegensatz zu alledem wird die Erfahrung gehört, beobachtet und in der Reflexion auf ein Immanent-Typisches hin eingesehen. Dieses Typische ist es, das, in freimütiger Dialogik dargeboten, als Appell wirkt, die Spielräume der Freiheit wahrzunehmen. Bereits Montaigne ist sich dieser Zusammenhänge voll bewusst: Wollte Gott, daß die allzugroßen Freiheiten, die ich mir herausnehme, in unseren Menschen den Mut zu eigner Freiheit erweckten (...) - und daß ich sie mittels meiner Maßlosigkeit bis zum Richtmaß der Vernunft führte! 72 Das umfasst die Anerkennung auch der affektiven Basis des Menschseins. Die Leidenschaften, für die Stoiker nichts als Störungen und eigentlich krankhafte Zustände, werden aufgenommen. Die Seele des Menschen, so heißt es folglich, brauche - über stoische Leidenschaftslosigkeit (Apathie) und aristotelischperipatetische Ausgeglichenheit (Metriopathie) hinaus - das Leidenschaftliche so nötig wie ein Segelschiff den Wind. 73 Insofern entschiedene Zuwendung zur menschlichen Realität mit allem ihr eigenen Mittelmaß, ihrer Durchschnittlichkeit und Normalität. Ob Loyalität in Tat und Wahrheit möglich sei, das ist eine seit Beginn der Neuzeit diskutierte Frage. Gibt es die volle autonome Weltlichkeit des Menschen? Oder muss Menschsein sich als misslungen, exiliert, unfähig zu einem in sich glücklichen Leben verstehen? Damit verbunden ist die epochale Konstitutionsproblematik. Wie kommt die Neuzeit zustande? Neostoisch, humanistisch, skeptisch, säkular antichristlich, szientistisch unidimensional? Was 105 besagt der menschliche Aufbruch zu sich selbst? Was steht dabei legitimerweise zu Gebote? Im Kräftefeld von moderner Wissenschaft, Neustoizismus, Christlichkeit, römisch-katholischer wie evangelisch-reformierter, ist auch der moralistische Faktor wirksam. Im Praktischen durchdringen sich, wie der geradezu heraklitische Chiasmus Montaignes „intellectuellement sensibles, sensiblement intellectuels“ verdeutlicht, Geist und Sinne wechselseitig. Nicht bloß Wissen und Erkennen sollen gesichert, sondern alle menschlichen Dimensionen interpretiert und entfaltet werden. Den Ort dafür kann aber nicht so sehr die herkömmliche Transzendentalphilosophie oder überhaupt eine Theorie, kann viel eher ein praktisch-hermeneutisches Philosophieren bereitstellen. Die Humanität steht und fällt mit der Wahrung authentischer Phänomene. Jedwedem Reduktionismus gegenüber, wie überhaupt gegenüber jeglicher Preisgabe von Welt ist Einspruch einzulegen. Es hat dies - mit geeigneten Mitteln - im Namen der Kultur, der ungeschmälerten Entfaltung von Weltlichkeit zu geschehen. Dem Menschen stellt sich, gegenläufig zu allen gnostischen Versuchungen, die Aufgabe, in seine Welt einzugehen. Nicht bloß als neugieriger Zuschauer distanziert sich zu verhalten, sondern an ihr umfänglich teilzuhaben: als der homo particeps, der er ist. Moralistik als Philosophie der menschlichen Dinge stellt Situationen modellartig vor Augen, in denen sich Realität als bedeutsam kundtut und als wertvoll konkretisiert. Welt kann nicht ein für allemal erklärt, sondern muss fallweise, von Beispiel zu Beispiel, von Situation zu Situation immerfort neu verstanden werden. Bewältigte Konstellationen, Beispiele verstandenen Lebens, zu Wort gebracht, sind Gemeinplätze; und nicht deswegen, weil sie die Realität schematisieren, sondern weil sie immerzu Impulse geben zu verstehender Aneignung der niemals identischen Wechselfälle des Lebens. Da es dabei nicht um etwas Prinzipielles, ein für allemal Erlernbares geht, ist eine illustrierende, den Kern nur approximierende Reichhaltigkeit der Topoi vonnöten. Das Erfinderische des Daseins macht die Beteiligung auch von Phantasie und Geisteskraft unentbehrlich. Dies kommt vor allem zum Ausdruck in der zentralen Rolle, die dabei der Sprache zufällt. Sprache ist Topik schlechthin, und keine Praxis kommt ohne Sprache aus. In 106 der zugehörigen Sprachlichkeit zeigt sich die Ausgelegtheit der Situationen, in denen Menschen sich finden. Weil die Verortung der unterschiedlichen Situationen, worin sich menschliches Leben gewöhnlich zuträgt, ganz unentbehrlich ist, bedarf es primär der topisch-inventorischen Orientierung an der Welterfahrung, die in der Sprache hervortritt. Das sprachliche Verfügbarhalten von Sinndeutungen ist indessen kein Reduzieren auf Wissensinhalte, keine Sache des bloß lexikalischen Gedächtnisses und auch kein Kalkül. Es handelt sich vielmehr um eine höchst spezifische durch nichts sonst zu ersetzende Orientierungsweise an - frei zu behandelnden - Vorgegebenheiten, Angeboten, die traditionell als verisimília, éndoxa, Wahrscheinlichkeiten benannt sind. Es sind jene die Praxis leitenden, erschließenden, aber nicht fixierenden Maximen. Soll so etwas wie kohärente Erfahrung bestehen - und wie wäre dieser Anspruch schlechthin abzuweisen? - so ist die inventorische Aufgabe gestellt, Beziehungen aufzufinden und zu stiften. Dies aber heißt, vor allem kategorisieren, in umfassender Weise relational verfahren. Während in der überlieferten Ontologie seit Aristoteles die Relation innerhalb der verschiedenen Kategorien hintangesetzt war, so änderte sich dies zusehends. Der Relation fällt schließlich der Vorrang zu, insofern es der authentisch menschlichen Apperzeption in humaner Selbstbescheidung um das Erfassen von Beziehung gehen muss. Nicht Dinge an sich bewegen den Menschen, sondern durch geistig-seelisches Bezogensein konstituierte und erhaltene (menschliche) Dinge, Dinge ‚für uns’. Nicht dass die Dinge, wie die idealistische Transzendentalphilosophie es will, durch die erkennende Vernunft - als Erscheinungen allerdings nur - kreiert würden, sondern anders: Transzendentalphilosophisch in derart umfassendem Sinne, dass die menschliche Situation sich zuallererst durch die Beziehung zu den Dingen konstituiert und in ihrem Freiheitscharakter, im Spielraum ihrer Interpretierbarkeit praktisch sich erschließt. Da jedes menschliche Ding Symbol ist, lässt sich vom einen zum andern schließen mittels Analogie. „Nach Analogien denken“ ist angemessen und fruchtbar, insofern die Analogie, mit Goethe zu sprechen, den Vorteil hat, „dass sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will“. 74 So, in einem mittleren Bereich zwischen unabsehbarer Vieldeutigkeit (Äquivozität) und idealer Eindeutigkeit (Univozität), äußert sich 107 wahrhafte Sorge um Offenheit und Enthaltung von vorschnellen Fixierungen. Trotz aller Orientierungsnöte ist es nämlich weder möglich, Totalbegründungen zu leisten, noch auch durchgreifende Änderungen tatsächlich zu schaffen. Die Identifikation mit dem Bild des Absoluten unterbände jedwede Praxis, weil in der Einebnung der Differenzen alle konkrete Lebendigkeit erstürbe. Es ist daher unumgänglich, einem Philosophieren zuzuneigen, das der Differenz Rechnung zu tragen versteht: la diversité, la variété, la différence - das sind schon Montaignes Leitworte. Hand in Hand mit dem pyrrhoneisch-skeptischen Element geht die nominalistisch-idiographische Akzentuierung des Besonderen, Singulären, Individuellen und Empirischen. Die Verschränkung mit der affektischen Grundstruktur unseres (Miteinander-)Daseins zu fördern, und, darauf aufbauend, das Menschliche, seinen genuinen Gewohnheiten entsprechend, realitätsgerecht wohnbar zu halten, das ist die Aufgabe. Im Grunde geht die Tendenz auf eine weisheitlich-integrale Lebenshaltung hin. Da es, wie in aller Weisheit, eigentlich um ein Schmecken des Zuträglichen geht, ergibt sich eine charakteristische Ambivalenz dem Ganzen gegenüber: Schwanken zwischen Zustimmung und Ablehnung, Achtsamkeit auf Lust und Leid. Weithin ist es deshalb eine antistoische und antiplatonische Wirksamkeit, die, vornehmlich seit Montaigne, der moralistische Faktor entfaltet. Plädiert wird, entgegen aller (idealistischen oder szientistischen) Entleerung der Erfahrungswirklichkeit, zugunsten eines pragmatischen, materialen, gedankenreichen Naturalismus. Montaigne ist in diesem Sinne, wie Nietzsche ganz zu Recht festhält, „ein Naturalist der Ethik, aber ein grenzenlos reicher und denkender“, wohingegen die ungebrochen Modernen mit allem ihrem Wissen als „gedankenlose Naturalisten“ anzusehen sind. 75 Was mittlerweile die Hermeneutik wäre, innerhalb derer Montaignes Sprechen wohl am adäquatesten verstehbar wird, das ließe sich am ehesten mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan verdeutlichen, der Montaigne zum guide éternel, zur ‚ewigen Leitfigur’ erklärte. 76 Gegründet in schmerzlichem Verlust, ist Montaignes Sprechen experimentelle Antizipation eines vollen Sprechens. Evokativ eher denn informativ, ist es bestrebt das (außerrationale) Subjekt in die zugehörige, 108 nicht entfremdende Sprache einzusetzen. Es ist gekennzeichnet durch eine Indirektheit, die nicht nur auf einen verborgenen Subtext und das zu seinem Diskurs exzentrisch stehende Ich verweist, sondern, aller scheinbaren Monologik zum Trotz, auch - und mehr noch - auf den durchaus unverlierbaren Vorrang der Intersubjektivität. „Im Indirekten zeigt sich das Unnachahmliche des Menschen.“ 77 Wünsche und Phantasien, welche, unterschwellig zunächst, das Weltverstehen leiten, werden allenfalls auf Umwegen zugänglich. Insofern verstehen Denker wie Montaigne, Hamann, Kierkegaard, Nietzsche, Wittgenstein die Tätigkeit Philosophieren als unumgänglichen Versuch, sich und andere in der Verwirklichung der Freiheit zu unterstützen. Um Mitteilung im echten, menschlichen, das heißt der Subjektivität entstammenden und auf andere Subjektivität hinzielenden Sinn zu erreichen, ist daher die entsprechende Formung unerlässlich. Darin findet das Prozessuale im Akt der Aneignung seinen Niederschlag, und die indirekte Mitteilung wird zu einem integralen Moment im Wahrheitsals einem Freiheitsgeschehen. Ist also Kommunikation für die „universale Bedingung des Menschseins“ 78 erkannt, so ist Menschsein damit als Sprachsituation erkannt und geradewegs als Verdeutlichung dessen gesetzt, was in altrömischer Formulierung condicio humana sich nennt. Da außerdem Menschsein durch Grenzsituationen umschrieben wird, ist auch die Begrenztheit im Sinne von conditio erläutert, und zwar in der doppelten Hinsicht einerseits einer vorgegebenen Limitierung wie andererseits einer namentlich an ihren Grenzsituationen scheiternden Existenz im Verlangen nach Transzendenz. Und in der Tat: Dass, neben der Systematik des objektiven Denkens, ein Weiteres bestehe, ein andersartiges, indirektes, inexaktes, humanistisch-rhetorisches, möglicherweise metaphorisch-unerhörtes, in jedem Fall aber der Literatur verpflichtetes Appellieren, dass ein Experimentieren, Spielen, Erproben, ein kunstgerechtes Fragen unersetzliche Bedeutung behalte im Hergang allen Verstehens, Verständigens, Anerkennens, dies allerdings ist nichts weniger als das Zentralaxiom praktischen Philosophierens überhaupt. 109 Nachweise Ausführlicher wissenschaftlicher Anmerkungs-Apparat und vollständiges systematisches Literaturverzeichnis unter http: / / www.narr.de/ artikel_3583.ahtml Besonnen unter Fanatikern: ein Philosoph neuen Typs 1 La parole est moitié à celuy qui parle, moitié à celuy qui l'escoute (Buch III, Kapitel 13; T/ R 1066, b; St 549; vgl. II 18; St 333). - Zur Auflösung der Siglen von Primärquellen (T/ R, St, etc.) s. Literaturverzeichnis (1., 2.). 2 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode (1960), Tübingen 1972, S. 349. 3 Franzen, August: Kleine Kirchengeschichte, Freiburg i.Br. 1965, S. 291. 4 Montaigne, Tagebuch einer Reise durch Italien, hg. O. Flake, Frankfurt a. M. 1988, S. 317, Anm. 62. 5 Savant dans un siècle d'ignorance, philosophe parmi les fanatiques (Voltaire, Remarques sur les Pensées de Pascal, 1728, zit. in: Montaigne, Essais, hg. Maurice Rat, Paris 1962, Bd. I, S. XXVIII; Daniel K eel, Hg., Über Montaigne, Zürich 1992, S. 488). 6 Les femmes n'ont pas tort du tout quand elle refusent les reigles de vie qui sont introduites au monde, d'autant que ce sont les hommes qui les ont faictes sans elles (III 5; T/ R 832, b; St 427; L 686). 7 Quand je me jouë à ma chatte, qui sçait si elle passe son temps de moy plus que je ne fay d'elle? (II 12; T/ R 430, c; St 224). 8 Nous ne sommes ny au dessus, ny au dessoubs du reste (II 12; T/ R 436, a). 9 Au plus eslevé throne du monde, si ne sommes assis que sus nostre cul (III 13; T/ R 1096, c; St 566). 10 Tie III 445. 11 Je n'ay pas plus faict mon livre que mon livre m'a faict (II 18; T/ R 648, c; L 541; St 330). 12 Nouvelle figure: un philosophe impremedité et fortuite! (II 12; T/ R 528, c; TieII, 260; FW III, 389, L 461; St 273). 13 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, 2. Abschnitt; Akademie-Ausgabe, 1911, Bd. IV, S. 421. 14 Ders., Kritik der praktischen Vernunft, 1788, Einleitung, A 31. 15 Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a.a.O., S. 420, Anmerkung. 16 Ders., Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, A 13. 17 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 20, S. 17. 18 ebd., S. 57. 19 ebd., S. 56. 20 Toulmin, Stephen: Kosmopolis, Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt a. M. 1991. 110 21 ebd., S. 15. 22 ebd., S. 307. 23 ebd., S. 120. 24 ebd., S. 120. 25 ebd., S. 122. 26 ebd., S. 137. 27 I 26; St 94 f. 28 II 17. 29 St 102. 30 Par ce que c'estoit luy; par ce que c'estoit moy (I 28, T/ R 178, c; St 101). 31 I 28; St 99. 32 I 28; St 101; F 103 f. 33 Discours de la servitude volontaire, geschrieben vermutlich 1548, Erstdruck Genf 1577 in: Mesmoires de l’Estat de France sous Charles Neufiesme (Aufzeichnungen über die Lage Frankreichs unter Karl IX.), Bd. III; deutsch Hamburg 1992; Tie 3, 491-538. 34 T/ R 1347-1360; F/ W 6, 257-277; Tie 3, 459-477. 35 I 29; T/ R 1480-1492. 36 III 3; St 412 f.; Franz 300. 37 T/ R 1419-1427. 38 T/ R XVI. 39 III 5, St 438. 40 III 9. 41 Bode 7, 99-110; Montaigne, Tagebuch einer Reise durch Italien, hg. Otto Flake, Frankfurt a. M. 1988, S. 59 ff. 42 T/ R 1228 f.; Montaigne, Tagebuch, hg. Flake, S. 155 f. 43 Tagebuch, hg. Flake, S. 181, 321. Erprobungen der Urteilsfähigkeit: Grundzüge der „Essais“ Zunächst zwei Bände: Buch I und II 1 c’est le seul livre au monde de son espece (II 8, T/ R 364, c; L 369). 2 infinis Essais (I 40, T/ R 245, c, L 274). 3 chapitre (II 8, T/ R 365, a; L 369; II 25, T/ R 669 a). 4 Wentzlaff-Eggebert, Harald: Lesen als Dialog, Heidelberg 1986, S. 104. 5 ebd., S. 106. 6 un registre des essais de ma vie (III 13, T/ R 1056). 7 mon jugement (...) duquel ce sont les essais (II 17, T/ R 637, a; L 531). 8 juger en destail / et distinctement piece à piece (II 1, T/ R 316, b/ c; L 320; St 165). 9 ebd. T/ R 319, b; L 324. 10 comme les enfans proposent leurs essais; instruisables, non instruisant (I 56, T/ R 308, c; L 308). 11 Wentzlaff-Eggebert, Harald: a. a. O., S. 208-217. 12 un subject merveilleusement vain, divers et ondoyant (...) Il est malaisé d’y fonder jugement constant et uniforme (I 1, T/ R 13, a). 13 T/ R 320, a. 14 „Wir bestehen alle nur aus buntscheckige n Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen (d’une contexture si informe et diverse), dass jeder von ihnen jeden 111 Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebensoviele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den andern“ ( autant de difference de nous à nous mesmes, que de nous à autruy; II 1, T/ R 321, a; St 168; L 325). 15 II 37, T/ R 766, a; L 601; St 390. 16 „Über die Gewohnheit und dass man ein üb erkommenes Gesetz nicht leichtfertig ändern sollte“, De la coustume et de ne changer aisément une loy receüe (I 23). 17 L 166, St 66. 18 „Über die Menschenfresser“, Des cannibales (I 31). 19 II 1, T/ R 321, a; St 168. 20 I 26. 21 Du pedantisme I 25. 22 epist. II 40. „ (...) devenir plus sage, non plus sçavant ou eloquent“ (II 10, T/ R 393, a, c; L 394). 23 c’est à nous à nous en rendre compte. Nostre bien et nostre mal ne tient qu’à nous; (T/ R 289 f.; St 153; L 289 f.). 24 Nostre propre et peculiere condition est autant ridicule que risible (p. 292, c; St 154). 25 Über den Müßiggang, De l’oisiveté, I 8, T/ R 34, a; St 20; L 78. 26 la seule raison doit avoir la conduite de nos inclinations (II 8, T/ R 366, a; L 371). 27 une autre sorte de parenté (T/ R 383, a; St 199). 28 L 383. 29 F 193. 30 II 6. 31 c’est le seul livre au monde de son espece (II 8, T/ R 364, c; L 369; St 190). 32 „Betrachtung über Cicero“, Consideration sur Ciceron; II 40; vgl. II 10 „Des livres “; L 394-397; II 31, St 354. 33 L 394. 34 L 275. 35 Seneca, Epistulae morales, 20, 2. 36 ma philosophie est en action, en usage naturel et present; III 5, T/ R 820, b; St 419; L 673. 37 Über Bücher, Des livres (II 10) ist sozusagen das Methodenkapitel der „Essais“. 38 essay de mes facultez naturelles (p. 387, a; L 385; St 201). 39 T/ R 388; St 202; L 387 f. 40 „Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter“ (Horaz, Ars Poetica, 333 f.). 41 L 393; St 206. 42 Tractatus ad facilem historiae cognitionem, Paris 1566. 43 L 398 f. 44 St 209 A 4-B 2; L 401 f. 45 l’homme en general, de qui je cherche la cognoissance (T/ R 369, c; L 397; St 208). 46 Que philosopher c’est apprendre à mourir. 47 les bons avertissemens de nostre mere nature; T/ R 91-94; St 50-52. 48 Tusculanae Disputationes, I, § 75 49 Plato: Phaidon, 80 e / 81 a. 50 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, I, Vom freien Tode; SA I 333-336. 51 le but de nostre carriere (T/ R 82, a; Tie I 124). 52 T/ R 949, b; St 488; L 764. 53 ebd.; St 488; L 765. 54 III 12, T/ R 1014, b; St 522; L 819. 55 L 821. 56 III 12, T/ R 1028; St 530 f.; L 831. 112 57 „Über das Üben“ , De l’exercitation (II 6). 58 St 185 A 2-B 2, 186 A 4-187 A 4; L 358-360, 362-364. 59 De la force de l’imagination (I 21). 60 L 145. 61 De la moderation (I 30). 62 un miserable animal (T/ R 198, a; Tie I 358; St 106). 63 La volupté mesme est douloureuse en sa profondeur (III 10, T/ R 982, b; St 506; L 787; vgl. III 5, St 439). 64 Nous ne goustons rien de pur (II 20). 65 St 212 B 4-213 B 3 bzw. ff. ad finem; L 411 ff., F 202. 66 l’innocence qui est en moi, est une innocence niaise (T/ R 408, b; F 203). 67 „Über die Grausamkeit“, De la cruauté (lat. crudelitas); II 11; vgl. II 27: Couardise mere de la cruauté. 68 T/ R 414; F 205; 216. 69 De la conscience (conscientia, syneíd sis, Gewissen), II 5; hier St 182. 70 le duel: II 27; vgl. außerdem II 11, III 1, 13. 71 „Über die Gewissensfreiheit“, De la liberté de conscience; II 19. 72 Apologie de Raimond Sebond; II 12. 73 ce long et ennuyeux discours; T/ R 588, a; St 300, Tie II 384. 74 Coppin, Joseph: Montaigne, Traducteur de Raymond Sebon, Lille 1925. 75 Liber creaturarum seu Liber de homine; Erstdruck Lyon 1484. Als Leseausgabe vgl. Raimundus Sabundus: Theologia naturalis seu Liber creaturarum, (Sulzbach 1852), hg. Friedrich Stegmüller, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. 76 homo ex propriis conditionibus postest arguere conditiones et proprietates, quas habet Deus factor suus (Kap. 175, S. 243 f.). 77 omnia, quae sunt necessaria homini ad salutem (Prol , Stegm. 27 * ). 78 fides Christiana nullo modo est contra naturam, immo pro natura et pro bono naturae, ad complementum naturae, et ad ejus perfectionem, quia est ad exaltationem et dignificationem naturae humanae (Kap. 80, S. 101). 79 St 221. 80 St 222. 81 St 227. 82 c’est une carte blanche preparée à prendre du doigt de Dieu telles formes qu’il luy plaira y graver (T/ R 486; St 251). 83 probabilia conjectura sequens (Cic., Tusc. I 9; T/ R 487, c; St 252). 84 Que sçay-je? (T/ R 508, b; St 263, Tie II 214). 85 une eloise dans le cours infini d’une nuict eternelle; T/ R 507, b; St 263. 86 mutaverunt gloriam incorruptibilis Dei in similitudinem imaginis corruptibilis hominis; Röm 1,22 f.; St 264. 87 une puissance incomprehensible; T/ R 493, a; St 257. 88 T/ R 512, b; St 265. 89 T/ R 523; St 270. 90 „Über das Beten“ ( Des prieres, I 56) gilt als der zweitbedeutendste Text zur religiösen Thematik. 91 L 302, St 159. 92 St 269. 93 T/ R 589, c; L 484. 113 94 II 17: De la praesumption (von christl.-mittellat. praesumptio, prae-sumo, vorher annehmen). 95 F 205; vgl. II 12: Tie II 32 f. 96 F 251. 97 l’estre veritable est le commencement d’une grande vertu, II 18, T/ R 649, a; L 542. Montaigne, Essais, Eine Auswahl vorgestellt von André Gide (1939), dt. Zürich 1993, S. 10. 98 St 316; F 242 f. 99 F 258; St 327. 100 „Wenn man einander des Lügens bezichtigt“, Du démentir, II 18. 101 T/ R 647 f.; St 330. 102 ebd.; vgl. III 10. 103 T/ R 650; St 333. 104 Nous ne sommes hommes et ne nous tenons les uns aux autres que par la parole (I 9, T/ R 37, c; St 23). Ein zusätzlicher und letzter Band: Buch III 1 Du repentir (III 2). 2 je ne m’essaierois pas, je me resoudrois; T/ R 782, b. 3 mener l’humaine vie conformément à sa naturelle condition (T/ R 787, b; L 630; St 401). 4 le maistre des maistres; III 13; T/ R 1044, c. 5 selon qu’on peut; III 3, T/ R 798, b; F 295; L 645; St 408. 6 III 13, T/ R. 1095, b; L 882. 7 T/ R 782, b; L 623; F 286; St 399. 8 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, Akademie-Ausgabe, 1911, Bd. IV, S. 429. 9 Marx, Karl: Kommunistisches Manifest (1848; Mega I 45). 10 Plessner, Helmuth: Zur Geschichtsphilosophie der bildenden Kunst seit Renaissance und Reformation (1918), GS VII 23. Das Binnenzitat ist aus Goethes spätem Gedichtzyklus ‚Urworte. Orphisch’ (Dämon). 11 Kap. 100-173. primum quod dare potest est amor: Raimundus Sabundus, Theologia naturalis seu Liber creaturarum, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, Kap. 109, S. 148. 12 vis et virtus uniendi, mutandi, convertendi, ac transformandi. 13 mutat amantem in rem amatam, ebd., Kap. 130, 172. 14 imago Dei, Gn 1,26 f. 15 In homine est plena Dei imago; a. a. O., Kap. 103, S. 136; (...) sicut sigillum imprimit totam suam imaginem in cera; ita Deus impressit totam suam imaginem in homine, et homo totum Deum repraesentat; Kap. 121, S. 164; (...) unus portat imaginem Dei sicut alter, et sic se debet reputare, ut est quasi unus homo; Kap. 125, S. 168. 16 les autres forment l’homme; je le recite et en represente un particulier bien mal formé; T/ R 782, b; L 622; F 285; St 398. 17 Or, nos raisons et nos discours, c’est comme la matiere lourde et sterile : la grace de Dieu en est la forme: c’est elle qui y donne la façon et le pris. (...) nos imaginations et discours (...) ont quelque corps, mais c’est une masse informe, sans façon et sans jour; II 12; T/ R 424, a; St 221; Tie II 23. 18 La Boétie, Étienne de: Von der freiwilligen Knechtschaft, hg. Horst Günther, Hamburg 1992, S. 46-49. 114 19 omne nostrum studium in hoc ferventissimum sit, ut veri notitiam in nobis ipsis experiamur (Nicolai de Cusa De coniecturis, pars II, Prologus, n. 70). 20 Ebd , capitulum XIV, n. 143 f. 21 Cusanus: De visione Dei, cap. IX. 22 tò heautoû epimeleîsthai (Plato, Alkibiades I, 127 e). 23 „Über dreierlei Umgang“, De trois commerces (III 3). 24 un’ame à divers estages; T/ R 799, b; St 409; L 646. 25 la vie est un mouvement inegal, irregulier et multiforme (T/ R 796, b; F 295; L 693; St 407). 26 Sur des Vers de Virgile (III 5). 27 8, 387 f., 404 f.; T/ R 826, b; St 425. 28 De rerum natura, I, 32-34, 36 ff.; T/ R 850, b; St 436 29 Odyssee 8, 266 ff. 30 gay et sociale; T/ R 822, b; St 420; vgl. III 13, T/ R 1097. 31 le plaisir de descharger ses vases; T/ R 850, c. 32 T/ R 855; F 306; St 438 f. 33 T/ R 859, b; F 309; St 440 f. 34 T/ R 870; F 310; St 446. 35 F 307; L 704; St 440. 36 aeternum vulnus; rer.nat., I 34; T/ R 850; St 436. 37 „Die Bewegung der ganzen Welt läuft au f die Paarung hinaus. Alles ist von der Begierde danach durchdrungen, sie ist der Mittelpunkt, nach dem sich alles richtet“ ( c’est un centre où toutes choses regardent; III 5, T/ R 835, St 429). 38 T/ R 825, b; St 424. 39 Taureck, Bernhard: Französische Philosophie im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 209. 40 Des coches (III 6). Vgl. II 5, 6, 27; III 11. 41 L 718 f.; St 456 f. 42 L 720 f.; St 457 B 3-6. 43 contre tout droict des gens; T/ R 891, b; L 722; St 458. 44 L 717. 45 „Über die Hinkenden“, Des boyteux (III 11; von frz. boiter für hinken). 46 T/ R 1006, b; L 810; St 518. 47 De la Vanité (III 9). 48 c’est chose tendre que la vie et aysé à troubler (T/ R 927, b; St 478). 49 vitam regit fortuna, non sapientia (Cicero, Tusculanae Disputationes, V 9; T/ R 963, c). 50 la vie est un mouvemenet matériel et corporel, action imparfaicte de sa propre essence, et desreglée (T/ R 967, b; St 499; L 733). 51 De l’utile et de l’honneste (III 1). 52 le bien public; T/ R 768, b; L 607; St 391. 53 „Unter etwas sittlich Gutem (honestum) verstehen wir also etwas, das so beschaffen ist, daß es auch ohne jeden Nutzen (detracta omni utilitate), ohne irgendwelche Vorteile und Belohnungen (sine ullis praemiis fructibusve) um seiner selbst willen (per se ipsum) zu Recht gepriesen werden kann“ (D e finibus II 14, 45; vgl. De officiis III, §§ 19-33). 54 T/ R 769/ 7, b; F 281; St 392. 55 la principale charge que nous ayons, c’est à chacun sa conduite (T/ R 984, b; F 345). „Über den rechten Umgang mit dem Willen“, De mesnager sa volonté (III 10). 115 56 T/ R 989; F 347; St 509 A 7 - B 2. 57 De la phisionomie. 58 suivre nature (...) le souverain precepte (T/ R 1037; L 838). 59 sagesse humaine (T/ R 1015, c); anthr pín sophía (Platon: Apologie, 20 d). 60 nous sommes chacun plus riche que nous ne pensons (T/ R 1015, b; L 820; St 522). 61 T/ R 1028 f.; Tie III 309; L 831 f. 62 faire montre que du mien, et de ce qui est mien par nature; T/ R 1033, b; L 835. 63 L 842; T/ R 1041, b. 64 T/ R 1037, b; L 838; Tietz III 326; hpb. 65 De l’experience. 66 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 3 1972, S. 339. 67 ebd. 338. 68 ebd. 344. 69 Plato, Symposion, 215 a 7. 70 Pántes ánthr poi tou eidénei orégontai physei (Met. I 1, 980 a). 71 T/ R 1041, b; L 842 f.; St 537. 72 un mouvement irregulier, perpetuel, sans patron, et sans but (T/ R 1045, b; L 848). 73 oute légei, oute kryptei, allà s maínei (B 93). 74 T/ R 1045; St 539. 75 il y a plus affaire à interpreter les interpretations qu’a interpreter les choses (T/ R 1045, c; L 848; St 539). 76 EC 93 f.; T/ R 1046 f.; St 540. 77 T/ R 1048, c; EC 95; St 540. 78 EC 96; L 851, St 541; T/ R 6049. 79 EC 97; St 541; T/ R 1050. 80 le jugement tient chez moy un siege magistral (T/ R 1052; EC 99; St 542). 81 St 542 f.; EC 99. 82 EC 100 f. 83 EC 103. 84 C’est à la coustume de donner forme à nostre vie (T/ R 1058, b; EC 104). Siehe auch I 23: De la coustume (...). 85 EC 111. 86 T/ R 1066; EC 112. 87 il faut souffrir doucement les loix de nostre condition; T/ R 1067, b; EC 112. 88 T/ R 1068, b; EC 113. 89 EC 115. 90 euaréstesis tou bíou télos; A 21. 91 nous sommes par tout vent. 92 T/ R 1087, c; EC 130. 93 intellectuellement sensibles, sensiblement intellectuelles. „Der Geist sollte die Schwere des Körpers ermuntern und beleben, und der Körper sollte die Schwerelosigkeit des Geistes hemmen und festhalten“ (III 13 T/ R 1094 f , b; EC 137). 94 T/ R 1087, c; Tie III 426; EC 131. 95 Composer nos meurs est nostre office (...) et gaigner (...) l’ordre et tranquillité à nostre conduite. Nostre grand et glorieux chef-d’oeuvre, c’est vivre à propos (T/ R 1088, c; EC 132). 96 le relachement et facilité honore; (T/ R 1088, b; EC 133). 97 La grandeur de l’ame n’est pas tant tirer à mont et tirer avant comme sçavoir se ranger et circonscrire; T/ R 1090 f., c; EC 134. 116 98 Im französischen Originalwortlaut: (b) Il n’est rien si beau et legitime que de faire bien l’homme et deuëmt, ny science si ardue que de bien (c) et naturellement (b) sçavoir vivre cette vie; et de nos maladies la plus sauvage, c’est mespriser nostre estre (T/ R 1091). 99 conduire l’homme selon sa condition; T/ R 1095, b; EC 138. 100 ces ames venerables, eslevées par ardeur de devotion et religion à une constante et conscientieuse meditation des choses divines (T/ R 1095, b; EC 138; vgl. De la solitude, I 39, T/ R 239 f., St 127 f.). 101 au lieu de se transformer en anges, ils se transforment en bestes. 102 C’est une absolue perfection, et comme divine, de sçavoir jouyr loiallement de son estre (T/ R 1096, b; EC 139). Sokratische Hermeneutik der condicio humana 1 nul pouvoir, un peu de savoir, un peu de sagesse, et le plus de saveur possible (Barthes, Roland: Lecon/ Lektion, Frankfurt a. M. 1980, S. 8 f , 62 f., 70 f.). 2 Plato, Charmides, 164d-165a, Protagoras 343b. Xenophon, Memorabilien IV 2,24 ff. 3 Ceci m’advient aussi: que je ne me trouve pas où je me cherche; et me trouve plus par rencontre que par l’inquisition de mon jugement (I 10; T/ R 41 f., c; L 86; St 25 B). 4 Nicht erst Nietzsche, sondern bereits Montaigne findet es „schwer, unsre Handlungen miteinander in Zusammenhang zu bringen (attacher nos actions les unes aux autres) - und nicht nur dies, sondern auch jede einzelne durch eine wesentliche Eigenschaft treffend zu kennzeichnen, derart doppelbödig, buntscheckig und je nach Beleuchtung wechselnd erscheinen sie mir“ (T/ R 1054, b; St 543). 5 II 12; T/ R 560, a, St 287. 6 „Diese weite Welt (...) ist der Spiegel, in den wir schauen müssen, um uns aus dem rechten Blickwinkel zu sehn“ ( ce grand monde ... c’est le miroüer où il nous faut regarder pour nous connoistre de bon biais; I 26, T/ R 157, a; St 87; L 196). 7 Plato, Theätet, 174 a,b; übers. Martin Heidegger, zit. Blumenberg, Hans: Der Sturz des Protophilosophen, in: W. Preisendanz/ R.Warning (Hgg.), Das Komische, München 1976, S. 11; zur historischen Erweiterung vgl. Blumenberg, Hans: Das Lachen der Thrakerin, Frankfurt a.M. 1987, S. 71-75. 8 Lactantius, Divinae Institutiones, III 20, 10, zit. Blumenberg, a.a.O., S. 14. 9 Ess. II 12, T/ R 519, a; zit. Blumenberg, a.a.O., S. 36; Tie II 239; FW III 372 f.; St 268 f. (Hervorhebungen hpb). 10 Tie II 284 f. St 278; auch diese Vorbehalte sind im Übrigen bereits von Heraklit vorgebracht: „Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden (...); so tief ist ihr Sinn“ (B 45; zit. Montaigne, Ess. II 12: Tie II 252). 11 philosophe impremedité et fortuite (II 12; T/ R 528, c; Tie II, 260; FW III 389, L 461; St 273). 12 Blumenberg, a.a.O., S. 38; zur Lässigkeit, der Nonchalance, dem ordo neglectus/ fortuitus, dem Montaigne sich auch im Reden zurechnete, vgl. III 9, T/ R 940; Tie III 131. 13 Terminus von K. Bühler (Sprachtheorie, 1934, repr. 1982, S. 155 ff.), weitergetragen u. a. von Paul Lorenzen (in: P. Lorenzen/ O. Schwemmer, Konstruktivistische Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim 2 1975, S. 22 f.). 14 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. II, Der Wanderer und sein Schatten, 86, „Sokrates“, in: SA I 915. 117 15 Ders.: Die Fröhliche Wissenschaft, IV 340, „Der sterbende Sokrates“, in: SA II 201. 16 epimeleísthai heautoù (Plato: Apologie 36c, Alkibiades I 131a, Symposion 216a). Montaigne greift dies auf, indem er von le soing pour soy-mesmes spricht (II 3; T/ R 339, c). 17 II 12; T/ R 489, c; Tie II 167; hpb. 18 II 12; T/ R 488 f., c; Tie II 166; hpb. 19 Pleger, Wolfgang H.: Die Vorsokratiker, Stuttgart 1991, S. 181. Der vorstehende Abschnitt folgt weitgehend den dieser Darstellung als Epilog (S. 168-181) angefügten „Bemerkungen zur Sokratischen Philosophie“. 20 Starobinski, Jean: Montaigne en mouvement, Paris 1982; dt.: Montaigne, Denken und Existenz, München 1986. 21 Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie, 3: SA I 29. 22 la nihilité de la condition humaine; II 6; T/ R 360, c. Martens, Ekkehard: Die Sache des Sokrates, Stuttgart 1992, S. 32. 23 Sophokles, König Ödipus, V. 583. 24 Martens, a.a.O., S. 45; zum ‚Sokratischen Doppelwesen’, der ihm wie allem Archetypischen eigentümlichen Bipolarität vgl. Figal, Günter: Sokrates, München 1995, S. 101. 25 III 2, Du repentir, T/ R 787, b; F 289; L 630. 26 I 37: Du jeune Caton; vgl. II 11, 28. 27 indolence; (II 12; T/ R 473, a; Tie II 125). 28 II 12; T/ R 473, c; Tie II 126. 29 káta physin zên; scundum naturam vivere; in naturam converti. 30 II 12, T/ R 415, a; St 217; Tie II 1 f. 31 Tractatus logico-philosophicus, 6.52. 32 Tie II 26. 33 Tie II 48. 34 La peste de l’homme, c’est l’opinion de sçavoir (II 12, T/ R 467, a, L 441). 35 Tie 137 f., 143. 36 ut nihil affirmem, quaeram omnia, dubitans plerumque, et mihi dissidens; de divinatione II 3, Tie 146. 37 Tie 150 f. 38 Tie 231; vgl. 295, 376. 39 non pour establir la verité, mais pour la chercher; I 56, T/ R 302, a; L 301. 40 Nous sommes nais à quester la verité; il appartient de la posseder à une plus grande puissance (III 8; T/ R 906, b; St 467. 41 Charron, Pierre: De la sagesse, Bordeaux 1 1601, Paris 1824, I 15, S. 136. 42 Plato, Apologie 23a/ b. 43 Non inveniendo invenire potius quam inveniendo non invenire (Conf. I 6,10). In der Apologie findet sich das Augustinus-Zitat melius scitur Deus nesciendo (de ordine II; Tie II 138; vgl. ferner ebd. 141, 252). 44 G. E. Lessing, Eine Duplik, 1778; GW, Berlin / Weimar 2 1986, Bd. 8, S. 27. 45 Tie 214. 46 T/ R 485; Tie 155 f. 47 l'opinion de science; III 9, T/ R 1003; Tie III 259; L 806 f. 48 T/ R 493; St 256; Tie 176. 49 Tie 220, St 265. 50 T/ R 517, c; St 267, Tie 233. 51 Tie 276. 118 52 terram intrare; Cicero, Acad.Quaest. IV 39; Tie 236. 53 T/ R 517 f.; Tie 235, St 268. 54 T/ R 544, a; Tie 293. 55 Tie 247, vgl. 242, 287. 56 Tie 244. 57 Tie 378. 58 Tie 275. 59 II 12, T/ R 586, a; L 482 f; St 299; F 232. Die ganze Passage in fast wörtlicher Übernahme aus Jacques Amyots Plutarch-Übersetzung „Que signifioit ce mot Ei“ (Plutarque, Œuvres Morales, 1572, Bd. I, S. 48; dt. Plutarch: Von der Heiterkeit der Seele, Moralia, hg. Wilhelm Ax, Zürich 2000, S. 108). 60 la plus universelle qualité, c'est la diversité (II 37, in fine). 61 II 16; T/ R 601; St 306. 62 III 2; T/ R 789; St 402; L 632; Tie II 785. 63 „Jeder meint, er verkörpere das Grundmuster der Natur, und so macht jeder sich zum Maßstab und Prüfstein für alles übrige: Verhaltensweisen, die nicht den seinen entsprechen, sind widernatürlich und abwegig. Welch hirnrissige Dummheit! “ ( Il semble a chascun que la maistresse forme de nature est en lui; touche et rapporte à celle là toutes les autres formes. II 32, T/ R 703, c; St 358 B). 64 Valla, Lorenzo: „De voluptate“ bzw. „ De vero falsoque bono“ (Vom wahren und vom falschen Gut; 1431-1441). 65 Montaigne (III 5, T/ R 820, c) zitiert Horaz (carm. 4,12, v. 27), Ratschläge seien mit Torheit zu vermischen: misce stultitiam consiliis brevem. 66 II 17, T/ R 622 f., a; L 512 f. „Wir sind aus zwei Hauptteilen zusammengesetzt, deren Trennung der Tod und die Zerstörung unseres Daseins ist“ (Nous sommes bastis de deux pieces principales essentielles, desquelles la separation c'est la mort et ruyne de nostre estre; II 12, T/ R 500, a; F/ W III, 338). 67 rebus oblatis hilaris uti (ep. 123,3) 68 Pindar, Dritte Pythische Ode, 61 f. 69 III 5; T/ R 844, b; St 433 A. 70 Nous sommes, je ne sçay comment, doubles en nous mesmes, qui faict que ce que nous croyons, nous ne le croyons pas, et ne nous pouvons deffaire de ce que nous condamnons (II 16, T/ R 603; Tie II 602, St 309). 71 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, § 28, Berlin 1965, S. 204. 72 III 5; T/ R 822, c; St 423. 73 II 12 74 Maximen und Reflexionen, Ziff. 532. 75 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassenes Fragment, 1873/ 74, 30[26], KSA Bd. 7, S. 741. 76 Le Séminaire XI, Les quatres concepts fo ndamentaux de psychanalyse, Paris 1973, S. 203; vgl. insbes. Écrits, Paris 1966. 77 Plessner, Helmut: Grenzen der Gemeinschaft, 1924, GS V 7-133, hier 106. 78 Jaspers, Karl: Vernunft und Existenz (1935), München / Zürich 4 1960, S. 74. 119 Systematisches Literaturverzeichnis 1. Ausgaben Montaigne, Œuvres complètes, hgg. Albert Thibaudet / Maurice Rat, Paris 1962 (Bibliothèque de la Pléiade). [= T/ R] Les Essais de Michel de Montaigne, hgg. F. Strowski / M. Gebelin / P. Villey, 5 Bde., Bordeaux 1906-1933 [Édition Municipale]. -, hgg. P. Villey / V.-L. Saulnier, 2 Bde., Paris (1924), 1965, 3 1978. 2. Deutsche Übersetzungen Montaigne, Michel de: Essais [Versuche] nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz, 3 Bde., (Leipzig 1753/ 54) Zürich 1992. [= Tie] -: Gesammelte Schriften, hgg. J.J. Bode (1797) / Otto Flake / W. Weigand, 8 Bde., München / Leipzig 1908, 2 1915. [= FW] Montaigne: Essais, dt. Herbert Lüthy, Zürich 1953, 8 1992. [= L] -: Essays, dt. 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So gewinnt er Einsichten, die heute, da Polarisierung und Fanatisierung erneut an der Tagesordnung sind, erst recht interessieren müssen. „Neue Erscheinung: ein Philosoph ohne Vorbedacht und Plan.“ Essais II, 12