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Groß im Kleinen – Klein im Großen

2013
978-3-8649-6392-6
UVK Verlag 
Dr. Peter Fassl
Wilhelm Liebhart
Wolfgang Wüst

Der Versuchung, Geschichte am Leitfaden »großer Strukturen« darzustellen, ihnen gar eine die Ereignisse determinierende Wirkmächtigkeit zuzuschreiben, konnten Historiker aller Epochen nicht widerstehen. Was dabei oft übersehen wird, ist die unableitbare Kontingenz »kleiner Strukturen«, die sich gegen eine glatte Erklärung durch Strukturmodelle sperrt. Die Orts- und Regionalgeschichte hat es immer wieder mit Begebenheiten und Ereignissen zu tun, die ganz singulär erscheinen. Sind sie das wirklich? Die Heimatgeschichte neigt dazu, den Nabel der Welt vor Ort zu finden, wohingegen die »Großerzählungen« die Tendenz haben, die Kanten des Regionalen abzuschleifen. Die Beiträge der Gedenkschrift für Pankraz Fried verstehen sich als Plädoyer für eine Hermeneutik, die Geschichte mit wachem Blick auch für solche kleinen Strukturen darstellt, ohne dabei die großen Kontexte aus den Augen zu verlieren. Dies wird anhand exemplarischer Themen aufgezeigt.

IRSEER SCHRIFTEN Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte N.F. Band 10 Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker Schwabenakademie Irsee Peter Fassl, Wilhelm Liebhart, Wolfgang Wüst (Hg.) Groß im Kleinen - Klein im Großen Beiträge zur Mikro- und Landesgeschichte Gedenkschrift für Pankraz Fried Redaktion: Georg Abröll, Andrea Groß, Marina Heller, Gerhard Willi UVK Verlagsgesellschaft Konstanz · München Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von: und Historischer Verein für Schwaben Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1619-3113 ISBN 978-3-86496-392-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014 Satz: Textwerkstatt Werner Veith & Ines Mergenhagen, München Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98 www.uvk.de Inhalt Einführung ..........................................................................................................13 I. Die dörflich-agrarische und regionale Perspektive Alois Schmid Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland .............................................19 1. Ein Beispiel .......................................................................................................19 2. Quellenlage und Forschungsstand .....................................................................21 3. Typus des Dorfhirten ........................................................................................23 4. Zur Lebenskultur der Hirten .............................................................................29 5. Politische Hirten ...............................................................................................33 6. Relikte der Hirtenkultur....................................................................................35 7. Eine Randgruppe? .............................................................................................38 Tobias Riedl Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter.........................41 1. Kantönligeist und Landesgeschichte ..................................................................41 2. Intelligenzwesen allgemein ................................................................................42 3. Beispiele aus Süddeutschland ............................................................................46 4. Resümee............................................................................................................63 Inhalt 6 Wolfgang Ott Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen in Weißenhorn und Krumbach ...................................................................................................67 1. Vorgeschichte der Museumsgründung in Weißenhorn ......................................69 2. Die Gründung des Museumsvereins in Weißenhorn .........................................70 3. Vorgeschichte der Museumsgründung in Krumbach .........................................75 4. Gründung des Heimatvereins und Museums in Krumbach ...............................77 Andreas Otto Weber Der Weinberg - Schauplatz transalpiner Wirtschafts- und Kulturgeschichte en miniature .........................................................................85 1. Der älteste schriftlich überlieferte Weinberg in Franken ....................................86 2. Ein Weinberg in Altbayern................................................................................89 3. Der Wein aus Südtirol in den Zollrechnungen Oberbayerns im späten Mittelalter .........................................................................................................92 Matthias Körner Im Dickicht der historischen Atlasforschung - Kleinheit als methodische Chance? ......................................................................................97 1. Der Konflikt zwischen dem Markgraftum Brandenburg-Culmbach-Bayreuth und dem Hochstift Bamberg im Raum Naila am Beispiel der Rittergüter Marlesreuth und Nestelreuth.............................................................................99 2. Hochgericht, Territorium und Landeshoheit in der fränkischen Verfassungswirklichkeit und in markgräflicher Staatstheorie ............................100 3. Der Streit um Hochgericht, Territorium und Landeshoheit ............................102 4. Der Streit um die korporative Zuordnung der Rittergüter ...............................105 5. Faktoren der Herrschaftsdurchsetzung.............................................................106 Inhalt 7 Franz-Rasso Böck Mikrokosmos Kempten: „Kleine Strukturen“ - „Große Geschichte“? ......111 1. Sonderfall Kempten ........................................................................................111 2. Bauernkrieg.....................................................................................................113 3. Dreißigjähriger Krieg ......................................................................................115 4. Revolution 1848/ 49 ........................................................................................117 Eberhard Pfeuffer Artensterben durch Wildflussverbauung am Beispiel des Naturschutzgebietes „Stadtwald Augsburg“................................................123 1. Einleitung .......................................................................................................123 2. Biotopvielfalt der Wildflussaue als Basis für Artenvielfalt .................................125 3. Der „Stadtwald Augsburg“ - ein Musterbeispiel für die einstige Biotopvielfalt von Wildflussauen .....................................................................126 4. Die Verbauung des Wildflusses .......................................................................129 5. Artensterben durch Flussverbauung .................................................................134 6. Ausblick ..........................................................................................................147 II. Kirche, Recht und Medien vor 1803/ 1806 Wilhelm Liebhart cenobium sanctimonialium, ancillae Dei, monasterium puellarum. Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg ........151 1. Forschungsstand..............................................................................................151 2. Stift und Kloster..............................................................................................153 3. Klostergründungen um 1000...........................................................................154 4. Mönchsdeggingen und Donauwörth ...............................................................155 5. Neuburg an der Donau und Unterliezheim .....................................................156 Inhalt 8 6. Kühbach..........................................................................................................160 7. Hohenwart ......................................................................................................163 8. Kloster Holzen ................................................................................................166 9. Augsburg/ St. Nikolaus ....................................................................................167 10. Zusammenfassung.........................................................................................168 Marina Heller Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft - Kriminalitätsgeschichte im Kleinen ......................................169 1. Einleitung .......................................................................................................169 2. Die Fränkische Reichsritterschaft.....................................................................171 3. Die Herrschaft Mitwitz ...................................................................................173 4. Domdechant Johann Veit Freiherr von Würtzburg..........................................174 5. Der Fall der herrschaftlichen Dienstmägde Elisabetha und Amalia in Mitwitz .......................................................................................................175 6. Die Supplikation der Elisabetha Büttnerin ......................................................183 7. Die Strafen Landesverweis, Pranger und Gefängnishaft ...................................183 8. Die Verhörmethoden ......................................................................................187 9. Wie sind die Diebstähle der Mägde einzuordnen? ............................................189 10. Zusammenfassung.........................................................................................192 Nicola Birk Gestaltung von Grundstücksübertragungen in der Reichsstadt Augsburg und in der Territorialstadt Neuss im Spiegel des gemeinen Rechts ............................................................................................195 1. Eigentumsübertragung an Grundstücken in der Reichsstadt Augsburg im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (1400-1600)..............................195 2. Eigentumsübertragung an Grundstücken in der Territorialstadt Neuss im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (1400-1600)..............................205 3. Vergleich der Eigentumsübertragung an Grundstücken in der Reichsstadt Augsburg und der Territorialstadt Neuss .........................................................214 Inhalt 9 Markus Weis Kleine Staaten - Große Architektur: Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert in Schwaben und Mittelfranken ......................215 1. Strukturen.......................................................................................................217 2. Bautypen.........................................................................................................223 3. Idealplanungen................................................................................................225 4. Idealstraßen süddeutscher Kleinresidenzen ......................................................230 Wolfgang Wüst Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten im Ordnungsschema des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ..........................................243 1. Dörfliche Erfahrungswelten.............................................................................243 2. Ländliche Rechtsquellen..................................................................................246 3. Themen lokaler „Policey“ ................................................................................248 4. Selbstverwaltung oder Fremdbestimmung? Die Wahl der Gemeindemänner ...256 5. Supplizieren - Meinungsbilder von „Unten“ ...................................................259 Regina Hindelang Amts- und Staatskalender - staatliches Medieninstrument in Absolutismus und Aufklärung........................................................................265 1. Amts-, Staats- und Hofkalender in ihrer Verwendung im Absolutismus und der Aufklärung .........................................................................................265 2. Der Amtskalender als Staatsbeschreibung - seine Entstehung, sein Aufbau und die Datensammlung .................................................................................267 3. Mediale Staatsbeschreibung im Absolutismus - funktioneller Datenspeicher ...275 4. Zusammenfassung ...........................................................................................281 Inhalt 10 III. 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert Andrea Groß „Idylle“ im Moloch der Industrialisierung - Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert ...........................................................291 1. Die Gründe für die Entstehung von Arbeitersiedlungen ..................................291 2. Vorlagen durch die Stadterweiterungstheorien.................................................292 3. Das Anwendungsgebiet: Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert ...............................................................................................298 4. Fazit ................................................................................................................309 Peter Fassl Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858-1861 ................................................................................................311 1. Die Häufigkeit von Stammesbezeichnungen in den Physikatsberichten ...........318 2. Die Frage der Homogenität der Stammesstereotype ........................................322 3. Das inhaltliche Gewicht der Stammesstereotype ..............................................323 4. Von den Stereotypen zu den Ärzten ................................................................324 5. Auszüge aus den Physikatsberichten ................................................................328 Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm Die Lebenswelt eines kleinen Mannes. Mikrohistorische Annäherungen an die Biographie des Fabrikarbeiters, Kapuziners und Laternenanzünders Jakob Gruber (1874-1954) ........................................357 1. Die Quelle: „Der arme Jakob. Lebens-Biografie“ .............................................358 2. Die Methode: Mikrogeschichte und historische Anthropologie .......................361 3. Alltag und Lebenswelt des Textilarbeiters Jakob Gruber ..................................364 4. Jakob Grubers Klosterleben im ausgehenden 19. Jahrhundert .........................372 5. Momente der Alterität und Identität in Jakob Grubers Leben .........................377 6. Jakob Grubers Autobiographie: zwischen Faktionalität und Fiktionalität.........386 Inhalt 11 Marita Krauss Wirtschaftsbürgertum im Kaiserreich. Der Bankier Wilhelm von Finck...389 1. Wege der Forschung .......................................................................................389 2. Wilhelm von Finck .........................................................................................392 3. Hochfinanz im Reich und Bayern ...................................................................397 4. Resümee..........................................................................................................400 Markwart Herzog „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit. Offizielle Vorgaben und ihre regionale und lokale Umsetzung ...................................................403 1. „Großerzählungen“ und ihre hermeneutischen Weichenstellungen..................404 2. „Kleine Strukturen“ in den lokalen Fußballclubs .............................................408 3. Die Konsequenzen der Sportpolitik Karl Oberhubers für Schwaben................415 4. Resümee..........................................................................................................425 Helmut Gier Sommerferien der frühen 1960er Jahre in einer Augsburger Stadtrandsiedlung. Mikrogeschichtliche Betrachtungen zu Georg Kleins „Roman unserer Kindheit“ ..................................................................429 1. Autobiographisches Erzählen ..........................................................................429 2. Begrenzung von Zeit und Raum......................................................................430 3. Bild der Gesellschaft........................................................................................432 4. Nachwirkungen des Krieges ............................................................................437 5. Abgründe unter der Oberfläche .......................................................................439 6. Kleine und große Welt ....................................................................................440 Inhalt 12 IV. Würdigungen Peter Fassl Pankraz Fried zum 60. Geburtstag ..............................................................445 1. Herkunft. Ausbildung und erste Forschungsarbeiten .......................................445 2. Universität Augsburg. Berufung und Wirken ..................................................446 3. Ansätze und Ziele in Forschung und Lehre......................................................447 4. Ehrungen und weitere Berufungen ..................................................................448 Alois Schmid Pankraz Fried, der Vater der schwäbischen Landesgeschichte..............451 1. Der akademische Lehrer ..................................................................................451 2. Der Forscher ...................................................................................................452 3. Der Wissenschaftsorganisator ..........................................................................454 4. Würdigung .....................................................................................................455 Autoren und Herausgeber..............................................................................457 Personenregister .............................................................................................459 Ortsregister ......................................................................................................467 Einführung In seiner Einleitung zum Sammelband „Probleme und Methoden der Landesgeschichte“ zitierte Pankraz Fried 1978 den Titel des wegweisenden Aufsatzes von Ludwig Petry „In Grenzen unbegrenzt“ und führte dazu aus: „Die besondere Eigenart der Landesgeschichte besteht darin, dass sie in begrenzten Räumen Geschichtsforschung betreibt, jedoch hinsichtlich Zeit und Gegenstand die überkommene Begrenzung der klassischen historischen Fächer und der historischen Spezialdisziplinen aufgegeben hat. Ein universalgeschichtlich-kulturhistorischer Ansatz wird hier sichtbar, der - neben dem Vergleich auf deutscher und europäisch-universaler Ebene - am ehesten noch in einer Ortsgeschichte zu verwirklichen ist […]“ 1 Das Verhältnis von kleinen Strukturen zu den Großerzählungen der Geschichte stellt eine der Grundfragen der Geschichtswissenschaft dar, obwohl sie heute angesichts unterschiedlicher Modellangebote der Geschichtsschreibung wie Geschlechterforschung, neuer Kulturgeschichte, Raumbeziehungen, geistiger Landkarten, Umwelt- und Ressourcengeschichte u.a. in den Hintergrund getreten ist. Pankraz Fried versuchte die Dialektik durch eine integrative und vergleichende Forschung zu bewahren, um so die kleinen Strukturen, die gerade für die schwäbische Geschichtslandschaft so markant sind, herauszuarbeiten. Der Versuchung, Geschichte am Leitfaden „großer Strukturen“ darzustellen, ihnen gar eine die Ereignisse determinierende Wirkmächtigkeit zuzuschreiben, konnten Historiker aller Epochen nicht widerstehen. Heute sind es „mental maps“ oder „longues durées“, die man in und hinter den Ereignissen zu erkennen glaubt oder sucht. Vielfach dominierten aber makrohistorische Interpretationsmodelle, etwa die von der christlichen Heilsgeschichte. Sie war unterfüttert von der Vorsehung Gottes. Dagegen sah beispielsweise die kommunistische Hermeneutik in der Geschichte eine Folge von Klassenkämpfen. Was dabei oft übersehen wird, ist die unableitbare Kontingenz „kleiner Strukturen“, die sich gegen eine glatte Erklärung im Rahmen von Strukturmodellen sperrt - was nicht zuletzt die biographische Forschung in kritischer Distanz beispielsweise zu sozialhistorischen Kategorien aufgezeigt hat. Die Orts- und Regionalgeschichte hat es immer wieder mit Begebenheiten und Ereignissen zu tun, die ganz singulär erscheinen. Deshalb zählten in der landesgeschichtlichen Forschung die „petite histoire“ und die kleinen Räume nie ganz zu den 1 P ANKRAZ F RIED (Hrsg.), Probleme und Methoden der Landesgeschichte (Wege der Forschung, Bd. CDXC II), Darmstadt 1978, 6. Einführung 14 „verlorenen Welten“. 2 Besonders für die Geschichte Schwabens und Frankens kann diese Kleinstrukturiertheit auf verschiedensten Ebenen als besonderes Kennzeichen angesehen werden. 3 Auf der anderen Seite gilt es weiterhin zu fragen: Sind es die kleinen Dinge, die uns wirklich interessieren, oder werden nur übergreifende Strukturen, Zusammenhänge, kulturelle Gesamtentwicklungen nicht richtig gesehen? Die Heimatgeschichte neigt dazu, den Nabel der Welt vor Ort zu finden, die „Großerzählungen“ und der Vergleich der Historiker haben die Tendenz, die Kanten des Regionalen abzuschleifen. Die Grenzen und Möglichkeiten der Mikrogeschichte 4 stehen immer wieder neu zur Debatte, umfassen unter dem Begriff der „Eigenlogik“ auch die Stadtgeschichte und Stadtsoziologie, zeigen sich aber auch in Humanmedizin, in der Biologie und in der Rechtsgeschichte. Im Grunde bedeuten die kleinen Strukturen die nahezu unbegrenzte Erweiterung der historischen Möglichkeiten. Sie zeigen Individuen und ihre Handlungsspielräume, alternative Entwicklungen, spezifische Ausformungen aufgrund der örtlichen Bedingungen, Zeitverschiebungen. Sie konkretisieren und profilieren die allgemeine Entwicklung, zeigen ihre Grenzen und ihre potentielle Offenheit. Und schließlich spüren sie den Verlierern der Geschichte nach, den Namenlosen, die meist nur in Standesregistern begegnen, ihr Leben eher erlitten als gestaltet haben. Hier wird am deutlichsten nach der ethischen Qualität des Geschehens gefragt und festgestellt, dass sich Unrecht, Betrug und Gewalt oft genug durchgesetzt haben. Die kleinen Strukturen nehmen den einzelnen Menschen, die örtlichen und regionalen Begebenheiten ernst, ohne die Frage nach den jeweiligen Grundbedingungen zu vernachlässigen. Die vorliegenden Beiträge wurden auf einer Tagung der Schwabenakademie Irsee im Juli 2011 anlässlich des 80. Geburtstags von Pankraz Fried, der von 1974 bis 1996 Landesgeschichte in Augsburg lehrte, gehalten. Sie versteht sich als Plädoyer für eine Hermeneutik, die Geschichte mit wachem Blick auch für „kleine Struktu- 2 P ETER L ASLETT , Verlorene Lebenswelten. Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft, Wien / Köln 1988. 3 P ETER F ASSL / R AINER J EHL (Hrsg.), Schwaben im Hl. Römischen Reich und das Reich in Schwaben. Studien zur geistigen Landkarte Schwabens, Augsburg 2009; W OLFGANG W ÜST / W ERNER K. B LESSING (Hrsg.), Mikro - Meso - Makro: Regionenforschung im Aufbruch - Vergleichende Perspektiven (Arbeitspapiere des Zentralinstituts für Regionalforschung, Nr. 8), Erlangen 2005. 4 Vgl. J AN K EMPER / A NNE V OGELPOHL (Hrsg.), Lokalistische Stadtforschung, kulturalisierte Städte. Zur Kritik einer „Eigenlogik der Städte“, Münster 2011; O TTO U LBRICHT , Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 2009. Siehe die Beiträge von Nikola Birk und Eberhard Pfeuffer in diesem Band. Einführung 15 ren“ darstellt. Die Bandbreite der Themen reflektiert die wissenschaftlichen Arbeiten und die Lehrtätigkeit von Pankraz Fried. Die Autoren sind Freunde, Wegbegleiter, Schüler sowie in Wissenschaft und Kultur Tätige, welche die Fragestellung nach dem Stellenwert kleiner Strukturen anregend empfanden und ihr nachgingen. Als Herausgeber danken wir an dieser Stelle Frau Marina Heller, M.A., und Frau Andrea Groß, M.A., in Erlangen sowie Herrn Georg Abröll, M.A., für ihre redaktionelle Mitarbeit. Für die großzügige finanzielle Förderung der Drucklegung bedanken wir uns ferner beim Bezirk Schwaben, bei der Schwabenakademie Irsee, bei der Bayerischen Volksstiftung in München, beim Historischen Verein für Schwaben und beim Zentralinstitut für Regionenforschung an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg. Augsburg, im Oktober 2012 Die Herausgeber: Peter Fassl, Wilhelm Liebhart und Wolfgang Wüst I. Die dörflich-agrarische und regionale Perspektive Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland Alois Schmid Die Landesgeschichte stellt sich die „Kleinen Strukturen“ zum Thema. Zu den „Kleinen Strukturen“ gehören die „Kleinen Leute“. Auch mit ihnen beschäftigt sich dementsprechend die Landesgeschichte viel. Die dazu vorgelegten Titel haben ihren Blick weithin auf die Städte konzentriert, in denen sich die zukunftsweisenden Entwicklungen vollziehen. Doch darf daneben der ländliche Raum nicht aus dem Auge verloren werden. Hier lebte bis an die Schwelle der Neuesten Zeit der Großteil der Bevölkerung. Auch dort gab es neben den Bauern viele „Kleine Leute“, die meist ein hartes und entbehrungsreiches Leben am Existenzminimum führten. Sie sind viel weniger als die städtischen Randgruppen in den Blick getreten, weil sie kaum Spuren hinterlassen haben. Wie der ländliche Raum überhaupt hatten sie eine nur wenig spektakuläre Geschichte. Sie werden auch kaum selber, sondern weithin nur in den Quellen aus einer anderen Sphäre, der Sphäre des herrschaftlichen Bereiches, fassbar. Zu diesen „Kleinen Leuten“ auf dem Lande gehört vor allem die in sich wiederum sehr abgestufte Welt der Dienstboten: Knechte, Mägde, Ehalten. Zu ihnen gehörten natürlich auch die Mobilen im ländlichen Raum: Bettler, Hausierer und Vaganten. Zu ihnen gehörten schließlich die Hirten. Ihrer Lebenswelt soll die folgende kleine Betrachtung gewidmet werden, zumal dazu der Jubilar durchaus eigene biographische Bezüge hat. Die Hirten stellten eine wichtige Sozialgruppe am Rande der dörflichen Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis an die Schwelle der Neuesten Zeit dar. 1 1. Ein Beispiel An den Beginn dieser Ausführungen sei eine Geschichte gestellt. Sie spielt im nordostbayerischen Dorf Warzenried an der Grenze der Oberpfalz zu Böhmen hin. Ein zeitlicher Ansatz ist kaum möglich, da sie dem Erzählgut der dortigen Dorfbewoh- 1 Zusammenfassend: P HILIPPE A RBOS , La vie pastorale dans les Alpes Françaises, Paris 1922; R OBERT W ILDHABER , Hirtenkulturen in Europa, Basel 1966; L ASZLO F ÖLDES , Viehzucht und Hirtenleben in Ostmitteleuropa, Budapest 1969; L OUIS C ARLEN , Das Recht der Hirten. Zur Rechtsgeschichte der Hirten in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Studien zur Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 7), Innsbruck 1970; W ILHELM J ACOBEIT , Schafhaltung und Schäfer in Zentraleuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, zweite Auflage, Berlin 1987; L OUIS C ARLEN , Hirtenrecht, in: A DALBERT E RLER und E KKEHARD K AUFMANN (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1978, Bd. II, 165-167; DERS ., Hirt, in: Lexikon des Mittelalters , 9 Bde., München / Zürich 1991, Bd. V, 36f. Alois Schmid 20 ner entstammt. Die Geschichte könnte in mehreren Jahrhunderten an mehreren Orten handeln. 2 Irgendwann hatte in diesem Dorf Warzenried die Dorfgemeinde einen einfachen Mann namens Hans Stelzl zum Dorfhirten bestellt, der nun Tag für Tag die Rösser der Dorfbauern auf den Dorfanger nahe der Landesgrenze zu treiben und am Abend wieder zurückzuführen hatte. Eines Abends aber fehlte ihm beim Zählen der ihm anvertrauten Pferde eines, gerade der schönste Fuchs. Stelzl zählte noch einmal und noch einmal. Das Ergebnis war immer das selbe: Gerade der wertvollste Gaul war abgängig. Die Erklärung für diesen Missstand wäre sehr einfach gewesen. Der Stelzl Hans saß selber auf dem Rücken dieses Gaules und vergaß, diesen mitzuzählen. Großer Schrecken fuhr dem Hirten in die Glieder. Wenn er gerade ohne diesen Gaul ins Dorf zurückkehren würde, stand ihm Schlimmes bevor. Er musste Bestrafung und Entlassung aus dem Dienst, wohl auch Haftbarmachung für den Verlust befürchten: Womit sollte er, der Habenichts, das Geld für das abhanden gekommene Pferd aufbringen? Er konnte sich den Verlust nur so erklären, dass ihm böhmische Spitzbuben das Ross entführt hatten. Deswegen machte er sich ungeachtet der hereinbrechenden Nacht auf die Suche. Während die Herde selbstständig den gewohnten Weg ins nahe Dorf zurücktrottete, suchte und suchte Hans Stelzl nach dem vermissten Pferd. Natürlich fand er weder böhmische Spitzbuben noch den Prachtgaul. Schiere Verzweiflung befiel den Hirten, er wagte sich nicht ins Dorf zurück. Er sah schließlich keinen Ausweg mehr, so groß war die Angst vor der befürchteten Bestrafung. In seiner Verzweiflung erhängte er sich schließlich an einem Baum im nahen Wald. Diese grausige Entdeckung machte sein Vater, als er anstelle des während der Nacht vermissten Hirten am nächsten Morgen die Pferde auf die Weide führte. Er fand den Sohn an einem Baum hängend - tot. Doch ist damit die traurige Geschichte noch keineswegs zu Ende. Der Selbstmörder erhielt natürlich kein kirchliches Begräbnis auf dem Dorffriedhof; er wurde vom Wasenmeister, der üblicherweise verendete Tiere entsorgte, formlos in einer Grube verscharrt, die lediglich mit einem Haufen Steinen bedeckt wurde. Doch nicht einmal damit ist die Geschichte zu Ende. Das Geschehen beschäftigte die Dorfgemeinschaft noch lange; sie erzählte, dass der Hirt auch im Grabe seine Ruhe nicht finden konnte und seine Seele als unerlöster Geist umgehe. Diese traurige Erzählung um den Hans Stelzl aus Warzenried macht mehrere Aspekte des Hirtenlebens in der vormodernen ländlichen Gesellschaft einsichtig. Sie verdeutlicht das Persönlichkeitsprofil vieler Hirten: Sie gehörten in der Regel der untersten Gesellschaftsschicht an und waren meist nicht mit Intelligenz begabt. Der Hirt, der sich aufhängt, weil er vergisst, das Pferd, auf dem er selber sitzt, in seine Rechnung einzubeziehen, ist ein bezeichnendes Beispiel dafür. Die Geschichte verdeutlicht weiterhin den gesellschaftlichen Status der Hirten: Sie standen in einem 2 Bayerwald-Echo vom 7. April 1997. Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 21 rechtlich fixierten Dienstverhältnis mit der Dorfgemeinschaft, das ihnen drückende Bindungen auferlegte. Die Hirten waren Angestellte der Gemeinde und dieser verantwortlich. Die Geschichte eröffnet schließlich Einblick in die wirtschaftliche Lage der Hirten, die ziemlich unbemittelt waren, so dass sie schon ein eigenes Missgeschick völlig aus der Bahn werfen konnte. Die Geschichte erhellt den Rechtsstatus der Unehrlichkeit, der üblicherweise mit den Hirten verbunden war. Er stellte sie außerhalb der Dorfgemeinschaft und versagte ihnen schlimmstenfalls sogar ein ordentliches Begräbnis. 2. Quellenlage und Forschungsstand Im Folgenden sei auf mehrere dieser Punkte näher eingegangen, um die gesellschaftliche Lage der Hirten mit weiteren Konturen zu versehen: Grundzüge des Hirtenlebens in vormoderner Zeit. Diese Betrachtung sei hauptsächlich auf einer Quellengruppe aufgebaut, die im Grunde genommen in bemerkenswerter Anzahl zur Verfügung steht, die aber bisher von der Geschichtswissenschaft erst wenig berücksichtigt worden ist. Das ist die Gruppe der Dorfordnungen, der Ehaftordnungen, der Weistümer; die Bezeichnungen wechseln. Sie sind in den Archiven in unvermuteter Dichte überliefert, fanden aber noch nicht die verdiente Beachtung. Lediglich die volkskundlich ausgerichtete Landesgeschichte hat sich vor allem seit etwa vier Jahrzehnten breiter mit diesen ländlichen Rechtsquellen auseinanderzusetzen begonnen. Pankraz Fried 3 gehört zusammen mit Peter Blickle 4 und Walter Hartinger 5 gewiss zu den Protagonisten auf diesem Forschungsfeld. Vor allem für Franken liegen ergiebige Editionen von Karl Dinklage 6 , Karl und Marianne Schumm 7 sowie 3 P ANKRAZ F RIED (Hrsg.), Die ländlichen Rechtsquellen aus den pfalz-neuburgischen Ämtern Höchstädt, Neuburg, Monheim und Reichertshofen vom Jahre 1585 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft: Rechtsquellen aus dem Bayerischen Schwaben 1), Sigmaringen 1983. Von ihm wurde angeregt die Dissertation von G ABRIELE VON T RAUCHBURG , Ehehaften und Dorfordnungen. Untersuchungen zur Herrschafts-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des Rieses anhand ländlicher Rechtsquellen aus der Grafschaft Oettingen (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens 23), Augsburg 1995. 4 P ETER B LICKLE (Hrsg.), Deutsche ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung, Stuttgart 1977. 5 W ALTER H ARTINGER (Hrsg.), … wie von alters herkommen: Dorf-, Hofmarks-, Ehehaft- und andere Ordnungen in Ostbayern, 3 Bde. (Passauer Studien zur Volkskunde 20), Passau 1998 / 2002. 6 K ARL D INKLAGE (Hrsg.), Fränkische Bauernweistümer. Ausgewählte Texte (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte X 4), Würzburg 1954. 7 K ARL und M ARIANNE S CHUMM (Hrsg.), Hohenlohische Dorfordnungen (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg A 37), Stuttgart 1985. Alois Schmid 22 anderen 8 vor. Eine profunde Auswertung unter rechtsgeschichtlichen Fragestellungen hat Hans-Peter Ziegler für den Rothenburger Raum 9 vorgelegt. Auch im Rahmen der Forschungen am „Historischen Atlas von Bayern“ spielen die Dorfordnungen eine wichtige Rolle. In diesen ländlichen Rechtsquellen, die überwiegend dem ausgehenden Mittelalter oder der anbrechenden Neuzeit, dem 15. bis 18. Jahrhundert, entstammen, als auch dieser Randbereich des gesellschaftlichen Lebens zunehmend mit Ordnungen reglementiert wurde, wird auch oftmals auf die Gruppe der Hirten Bezug genommen. 10 In anderen Fällen wurden aber auch eigene Hütordnungen erlassen, 11 die verschiedentlich als wesentliche Bestandteile an die Dorfordnungen angehängt wurden. Der übliche Weg war freilich der Verweis auf den Dorfhirten innerhalb der Dorfordnungen an zerstreuten Stellen. Bei aller Verschiedenheit im Detail zeichnet sich ein gemeinsamer Kern ab. Vor allem auf diesen Dorf- und Hirtenordnungen hat Rainer G. Schöller seine profunde Untersuchung über das Hirtenwesen im Nürnberger Umland aufgebaut. 12 Ernst Schubert hat sie in seiner Abhandlung über die Armen Leute in Franken zumindest kurz mitbehandelt. 13 Während für Altbayern vergleichbare Untersuchungen noch fehlen 14 , haben für Schwaben August Gabler und Sebastian Mayer erste wichtige 8 H EINRICH R AUSCHERT , Dorfordnungen in der Markgrafschaft Ansbach unter besonderer Berücksichtigung der Organe gemeindlicher Selbstverwaltung, Diss. jur. masch. Erlangen 1953; H ELMUTH S TAHLEDER , Weistümer und verwandte Quellen in Franken, Bayern und Österreich, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 32 (1969), 525-605, 850-885; K LAUS A RNOLD , Dorfweistümer in Franken, ebd. 38 (1975), 819-876; W ALTER S CHERZER , Die Dorfverfassung der Gemeinden im Bereich des ehemaligen Hochstifts Würzburg, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 36 (1976), 37-64; R UDOLF E NDRES , Sozialer Wandel in Franken und Bayern auf der Grundlage der Dorfordnungen, in: E RNST H IN- RICHS (Hrsg.), Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts, (Wolfenbütteler Forschungen 19), Wolfenbüttel 1982, 211-227; F RANZ M ACHILEK , Dorfgemeinden und Selbstverwaltung, in: G ÜNTER D IPPOLD (Hrsg.), Im oberen Maintal, auf dem Jura, an Rodach und Itz: Landschaft - Geschichte - Kultur, Lichtenfels 1990, 135- 141. 9 H ANS -P ETER Z IEGLER , Die Dorfordnungen im Gebiet der Reichsstadt Rothenburg, Diss. jur. Würzburg 1977, bes. 190-212. 10 H ARTINGER , Dorf-, Hofmarks-, Ehehaft- und andere Ordnungen (wie Anm. 5). 11 [J OHANNES M ONDSCHEIN ,] Hornstorfer Weideordnung aus dem XVI. Jahrhundert, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für Straubing und Umgebung 9 (1906), 91f. 12 R AINER G. S CHÖLLER , Der Gemeine Hirte. Viehhaltung, Weidewirtschaft und Hirtenwesen vornehmlich des nachmittelalterlichen Umlandes von Nürnberg (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft 18), Nürnberg 1973. 13 E RNST S CHUBERT , Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/ 26), zweite Auflage, Neustadt a.d. Aisch 1990, 105. 14 Vgl. D IETMAR S TUTZER , Geschichte des Bauernstandes in Bayern, München 1988, bes. 219-221; DERS ., Unterbäuerliche gemischte Sozialgruppen Bayerns um 1800 und ihre Arbeits- und Sozialverhältnisse im Spiegel der Statistik, in: Krone und Verfassung I: König Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 23 Schneisen geschlagen. 15 Auf dieser Grundlage sei im Folgenden das Hirtenleben der vormodernen Zeit im süddeutschen Raum nachzuzeichnen versucht. Dabei wird räumlich der Schwerpunkt auf Franken gelegt werden, wo der Schäferei vermutlich das größte Gewicht zukam. Eine weitere zeitliche Präzisierung erscheint nicht notwendig, weil sich an den Gegebenheiten des Hirtenlebens während des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit nur wenig änderte. 3. Typus des Dorfhirten An den Anfang dieser Ausführungen ist eine Begriffsklärung zu stellen. Es gab zweierlei Arten von Hirten. Es sind zu unterscheiden die Dorfhirten, die den Viehbestand eines Dorfes Tag für Tag auf die Dorfweiden führten, von den Wanderhirten, die mit ihren Schafherden im Auftrag von meist adeligen Gutsschäfereien zur gezielten Produktion von Schafwolle bodenbesitzunabhängig die Ackerfluren dauerhaft nach den Regeln des Gewohnheitsrechtes beweideten. 16 Vor allem von der ersten Gruppe der Dorfhirten soll im Folgenden die Rede sein. Die Dorf- und Hütordnungen treffen genaue Anordnungen bezüglich der Anstellung. Der Hirte war neben den Dorfvierern als den Vorständen der Dorfgemeinschaft, dem Hauptmann als dem militärischen Anführer, dem Kirchner, der das kirchliche Leben zu ordnen hatte, und dem für die Instandhaltung von Wegen und Stegen verantwortlichen Stegmeister einer der frühesten und der wichtigsten Funktionsträger einer jeden Dorfgemeinschaft. Doch verfügten auch die Landstädte, die weithin Ackerbürgerstädte waren, über Gemeindehirten. 17 Es bestand in dieser Hinsicht kein grundlegender Unterschied zwischen Stadt, Markt und Dorf. In den Klöstern (etwa Oberschönenfeld) wurde eine rege Klosterschäferei betrieben; zu Max I. Joseph und der neue Staat (Wittelsbach und Bayern III/ 1), München / Zürich 1980, 290-299 (der Verfasser beschäftigt sich viel mit den Aspekten der Viehhaltung, nicht aber eigentlich mit den Hirten); R AINER B ECK , Dörfliche Gesellschaft im alten Bayern 1500- 1800 (Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur 14), München 1992, 34f.; R AINER S CHMIDT , Der Hirte, in: Heimat Tirschenreuth 4 (1992), 26-29. 15 A UGUST G ABLER , Hirten, Flurler und Bader in den Ries- und Hesselbergdörfern, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1961), 108-114; S EBASTIAN M AYER , Schäfer und Schafhaltung in Schwaben. Entwicklung, Bedeutung und Verbreitung seit 1800 (Schriftenreihe der Museen des Bezirks Schwaben 22), Oberschönenfeld 1999. 16 S TUTZER , Geschichte des Bauernstandes in Bayern (wie Anm. 14), 219. 17 F RIEDRICH W ILHELM S INGER , Verfassung der Städte und Märkte im Sechsämterland, in: Arzberger Hefte 9 (1963), 53; E LISABETH L UKAS -G ÖTZ / F ERDINAND K RAMER und J OHAN- NES M ERZ (Hrsg.), Quellen zur Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bayerischer Städte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Festgabe für Wilhelm Störmer zum 65. Geburtstag (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte 11), München 1993, 82, 85 (München), 200f., 203f. (Regensburg), 377 (Nürnberg). Alois Schmid 24 diesem Zweck wurden Klosterschäfer angestellt. Die Tätigkeit des Hirten war ein übliches Amt in fast jeder Gemeinde; deswegen sprechen die Quellen oftmals vom Hirtenamt. Der Hirte gehört zu den frühesten Gemeindebediensteten. 18 Er übte sein Amt in genossenschaftlichem Auftrag aus, weswegen er üblicherweise als gemainer hirte angesprochen wird. 19 Der Hirte wurde von der Dorfgemeinschaft in einer Versammlung förmlich in sein Amt gewählt; die Kompetenz, einen hüetter, der in gefellig ist, zu bestimmen, gehört zu wichtigsten Zuständigkeiten der jeweiligen Gemeinde. 20 Die Bestimmung eines Dorfhirten durch die Herrschaft war unüblich. Nur in Einzelfällen war die Bestätigung durch die Obrigkeit erforderlich. Ob bei der Bestellung ein eigenes Dokument in Form eines Vertrages angefertigt wurde, wird nicht hinreichend klar; jedenfalls sind derartige Anstellungsverträge kaum auf uns gekommen. Da die Hirten in der Regel des Schreibens und Lesens unkundig waren, sind sie zumindest nicht allgemein vorauszusetzen. Dennoch war der Hirte eine Amtsperson, die dementsprechend auch unter den Schutz der Gemeinde gestellt wurde. Übergriffe wurden mit bemerkenswerten Strafen geahndet. 21 Der Zeitpunkt der Wahl war unterschiedlich festgelegt. Gerne wurden markante Heiligentage des Kirchenkalenders genommen: der Tag des heiligen Andreas, des heiligen Michael, des heiligen Martin oder der heiligen Katharina. Vielerorts erfolgte der Dienstantritt an einem dieser Tage. Andernorts bevorzugte man Festtage des örtlichen Festkalenders. Die Gebräuche variierten von Dorf zu Dorf und richteten sich am Gewohnheitsrecht aus. Dem gewählten Dorfhirten wurde beim Amtsantritt als Zeichen des Amtes verschiedentlich der Hirtenstab förmlich übergeben. Bei dieser Gelegenheit hatte er vor der Führung des Dorfes ein Gelöbnis abzulegen; die Vereidigung kommt seltener vor, ist aber keineswegs gänzlich unüblich. In diesem Gelöbnis wurden seine Pflichten festgelegt, aber auch die Rechte des Hirten angeführt und Wege der Konfliktregelung festgeschrieben. Solche „Hirten-Pflichten“ sind verschiedentlich überliefert, sie stellen Kurzfassungen der Hirtenordnungen dar. Im Weistum aus dem fränkischen Gerchsheim (bei Tauberbischofsheim) 1488 heißt es in diesem Sinne: Item wan man die gemaine knecht, als hirten und kirchner [gemeint ist der Mesner], sollen mit rechten beladen werden, [sollen sie] zu Gott und den hailigen schweren [der Hirte musste hier also einen Eid leisten], einer gemain holt und getrew zu sein, schaden zu wahren und ihrem frommen zu werben tag und nacht und recht geben und nehmen an unserm endtlich gerichten, es sey, warumb es wölle. 22 18 D INKLAGE , Fränkische Bauernweistümer (wie Anm. 6), 65 § 7. Vgl. auch F RITZ Z IMMER- MANN , Die Rechtsnatur der altbayerischen Dorfgemeinde und ihrer Gemeindenutzungsrechte, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 75 (1949), 69, 72. 19 S CHÖLLER , Der Gemeine Hirte (wie Anm. 12). 20 F RIED , Ländliche Rechtsquellen (wie Anm. 3), 138. 21 Z IEGLER , Rothenburg (wie Anm. 9). 22 D INKLAGE , Fränkische Bauernweistümer (wie Anm. 6), 37 § 14. Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 25 Der Amtsantritt des Gemeindehirten war ein wichtiges Ereignis für das gemeindliche Leben, deswegen fand er immer an einem besonderen Ort statt. Bei dieser Gelegenheit musste der Gewählte oftmals einen Umtrunk spendieren, der die Angelegenheit für ihn teuer machte: die sogenannte Hirtenzeche. Die Unkosten dafür wurden aber vereinzelt auch von der Gemeinde übernommen. In jedem Fall wurde die Hirtenzeche zu den Feiertagen im ländlichen Kalender gerechnet, der durchaus neben Hochzeiten, Kindstaufen und Beerdigungen gestellt wurde. 23 Die Dorf- und Hütordnungen trafen sodann Anordnungen bezüglich der Durchführung des Dienstes. Zumindest in den großen Orten wurden für die wichtigsten Tierarten, die - bis ins 18. Jahrhundert - allerdings wenigen Pferde, die ungleich zahlreicheren Rinder und Ochsen, die Schweine, die Schafe und Ziegen oder Gänse und Enten, eigene absonderliche Hirten angestellt. 24 Man unterschied die grosshüete für Groß- und Hornvieh sowie die kleinhüete für Kleinvieh und Geflügel. In den kleineren Orten waren jedoch die Dorfhirten für mehrere dieser Gruppen zuständig. Oftmals wurde aber auch nur ein Oberhirte bestellt, der sich dann für die einzelnen Tiergruppen selber Unterhirten oder Knechte besorgen musste. Üblicherweise waren das weibliche Angehörige oder auch die eigenen Kinder. Doch holte man als Hütbuben vereinzelt auch Kinder und Jugendliche aus der Fremde, die außer dem kärglichen Essen mit einigen Gulden, ein Paar Stiefeln oder Wäschestücken entlohnt wurden. Am bekanntesten sind die sogenannten Tiroler Hütkinder, die aus dem übervölkerten Vorarlberg und Westtirol für die Sommermonate als saisonale Gastarbeiter im Schwäbischen eingesetzt wurden. 25 Zur Ausführung seines Amtes war dem Hirten der Besitz eines Hundes vorgeschrieben. Weitere wichtige Ausstattungsstücke waren das Horn und der Stab. Vereinzelt waren die Dorfhirten auch für die Haltung der Vatertiere für die Tierzucht verantwortlich, die andernorts häufig in der Zuständigkeit der Dorfpfarrer lag. 26 Dazu konnten noch manche andere Aufgaben kommen. Verschiedentlich wurden sie als Gemeindeboten eingesetzt, die Dorfnachrichten (wie Hochzeiten, Todesfälle) bekannt zu machen hatten. Auch zu Unterrichtsaufgaben wurden sie verschiedentlich herangezogen. Vielerorts gehörte auch das Läuten der Dorfglocke zum Aufgabenfeld, wofür der sogenannte Läutwecken ausgehändigt wurde. Die Dienstzeit des Hirten betrug üblicherweise ein Wirtschaftsjahr. Doch war die Verlängerung üblich, ebenso wie die Kündigung während des Jahres von beiden 23 D INKLAGE , Fränkische Bauernweistümer (wie Anm. 6), 29 § 1. Eine „Hüterstift“ wird geschildert bei: J OSEF S CHLICHT , Blauweiss in Schimpf und Ehr, Lust und Leid. Ein Bayernspiegel aus seinen Werken und dem Nachlass, hrsg. von Rupert Sigl, dritte Auflage, Rosenheim 1991, 469-471. 24 D INKLAGE , Fränkische Bauernweistümer (wie Anm. 6), 100 § 30, 111 § 18. 25 T ORSTEN G EBHARD , Landleben in Bayern in der guten alten Zeit, München 1986, 75. 26 F RANZ M. H UBER , Unsere Tiere im alten Bayern. Eine Geschichte der Nutztiere, Pfaffenhofen 1988, 147-150. Alois Schmid 26 Seiten ausgesprochen werden konnte. Durch den oftmaligen Wechsel in diesem Amt kamen Auswärtige in die Dörfer, die also in die im Übrigen sehr stabile Dorfgemeinschaft von außen eintraten. Die Hirten brachten eine gewisse Fluktuation in das im Übrigen von Beharrung bestimmte Leben der Dorfgemeinschaft. Die Hauptpflicht des Dorfhirten bestand darin, während der Weideperiode von Frühjahr bis Spätherbst (Georgi bis Martini) jeden Tag morgens um vier Uhr das Vieh der Dorfbauern auf die Weide zu führen. Das Vieh musste im Sinne des Hützwanges auf der Dorfweide geweidet werden; davon war lediglich das Zuchtvieh, das im Stall verblieb, ausgenommen. Die Anzahl der Tiere, die ein Bauer dem Hirten übergeben durfte, stand diesem keineswegs frei, sondern wurde von der Dorfgemeinde genossenschaftlich festgelegt. Der Weidebetrieb wurde also im Rahmen des Flurzwanges genau reglementiert. Zum morgendlichen Austrieb musste der Hirte an festgelegten Stellen im Dorf Hornsignale abgeben, die zum Sammeln des Viehtriebs aufforderten. Zur Vermeidung von Kollisionen der einzelnen Tiergruppen beim Aus- und dann wieder beim Heimtrieb, aber auch bei der Verteilung der Weideflächen auf der Brachflur, vor allem aber auf dem Dorfanger, mussten sich die Hirten untereinander absprechen. Sie hatten für eine ausgewogene Beweidung aller verfügbaren Grundstücke zu sorgen, damit das gesamte Wirtschaftsjahr über ausreichend Futter für alle Tiere zur Verfügung stand. Weil dieses immer knapp war, wurde jeder Quadratmeter der Dorfgemarkung gegen andere Ansprüche mit Einsatz verteidigt. Gerichtliche Auseinandersetzungen um Weiderechte gehörten deswegen zum Alltag der vormodernen Landesverwaltungen. 27 Die Hauptaufgaben des Hirten waren die Zusammenhaltung der Herde, aber auch die Erhaltung ihrer Gesundheit. Bei Verdacht auf Krankheiten oder gar Seuchen mussten sie unverzüglich Meldung erstatten. Im Übrigen hatten sie sich beständig bei der Herde aufzuhalten. Eine Entfernung - sei es zu anderer Tätigkeit, sei es zum Trunke, was anscheinend oftmals vorkam - war unter Strafe streng untersagt. Diese strikte Anwesenheitspflicht versagte den Hirten sogar die Teilnahme am kirchlichen Leben im Dorfe. An vielen Orten war mit dem Amt des Hirten das des Wasenmeisters verbunden, der für die sachgerechte Entsorgung verendeter Tiere zu sorgen hatte. Trotzdem war man verschiedentlich der Ansicht, dass der Hirte nicht voll ausgelastet sei mit seiner Tätigkeit; deswegen wurde ihm etwa im rothenburgischen Hausen die Ablieferung einer bestimmten Anzahl von Dachschindeln vorgeschrieben, die er neben seiner Tätigkeit anzufertigen hatte. Im Weistum von Weigenheim (Lkr. Neustadt a.d. Aisch - Bad Windsheim) wurde dem Dorfhirten sogar erlaubt, auf der Weide Wein zu verkaufen, also kaufmännischen Nebengeschäften nachzugehen. 28 Andere Dörfer setzten den Hirten zum Unterricht der Kinder oder als Gemeindeboten ein, der Dorfnachrichten (Versammlungen, Hochzeiten, Todesfälle) anzusagen hatte. Nur in den 27 C ARLEN , Das Recht der Hirten (wie Anm. 1). 28 D INKLAGE , Fränkische Bauernweistümer (wie Anm. 6), 113 § 14. Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 27 Wintermonaten durften sie einer anderen Beschäftigung nachgehen. Gerade die Besitzlosigkeit und Heimatlosigkeit waren Voraussetzung dafür, dass das Hirtenamt üblicherweise zu den unehrlichen Gewerben gerechnet wurde, die die Betroffenen an den Rand der Gesellschaft drängten und ihnen nur geminderte Rechte zuerkannten. 29 Für alle Schäden, die der Hirte mit oder an seiner Herde verursachte, hatte er aufzukommen. Die Bestimmung galt in erster Linie für den Verlust von Tieren oder Verletzungen infolge Unachtsamkeit oder aber auch für verursachte Flurschäden durch ein Ausbrechen der Tiere. Solche kamen häufig vor, da die Weiden in dieser Zeit normalerweise nicht eingezäunt werden durften. Für seine wichtige Tätigkeit erhielt der Dorfhirte Lohn. Dieser bestand zum einen in Geld, dessen Höhe von den Gemeinden festgelegt wurde, wenngleich konkrete Zahlen in der Regel fehlen. Die Summe errechnete sich üblicherweise aus der Anzahl der zu betreuenden Tiere, für die jeweils ein bestimmter Betrag zu entrichten war. Davon wurde nicht einmal der Dorfpfarrer befreit. Für den Lohn des Dorfhirten sollten alle Gemeindemitglieder durch Abgaben entsprechend der Inanspruchnahme seiner Dienste aufkommen. Die Zahlungen waren auf das ganze Jahr verteilt; sie erfolgten in Erasbach (Lkr. Neumarkt i. d. Oberpfalz) etwa an Lichtmess, Walpurgis, Jakobi und Andreae. 30 Die monetäre Entlohnung machte aber nur den geringeren Teil aus. Zur Geldzuwendung kam in allen Fällen noch die Zuteilung von Naturalien, deren Höhe in den Dorfordnungen ebenfalls festgeschrieben wurde. Sie stellte den Hauptteil der Entlohnung dar. In erster Linie galt das für den Bezug von Brot, das in den Bauernanwesen ja selbst gebacken wurde. Auch hier richtete sich die Anzahl der dem Hirten zustehenden Laibe nach der Zahl der betreuten Tiere. Entsprechendes gilt für Getreide, Eier, Holz, Obst. Den Großteil seines Bedarfes an Lebensmitteln erhielt der Hirte in Form von Naturalien von der Dorfgemeinschaft. Diese Zuwendungen wurden ergänzt durch die Unterbringung des Hirten im Hüthaus, mit dem in der Regel zumindest ein kleiner Garten verbunden war. Diese Gemeindewohnung musste der Hirte gegebenenfalls mit seinen Hirtenkollegen teilen. Dafür hatten sie ein geringes Entgelt zu entrichten. Den Hirten standen also ganz unterschiedlich geartete Einkünfte zu. Dennoch gehörten sie immer zu den ärmsten Bewohnern im Dorf. Der Hirte war in jedem Fall ein Außenstehender, der am Rande des dörflichen Lebens verblieb und die Dorfgemeinschaft nach Ablauf seiner Dienstzeit auch wie- 29 Zur Frage der Unehrlichkeit der Hirten vgl. Anm. 73. 30 K ONRAD S CHMID / G ÜNTHER S CHMELZER , Altes Bauernland - moderne Landwirtschaft. Agrarischer Strukturwandel am Tor zur Oberpfalz, in: H ELMUT A UGSBURGER / A LFONS B AYER / R UDI B AYERL (Hrsg.), Landkreis Neumarkt i.d.Opf. Das große Heimatbuch der westlichen Oberpfalz, Regensburg 1993, 130. Alois Schmid 28 der verließ. Die Hirten blieben deswegen oftmals isoliert und wurden zu Einzelgängern. Sie gehörten zu den mittellosen Mobilen in der Gesellschaft der Vormoderne, denen im ländlichen Bereich in vielem vergleichbar sind die Wanderdienstboten mit einer ebenfalls nur jährlich terminierten Anstellung. Diese mehr zusammenfassenden und theoretischen Erörterungen sollen nun durch einen Blick in eine bezeichnende Hirtenordnung vertieft werden. Dafür wird das Beispiel Ellrichshausen gewählt, heute im württembergischen Landkreis Schwäbisch Hall gelegen, bis ins beginnende 19. Jahrhundert zum Markgraftum Brandenburg-Ansbach gehörig. Sie liegt gedruckt in der Edition von Schumm vor. 31 Dieses Dokument kann trotz seiner Kürze als sehr bezeichnendes Beispiel gelten. Die Hirtenordnung von Ellrichshausen umfasst insgesamt zehn Einzelpunkte. Diese lassen sich in drei Abschnitte untergliedern. In der ersten Hälfte der Hirtenordnung werden die Einkünfte des angestellten Hirten festgelegt. Punkt 1 bestimmt, dass dem Hirten zwei Wiesen und ein Krautgarten zur Eigenbewirtschaftung überlassen werden müssen. Dazu erhält er jedes Jahr an festgelegten Tagen ein gewisses Quantum an Getreide, das aber vom jeweiligen Jahresertrag abhängig war. Punkt 2 verfügt, dass der Dorfhirte für seine Dienste an ebenfalls genau benannten Tagen mit Brotlaiben (dem sogenannten Austreiblaib) versehen werden muss. Punkt 3 schreibt mit den Hirtengarben die Versorgung des Dorfhirten, nachdem Punkt 1 von Sackgetreide gesprochen hatte, mit ungedroschenem Getreide fest. Punkt 4 gewährt dem Hirten eine pekuniäre Entlohnung in Form des sogenannten Gewöhnpfennings, der für die anscheinend schwierige Gewöhnung der Jungtiere an den Weidebetrieb gezahlt wird. Punkt 5 regelt die Versorgung des Hirten mit der sogenannten Trögel-Abgabe. Darunter ist eine Naturalienversorgung der Gemeindebediensteten in Form von Mehl, Brot, Fleisch, Eiern oder Flachs zu verstehen, die im Frühjahr und Herbst in den Häusern für den Schulmeister und auch den Dorfhirten eingesammelt wurde. Punkt 6 erlaubt dem Hirten die Haltung von zwei eigenen Schweinen unter Inanspruchnahme der Gemeindewaldungen, wo mit Eicheln wichtiges Schweinefutter zu holen war. Das sind die Rechte des Hirten. Die folgenden drei Punkte benennen seine Pflichten. Punkt 7 macht ihn für die Instandhaltung des Daches des ihm überlassenen Hirtenhauses verantwortlich mit dem Stroh des ungedroschenen Getreides, das in Punkt 3 angesprochen wurde. Damit wird die zunächst auffallende Übergabe ungedroschenen Getreides verständlich. Punkt 8 schärft ihm die beständige Präsenz bei seiner Herde ein. Punkt 9 verpflichtet ihn zur sorgsamen Ausübung seines Gemeindeamtes. Der Schlusssatz lautet: Würde er aber einiges Stück verwahrloßen oder sonst schadhaft machen durch ihn oder seine Knechte (die er also auch hier zu halten hatte), so solle der Hirt schuldig seyn, sothanes verwahrloste Stück Viehe gut zu machen. Es sei an die einleitende Geschichte 31 S CHUMM , Hohenlohische Dorfordnungen (wie Anm. 7), 610-612, Nr. 1. Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 29 von Hans Stelzl zu Warzenried erinnert, den eben diese Verpflichtung in den Tod trieb. Punkt 10 betrifft dann die Strafe, die dem Hirten im Falle grober Pflichtverletzung angedroht wurde: Ein Hirt sich nicht nach deme, wie es vorgeschriebenermaßen ihme auferlegt wird, verhalten solle, so stünde alsdann einer Gemeind frey, demselben die Heerde wieder aufzukündigen und abzuschaffen. Hier wird der Gemeinde das Recht zur vorzeitigen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zugesprochen. Mit diesen Bestimmungen verhilft die Hirtenordnung von Ellrichshausen im Ansbachischen zu einem guten Einblick in die wichtige Quellengattung der Weistümer. 4. Zur Lebenskultur der Hirten Wurden bisher Fragen der wirtschaftlichen und rechtlichen Lage sowie der Arbeitsorganisation in den Vordergrund gestellt, so sollen im nächsten Abschnitt zumindest einige Aspekte der Lebenskultur der Hirten zur Sprache gebracht werden. Denn es darf durchaus von einer eigenen Hirtenkultur gesprochen werden. Dazu kann zum Teil sogar auf Sachüberreste zurückgegriffen werden. Denn bis an die Schwelle unserer Gegenwart war eine beachtliche Anzahl von Hirtenhäusern im Original erhalten. Sie gehörten der Gemeinde, die sie den Dorfhirten auf Zeit gegen geringe Gebühr zur Nutzung überließ. Deswegen wurde kaum eine Veranlassung gesehen, aufwendige Instandhaltungs- oder gar Umbaumaßnahmen durchzuführen. Die Wartung wurde oftmals - wie das Beispiel Ellrichshausen zeigte - den Hirten aufgebürdet, die natürlich nur das Allernotwendigste tun konnten. Dieser Notstand hat die Hirtenhäuser in ihrer ursprünglichen Armseligkeit über Jahrhunderte hinweg erhalten. Eine ganze Reihe ist zumindest noch in alten Photographien bekannt, so auch das armselige Hirtenhaus, in dem der eingangs erwähnte Hans Stelzl zu Warzenried sein Auskommen fand. 32 Es steht für den Haustypus des Hirtenhauses. In jedem Fall handelt es sich um ganz ärmliche Behausungen, 33 echte Arme-Leute- Häuser. Auch der Hausbestand machte die dörfliche Sozialhierarchie deutlich. Diese Feststellung kann mit der aussagekräftigen Abbildung des niederbayerischen Dorfes Martinsbuch bei Dingolfing aus dem 18. Jahrhundert in der dortigen Pfarrmatrikel belegt werden, in der auch das Hirtenhaus zur Darstellung gebracht wird. 34 Es bildet 32 Vgl. den in Anm. 2 genannten Zeitungsartikel. 33 Weitere Beispiele: Das Hirtenhaus in Untermainsbach, Rednitzhembach 1988; Das Hirtenhaus aus Kerschlach, Großweil 1990; Ein Hirtenhaus aus dem Stiftland, Nabburg 1991. 34 Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg, Pfarrmatrikel Martinsbuch Nr. 39. Vgl. F RITZ M ARKMILLER , Das niederbayerische Hofmarksdorf Martinsbuch im Jahr 1793. Ein Beitrag zur Dorf- und Bauernhausforschung, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1972/ 75), 76-106; M ICHAEL H ENKER (Hrsg.), Bauern in Bayern von der Römerzeit bis zur Gegenwart Alois Schmid 30 den einzigen Baukomplex an diesem Ort, der Wohnung und Stall unter einem Dach zusammenfasste und zu dem kein weiteres Gebäude gehörte. Das Hirtenhaus ist das ärmlichste im recht stattlichen Bauerndorf Martinsbuch. Während die Bauernanwesen in der Regel bis in unsere Gegenwart in wenn auch veränderter Form und oftmals auch veränderter Funktion zumeist weiterbestehen, verschwanden die Hirtenhäuser zwischenzeitlich weithin aus den Dörfern. Sofern sie erhalten blieben, haben sie meist schon im 19. Jahrhundert eine veränderte Funktion als Schulhäuser oder häufiger Arme-Leute-Häuser erhalten. Heute gibt es nur mehr vereinzelt Hirtenhäuser am Ort und im Original. 35 Über die Lage, die Ausstattung und die Begüterung der früheren Hirtenanwesen erteilt der „Historische Atlas von Bayern“ Auskunft. 36 Er stellt die Besitzstruktur in jedem Bauerndorf bis hinunter zur Einöde detailliert vor und verzeichnet zur einzelnen Siedlung somit auch das Hüterhaus. Ein solches ist für jedes größere Dorf belegt. Gemeinsam ist allen diesbezüglichen Besitzeinheiten, dass es sich um Kleinstanwesen handelt, die in der Regel als Zweiunddreißigstel- oder gar Vierundsechzigstelanwesen eingestuft wurden, das heißt zum Haus gehörte nur noch sehr wenig Wirtschaftsfläche, die dem Hirten die Haltung einiger eigener Haustiere erlaubte. Dabei weist auch der „Historische Atlas“ die Hirtenhäuser immer als Gemeindebesitz aus, der den Hirten nur auf Zeit gegen ein minimales Entgelt zur Nutzung überlassen worden ist. 37 Der „Historische Atlas von Bayern“ macht weiterhin die Situierung der Hirtenhäuser deutlich. Sie liegen im Allgemeinen am Dorfrand, weil von hier aus der Austrieb auf den unmittelbar angrenzenden Dorfanger am einfachsten durchgeführt werden konnte; das genannte Beispiel Martinsbuch war auch in dieser Hinsicht typisch. Dieser Dorfanger bestand in der Regel aus Grünland, das zur Beweidung geeignet war. Es wurde nicht in die Bewirtschaftungsrotation im Sinne der Dreifelderwirtschaft einbezogen; während alle anderen Fluranteile einer jährlich wechselnden Zweckbestimmung zugeführt wurden, blieb der Anger immer an gleicher Stelle und in gleicher Funktion. Das lässt sich gut zeigen anhand der Fluruntersuchungen im Ort Osterdorf im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen durch Friedrich Eigler. (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 23), Regensburg 1992, 127, 131, Nr. 101. 35 Besonders sehenswert ist das liebevoll renovierte Hirtenhaus in Brennberg (Lkr. Regensburg). 36 K OMMISSION FÜR BAYERISCHE L ANDESGESCHICHTE (Hrsg.), Historischer Atlas von Bayern, München 1950-. 37 Vgl. J OSEPH S CHLICHT , Die Geschichte von Steinach, Straubing 1908 [ND 1990], 100: „Als letzter Insasse der Hofmark tritt zu Steinach auf der ‚Hutmann‘. Er gibt aus seinem Amt und Dienst über die Viehherde jährlich zu Micheli, früher zu Georgi (laut des alten Stiftbuch) an Geld 3 Schilling 15 Pfennig.“ Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 31 Während der Großteil der Dorfgemarkung im rotierenden Wechsel bewirtschaftet wurde, blieb der Dorfanger immer in gleichem Umfang an gleicher Stelle. 38 Aus welchem sozialen Umfeld kamen die Hirten? Naturgemäß lässt sich darüber nur wenig sagen, weil sie meistens von außen für begrenzte Zeit in die Dörfer kamen und so nirgends richtig Fuß fassen konnten: D , Pfarra und d , Hüata kömma von selba. 39 Namen finden sich in den Quellen nur selten oder wären daraus erst mit viel Mühe zu ermitteln. Zumindest vereinzelt wurden für die wichtige Aufgabe des Dorfhirten auch Ortsansässige, etwa nachgeborene Bauernsöhne, genommen. Dabei musste die zeitliche Begrenzung der Anstellung nicht notwendig zu beständiger Fluktuation führen; es konnte auch das bestehende Arbeitsverhältnis verlängert werden oder das Amt innerhalb einer Familie sogar über Generationen hinweg weitergegeben werden, so dass sich geradezu Hirtendynastien ausbildeten. Die soziale Lage der Hirten war weiterhin davon gekennzeichnet, dass sie über ein zwar geringes, aber immerhin regelmäßiges Einkommen verfügten. Demzufolge durften sie heiraten und konnten so Familien gründen. Freilich verschärfte eine Familie die materielle Not der Hirten im Allgemeinen weiter. Mancher Hirte musste seinen Lebensunterhalt mit Betteln aufbessern, wie eine Untersuchung über das Armenwesen in der mittelfränkischen Stadt Langenzenn gezeigt hat: Hier werden unter den Almosenempfängern auch Hirten genannt. 40 Versuche, die Hirten über die Berücksichtigung in der Hausväterliteratur 41 oder eigene Lehrbücher 42 für ihren Stand in das pädagogische Programm der Aufklärung einzubeziehen, mussten vor allem an diesen Gegebenheiten scheitern. Die von Armut und Mobilität gekennzeichnete Lebenswelt der Hirten machte diese innerhalb der von Besitz und Stabilität gekennzeichneten Lebenswelt der Bauern immer zu Außenseitern. Weil sie in der Regel von außen in die Dorfgemeinschaft eintraten und nur begrenzte Zeit in ihr verblieben, konnten sie sich der im Übrigen wirkungsvollen Sozialkontrolle der Dorfgemeinschaft weithin entziehen. Trunk und andere Laster waren in ihrem Kreis infolgedessen alles andere als Aus- 38 F RIEDRICH E IGLER , Die Entwicklung von Plansiedlungen auf der südlichen Frankenalb (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 6), München 1975, Tafel IV; H ENKER , Bauern in Bayern (wie Anm. 34), 61. 39 S CHLICHT , Blauweiss in Schimpf und Ehr, Lust und Leid (wie Anm. 23), 471. 40 F RANK P RÄGER , Das Spital und die Armen. Almosenvergabe in der Stadt Langenzenn im 18. Jahrhundert (Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesens 2), Regensburg 1997, 148. 41 J OHANN F RIEDRICH M AYER , Lehrbuch für Land- und Hauswirthe, Nürnberg 1773 [ND 1980], 115-161; W OLFGER H ELMHARD VON H OHBERG , Georgica curiosa, 3 Bde, Nürnberg 1716, bes. Bd. 2, 333-339: Von der Schäferei u.ö. 42 J.G. B OUTROLLE , Le perfait bouvier ou instruction concernant la connaissance des boeufs et vaches, leur age, maledies et symptomes, Rouen 1766, zweite Auflage, Paris 1790; deutsche Übersetzung: Der geschickte Viehhirte oder Unterricht, die Känntniss der Ochsen und Kühe, ihres Alters, ihrer Krankheiten und der damit verbundenen Zufälle, Wittenberg 1771. Alois Schmid 32 nahmen; auch am religiösen Dorfleben konnten sie meist nicht teilnehmen. 43 Deswegen wurden die Hirten oftmals als schmerzliche Stachel im Fleisch der Dorfgemeinschaften empfunden, die man nur allzu bereitwillig wieder entfernte, in der Hoffnung, mit einem Nachfolger vielleicht doch einen besseren Griff zu tun. Aus diesem Grunde gibt es über die Lebensweise der Hirten kaum etwas zu sagen. Die wegen ihrer Kümmerlichkeit nur spärlichen Sachüberreste werden zwischenzeitlich planvoll gesammelt und museal aufbereitet. 44 Ein sehr bemerkenswertes Zeugnis der Hirtenkultur in Stein mit Tierbildern und Schriftzeichen ist auf den Hochwiesen unter dem Ossergipfel im Bayerischen Wald im Gelände aufgestellt. Genauere Einblicke sind nur in drei Bereiche möglich. Ihre Tätigkeit ließ den Hirten viel Zeit für Nebenbeschäftigungen. Deren wichtigste war wohl das Musizieren. Das beliebteste Instrument war dabei die leicht zu spielende Flöte; das Horn wurde mehr als Arbeitsinstrument eingesetzt. Naturgemäß wurde dabei vorwiegend tradiertes Liedgut gespielt oder improvisiert, so dass nur wenige Weisen den Weg zur Verschriftlichung fanden. Dennoch stellt das Musikgut der Hirten einen bemerkenswerten Anteil an der Volksmusik dar. 45 Der zweite Bereich ist die Tierheilkunde. Der beständige Umgang mit ihren Herden verschaffte den Hirten oftmals erstaunliche Fertigkeiten in der Tiermedizin, die sie zum gesuchten Ansprechpartner im Falle von Erkrankungen im Stall machten. Der Hirte ersetzte im Rahmen seiner Möglichkeiten als Heilpraktiker den noch nicht vorhandenen Tierarzt, wodurch er sich oftmals ein willkommenes Zubrot verdiente. In den Physikatsberichten des 19. Jahrhunderts wird oftmals auf diesen Funktionsbereich Bezug genommen. 46 Ein genauerer Blick ist zum dritten in die religiöse Kultur möglich. Das Motiv des Hirten spielt im Christentum eine große Rolle. Freilich wirkte sich diese nicht auf die soziale Realität aus, indem sie ihm ein erhöhtes Ansehen verschafft hätte. Andererseits verlieh die große Abhängigkeit vom Wetter und auch von Viehseuchen zumindest einem Teil der Hirten eine besondere Religiosität. Die Hirten verehrten eine ganze Reihe von Patronen. Für den bayerisch-fränkisch-schwäbischen Raum ist 43 A LOIS W INKLHOFER , Franz Sales Handwercher, ein heiligmäßiger niederbayerischer Pfarrer, in: L ANDRATSAMT S TRAUBING (Hrsg.), Der Landkreis Straubing, Straubing 1970, 183-186, hier 185. 44 Museum für Völkerkunde und Schweizerisches Museum für Volkskunde Basel (Hrsg.), Hirtenkulturen in Europa. Führer durch das Museum für Volkskunde, Basel 1966. 45 R OBERT M ÜNSTER , Volksmusik in Bayern. Ausgewählte Quellen und Dokumente aus sechs Jahrhunderten (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge 32), München 1985, bes. 129-131. 46 G EBHARD , Landleben in Bayern (wie Anm. 25), 105; G ERHARD W ILLI , Alltag und Brauch in Bayerisch-Schwaben: Die schwäbischen Antworten auf die Umfrage des Bayerischen Vereins für Volkskunst und Volkskunde in München von 1908/ 09 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft 10/ 1), Augsburg 1999, 603. Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 33 sicherlich am wichtigsten der heilige Wendelin. 47 Er ist der große Schutzherr der süddeutschen Hirten geworden, der bis in die Vornamengebung hinein breite Verehrung fand. Ähnliches gilt für die heiligen Leonhard und Isidor oder Notburga auf der weiblichen Seite. Einzelnen Hirten wurde wohl vor allem aufgrund des von Einsamkeit bestimmten Hirtenlebens eine fast visionäre Seherkraft zugesprochen. Diese kommt am deutlichsten in der spätmittelalterlichen Literaturgattung der Kirchengründungsgeschichten, der „Fundationes monasteriorum“, zum Ausdruck. So spielen Hirten und Tiere etwa in der Gründungslegende der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen eine bestimmende Rolle; auch in diesem Fall haben Tiere den entscheidenden Hinweis zur Auserwähltheit des Ortes einem Hirten vermittelt, der das wundersame Geschehen an die übergeordneten Stellen weitergab, die dann zum Kirchenbau schritten. 48 Es gibt viele motivliche Parallelen für diese Funktion des Hirten als visionären Seher vor allem in der klösterlichen Literatur. 49 Hirten kommen weiterhin auf vielen Votivbildern zur bildlichen Darstellung, mit denen Bauern ihren wertvollsten Besitz dem besonderen Schutz Gottes anvertrauten. 50 5. Politische Hirten Die Hirten wurden durch ihre vor allem von Einsamkeit und dem hauptsächlichen Umgang mit Tieren geprägtes Leben oftmals zu absonderlichen Menschen, denen ihr Amt hinreichend Zeit für Selbstbeschäftigung ließ. Verschiedene von ihnen nutzten diesen ungewöhnlichen Freiraum auch zu ausgiebigem Nachdenken über Gott und die Welt, ihren eigenen Stand und ihre Zeit. Einzelne versuchten auch die Zukunft zu ergründen; Andreas Starrenberger, Waldhirt und Aschenbrenner zu Rabenstein bei Zwiesel im Bayerischen Wald, hat seine Prophezeihungen sogar in 47 A NTON D ÖRRER , St. Wendel in Kult, Kunst, Namen und Wirtschaft von der Saar bis Südtirol, in: Forschungen und Fortschritte 39 (1965), 1-15; H ENKER , Bauern in Bayern (wie Anm. 34), 193f., Nr. 176. 48 J OSEF D ÜNNINGER , Die Wallfahrtslegende von Vierzehnheiligen, in: W OLFGANG S TAMM- LER / G ERHARD E IS / J OHANNES H ANSEL / R ICHARD K IENAST (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Stammler zu seinem 65. Geburtstag dargebracht, Berlin / Bielefeld 1953, 192-205; S IGMUND F REIHERR VON P ÖLNITZ , Vierzehnheiligen. Eine Wallfahrt in Franken, Weißenhorn 1971, 17-22. 49 J ÖRG K ASTNER , Historiae fundationum monasteriorum. Institutionsgeschichtsschreibung im Mittelalter (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissanceforschung 18), München 1974, bes. 104-116. 50 Ein besonders einprägsames Beispiel findet sich in der Wallfahrtskirche Sossau (Lkr. Straubing-Bogen). Alois Schmid 34 einer Handschrift niedergelegt. 51 Manchen von ihnen spornten seine Armut und Abhängigkeit zum Versuch an, an diesem wenig erfreulichen Status vielleicht doch etwas zu ändern. Einzelne waren schließlich nicht mehr bereit, die überkommene Gesellschaftsordnung als gottgegebene Realität auf Dauer hinzunehmen, sondern bemühten sich um Verbesserungen. Diese Bestrebungen begründeten in Ausnahmefällen geradezu eine rebellische Gesinnung. Der bekannteste dieser politischen Hirten ist sicherlich der fränkische Pfeifer von Niklashausen 52 geworden, der im Unterschied zu den meisten Standesgenossen über eine erstaunliche Beredsamkeit verfügte und diese im Jahre 1476 einsetzte, um seine Standesgenossen bis hinauf zu den Bauern aufzurütteln und zur Veränderung der Verhältnisse anzuregen. Dieser Hans Behem aus dem fränkischen Niklashausen, dessen Initiativen wegen ihrer sozialreligiösen Komponenten schwer einzuordnen sind, gehört zu den Wegbereitern des oberdeutschen Bauernkrieges von 1525, dem sozialrevolutionäre Absichten nicht abgesprochen werden dürfen. 53 In diesem Sinne sind auch die ihm erst später beigegebenen Attribute Pfeife und Trommel als Symbole des Verführers zu verstehen. 54 Mit ihm verschafften sich erstmals auch die Hirten politisches Gehör, als es galt, die Gesellschaftsordnung von unten her umzuformen. Freilich ist sein Tod auf dem Scheiterhaufen des Bischofs zu Würzburg im Jahre 1484 bezeichnend für den schlimmen Ausgang dieser Bemühungen. Die Hirten wurden vereinzelt in eine Ecke mit den Hexen gedrängt und wie diese verfolgt; das Vieh spielte bekanntlich als Indikator der Verhexung in den Verfahren oftmals eine bemerkenswerte Rolle. 55 Deswegen büßten die Viehhirten im weiteren Verlauf der Entwicklung der bäuerlichen Welt diese vereinzelte Bedeutung als Wortführer wieder ein. Dennoch ist diese Gesinnung mit dem Pfeifer von Niklashausen nicht gänzlich untergegangen. Seine Mentalität lebte weiter und kam dann im 19. Jahrhundert in den Personen des Matthias Klostermeyer, genannt der „Bayerische Hiasl“, eines 51 R EINHARD H ALLER , Der Starnberger - Stormberger - Sturmberger. Propheten und Prophezeihungen im Bayerischen Wald. Eine Dokumentation, Grafenau 1976; DERS ., Prophezeihungen aus Bayern und Böhmen, Grafenau 1982, 31-33 Nr. 16, 172. 52 K LAUS A RNOLD , Niklashausen 1476. Quellen und Untersuchungen zur sozialreligiösen Bewegung des Hans Behem und zur Agrarstruktur eines spätmittelalterlichen Dorfes (Saecula spiritalia 3), Baden-Baden 1980. 53 W ILHELM Z IMMERMANN , Der große deutsche Bauernkrieg, Berlin 1952, 13-19; G ÜNTHER F RANZ , Der deutsche Bauernkrieg, zehnte Auflage, Darmstadt 1975, 45-52. 54 T HOMAS H OLUB , „Die Sackpfeif ist des Narren Spiel“. Die Rezeption der Niklashauser Fahrt in Literatur und Film, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 57 (1997), 97- 124. 55 Auf diesen Aspekt gehen allerdings nicht ein: S IGMUND VON R IEZLER , Geschichte der Hexenprozesse in Bayern, Stuttgart 1896, 284, 290; W OLFGANG B EHRINGER , Hexenverfolgung in Bayern. Volksmagie, Glaubenseifer und Staatsräson in der Frühen Neuzeit, München 1988. Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 35 Räuber Kneißl, eines Wildschütz Jennerwein oder Räuber Heigl immer wieder zu einem zumindest punktuellen Durchbruch. Gemeinsam ist allen diesen Figuren der bayerischen Kriminalgeschichte des späteren 19. Jahrhunderts ein unbändiger Freiheitsdrang, der in jedem Fall in Verbindung zur Lebenswelt der Hirten oder auch Jäger stand und nicht bereit war, sich dem immer mehr durchgesetzten Gewaltenmonopol des Obrigkeitsstaates unterzuordnen. Deswegen ist die Antwort auf die Frage: Hüter alter Rechte oder Kriminelle? nicht leicht zu beantworten. 56 Sie betrachteten sich als Wahrer und Verteidiger einer traditionellen Gesellschaftsordnung, die Natur und Wild noch immer als Besitz aller in Anspruch nahm. 57 Hier stand eine alte gegen die neue Wertegemeinschaft, wobei letztere auf der ganzen Linie durchgesetzt wurde. 58 Deswegen sind die politischen Hirten wie der Pfeifer von Niklashausen doch große Ausnahmen und Einzelgänger geblieben, die auf die gesellschaftliche Entwicklung nie mehr vergleichbaren Einfluss zu nehmen vermochten. 6. Relikte der Hirtenkultur Die Welt der Hirten ist zumindest in unserem Kulturraum weithin untergegangen. Heutzutage gibt es hier Hirten eigentlich nur noch in den Hochlagen der Gebirge in Form der Senner. Im Flachland sind sie aus dem gesellschaftlichen Leben, von einzelnen Wanderschäfern abgesehen, verschwunden. Wichtigste Voraussetzung dafür war die Durchsetzung der bäuerlichen Ganzjahresstallviehhaltung seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts, die die Weidepraxis im Flachland nach und nach zurückdrängte. Soweit sie noch weitergeführt wurde, haben Technisierung und Privatisierung den bisher genossenschaftlich organisierten Weidebetrieb auf gänzlich neue Grundlagen gestellt. Damit steht in Zusammenhang die Zerschlagung der Allmen- 56 H ARALD S IEBENMORGEN (Hrsg.), Schurke oder Held? Historische Räuber und Räuberbanden (Volkskundliche Veröffentlichungen des Badischen Landesmuseums Karlsruhe 3), Sigmaringen 1995. 57 M ICHAELA K ARL , Sozialrebellen in Bayern: Matthäus Klostermair, Michael Heigl, Mathias Kneißl, Regensburg 2003; R EINHARD H EYDENREUTER , Kriminalgeschichte Bayerns. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Regensburg 2003, 87-89, 303-306. 58 W ALTER D EMEL , Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/ 08-1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 76), München 1983, 445-456; W ALTRAUD M ÜLLER , „Zur Wohlfahrt des gemeinen Wesens“. Ein Beitrag zur Bevölkerungs- und Sozialpolitik Max III. Joseph (1745-1777) (Miscellanea Bavarica Monacensia 133), München 1984, 120-157; J OSEF A. W EISS , Die Integration der Gemeinden in den modernen bayerischen Staat. Zur Entstehung der kommunalen Selbstverwaltung in Bayern (1799-1818) (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 11), München 1986, 78-85. Alois Schmid 36 de, die durch Aufteilung oder Verkauf in den Besitz der Dorfbauern überging. Dieser Vorgang setzte im frühen 19. Jahrhundert ein und kam im Wesentlichen um die Mitte des 20. Jahrhunderts zum Abschluss. Heute verfügen die politischen Gemeinden kaum noch über nennenswerten Grundbesitz in Form der früheren Dorfanger. Dementsprechend werden auch die Dorftiere nicht mehr gemeinsam auf die Dorfweide getrieben. Heute beweiden statt dessen Viehhalter ihre Gründe höchstens in eigener Regie. Die Viehhaltung ist keine Aufgabe der Kommunen mehr. Dadurch ist der Gemeindehirte überflüssig geworden. Die Berufsgruppe der Dorfhirten gibt es in unserem Kulturraum nicht mehr. Im Nürnberger Umland haben die letzten Hirten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Tätigkeit eingestellt. 59 Dennoch haben sie Spuren hinterlassen. Geblieben ist eine breite Reminiszenz im Namengut. Das gilt zum einen für Familiennamen. Die Häufigkeit der Familiennamen Hirt, häufiger Hirtreiter, Hir(t)hammer, Hirtfelder, Hirtlehner oder Schäfer eröffnet noch heute Einblick in die frühere Verbreitung des Berufes. Entsprechendes gilt für die Toponyme. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Wendelstein. Vor allem in vielen Flurnamen lebt der Tätigkeitsraum der Dorfhirten noch heute weiter. 60 Dabei ist auch auf die sehr häufige Geländebezeichnung Anger zu verweisen. Doch knüpfen auch einzelne Ortsnamen wie z. B. Schäferei 61 an dieses Erbe an. Vereinzelt haben sich entsprechende Volksbräuche bis in unsere Gegenwart erhalten. Im Altbayerischen sind die Leonhardiritte noch in unserer Gegenwart weit verbreitet (Bad Tölz, Murnau, Kreuth, Benediktbeuern, Hetzenbach, Wilting). In Rinchnach (Lkr. Regen) erinnert das Wolfauslassen noch immer an das Ende der Weideperiode. In Daßwang (Lkr. Neumarkt i. d. Oberpfalz) führte man bis in die sechziger Jahre einen Wendeliniritt mit Viehsegnung durch. In Rittsteig (Lkr. Cham) werden noch heute am Wendelinstag sogenannte Wendelinbrote gesegnet und an die Tiere verfüttert. Der Markgröninger Schäferlauf gilt als eines der ältesten Heimatfeste in Baden-Württemberg. Weiterhin bewahren Literatur und Kunst die Erinnerung an die Lebenswelt der Hirten. Eine unüberschaubare Vielzahl von Belegen aus allen Epochen der abendländischen Kulturgeschichte seit der Antike liefert ein eindrucksvolles Zeugnis von diesem wichtigen Sektor des gesellschaftlichen Lebens. Dabei bemühen sich die Künstler nur ausnahmsweise um die realistische Abbildung des harten und entbehrungsreichen Hirtenlebens. Häufiger geht es statt dessen um die verklärende Idealisierung der Lebenswelt der einfachen Menschen als Hinweis zur rechten Lebensgestaltung oder im Sinne der Hofkritik; es sei nur generalisierend auf die bukolische Arkadienliteratur oder die Schäferidylle des 18. Jahrhunderts oder im musikalischen Bereich an die vielen Pastoralkompositionen bis hin zu Beethovens Dritter Sym- 59 S CHÖLLER , Der Gemeine Hirte (wie Anm. 12), 357f. mit genauen Zeitangaben. 60 J OSEPH S CHNETZ , Flurnamenkunde, dritte Auflage München 1997, 65-68. 61 Orte mit diesem Namen gibt es in den bayerischen Landkreisen Cham, Hof und Kronach. Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 37 phonie verwiesen. Das spätere 19. Jahrhundert schuf sich in einer ausgeprägten Agrarromantik geradezu eine Gegenwelt zur Industriegesellschaft der entstehenden Großstädte. Auch diese fand in Literatur, Kunst und Belletristik vielgestaltige Ausformungen. Für die Rolle, die dabei der Hirte spielte, sei vor allem Franz von Lenbachs eindrucksvolles Ölbild „Hirtenjunge“ (1860) angeführt. 62 Auch auf Lorenz Quaglios Lithographie „Hirtenknaben“ (1815) ist zu verweisen. 63 Diese Bilder vermögen in Eindringlichkeit deutlich zu machen, wie diese Bewegung der Agrarromantik, die einmal eine systematische Bearbeitung verdiente, die ländliche Lebenswelt unter den Vorzeichen uneingeschränkter, von Schmetterlingen verschönter Natürlichkeit und grenzenloser Freiheit bei Nichtstun unter strahlend blauem Himmel verklärte. Letztlich gehört auch das Bild des guten Hirten in diesen Zusammenhang, mit dem die Kirche seit dem 19. Jahrhundert die Aufgabe des Seelsorgers zu vergleichen begann. 64 Mit der Schilderung der Wirklichkeit hat das alles wenig zu tun. Sie wurde viel eher in der echten Volkskultur bewahrt. Der niederbayerische Volkskundlerpfarrer Josef Schlicht hat auch eine sehr lebensvolle Schilderung des Hirtendaseins hinterlassen, die mit den in seiner Umgebung beobachteten wohlhabenden „Kuhfürsten“ aber kaum repräsentativ sein kann. 65 Vom Reichtum der Gäubodenbauern profitierten offensichtlich auch die in ihrer Umgebung besser gestellten Dorfhirten. Schlicht wusste, wovon er sprach. Er stammte selber aus einer Hirtenfamilie, die auch ihn für diese Tätigkeit vorsah. Die Suche nach der ungeschminkten Wirklichkeit des Hirtendaseins lenkt den Blick auch in die Volksmusik. A Hirtenmadl mag i net, die hat koa scheene Wadel net lautet der Begleittext zu einem bekannten Volkstanz. Diese Einleitungsverse besagen doch wohl, dass in der rauhen Wirklichkeit auf dem Lande auch die Kinder das Negativimage, das auf dem Stand der Eltern lastete, mitzutragen hatten. In diesem Lied kommt die Abwertung, mit der sich der Hirtenstand in der Bauernwelt immer konfrontiert sah, viel eher und zutreffender zum Ausdruck als in der Kunstpoesie und Kunstmusik, die das Hirtenleben instrumentalisiert und idealisiert haben. Dem angesprochenen Lenbach-Bild sei entgegengestellt die ungleich unbeholfenere, aber wirklichkeitsgetreuere Darstellung des Hirtenlebens bei Michael Wening im Altbayerischen 66 oder Friedrich Karl Rupprecht im Fränkischen. 67 62 Schack-Galerie München. Druck: R EINHOLD B AUMSTARK , Lenbach: Sonnenbilder und Porträts, München/ Köln 2004, 48f. Nr. 11. 63 Staatliche Graphische Sammlung München Inv.-Nr. 196 044: Lorenzo Quaglio, Hirtenknaben aus Fürstenfeldbruck. 64 J OSEF E NGEMANN , Guter Hirt, in: Lexikon des Mittelalters, 9 Bde., München / Zürich 1989, Bd. IV, 1802-1803 (Lit.). 65 S CHLICHT , Blauweiss in Schimpf und Ehr, Lust und Leid (wie Anm. 23), 465-471. 66 G ERTRUD S TETTER , Altbayerisches Leben auf Wening-Stichen, Rosenheim 1977, 110-112. 67 Beispiele bei: K REISSPARKASSE B AMBERG (Hrsg.), 150 Jahre Kreissparkasse Bamberg. Leben im Bamberger Land, Bamberg 1990, 21, 32, 33. Alois Schmid 38 Aus dieser Agrarromantik heraus sind schließlich auch die Hirtenmuseen erwachsen, die es vereinzelt gibt; das bekannteste steht in Hersbruck. 68 Die Hirtenkultur wird aber auch in den vielen Bauernmuseen dokumentiert, die in jüngster Zeit aufgebaut wurden 69 . Sie versuchen die Erinnerung an die Lebenswelt der Hirten in das Industriezeitalter hinein zu retten und so vor dem völligen Untergang zu bewahren. Die Sozialgruppe der Hirten ist in unserem Raum zusammen mit den übrigen unterbäuerlichen Schichten im Wesentlichen in der Industriearbeiterschaft aufgegangen. Unterbäuerliche Schichten gibt es auf dem Land heutzutage kaum mehr. Die von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung wurde weithin in der Bauernschaft nivelliert. Die Lebenswelt der Hirten ist nur noch im Museum oder in der Literatur und Kunst zu finden. 7. Eine Randgruppe? Waren die Hirten eine Randgruppe der ländlichen Gesellschaft? Dietmar Stutzer hat sie bemerkenswerterweise nicht in seine Zusammenstellung der unterbäuerlichen ländlichen Sozialgruppen aufgenommen. 70 Gewiss ist nicht daran zu zweifeln, dass die Hirten am Rand der vormodernen Gesellschaft anzusiedeln sind. In der allein an Besitz und Habe ausgerichteten Wertskala der bäuerlichen Welt standen und blieben sie am Rande. Die Besitzlosigkeit war das entscheidende Argument für diese Zuordnung. Dazu kam ihre Herkunft aus der Fremde, die sie von außen in die Dorfgemeinschaft eintreten ließ, freilich nur auf Zeit; nach Ablauf des Dienstverhältnisses haben sie diese in der Regel wieder verlassen. Die Fremdheit bestärkte die Randständigkeit, die nicht zuletzt in der Unterbringung am Dorfrand auch sichtbar zum Ausdruck gebracht wurde. 71 Hauptursache dafür war die Unehrlichkeit ihres Gewerbes. Auch wenn die Hirten ein unentbehrliches Glied der Dorfgemeinschaft waren, die ihnen ihr größtes Kapital anvertraute, verblieben sie am Rande der bäuerlichen Welt. Die historische Volkskunde hat gezeigt, dass die Unehrlichkeit bei den einzelnen betroffenen Gruppen unterschiedlich ausgeprägt sein konnte und dass im Grunde mehrere Ausfor- 68 G ESA B ÜCHERT , Schauräume der Stadtgeschichte. Städtische Heimatmuseen in Franken von ihren Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (Bayerische Studien zur Museumsgeschichte 1), Berlin 2011, 218. 69 H ELMUT S Üß , Fünfzig Jahre Hirtenmuseum Hersbruck, Hersbruck 1985. 70 S TUTZER , Unterbäuerliche gemischte Sozialgruppen Bayerns (wie Anm. 14). 71 Vgl. G EORG F ISCHER , Die Einzelgänger. Struktur, Weltbild und Lebensformen asozialer Gruppen im Gefüge der alten Volksordnung, in: DERS ., Volk und Geschichte (Die Plassenburg 17), Kulmbach 1962, 235-262. Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland 39 mungen unterschieden werden sollten. 72 Dabei gehörte das Hirtenamt zu den Gewerben, die die Unehrlichkeit weit weniger berührte als etwa die Scharfrichter oder Abdecker. Dennoch aber ist an der prinzipiellen Zuordnung zu den unehrlichen Gewerben nicht zu zweifeln. 73 Waren sie aber deswegen eine Randgruppe? Als solche wird man die Hirten nur mit großen Vorbehalten qualifizieren können. Denn es gelang ihnen kaum, ihre Vereinzelung zu überwinden und ein soziales Band zwischen den einzelnen Hirten herzustellen. Wenn man aber ein solches als Voraussetzung einer Gruppenbildung bezeichnet, dann waren sie nur ganz bedingt eine Gruppe. Freilich fehlte es nicht an Versuchen, diese Vereinzelung zu überwinden. Wenn auch das unehrliche Gewerbe nur in wenigen Ausnahmefällen zur Bildung von Hirtenzünften führte (eine solche gab es ab 1836 in Memmingen; aus ihr gingen in Schwaben Schäfervereine hervor), häufiger waren die Versuche zu zumindest losen Zusammenschlüssen innerhalb der Bruderschaftsbewegung. Es gab im Bayerischen und Schwäbischen mehrere Bruderschaften zum hl. Isidor und Wendelin, die natürlich vor allem die Hirten im Blick hatten. 74 In diesem Sinne wird man die Hirten wohl als Menschen am Rande der vormodernen Gesellschaft bezeichnen können; eine in sich geschlossene Randgruppe waren sie eigentlich nicht. Die Hirten sind eine der vielen Sozialgruppen, die durch die Industrialisierung aus dem gesellschaftlichen Leben der Gegenwart verdrängt worden sind. Sie sind ein Element der verlorenen Lebenswelten, die der englische Sozialhistoriker Peter Laslett so treffend als wesentlichen Grundzug der Moderne beschrieben hat. 75 72 K ARL S IGMUND K RAMER , Bauern und Bürger im nachmittelalterlichen Unterfranken. Eine Volkskunde aufgrund archivalischer Quellen (Beiträge zur Volkstumsforschung 11), Würzburg 1957, 42f., 161f.; DERS ., Grundriß einer rechtlichen Volkskunde, Göttingen 1974, 46- 60. 73 K RAMER , Grundriß (wie Anm. 72), 53, 62; W ILHELM K ALTENSTADLER , Soziale und rechtliche Volkskunde, in: E DGAR H ARVOLK (Hrsg.), Wege der Volkskunde in Bayern. Ein Handbuch (Beiträge zur Volkstumsforschung 23), München / Würzburg 1987, 468. Vgl. auch DERS ., Bevölkerung und Gesellschaft Ostbayerns im Zeitraum der frühen Industrialisierung (1780-1820), Kallmünz 1977; W ILHELM V OLKERT , Adel bis Zunft. Ein Lexikon des Mittelalters, München 1991, 67. Vgl. Anm. 29. 74 J OSEF K RETTNER , Erster Katalog von Bruderschaften in Bayern (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 6), München / Würzburg 1980, 156, 173. 75 P ETER L ASLETT , The World We Have Lost, London 1965; deutsche Fassung: Verlorene Lebenswelten. Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft, Wien 1988. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter Tobias Riedl 1. Kantönligeist und Landesgeschichte Die Zunahme sozialer Mobilität ist für das 18. Jahrhundert ebenso kennzeichnend wie der breite Aufklärungsdiskurs oder die markanten Veränderungen in Wirtschaft und Handel. Vielfältige Wechselbeziehungen fanden ihren vorübergehenden Höhepunkt in einem „grundlegenden Gestaltwandel“. 1 Die Französische Revolution und in deren Folge die Neukartierung Europas im Zuge der Napoleonischen Kriege prägten die politische Großwetterlage. Druckerzeugnisse wie Zeitungen, Zeitschriften, Bücher oder Flugblätter erlebten im 19. Jahrhundert einen nie dagewesenen Boom mit einer jährlichen Steigerungsrate von bis zu 150 Prozent. 2 Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass die großen Zäsuren nie im „luftleeren“ Raum entstehen, sondern dass sie immer auf bereits bestehenden Erfindungen und Errungenschaften, also kulturellen Artefakten im weitesten Sinn, aufbauen. 3 Der eben beschriebene mediale und gesamtgesellschaftliche „take off“ könnte durch vielfältige Perspektivisierungen geisteswissenschaftlicher Provenienz umrissen, bestätigt, vielleicht sogar in Teilen falsifiziert, üblicherweise jedoch weiter dargelegt werden. Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrages ist ausdrücklich anders gelagert: Im Mittelpunkt steht die Betrachtung eines historischen Alltagstextes: 4 das Intelligenzblatt als regionales Druckerzeugnis an der Scharnierstelle zur Moderne. 5 1 L OTHAR G ALL , Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, München 1993, 12. 2 Vgl. W OLFGANG B EUTIN (Hrsg), Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart / Weimar 2001, 244. 3 In einem landesgeschichtlichen Tagungsband, der im Sinne der Neuen Kulturgeschichte agiert, wurde diese These jüngst bestätigt: W OLFGANG W ÜST (Hrsg.), unter Mitarbeit von T OBIAS R IEDL , Aufbruch in die Moderne? Bayern, das Alte Reich und Europa an der Zeitenwende um 1800, Neustadt/ Aisch 2010. 4 Zur Klärung von Vorfragen, die aus der Beschäftigung mit Alltagstexten entstehen, die „durch eine bestimmte Weise des Hinsehens auf die Dinge, von denen die Rede ist,“ gekennzeichnet sind, vgl. J OHANNES S CHWITALLA , Was sind ‚Gebrauchstexte‘? , in: Deutsche Sprache 4 (1976), 20-40, Zitat 38. 5 Für diese Arbeit wird Moderne, falls nicht anders kenntlich gemacht, als epochale Wende um 1800 aufgefasst. Dieses Datum ist jedoch nicht für alle wissenschaftlichen Disziplinen gleich, da sich die Moderne gerade im Mikro-Bereich ganz anders verorten lässt. Vgl. den interdisziplinären Tagungsband von W OLFGANG W ÜST , Aufbruch in die Moderne? (wie Anm. 3). Tobias Riedl 42 Basal für dieses Verständnis ist jedoch die landeshistorische Herangehensweise, der - teilweise bis heute - „der Geruch des ‚Provinziellen‘“ und „Partikularen“ bzw. ein gewisser „Kantönligeist“ nachgesagt wird. 6 Dies ist jedoch nicht weiter problematisch, da Pankraz Fried bereits vor einigen Jahrzehnten in einem Aufsatz zu Problemen und Methoden der Landesgeschichte deutlich machte, „daß sich in der Praxis ‚Kantönligeist‘ und weltbürgerliche Weite keineswegs ausschließen, sondern sich - im Gegensatz zum nationalstaatlichen Denken - geradezu ergänzen [...].“ 7 Insbesondere dem Focus der „kleinen Strukturen“, die für die Tagung ein durchaus vielfältiges und differenziertes Bild von Geschichte ermöglichten, soll durch die Betrachtung eben zweier „kleiner“ Intelligenzblätter - das Erlanger für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und das Kemptener für die erste Hälfte das 19. Jahrhunderts - herangezogen werden. Für einen allgemeinen Überblick zum Intelligenzwesen dient das unmittelbar folgende Kapitel, das für eine Einordnung der süddeutschen Situation argumentativ und inhaltlich wichtig ist. 2. Intelligenzwesen allgemein Das Intelligenzblattwesen in den deutschen Landen zu beschreiben, ist sicherlich keine leichte Aufgabe, da trotz ganz unterschiedlicher regionaler Forschungen bis heute noch keine systematische, alle Bereiche einschließende Arbeit vorliegt; es ist vielmehr eine Fülle von Einzelstudien vorhanden, die den Gegenstandsbereich kartieren. „Angesichts der großen Verbreitung von Intelligenzblättern und ihrer spezifischen Bedeutung in der Region erscheinen weitere Spezialuntersuchungen jedoch höchst wünschenswert.“ 8 Der Aufsatz „Intelligenzblatt - eine Forschungslücke“ 9 von Gerhard Petrat aus dem Jahr 1987 hat damals auf ein wichtiges Forschungsdefizit hingewiesen. Seitdem ist auf dem Forschungsfeld „Intelligenzwesen“, das lange Zeit unter pressegeschichtlichen beziehungsweise kommunikationswissenschaftlichen Aspekten betrachtet wurde, viel geschehen. Maßgeblich für die Erkenntnisse zu den 6 P ANKRAZ F RIED (Hrsg.), Probleme und Methoden der Landesgeschichte, Darmstadt 1978, 1-13, Zitate 7. 7 F RIED , Landesgeschichte (wie Anm. 6), 3. 8 W ERNER G REILING , „Chronik, Publikationsvehikel und Sittenspiegel“. Intelligenzblätter als historische Quelle und kulturelles Gedächtnis, in: P ETER S CHÖTTLER / P ATRICE V EIT / M I- CHAEL W ERNER (Hrsg.), unter Mitarbeit von F LORIANE A ZOULAY , Plurales Deutschland (Festschrift für Étienne François), Göttingen 1999, 192-203, Zitat 193. Bei Greiling finden sich auch ausführliche bibliografische Hinweise zum Werdegang der Intelligenzblatt- Forschung; ferner DERS . „Publicitätsvehikel und Sittenspiegel“. Zur Programmatik thüringischer Intelligenzblätter. Eine Dokumentation, Weimar / Jena 2004. 9 G ERHARDT P ETRAT , Intelligenzblatt - eine Forschungslücke, in: E LGER B LÜHM / H ARTWIG G EBHARDT (Hrsg.), Presse und Geschichte, 2 Bde., München / Leipzig / Berlin 1987, Bd. II, 207-231. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 43 Intelligenzblättern sind dabei die Arbeiten von Holger Böning vom Institut für Deutsche Presseforschung an der Universität Bremen. 10 Als wichtiges Standardwerk ist die Untersuchung zum Lippischen Intelligenzblatt von Friedrich Hunecke zu nennen, der neben seiner eigentlichen Untersuchung auch eine Übersicht zu allen - ihm damals bekannten - Intelligenzblättern gibt. 11 Für den bayerischen Bereich sei auf den Sammelband „Pressewesen der Aufklärung“ hingewiesen, der sich in kulturwissenschaftlicher Weise des Augsburger Intelligenzblattes annimmt. 12 Was lässt sich aber unter Intelligenz-Blatt ganz allgemein verstehen? Es wird schnell deutlich, dass es sich bei dieser Art von Intelligenz nicht um das uns vertraute kognitive Leistungsvermögen handelt - diese Bedeutungsvariante entwickelt sich erst im 19. Jahrhundert -, das etwa in Intelligenztests gemessen wird. Vielmehr leitet sich der Begriff von einer älteren Bedeutung des lateinischen Verbs „intellegere“ ab, nämlich „Einsicht nehmen“. 13 Diese informative Einsichtnahme nimmt ihren Anfang im Frankreich des 17. Jahrhunderts, als 1612 der Pariser Arzt Théophraste Renaudot sein „Annoncenbureau“ eröffnete. Dieses im Kleinen begonnene Projekt etablierte sich im folgenden Jahrhundert, wurde in England sowie im gesamten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und somit auch in den deutschen Landen - in fast allen größeren und kleineren Städten wurden Intelligenzblätter aufgelegt 14 - zu einer erfolgreichen Publikationsform, die eine für damalige Verhältnisse breite, jedoch meist lokale Leserschicht ansprach. 10 Eine komplette Übersicht unter http: / / www.presseforschung.uni-bremen.de/ Boening- Publikationen.pdf (Zugriff am 2.10.2011). 11 F RIEDRICH H UNEKE , Die „Lippischen Intelligenzblätter“ (Lemgo 1767-1799). Lektüre und gesellschaftliche Erfahrung, (Forum Lemgo, Schriften zur Stadtgeschichte, Heft 4), Bielefeld 1989. 12 S ABINE D OERING -M ANTEUFFEL / J OSEF M AN AL / W OLFGANG W ÜST (Hrsg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich (Colloquia Augustana 15), Berlin 2001. Für den Aspekt der Volksaufklärung untersuchte Georg Seiderer in seiner Dissertation die Intelligenzblätter von Ansbach, Nürnberg, Bamberg vgl.: G EORG S EIDERER , Formen der Aufklärung in fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich (Schriften zur bayerischen Landesgeschichte 114), München 1997, insbesondere 43-133. 13 H ANS -G EORG G ADAMER , Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz, in: DERS .: Gesammelte Werke, Bd. 4, Tübingen 1987, 276-287, Begriffsgeschichte: 276f. 14 Bis heute liegt keine flächendeckende Studie vor, die gesichertes Datenmaterial zur Verfügung stellt. H UNEKE , „Lippischen Intelligenzblätter“ (wie Anm. 11), 202-240 geht in seiner Analyse von 188 Neugründungen im 18. Jahrhundert aus, H OLGER B ÖNING , Bibliographie der deutschsprachigen Presse von den Anfängen bis 1815. Forschungsberichte und Forschungsdiskussion, in: W OLFGANG F RÜHWALD / G EORG J ÄGER / D IETER L ANGEWIESCHE / A LBERTO M ARTINO (Hrsg.), Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 17, Heft 2, Tübingen 1992, 110-137 schätzt die Zahl auf mindestens 220. Da in diesen Untersuchungen kaum Städte von der Bedeutung Erlangens vorkommen, kann die Anzahl von 550 Neugründungen von Intelligenzblättern im 18. und 19. Jahrhundert im Tobias Riedl 44 Zeitungen, die Anzeigen beinhalteten, gab es bereits im 17. Jahrhundert, jedoch erschien erst am 5. Januar 1722 in Frankfurt mit den Wochentlichen Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten das erste deutsche Intelligenzblatt, welches ausschließlich aus Anzeigen bestand: primär Such-, Stellen-, Werbesowie Auktionsanzeigen. „Der Buchdrucker Anton Heinscheidt begründete damit ein Periodikum völlig neuen Typs, das sich innerhalb weniger Jahrzehnte als eine der wichtigsten Konstanten des frühneuzeitlichen Pressewesens etablierte.“ 15 Das erste deutschsprachige Blatt bestand dagegen schon seit 1703 in Wien, das Wiennerische Diarium. Die weiteren Neugründungen folgen in Hamburg (ab 1724 Wöchentliche Hamburger Frag- und Anzeigungsnachrichten) und Berlin (ab 1727 Wöchentliche Berlinische Frag- und Anzeigungs-Nachrichten), 16 wodurch sich augenscheinlich feststellen lässt, dass das Intelligenzwesen in seiner ersten Frühphase ein rein großstädtisches Phänomen bedeutender politischer und wirtschaftlicher Metropolen darstellt und erst in der Folge zu einer allgemeinen regionalen und dann auch lokalen Erscheinung in der Presselandschaft wird. Typische Titel, die im Laufe der Zeit synonym Verwendung fanden, konnten lauten: Frag- und Anzeigungs-Nachrichten, Wöchentliche Nachrichten, Intelligenzblatt oder Intelligenz-Zettel. Die verschiedenen Blätter gingen anfangs meist auf private Unternehmer zurück, die neben den Stellenangeboten und Werbetexten Preisangaben für die Hauptnahrungsmittel (die sogenannten Fleisch- oder Brot-Taxen) sowie Wechselkurstabellen, aber auch Familienanzeigen veröffentlichten. Als der Staat seinen Einfluss auf das Intelligenzwesen geltend macht - Pionier ist hier Preußen unter Friedrich Wilhelm I. -, formiert sich eine staatliche Institutionalisierung und es erscheinen Mitteilungen von Behörden, Gesetze, Verordnungen, amtliche Bekanntmachungen und „gelehrte Artikel“ mit einer „volksaufklärerischen“ Intention, aber auch viele An- und Verkaufsanzeigen ganz im Sinn eines merkantilen Wirtschaftssystems. 17 Bereits diese Aufzählung verdeutlicht, in welchem Aufgabenfeld das Intelligenzwesen ordnende und Sinn stiftende Funktionen übernimmt; es macht aber auch die unterschiedlichen Ausrichtungsvarianten der preußischen gegenüber den süddeutschen Blättern deutlich. Dazu zählt neben der strategischen inhaltlichen Ausrichtung auch der äußere Rahmen. Der sogenannte Intelligenzzwang stellte auch sicher, dass möglichst weite Bevölkerungskreise mit dem Blatt versorgt wurden. So mussten folgende Personengruppen zwangsweise das Intelligenzblatt beziehen, was deutschen Sprachraum nach A STRID B LOME , aus: http: / / www.presseforschung.uni-bremen. de/ p_ib.html (Zugriff am 2.10.2011), als durchaus realistisch angesehen werden. 15 Vgl. http: / / www.presseforschung.uni-bremen.de/ p_ib.html (Zugriff am 2.10.2011). 16 M ARGOT L INDEMANN , Deutsche Presse bis 1815. Geschichte der deutschen Presse I, in: F RITZ E BERHARD (Hrsg.), Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 5, Berlin 1969, 250f. 17 Vgl. L INDEMANN , Deutsche Presse (wie Anm. 16), 249f. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 45 durch die Kosten von zwei Reichstalern 18 im Jahr beispielsweise für das Berliner Intelligenzblatt nicht gänzlich ohne Widerspruch blieb: Magistrate, Zünfte, Advokaten, Notare, Geistliche, Ärzte, Apotheker, Handwerker oder Gastwirte. Für den süddeutschen Raum ist diese stark staats-strategische Ausrichtung nicht festzustellen. So kann für unsere Untersuchung ein ähnlicher Befund angenommen werden, wie ihn Werner Greiling für Thüringen trifft: „Hier kann man die Intelligenzblätter durchaus nicht ausschließlich als Instrumente der Regierungen kennzeichnen.“ 19 Eher ließe sich von einer neuen Verbindung sprechen: „Anzeigen- und Amtsblatt, politisches Nachrichtenorgan und moralische Wochenschrift [...].“ 20 Sie stellen eben nicht nur ein „Informations- oder Ordnungsmittel kameralistischer Wirtschaftspolitik“ 21 dar. Zunehmende Zensurbestrebungen lassen sich erst in der Zeit nach der Französischen Revolution feststellen; Ausnahme bildet auch hier Preußen, dort wurde die Zensur „lediglich“ nochmals verschärft. Zeitlich lässt sich die überwiegende Mehrheit der Blätter den Jahren zwischen 1750 und 1850 zuschlagen, was ein virulentes Intelligenzwesen von gut 100 Jahren bedeutet. Selbstverständlich lebt die Tradition der vielfältigen Textsorten bis heute in diversen anderen journalistischen Mediensparten und Publikationsformen weiter. 22 Eine weitere wichtige Besonderheit der Blätter stellte der Insertionszwang dar. Er legt fest, dass Anzeigen nur im Intelligenzblatt geschaltet werden und erscheinen durften; eine Regelung, die bis weit ins 19. Jahrhundert Bestand hatte. Zwar wurde dies teilweise auch dahingehend gelockert, dass Zeitungen oder Zeitschriften bereits im Intelligenzblatt erschienene Anzeigen auch abdrucken durften, dennoch sicherte das Monopol auf dem Anzeigenmarkt den Blättern ein gutes Auskommen. Die Darstellung von Heinrich Bettziech verweist darauf, dass der Insertionszwang schon bei Zeitgenossen nicht unumstritten war; er führt jedoch eine für die damaligen Verhältnisse interessante Argumentation: Der Insertionszwang ist ein Zwang und scheint deshalb nicht gerechtfertig; aber das Intelligenzblatt gehört nicht in das Gebiet der freien Production, es hat bloß einen bestimmten materiellen Zweck: es soll und will das Publikum mit den gegenseitigen Wünschen und Bedürfnissen für Haus und Heerd, Weib und Leib, Kind und Kegel bekannt machen. Es ist also ganz zweckgemäß, dass 18 Genaue Preise lassen sich oft nur schwer rekonstruieren und sind in der Sekundärliteratur nur sehr vereinzelt vorzufinden, wodurch ein Vergleich oder eine allgemeine Aussage nicht zu treffen ist. 19 W ERNER G REILING , „Intelligenzblätter“ und gesellschaftlicher Wandel in Thüringen. Anzeigenwesen, Nachrichtenvermittlung und Sozialdisziplinierung (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge Nr. 46), München 1995, 13. 20 G REILING , „Intelligenzblätter“ in Thüringen (wie Anm. 19), 13. 21 H UNEKE , „Lippischen Intelligenzblätter“ (wie Anm. 11), 28. 22 M ARTIN W ELKE / J ÜRGEN W ILKE (Hrsg.), 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext (Presse und Geschichte - Neue Beiträge 22), Bremen 2008. Tobias Riedl 46 Jeder die Gewißheit habe, hier finde er Nachweis und Auskunft, hier werden seine Wünsche und Bedürfnisse gesucht und gefunden. Hier sucht das Dienstmädchen einen Dienst, hier sucht auch Madam ein Dienstmädchen. Dadurch rechtfertigt sich der Insertionszwang, weil dadurch nur der Zweck erreicht werden kann. Ohne Insertionszwang wäre der Zweck viel theurer für das Publikum. 23 Der Insertionszwang dient seiner Meinung als ordnendes Moment, um Verwirrung auszuschließen, die durch plurale Anzeigensysteme Einzug halten würde. Letztlich dürfte bei dieser Argumentation nicht nur das Interesse am Dienstmädchen und der Herrschaft in die Überlegungen mit eingeflossen sein, denn das Anzeigenmonopol brachte - wie oben erwähnt - den einzelnen Verlegern erkleckliche Gewinne ein. Neben den eben beschriebenen „technischen“ Voraussetzungen sollte jedoch das Wesentliche nicht vergessen werden. Es ist der historische Rahmen, der durch dieses Medium auf unmittelbare Weise eingefangen werden kann. So trifft Ian F. McNeely den eigentlichen Kern, wenn er resümiert: „The intelligence gazettes (Intelligenzblätter) depict a small-town world pulsating with ideas and entrepreneurship and committed to disseminating information for the purposes of local, civic improvement.“ 24 Diese bisher eher allgemeinen Informationen sind ferner mit dem nicht unwichtigen Aspekt der „volksaufklärerischen“ Bedeutung des Intelligenzwesens und seine Situierung im Verhältnis Leser und Leseverhalten zu sehen, auf die an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden kann. 3. Beispiele aus Süddeutschland 3.1 Erlangen Betrachten wir nun einen typischen Vertreter regionaler Provenienz: das Erlanger Intelligenzblatt, das im Erlanger Stadtarchiv fast fortlaufend zugänglich ist (anfangs noch unter der Signatur R.52.k, später dann bei den Zeitschriften). Grundsätzlich folgt das Blatt einem starren Aufbau, der in den 1760er Jahren seinen Ausgang nimmt und letztlich bis zum Ende des Blattes in den 1860er Jahren bestehen bleibt. Verantwortlich ist dafür in erster Linie ein Schreiben des Verlegers Kammerer vom 19. Februar 1757 an die Universität in Erlangen - sie hatte die Gerichtsbarkeit über den Universitätsbuchdrucker. Er bittet darin um die Erlaubnis, ein Intelligenzblatt unter dem Titel: Erlangische wöchentliche Frag= und Anzeigberichten zu drucken. Fer- 23 H EINRICH B ETTZIECH , Geld und Geist. Versuch einer Dichtung und Erlösung der arbeitenden Volks=Kraft, Berlin 1845, 87. 24 I AN F. M C N EELY , The Intelligence Gazette (Intelligenzblatt) as a Road Map to Civil Society. Information Networks and Local Dynamism in Germany, 1770s-1840s, in: F RANK T RENT- MANN (Hrsg.), Paradoxes of Civil Society. New Perspectives on Modern German and British History, 135-156. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 47 ner werden in besagtem Antragsschreiben auch elf Punkte aufgeführt, die das Blatt enthalten soll. Diese thematische und inhaltliche Festlegung, für die Kammerer auch den Zuschlag erhält, bildet somit fortan den festen Rahmen für das Erlanger Intelligenzblatt, da nur für diese Punkte eine Genehmigung bestand: 1) Sachen, die zu verkaufen, od. zu erkaufen gesucht werden. 2) Sachen, die verlohren gegangen, und gestohlen oder gefunden [...]. 3) Sachen und Gelder, die zu verleihen oder zu verpachten gesucht werden. 4) Personen die Diensten suchen, oder die man in Diensten verlangt. 5) Verpacht= und Vermiethungen. 6) Getraid= und Viktualienpreise. 7) Wechselkours. 8) Ankunft der Fremden. 9) Anzeigen der Copulierten, [Taufen] und Verstorbenen. 10) Policeysachen, und Schriften von hiesigem Magistrat. 11) allerhand dergl. zufällige Notificationes. 25 Das Erlanger Intelligenzblatt - es trägt anfangs noch den Namen Erlangische wöchentliche Frag= und Anzeig=Berichte - wird am Mittwoch den 2. Jenner 1760 26 mit der Nr. 1 vom Verleger Johann Dietrich Michael Kammerer herausgegeben. Ab diesem Zeitpunkt erscheint es wöchentlich, anfangs mit einem halben Bogen, also vier Seiten, ab 1763 mit einem ganzen Bogen. Mit der Expansion wird der Zusatz von Allerley hinzugefügt. Ein Besitzerwechsel des Verlags an Georg Wolfgang Zeltner 27 führt dazu, dass mit Nr. 26 vom 23. Juni 1786 ein Titelwechsel stattfindet: Die griffigere Bezeichnung lautet fortan Erlanger Intelligenz=Blatt. Dieser Titel wird bis 1817 beibehalten, als die letzte Titeländerung des Blattes bis zu seinem Ende im Jahr 1869 in Intelligenz=Blatt der Stadt Erlangen erfolgt. Tendenzen, das Blatt ordnungspolitisch in Anschlag zu bringen, verdichten sich erst für die französische und bayerische Zeit, wenn beispielsweise Kleinverbrecher mit Beruf sowie ihrer Tat und der dazugehörigen Strafe - immerhin ohne Namen, aber für die Erlanger Bevölkerung sicherlich wiedererkennbar - benannt werden. Das Intelligenzblatt unterliegt einer funktionalen Stoßrichtung, die keinerlei ideologische Ausrichtung erkennen lässt. Zu betonen ist die starke ökonomische Bedeutung. Die Intelligenzblätter dienen nachhaltig der Entstehung eines offenen 25 Universitätsarchiv Erlangen, A1/ 3 a Nr. 68. 26 Da die Genehmigung bereits 1757 beantragt und erteilt wurde, ist davon auszugehen, dass das Blatt bereits seit diesem Zeitpunkt erscheint. Archivalisch ist der Nachweis erst ab 1760 - dann aber lückenlos - möglich. 27 Zeltner verstirbt am 21.4.1786, daher erwirbt Adolph Ernst Junge die Druckerei und die Zeitung durch Heirat der Zeltner-Witwe. Vgl. E RNST D EUERLEIN , Ein Beitrag zur Vorgeschichte des „Erlanger Tagblattes“. 75 Jahre Erlanger Tagblatt 1858-1933, Sonderabdruck aus Erlanger Heimatblätter XVI [1933] Nr. 32f., Erlangen 1933, 14f. Tobias Riedl 48 Marktes. Auch wenn beispielsweise die Festsetzungen der Fleischpreise noch planwirtschaftlichem Kalkül verhaftet sind, helfen die Veröffentlichungen von Wechselkursen - vorher ein Spezialistenwissen, das einen Zwischenhändler mit einbezog -, ökonomisches Wissen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dadurch werden die Bedingungen für einen offenen Markt geschaffen. Während diese im Text selbst unsichtbare Einflussnahme als grundsätzliche Konstante mitzudenken ist, finden sich auch sichtbare Spuren des staatlichen Zugriffs. Es bestand die Verpflichtung, unentgeltlich die hiesigen Polizei-Verordnungen in das Intelligenz-Blatt zu setzen. 28 Auch bei Diebstählen oder Verbrechen wurde das Blatt als informationeller Multiplikator genutzt. Abgesehen von der allgemein-grundsätzlichen Aufgabe der Information und dem Faktor Unterhaltung, welcher durch Ablösung von der sogenannten Face-to-Face-Gesellschaft durch die Druckmedien immer bedeutender wird, lassen sich spezifische Funktionskategorien für das Intelligenzblatt ausmachen. Der Textsorte „Intelligenzblatt“ sind sowohl informative als auch appellative Merkmale zuzuordnen. Während die Ankunft der Fremden und die Bekanntmachungen zu Todesfällen, Taufen und Eheschließungen eine dominierende Informationsfunktion besitzen, ist bei den Werbeanzeigen oder beim Abdruck von staatlichen Verordnungen eine klare Appellfunktion festzustellen, die zum Kauf, respektive zur öffentlichen Ordnung aufruft. Ferner lassen sich noch „Grenzgänger“ ausmachen wie beispielsweise die Wechselkurs-Tabellen: Diese besitzen sowohl eine informative Funktion für all diejenigen, die mit Handel im weitesten Sinn zu tun haben, als auch eine appellative Funktion, die Kaufbeziehungsweise Verkaufsentscheidungen initiieren kann. Da das Erlanger Intelligenzblatt - was üblich ist - bei Geboten zum Geldverleih, bei Stellengesuchen oder teilweise bei Verkaufsanzeigen anmerkt, dass der Verleger weitere Hinweise gibt, ist das Argument nicht von der Hand zu weisen, dass diese Texte auch kontakttextuelle Faktoren 29 beinhalten. Nur durch den Kontakt mit dem Verleger, auf den ausdrücklich verwiesen wird, kann der Interessent weiterführende Informationen in der außersprachlichen Wirklichkeit erhalten. Kontakthinweise bestehen grundsätzlich auf der Textebene zwischen Autor und Leser, im Fall des Intelligenzblattes ist das erweitert zu sehen. Der Auftraggeber der Anzeige tritt mit dem Rezipienten in Kontakt. Dieser nimmt über das Vermittlungsorgan des Verlegers rückläufig wieder Kontakt mit dem Auftraggeber auf. Der weite Funktionsraum ist für das Intelligenzblatt als Medium einer im Entstehen begriffenen Öffentlichkeit konstitutiv. Das hat einen integrativen Aspekt, da insbesondere die Kauf- und Verkaufsanzeigen, die inhaltlich von einfachen Gegenständen des Alltags bis hin zu Immobilien reichen, für breitere gesellschaftliche Mi- 28 Vgl. Universitätsarchiv Erlangen, A1/ 3 a Nr. 226. 29 H EIKO H AUSENDORF / W OLFGANG K ESSELHEIM , Textlinguistik für Examen (Linguistik fürs Examen 5), Göttingen 2008, 154. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 49 lieus als interessant deklariert werden. Veröffentlichungen ordnungspoliceylicher Art sollen gerade von möglichst vielen Bürgern wahrgenommen werden, wodurch eine Teilhabe auch nicht-elitärer Leserschichten naheliegend ist. Der in der ersten Nummer der Ausgabe von 1790 als Empfehlung in eigener Person zum neuen Jahr proklamierte Neujahrswunsch 30 referiert auf die vielen verschiedenen Aufgaben des Intelligenzblattes in Erlangen: [1] So hätt ich nun ein ganzes Jahr Euch wiederum beschrieben, Was Euch zu wissen nützlich war, Was man allhier getrieben; Und wen zu uns vom fremden Land Der liebe Himmel hergesandt; [2] Wer durch die Copulation Den heiligen Ehstand ehrte; Und wer durch Tochter oder Sohn Erlangens Volk vermehrte; Auch wer des Erdenslebens satt Das bessere gesuchet hat. [3] War von der lieben Obrigkeit Euch was zu publizieren, So war ich dazu gleich bereit, Es zu notificieren; Und giengs mit Jemand hinter sich, Eh! bald erfuhret Ihrs durch mich. [4] Ich meldete des Brots Gewicht, Die Preiße des Getraides - Zwar dieß gefiel Euch manchmal nicht; Ihr tadeltet oft beydes; Doch las´t Ihr auch mit frohem Sinn: „Das Brod ist größer als vorhin.“ [5] Wie manche seine Auction Von tausend schönen Waaren Habt Ihr in Eurem Leben schon Vergnügt durch mich erfahren; Ihr giengt dann hin und kauftet ein, Mocht´ alles noch so theuer seyn. [6] Wer einen neuen Schild aushieng, Der hat´s durch mich berichtet; Wenn einem was verlohren gieng, Der kam zu mir geflüchtet, Und oft geschahs durch mich fürwahr, Daß mancher Finder ehrlich war. [7] Kam etwas sehenswürdigs her Von Künsten, Menschen, Thieren: Ich war gleich da, zur neuen Mähr Die Stadt zu invitiren So kündigte ich Jedermann Des Tages Neuigkeiten an. [8] Wollt einer eine alte Waar Im guten Preis verkaufen, Der kam - der ihr bedürftig war, Kam auch zu mir gelaufen, - So machte ich denn manchen Fund Dem Käufer und Verkäufer kund. [9] Auf gleiche Art war ich auch da, Und half Kapitalisten - Der Sich nach fremdem Geld umsah, Erfuhr die vollen Kisten - Und so hab ich auf einmal oft Zween froh gemacht ganz unverhoft. [10] Und wenn die Avertissements Nur wen´gemal ausblieben: Gleich hab ich gute Sentiments Zur Lehr Euch hergeschrieben, Auch manches von Oekonomie, Bisweilen gar Philosophie; 30 Erlanger Intelligenzblatt, Nr. 1/ 4. Januar 1790. Tobias Riedl 50 [11] Auch Anekdötchen seltner Art Hab ich oft angeführet; Bisweilen auch Geschichte ward Ein wenig mit berühret - Und wenn mir alles dieß gebrach: So bracht ich alte Wittrung nach. [12] So nützlich - ich sags ohne Ruhm - Bin ich bisher gewesen; O hätte doch das Publikum Mich fleißiger gelesen! - Allein nichts gilt, wie mirs auch geht - Im Vaterlande der Prophet. [13] Ihr Gönner! 31 bleibt mir ferner huld Und meiner kleinen Waare; Habt liebevoll mit mir Geduld Auch in dem Neuen Jahre. Euch dank ich meine Existenz Und meines Daseyns frohen Lenz. [14] Euch wünsch ich lauter Wohlergehen, Das nichts auf Erden störet. Von Euch soll nie bey mir was stehn, Als was ihr gerne höret. - Wer aber mich aus Geitz aufgiebt, Von dem schreib ich, was - mir beliebt. Das lyrische Ich, das hier nicht der Verleger, sondern das Intelligenzblatt selbst ist, konstituiert durch die Personifikation das Textkorpus des Erlanger Blattes, sowohl was die Einzelausgabe als auch die Jahrgänge angeht, als eine einzige kulturelle Entität. Auch wenn dem Gedicht eine gewisse Schwärmerei unterstellt werden muss, handelt es sich um eine äußerst treffende Themenübersicht, die das anthropomorphisierte Intelligenzblatt selbst zum Besten gibt. Vergleicht man das Gedicht mit der Anfrage des Verlegers Kammerer vom 15. Februar 1757, der folgende Themengebiete in seine neue Zeitung aufnehmen möchte: Kauf und Verkauf, Fund und Verlust, Diebstähle, Verpachtungen und Vermietungen, Stellengesuche, Geldverleihungen, Getreidesowie Viktualienpreise, Wechselkurse, Ankunft der Reisenden, Mitteilungen über Eheschließungen, Geburten und Todesfälle, Policeysachen, städtische Verordnungen und allerhand dergl. zufällige Notifikationes, werden die großen Überschneidungen sichtbar. 32 Die These, dass das Erlanger Blatt quer durch alle gesellschaftlichen Schichten wahrgenommen und damit gelesen wurde, lässt sich meines Erachtens gut an den Annoncen aufzeigen. 33 Die folgende Auflistung veranschaulicht die Argumentation: Zu verkaufen sind Kinderwiegen und -bettstatt, eine Kutsche sowie das zugehörige Pferdegeschirr oder ein Waschkessel. Gegenstände des Alltags wie ein Lederhandschuh, ein Schal oder ein Gebetbuch werden als verloren oder gefunden gemeldet. Neben diesen Anzeigen gibt es aber auch die bereits wirtschaftlich stärker unter- 31 „Gönner! “ im Quellentext gesperrt gedruckt. 32 Des Buchdrucker Kammerer suchende Erlaubnis wegen Edirung eines hiesigen Intelligenzblattes vom 15. Februar 1757, Universitätsarchiv Erlangen, A1/ 3 a Nr. 68.1757. 33 Vgl. T OBIAS R IEDL , Das Erlanger Intelligenzblatt im 18. Jahrhundert - ein regionales Periodikum am Ende des Alten Reiches, Zulassungsarbeit für das Lehramt Gymnasium, Erlangen 2011. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 51 nehmerisch ausgerichteten Notizen, wenn beispielsweise 600 Gulden zu verleihen sind oder ein Dienstmädchen für den herrschaftlichen Haushalt gesucht wird. Insbesondere die Eliten der Stadt erkannten schon sehr früh das wirtschaftliche Potenzial und wussten dies auch breitenwirksam einzusetzen. Dies wird besonders auch bei den angepriesenen Buchempfehlungen des Verlegers deutlich, der sein Intelligenzblatt von Anfang an „nachhaltig“ für eigene Werbezwecke heranzieht. Das Lesepublikum darf sich an Gottscheds Handlexikon ebenso erfreuen wie an Reinhards Einleitung in die Geschichte der christlichen Kirche, einem Adresskalender sowie fremdsprachlichen (französischen, englischen, lateinischen) Werken. 34 Interaktives Mitmachen der Rezipienten kann in Erlangen, sieht man vom Aufruf der Anzeigenschaltung, der sehr vereinzelt auftritt, ab, nicht als typische Eigenschaft hervorgehoben werden. Anders verhält es sich in anderen provinziellen Orten wie etwa Oldenburg, wo die Blätter vermischten Inhalts alle Landwirthe und Hausväter zur Mitarbeit aufrufen, indem diese Gruppe aufgefordert wird, ihre eigenen Erfahrungen um Haus und Hof per Brief mitzuteilen. 35 Auch ließe sich dieser konzeptuellen Machart, die als „klassischer“ Vertreter ideell-volksaufklärerischer Provenienz anzusehen ist, im Intelligenzblatt der Universitätsstadt Erlangen nur mittelbar etwas entgegensetzen. Im Vordergrund standen die Meldungen zu den Fremden, Daten zu Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen und natürlich die für das Intelligenzblatt typischen Werbeanzeigen; mit ihnen verdiente der Verleger neben dem Verkaufspreis 36 sein Geld. Das Blatt war schließlich privatwirtschaftlich durch den jeweiligen Verleger getragen. Dennoch etablierten sich bis zur Jahrhundertwende die literarischen Darstellungsformen wie belehrender Dialog oder Gedicht, die zu Beginn - und hier könnte die zehnte Strophe der Neujahrsempfehlung 37 einen wichtigen Hinweis geben - wohl eher als Lückenbüßer betrachtet wurden, wenn die Anzeigen ausblieben, wenngleich der Verleger das Interesse an Literarischem sicherlich wahrnahm; er selbst wendet sich in lyrischer Form an seinen Adressatenkreis. Auch die 34 Vgl. exemplarisch Erlanger Intelligenzblatt, Nr. 3/ 16. Januar; Nr. 7/ 10. Februar 1783. 35 Vgl. dazu H OLGER B ÖNING , Aufklärung auch für das Volk? Buchhandel, Verleger und Autoren des 18. Jahrhunderts entdecken den gemeinen Leser (Bibliotheksgesellschaft Oldenburg Vorträge - Reden - Berichte, Nr. 25), Oldenburg 1998, hier bes. 5f. Thematisiert werden lt. Böning die Kategorien „Bemerkungen über gute und schlechte Gesinnung, Handlungen und Gewohnheiten; über schädliche Arten des Aberglaubens und anderer Irrthümer; über gute und schlechte Grundsätze bey Erziehung der Kinder“ ebenso wie „Anweisung zu einer nützlichen Bekanntschaft mit den Werken der Natur und Kunst“ oder „Bemerkungen über allerley gute und schlechte Mittel zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit“ und Informationen, „welche zur Verbesserung in der Landwirtschaft, Haushaltung und allerley Künsten und Gewerben dienlich sein können“. 36 Ein Quartalsabonnement kostet lt. Nr. 26 im Jahr 1763 18 statt bisher 12 Kreuzer, bzw. der Stückpreis liegt bei 2 Kreuzern. 37 Erlanger Intelligenzblatt, Nr. 1/ 4. Januar 1790. Tobias Riedl 52 Tendenz, fremde Texte abzudrucken, ist vorhanden. Allen ist gemein, dass über die Autorschaft keine Aussage getroffen werden kann. Ein Blick in die Erlanger Medienlandschaft weist dem Intelligenzblatt 38 einen bestimmten Wirkungswinkel zu, der sich mit den eben beschriebenen Inhalten befasst. Gleichwohl existiert eine Vielzahl anderer Zeitungen und Zeitschriften. Am bedeutendsten war die Erlanger Real-Zeitung 39 unter dem Publizisten Johann Gottfried Groß, die 1741 gegründet wurde. Mit einer Auflagenhöhe von 18.000 40 Exemplaren kam ihr eine überregionale Bedeutung zu. Im Gegensatz zu der Real- Zeitung, die sich der großen Politik annahm oder schlechte Straßenverhältnisse und Straßenraub anprangerte und damit ihr Befreiungsdekret von der Zensur wieder verlor, dürfte die Aufsicht der Stadt und der Universität über das Intelligenzblatt allenfalls obligatorisch gewesen sein, da keine problematischen Inhalte angesprochen wurden. Das Erlanger Intelligenzblatt ist dabei vorrangig ein Medium einer regionalen Öffentlichkeit, wobei es nur schwerlich als ein primär ideologisches Medium der „Volksaufklärung“ bezeichnet werden kann, wenn man darunter wie Böning und andere das Agieren aus dem Stand der Gebildeten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts versteht, nämlich dass Geistliche, Amtsleute, Wissenschaftler, Schriftsteller oder Ärzte dem „gemeinen Mann“ Informationen aus den Naturwissenschaften näherzubringen suchten, die maßgeblich in den Bereichen Haus- und Landwirtschaft anwendbar waren. Selbstverständlich finden sich im weitesten Sinne auch literarische Texte, wie der Dialog 41 von Frau Stürmisch und Frau Gelassen, die sicherlich im Kontext des großen Aufklärungsdiskurses zu sehen sind, doch insgesamt fehlt der programmatische Wille. 3.2 Kempten Das Kemptener Intelligenzblatt, später Wochenblatt und als solches auch im Stadtarchiv Kempten registriert, liegt für das 19. Jahrhundert fast geschlossen vor. 42 Frühere Vertreter sind zwar in Sekundärquellen nachgewiesen, heute allerdings nicht 38 Die Quellensituation ermöglicht es nicht, für die Erlanger Intelligenzzeitung eine konkrete Auflagenhöhe zu benennen. 39 J OHANNES B ISCHOF , Grundlagen zur Geschichte der Erlanger Real-Zeitung 1741-1829, in: A LFRED S AUERTEIG (Hrsg.), Coburger Zeitungsgeschichte (Sonderabdruck), Coburg [1949]; A NTON E RNSTBERGER , Johann Gottfried Groß 1703-1768. Maria Theresias politischer Agent bei der Reichsstadt Nürnberg, München 1962. 40 H ERWIG B UNTZ / H EINRICH H IRSCHFELDER , Stadt Erlangen. Geschichte - Zeugnisse - Informationen, (Manz heimatgeschichtliche Hefte 959), München 1986, 19. 41 Erlanger Intelligenzblatt, Nr. 37/ 14. September 1763. 42 Für die überaus freundliche Arbeitsatmosphäre im Stadtarchiv Kempten (StadtA Kempten) sei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gedankt, allen voran dem Leiter, Stadtarchivar Dr. Franz Rasso Böck. Dort befinden sich auch alle in diesem Beitrag zitierten Bestände. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 53 mehr archivalisch zugänglich. Blicken wir nun auf die Zeitungsgeschichte der ehemaligen Doppelstadt Kempten, also auf das Erbe der Stiftstadt sowie der Reichsstadt. Für die Stadtdruckerei, die von dem 1608 aus Amberg kommenden Christoph Krauß betrieben worden war, ist für das 17. Jahrhundert nur noch ein Georg Gebhard als Drucker verbürgt. Nachdem 1744 Johann Georg Gutmann 43 ein Offizin eröffnet hatte, konnte in seiner Zuständigkeit das erste reichsstädtische Intelligenzblatt - es wird angenommen für das Jahr 1767 - erscheinen. 44 Die Archivalienlage im Stadtarchiv Kempten führt heute allerdings nur Blätter des 19. Jahrhunderts. Frühere periodische Erzeugnisse liegen leider nicht vor bzw. sind nicht bekannt. In einer unveröffentlichten Dissertation von 1949 zu diesem Thema wird neben infrastrukturellen und grundlegenden Gesichtpunkten zur Region Allgäu („Land und Leute“, „Verkehr und Postwesen“, „Papiermühlen“, „Druckereien“, „Schule und öffentliche Bildung“ sowie „Staatsgewalt und Presse im Bereich des Allgäus“) die Zeitungsgeschichte von Kempten, von Kaufbeuren und von Memmingen untersucht, um so eine Bilanz in einem abschließenden Kapitel zu ziehen: „Das Allgäu als publizistischer Raum“. 45 Dem Autor, Hans Zech, ging es dabei in erster Linie um eine Charakterisierung der einzelnen Zeitungen, wobei auch er im Vorwort bereits darauf hinweist, dass nicht jede „kleinste Landzeitung“ besprochen werden konnte. Aber auch die Voraussetzungen werden darin liebevoll beschrieben, beispielsweise die Allgäuer selbst: „Wir erleben hier den Allgäuer als gerissenen Geschäftsmann von zuverlässiger Art, der seine Städte rasch zur Blüte brachte. Unternehmend und reiselustig, weltoffen und neugierig, zur Mit[t]teilung stets dankbar, trägt er alle Voraussetzungen für die Publizistik in seinem Charakterbild.“ 46 Und so ist seine Einschätzung nur wenige Zeilen weiter nicht verwunderlich: „Vornehmlich ist es die selbstsichere und zuverlässige Art des Allgäuers, die seine Publizistik auszeichnet.“ 47 Diese menschliche Prädestiniertheit lässt fraglos auch die von „Heimatliebe“ getriebene Presse in einem ganz vornehmlichen Licht erscheinen: „Mir ist kein Blatt bekannt worden, das nicht in irgend einer Weise Blüten gesammelt hätte 43 Nachdem seine Druckerei an Christoph Rudolph Müller übergegangen war und eine Verbindung mit dem Buchhändler Fritsche stattfand (Herausgeber der Kemptener Zeitung die „Neuesten Weltbegebenheiten“) und der Drucker und Faktor Josef Kösel in die Rechte 1786 eintrat, erwarb 1794 Tobias Dannheimer das Geschäft, nachdem er seit 1786 bereits für ihn gearbeitet hatte. Der Verlag existiert bis heute, auch wenn er nicht mehr in Familienbesitz ist. Vgl. speziell dazu F RANK E DELE (Hrsg.), Neueste Weltgegebenheit. 225 Jahre Verlag und Buchhandlung Tobias Dannheimer, Kempten 2008. 44 H ANS Z ECH , Geschichte der im bayerischen Allgäu bis 1900 erschienen Zeitungen, Inaugural Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München aus dem Jahr 1949 (Stadtarchiv Kempten 1981; HdB: 380), 10. 45 Z ECH , Geschichte (wie Anm. 44), 10. 46 Z ECH , Geschichte (wie Anm. 44), 2. 47 Z ECH , Geschichte (wie Anm. 44), 2. Tobias Riedl 54 für den Ehrenkranz der Heimat.“ 48 Seine übergeordnete These legt somit nahe, dass sich die durchweg positiven Charaktereigenschaften der Menschen im Allgäu in einem charakteristischen Niederschlag auch in ihrer Publizistik wiederfinden. Das älteste vorliegende Exemplar in Kempten ist das Königlich Baierische Intelligenzblatt der Hauptstadt des Illerkreises Kempten. (Im Verlag der Dannheimerischen Buchhandlung). Sonnabend Nro 1. den 7. Jäner 1809. 49 Darin befindet sich die grundlegende sowie für die konkrete zukünftige Ausrichtung des Blattes maßgebliche Notiz. An das Publikum. Auf genädigste Anordnung des Königl. Baierischen General-Kommissariats des Iller- Kreise wird unter der Leitung und Aufsicht der Königl. Baierischen Polizen-Direktion Kemptens in dem Verlage der dortigen Tobias DAnnheimerischen Buchhandlung statt des bisherigen allgemeinen oberschwäb. Intelligenzu. Wochenblattes das am 23. Dez. 1808 bereits besonders angekündigte Intelligenzblatt der K. Bayer. Hauptstadt des Illerkreises Kempten erscheinen, und davon wochentlich [sic! ] am Sonnabend ein dem gegenwärtigen 1. St[ück] gleiches Blatt von einem halben Bogen ausgeben werden. Der Inhalt desselben wird nach folgenden Rubriken eingetheilt seyn: a) Kurze, jedoch vollständige Auszüge aus jedem neuesten Stück des K. B. Regierungsblattes. b) Allgemeine allerhöchste, sich zur besondern Publikation eignende, Verordnungen. c) Verordnungen des K. General-Kommissariates im Illkreise. d) Verschiedene Aufsätze über die vorzüglichen Gegenstände der Polizeyverwaltung, welche Aufklärung über Oekonomie, Kultur, Erziehung, öffentlichen Unterricht, die Gewerbe, und andere gemeinnützige Gegenstände enthalten sollen. e) Justiz- und Polizey-Anzeigen von sämmtl. Justiz- und Polizey-Behörden des Königreiches, und des Illerkreise insbesondere, welche hiemit eingeladen werden, ihre Aufsätze an die unterzeichnete Polizey-Direktion einzusenden, von welcher für die unverzügliche Einrückung der Eingabe gegen Entrichtung von 3 kr. für die Zeile gesorgt werden wird. f) Privat-Anzeigen verschiedener Art, insbesondere von verlohrnen und gefundenen Sachen, Nachfragen um Arbeit und Arbeiter, um Dienst- und Feil- und Miethsachen, z. B. der Quartiere u. dgl., welche von den Interessenten auch mit 3 kr. für die Zeile bezahlt werden. g) Anzeigen der durchreisenden Fremden. 48 Z ECH , Geschichte (wie Anm. 44), 2. 49 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809, ohne Signatur: Königlich Baierisches Intelligenzblatt der Hauptstadt des Illerkreises Kempten (im Verlag der Dannheimerischen Buchhandlung), 1809. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 55 h) Frucht- und Viktualien-Preise der vorzüglichsten Marktstände des Kreises und benachbarter Städte. Den Einwohnern Kemptens wird von Amtswegen insbesondere bemerkt, dass alle allgemeinen Verordnungen, Polizey-Verordnungen und Erinnerungen, welche in diesem Blatte erscheinen, als gesetzlich publizirt angesehen werden, und nach dieser Publikation die Entschuldigung aus Unwissenheit von Niemand mehr angenommen werde. Der Preis dieses Blattes bleibt wie bisher zu 1 fl. 30 kr. für den Jahrgang angesetzt, und ist in halbjährigen Fristen an die Tobias Dannheimersche Buchhandlung zu bezahlen. 50 Die eben dargestellte Übersicht ist für das 19. Jahrhundert durchaus üblich. Auch in anderen Blättern finden sich derartige Hinweise. Sie geben Auskunft über Bezug und Preis sowie über die Machart des periodischen Mediums. Anders als heute konnte eine solche thematische Aufstellung über Jahrzehnte Bestand haben und prägte das Erscheinungsbild der Zeitung häufig über viele Dekaden hinweg. Die einzelnen Unterpunkte a) bis h), welche die inhaltliche Ausrichtung des „neuen“ Blattes spezifiziert benennen, zeigen eine unübersehbare Dominanz von Verordnungen und Erlassen, die grundsätzlich dem Charakter eines Amtsblattes folgen. Das Blatt mit einem Umfang von einem halben Bogen (vier Druckseiten) gibt den Verordnungen meist einen Raum von drei Seiten, wobei die edierte Auflistung auch eins zu eins für die tatsächliche Reihenfolge herangezogen werden kann. Bei der konkreten Lektüre der verschiedenen Intelligenzblätter lässt sich eine klare Tendenz herausstellen: für die Kategorien a) bis e) wurden bis zu drei Seiten aufgewendet, den Kategorien f) bis h) blieb noch eine gute Seite. Auf dieser vierten und letzten Seite eines jeden Blattes bleibt so Raum für die alltäglichen Belange der Bürger, für ihre Gesucht- oder Gefunden-Anfragen, die bisweilen einige Kuriositäten bietet. Neben den typischen verlorenen Gegenständen wie einer silbernen Taschenuhr und anderen Kleinigkeiten wird sogar ein Hund mit Lederhalsband inseriert, der in einem Gasthaus zugelaufen war. Daneben findet die Anzeige der Fremden hier ihren festen Platz. Die zweite Hälfte der letzten Seite enthält wöchentlich eine Übersichtstabelle zu den aktuellen Preisen von Roggen, Gerste oder Haver in den Kategorien beste, mittel, gering für die Städte Kempten, Memmingen, Lindau, Ravensburg und Obergünzburg. Ferner erfolgt eine Festsetzung der Viktualienpreise zu Kempten für Produkte wie Schmalz, Butter, Käse, Henne und Ente; aber auch Fleisch und Brot in ihrer jeweiligen Art bzw. ihrem entsprechenden Gewicht finden Erwähnung. Dieses grundsätzliche Muster kann natürlich auch nach Bedarf durchbrochen werden. So finden sich auch schöngeistige Schriften - natürlich mit volksaufklärerischem Impetus - über den Geist der Zeit, die als Fortsetzungsgeschichte erscheinen 50 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 1. den 7. Jäner 1809, 3. Tobias Riedl 56 und durchaus auch den Umfang von einer Seite einnehmen können. 51 Gleiches gilt für die Abhandlung über Armenverpflegungsanstalten in der Vorzeit, eine unterhaltende geschichtliche Abhandlung, die ebenfalls aus sich fortsetzenden Narrativen zusammengestellt ist. 52 Trotz aller Schemenhaftigkeit der Blätter dienen diese Geschichten meist auch als Lückenfüller, wenn einmal weniger Verordnungen zu publizieren waren. Es galt, den bestehenden Platz von vier Seiten sinnvoll zu füllen. In diesem Zusammenhang sind auch die Werbeanzeigen des Verlegers selbst zu sehen. Tobias Dannheimer, Buchdrucker und Buchhändler in Kempten, inseriert auch Bücher (Umfang bis zu einer Seitenspalte): Ueber die Entstehung und Organisation des Bürgermilitairs in Bayern, den Neuest bayerisch Schreib-Almanach, verschiedene Taschenbücher oder eine Zeitschrift zur Beförderung der französischen Litteratur. 53 Wenn der Platz bisweilen etwas knapp war, bietet Tobias Dannheimer seine Bücher und Druckerzeugnisse zwar noch lesbar, jedoch in merklich kleineren Lettern an. 54 Aber auch der entgegengesetzte Fall kam vor. Die Ausgabe vom 24. Juny 1809 wird gar aufgrund ihres Umfangs als Doppelnummer (Nro. 24 und Nro. 25) herausgebracht. Grund ist ein ausführliches Edikt im Namen von Maximilian Joseph, auf Initiative von Freyherr von Montgelas, ausgeführt durch den General-Sekretär F. Kobell über die äussern Rechtsverhältnisse der Einwohner des Königreiches Bayern in Beziehung auf Religion und krichliche Gesellschaften, zur näheren Bestimmung der §§. VI. und VII. des ersten Titels der Konstitution. 55 Der Erlass ist derart umfangreich, dass in dieser doppelten Ausgabe (ein gesamter Bogen) nur noch die Preistabelle am Ende Platz findet und das auch nur, weil im zweiten Teil beim Druck mit einer sichtbar kleineren Schrifttype gearbeitet wurde. Das eben erwähnte Beispiel einer Doppelausgabe unterstreicht nur nochmals: Die Präsenz des Königshauses ist allgegenwärtig. So wendet sich der neue Landesherr aus München in regelmäßigen Abständen an seine Untertanen: Wir Maximilian Joseph, von Gottes Gnaden König von Baiern. Es folgt z.B. eine mehrseitige Verordnung, die sich mit dem sogenannten Fleisch-Aufschlage auseinandersetzt und in derselben auf das strikteste reglementiert wird. 56 Aber auch das Königl. Bayer. General-Kommissariat des Iller-Kreises steht unter der Schirmherrschaft von Max Joseph. 51 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 7. den 18. Hornung 1809, 30. 52 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 14. den 8. April 1809, 66f. 53 Vgl. StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 3. den 21. Jäner 1809, 15f. 54 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 14. den 8. April 1809, 63f. 55 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 24 und Nro. 25. den 24. Juny 1809, 101-108. 56 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 3. den 21. Jäner 1809, 10-13. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 57 So konnte auch hier der Leser in größeren Lettern als Überschrift lesen: Im Namen Seiner Königlichen Majestät von Baiern 57 . Da sich beide Verordnungen sehr umfangreich gestalteten, brach man auch hier mit dem Diktum eines halben Bogens und erweiterte auf einen ganzen; gleiches passierte bei Nro. 10. 58 Ferner war noch eine weitere Spielart möglich. So existierte für Nro. 11 (ein halber Bogen) eine separate Beilage (ein ganzer Bogen mit eigener Paginierung) mit dem Titel Bekanntmachung über die neue Einrichtung der öffentlichen Unterrichts-Anstalten im Königreiche Baiern. 59 Dieser Lösungsansatz sollte jedoch nicht zum Standard werden. Betrachten wir nun einige interessante Einzelfälle in den jeweiligen Kategorien. Das neu gegründete Königreich Bayern wirkt im Kemptener Intelligenblättern nicht nur als Ordnungsmacht, es engagiert sich selbst mit seinen Besitzungen am ökonomischen Prozess. Das Oberforstamt versteigert an den Meistbietenden am 23. April 1809, früh um 8 Uhr, 50 Klaster Fichten Brennholz und 30 Klaster Fichten Aeste, ferner bietet es Zaunstangen und Bohnenstecken feil. 60 Selbstverständlich inserierten auch Kaufleute und Künstler. Ein Herr Haab, Schauspieler und Portraitmahler, der wohnhaft bey der Wittwe Kesel neben dem Bären ist, verweist auf seine Fertigkeiten in Pastelmalerei, aber auch die Lackierung von Taschenuhren bietet Selbiger an, aber auch auf Elfenbein und Oel lässt sich portraitieren. 61 Gerade für das Wirtschaftsleben sind jedoch nicht nur Preisvergleiche und Anzeigen von Bedeutung, sondern auch - im Fall der Fälle - ein geregeltes Verfahren bei Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners. Dies kann und wird über das Medium des Intelligenzblattes organisiert und bekanntgegeben. So machen es die zerrütteten Vermögensumstände des ortsansässigen Konditors Andreas Stich erforderlich, dass eine Zusammenkunft seiner Gläubiger stattfindet, um seine gesamten Schulden zu liquidiren. Die betreffenden Personen werden gebeten, sich aufgrund dieses Sachverhaltes am 5. Mai um 10 Uhr in der Stadtgerichtskanzlei einzufinden. 62 Singulärer, jedoch durchaus aufschlussreich ist die Tatsache, dass auch Privatpersonen das mittlerweile etablierte Medium nutzten: so M. Philipp Wöhrnitz. Da ich durch verschiedene Hindernisse abgehalten wurde, mich bey meiner Abreise nach Lindau meinen Freunden, Anverwandten und Bekannten in der Alt- und Neustadt 57 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 3. den 21. Jäner 1809, 14. 58 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 10. den 11. März 1809, 41-48. 59 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49). 60 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 16. den 22. April 1809, 71f. 61 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 13. den 1. April 1809, 60. 62 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 16. den 22. April 1809, 71. Tobias Riedl 58 persönlich zu empfehlen; so thue ich es hiermit schriftlich, und bitte sie zugleich um die Fortdauer ihrer wohlwollenden und gültigen Gesinnungen gegen mich. Kempten den 29. März 1809. 63 Formal erinnern diese Zeilen noch an einen privaten Brief, der in den öffentlichen Raum transferiert wurde und somit in einem anderen Medienkontext Verwendung findet. Richtigerweise wird der Medienwandel und -boom mit dem Verlust der Face-to-Face-Interaktion beschrieben. Im vorliegenden Fall kann dies gut nachgewiesen werden. Der Initiator gibt seine Anzeige auf, der Verlag publiziert sein Anliegen, wodurch erst einmal ein großes Ganzes involviert wird. Die jeweiligen Empfänger müssen nun selbst entscheiden, ob sie sich angesprochen fühlen oder nicht. Dennoch ist anzunehmen, dass Wöhrnitz ganz selbstverständlich davon ausging, dass seine Anzeige im Freundes- und Bekanntenkreis gelesen wird. Bei den Fremdenanzeigen gehen vor allem Kaufleute hervor, die aus den heute deutschen und italienischen Gebieten stammten. Eine Reminiszenz des Alten Reiches, die noch lange Zeit auch das mentale Befinden der eigentlich erst ab 1818 auch verwaltungstechnisch einheitlichen Stadt Kempten darstellte, ist die Einteilung in Neustadt (das ehemalige Fürststift Kempten, katholisch) und die protestantisch geprägte sogenannte Altstadt (die ehemalige Reichsstadt Kempten). Diese lokale Besonderheit, die ihre Wurzeln in einer Jahrhunderte langen parallelen Entwicklung der beiden Städte - die daher gerne auch mit dem Terminus Doppelstadt bezeichnet wird - hat, findet sich auch bei der Unterscheidung der sogenannten Policey- Übersicht, welche die Familienanzahl und Seelenanzahl ebenfalls nach Altstadt und Neustadt differenziert. 64 Dies ist nötig, da die Munizipialverfassung von 1804 allenfalls die frühere Reichsstadt Kempten vereinigt, die frühere Stiftsstadt wurde erst 1810/ 11 und endgültig bis 1818 zu dem heute existenten „Gesamtkempten“ verbunden. 65 Aber auch in den Bekanntmachungen selbst scheint die Lebenssituation vor Ort immer wieder durch. So bemerkt der Königl. Bayer. Polizeykommissair Erb, daß vor der Illerbrücke in der Vorstadt wieder häufiger Urbau abgeladen und dadurch die Straße verdorben, ungangbar gemacht, der Ablauf des Regenwassers verhindert, dadurch selbst aber der Weg mit Schlamm bedeckt und immer naß erhalten wird. Da nun dadurch den Straßen-Polizeygesetzen nicht nur zuwider gehandelt, sondern auch der Eingang in hiesige Stadt äusserst beschwerlich gemacht wird, und ein 63 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 13. den 1. April 1809, 60. 64 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 26. den 1. July 1809, 111. 65 Zur Stadtgeschichte ausführlich mit weiterführenden Literaturhinweisen: F RANZ -R ASSO B ÖCK , Kempten 1803: Ende einer Doppelstadt - Anfang einer Stadtgemeinde, in: H ELMUT F LACHENECKER / R EINER K AMMERL / R AINER A. M ÜLLER (Hrsg.), Das Ende der kleinen Reichsstädte 1803 im süddeutschen Raum (ZBLG Beiheft 27, Reihe B), München 2007, 54-65. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 59 hässliches, eckelhaftes Aussehen erhält; so wird auf dem bemeldeten Platze das Abladen von Urbau und andern Unreichnlichkeiten bey Strafe eines Reichsthalers hiermit untersagt. 66 Auch die darauf folgende Ermahnung gegen das schnelle Reiten und Fahren innerhalb der Stadt, das in der Vergangenheit bereits mehrfach zu Unglücksfällen, wie einem überfahrenen Kind, führte, ist von ihrem Aufbau typisch. Es wird auf eine ältere Erinnerung hingewiesen, hier aus dem Vorjahr vom 16. Dezember; anschließend wird nochmals in durchaus pädagogischer Weise erklärt, was passieren kann und wie fortan zu verfahren sei. Des Weiteren führt Polizeykommissair Erb den Rezipienten einen „Bußgeldkatalog“ vor, der für zu schnelles Reiten oder Fuhrwerkfahren und zu schnelles Um-die-Ecke-Fahren, insbesondere in der Altstadt, mit einer Strafe von 5 fl. 30 kr. belegt werden muss. Er verweist ferner nicht auf die stärkeren Kontrollen seitens seiner Behörde, sondern bittet auch die Bürger Kemptens, dass sie aus Liebe für die öffentliche Sicherheit ihre Kutscher und Knechte selbst in Ordnung halten sollen. 67 Weiterhin fallen auch gesundheitliche Warnungen in diesen weiten Bereich der ordnungspoliceylichen Maßnahmen. Das dermal ansteckende herrschende Scharlachfieber veranlaßt das Polizeykommissariat noch darüber eingeholten ärtzlichen Bericht: 1. sollen keine Kranken besucht werden von Personen, welche die Krankheit noch nicht hatten, 2. die Eltern sollen ihre Kinder nicht mit Infizierten zusammenbringen, 3. wer dieser Verordnung zuwiderhandelt, dem wird mit Strafe gedroht, 4. Scharlachkranke sollen vor Erkältung geschützt werden, da tödliche Folgen zu erwarten sind, und abschließend 5. die Ausstellung der Leichen von Personen, die an Scharlach erkranken, ist strengstens verboten, auch hier droht Strafe. 68 Diese Aufzeichnung macht deutlich, wie vielgestaltig auch staatliche Ordnungsmaßnahmen sein können. Entsteht oft der Eindruck der Gängelung und Bevormundung der Bevölkerung, ist dieser Warnhinweis in mehrerer Hinsicht auch typisch. Es wird ein kleiner Katalog von Sachverhalten erörtert, die in dieser Situation auftreten können. Nach bestem Kenntnisstand und unter der Einholung von Expertenwissen findet eine Einweisung der Bewohner statt. Da Warnungen oft alleine nicht ausreichen, ist es durchaus verständlich, dass an mehreren Stellen bei Zuwiderhandlung gegen die Warnhinweise eine Strafe durch das königlich-bayerische Policeykommissariat verhängt werden konnte. Gerade die vorliegenden Blätter im neu gegründeten Königreich Bayern haben eine stark policeyrechtliche und damit ordnungspolitische Ausrichtung, die viel mehr die Frage aufwirft, ob nicht gerade auch die Intelligenzblätter den neuerlichen 66 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 16. den 22. April 1809, 70. 67 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 16. den 22. April 1809, 70f. 68 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 18. den 6. May 1809, 79. Tobias Riedl 60 königlichen Landes- und damit auch Herrschaftsanspruch in der Region manifestieren sollten. So entsteht mitunter der Eindruck, dass die Bürger wöchentlich von München zu unterweisen waren, damit klar war, wer von nun an das Sagen hatte. Die Verordnungen lassen dazu keine Zweifel auftreten. Das Ziel dieses Vorgehens lässt sich darin sehen, Herrschaft in den vielen unterschiedlichen bayerischen Regionen nicht nur zu reklamieren, sondern auch dauerhaft zu institutionalisieren und festzuschreiben. Dies gilt insbesondere für die „neuen“ bayerischen Gebiete. Im Vordergrund stand die Implementierung von Macht und Machtanspruch durch konkrete staatliche Behörden und Verantwortliche, es galt das neue Staatsgebilde von einem erdachten Konstruktzustand mit „künstlich“ gezogenen Grenzen zu einem funktionierenden Königreich auf lebensweltlicher Ebene zu formieren. Die Lebensbereiche unserer Vorfahren waren in vielen Teilen bereits stark ausdifferenziert und von staatlicher Seite normiert. So führten die ehemals selbstständigen Städte und Gebiete im heutigen Süddeutschland eine Vielzahl eigener organisatorischer Rechtstexte und Verfahrensabläufe mit sich, die es nun in kürzester Zeit in einem Standardisierungsprozess, der in Bayern federführend die Handschrift Montgelas’ trägt, anzugleichen und zu vereinheitlichen galt. Das Normierungsstreben, das in der Sekundärliteratur gerne als stark theoretisch aufgeladen gilt, findet durch die periodische Presse, allen voran die Intelligenzblätter, ihren Kristallisationspunkt. Erinnert sei an dieser Stelle nochmals an die einführenden Worte zum Kemptener Intelligenzblatt von 1809. Den Einwohnern Kemptens wird von Amtswegen insbesondere bemerkt, dass alle allgemeinen Verordnungen, Polizey-Verordnungen und Erinnerungen, welche in diesem Blatte erscheinen, als gesetzlich publizirt angesehen werden, und nach dieser Publikation die Entschuldigung aus Unwissenheit von Niemand mehr angenommen werde. 69 Wer rechtlich auf der sicheren Seite sein wollte, war also gut beraten, das Blatt regelmäßig zu lesen, und speziell die Rechtsvorschriften genau zu studieren. Der bis heute gültige Rechtsgrundsatz „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ wird im eben wiedergegebenen Zitat besonders deutlich. Damit hat das Blatt auch eine staatsstrategische Aufgabe zu erfüllen, die bei heutigen Zeitungen und Zeitschriften nur noch eine sehr untergeordnete ist. Es verwundert also nicht, wenn die Traditionslinie, der das Kemptener Intelligenz-/ Wochenblatt in seiner langen Geschichte gefolgt ist, im heutigen Amtsblatt Kempten Allgäu mündet, das vom Oberbürgermeister der Stadt Kempten (Allgäu) herausgegeben wird. 70 Die inhaltliche Zielrichtung sind nun einzig und allein Rechtsverordnungen, die alle Bereiche menschlichen Lebens betreffen, hier allerdings nur noch die Bereiche, welche von 69 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 1. den 7. Jäner 1809, 3. 70 Das Blatt trägt den Titel „Kempter Wochenblatt“ von 1809-1958, de facto handelt es sich aber um das Königlich Baierische Intelligenzblatt der Hauptstadt des Illerkreises Kempten, anschließend von 1959-1975 trägt es den Titel „Amtliches Wochenblatt“, seit 1976 bis dato firmiert es unter Amtsblatt. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 61 städtischen Behörden ausgefüllt werden können. Ein Rezipieren und Wiederzitieren anderer Rechtsverordnungen, beispielsweise aus München, findet nicht mehr statt. Das Intelligenzblatt wird auch in Kempten zu einem Medium der Teilhabe. Immer wieder finden sich Anzeigen für Kapitalbeleihungen oder Wohnungen. Eine Bewohnung in der Altstadt Kempten mit 2 Stuben, Kammern, Keller und dem sonst noch erforderlichen Platz wird zu billiger Miethe zu beziehen gesucht, und die gefällige Anzeige darüber im Zeitungs Comtoir erwartet. 71 Dadurch erreichen die Gesucht- Anzeigen eine neue Dimension. Es ist nicht mehr der französische Schlüssel, der verloren ging, sondern es handelt sich um die Möglichkeit, Wohnungssuche aktiv zu betreiben und eben nicht mehr auf mündliche Strukturen (face-to-face- Kommunikation) angewiesen zu sein. Eine Kommunikationssituation, die durch orale Strukturen primär im Bekannten- und Freundeskreis sowie unter Arbeitskollegen stattfand, wird aufgebrochen: Es ist auch hier wieder das große Ganze, das angesprochen wird, und so entsteht eine Kommunikation, die nicht auf persönlichen Beziehungen beruht, sondern die sich von der Sache her leiten lässt. Speziell die sogenannten Bekanntmachungen des Königl. Bayer. Polizeykommissariat sind es, die sowohl Ordnungscharakter aufweisen, als auch durch ihren lokalen Bezug in einem gewissen Maße eine beigeordnete unterhaltende Funktion zeigen. So setzt eine Bekanntmachung vom 6. July 1809 zum einen den Bierpreis auf 4 kr. (Reif) bzw. 4 ½ kr. (Maaßweise) fest, zum anderen ergeht der Hinweis: zugleich sind die Bräuer angewiesen, ihr Bier, so lange sie eines haben, sowohl unter den Riefen, als Maaßweise ohne Sperrung an jedermann abzugeben und sich des gewöhnten Unfugs, kraft welchem sie die letztern Biervorräthe auf Flaschen abzuziehen und dadurch eine willkührliche Tare vom Publikum zu erheben pflegten, bey Vermeidung einer nachdrücklichen Bestrafung zu enthalten. 72 Die Kemptener Unart, die Hunde nachts vor die Tür zu sperren und herumstreunen zu lassen, was zu vermehrten Hundegebell während der Nachtruhe führt, kann ebenfalls in dieser Einordnung aufgenommen werden. Als drastisch sind allerdings die angedrohten Strafen bei Zuwiderhandlung zu sehen: Es wird nicht nur mit Geld-, sondern auch Leibstrafe gedroht. 73 Die Frage nach Unterhaltung ist eine hochgradig individuelle und subjektive Angelegenheit, weshalb selbstverständlich keine Aussagen darüber getroffen werden können, welcher Leser und welche Leserin sich von den Verordnungen „gut“ unterhalten fühlte. Auch heutige Kategorien sind dabei nicht hilfreich. Auf Basis des Textvergleiches ergibt sich jedoch die Feststellung, dass vermehrt auch „literarische“ - bzw. zumindest lesenswerte Textpassagen abgedruckt worden waren, die sicherlich 71 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 27. den 8. Juny 1809, 116. 72 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 27. den 8. Juny 1809, 115. 73 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 35. den 2. September 1809, 147. Tobias Riedl 62 mehr unterhalten als königliche Erlässe, die im Gegenzug von ihrem Umfang leicht rückläufig wurden. So dienen diese Textpassagen auch als Kitt zwischen staatlichen Textpassagen und Anzeigen und Wirtschaftstabellen am Ende und stellen so den Umfang des Blattes von vier Seiten zum einen sicher, zum anderen kann diese Maßnahme aber auch als ein Zugehen auf die möglichen Leser und vor allem auf potentielle Abonnementen gesehen werden sowie bereits bestehende Kunden nicht zu vergraulen. Die Macht der Gewohnheit erstreckt sich so beispielsweise über eineinhalb Seiten - eine durchaus beachtliche Tatsache. Die Autoren sind für alle diese literarischen Schriften leider unbekannt, da die Verfasser weder zu Beginn noch am Ende des Textes namentlich genannt werden. 74 Mit Nro. 30 im Jahr 1809 erweitert sich das Repertoire der abgedruckten Fortsetzungsgeschichten. Nun wird auch zu landwirtschaftlichen Themen Stellung genommen. Bei einem Blick in die Edition ist die Absicht augenscheinlich: Die Landwirte in Kempten sollen auf den Hanfanbau eingeschworen werden. Die Schwelle zwischen Information und Werbung ist an diese Stelle wahrlich fließend. Vom Lein und Hanf, und deren Nutzen Der Flachsbau ist dem Landmann vornehmlich zu empfehlen, und es wäre zu wünschen, daß solcher in größerer Menge und mit mehr Fleiß und Kunst betrieben würde. Es giebt verschiedene Sorten von Lein, als einheimische Kein- und Haberlein, dann ausländischen, als Rigaischer, Quedlinburger, Braunschweigischer, und mehr dergleichen. Die Nutzbarkeit des Leins ist groß, und sein Verbrauch unentbehrlich, wovon im folgenden das Merwürdigste enthalten ist. a) Wir können den Lein anbauen, ohne unsern andern Winter- und Sommerfrüchten einigen Abbruch zu thun, da wir ihn in der Brache bringen. Er reifet bald, und dadurch erhalten wir Zeit genug, auf den Leinfeldern die nöthige Vorbereitung zur Wintersaat noch vorzunehmen. b) Er verträgt sich mit unserm Klima ganz vorzüglich, da er nicht frühzeitig darf gesäet werden, sondern die letzte und späteste Sommerfrucht ist. Unsere rauesten und kältesten Gegenden, die wegen dieser Beschaffenheit wenig Gersten bauen, können ihn mit größtem Gewinn ansäen, und die Erfahrung lehret, daß er allda am besten gedeihet. c) Er gewähret uns ausser dem nöthigen Selbstverbrauch noch reichlichen Gewinn, durch den Absatz ins Ausland, und ist daher eines der wichtigsten Landeserzeugnisse zum Handel, und fremdes Geld in Umlauf zu bringen, und gewiß würde er für uns noch einträglicher werden, wenn wir ihn weniger roh, sondern mehr verarbeitet dahin brächten. d) Er beschäftiget eine große Anzahl Menschen mit seiner Zubereitung, und durch Spinnen und Weben verschaffet er im Winter auch dem begüterten Landmann eine gute 74 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 29. den 22. Juny 1809, 122f. Beschluss in Nro. 30, 29. July 1809, 126. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 63 Einnahme. Unbegüterte, alte und schwächliche Leute, ja selbst noch Kinder können sich ihren Unterhalt damit erwerben, und dies ist der Gesundheit noch weniger schädlich, als das Baumwollspinnen, da der Körper beym Spinnen an Händen und Füssen mehr bewegt wird, und der größere Staub des Flachses für Lunge und Augen weniger nachtheilig ist, als der feinere der Baumwolle. e) Die Nutzbarkeit des Leinöls ist in medizinischer Hinsicht bekannt, und leistet auch beym Vieh innerlich und äusserlich gebraucht, bewährte Dienste. Zur Farbe, Beleuchtung und zur Wagenschmiere ist es uns höchst nothwendig, da wir wegen der kalten und veränderlichen Frühlingswitterung Rübsen und andere Oelgewächse nicht mit Vortheil anbauen können. Es ist zwar nicht zu läugnen, daß das Leinöl frisch verbrennet, einen starken Dampf und öligten Geruch verursacht, man kann aber diese Unarten sehr mindern, wenn man es eine Zeitlang liegen und sich gehörig setzen läßt. Das Oelbedürfnis ist hier wichtig, und dem Geringsten unter uns unentbehrlich. Wenn wir nun nicht genug Oel selbst erzielen; so wird eine große Quantität ins Land gebracht, und das Geld kommt durch dessen Rückzahlung aus unsern Händen und aus dem innern Umlauf. Wäre es daher nicht dem Land zuträglicher, den Anbau des Leins zu vermehren, um dadurch auch diesem Uebel etwas abzuhelfen? f) Die Ueberbleibsel des auf der Oelmühle ausgepressten Leins sind den Pferden, Rind- und Schweinevieh sehr gedeihlich. Man läßt sie im Wasser aufweichen, und gebrauchet dieses entweder zum Tränken oder Anmischen. Es führet gelinde ab, erwecket Appetit, befördert das Ausgehen der rauen Winterhaare, und machet das Vieh glatt und glänzend. 75 4. Resümee Als historische Quelle sind die Intelligenzblätter aus landesgeschichtlicher Perspektive mit einem besonderen Mehrwert versehen. Sie nehmen eine nicht zu unterschätzende Rolle als „kulturelles Gedächtnis“ 76 eben der kleinen Strukturen ein. Das Intelligenzblatt ist in der Mitte der damaligen Gesellschaft im Alten Reich angekommen. Eine wichtige Funktion nimmt auch das Bedürfnis nach Unterhaltung ein, das bis heute der sogenannten Yellow Press beachtliche Auflagenzahlen beschert. Das Intelligenzblatt wird spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Marke. Wichtig scheint ab diesem Zeitpunkt auch die Differenzierung zwischen allgemeinem Intelligenzblatt und beispielsweise dem Königlich=baierischen Intelligenzblatt Montegelasscher Prägung. Es ist thematisch und redaktionell als 75 StadtA Kempten, Wochenblatt 1809 (wie Anm. 49), Sonnabend Nro. 30. den 29. July 1809, 126f. 76 A LEIDA A SSMANN , „Erinnerungsräume“. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Tobias Riedl 64 reines Amtsblatt zu sehen. Ein Blick in die „Statuten“ kann diesen Eindruck nur verstärken: I. Auszüge aus den allerhöchst-landesherrlichen Verordnungen, und Bekanntmachungen belehrender ausländischer Verfügungen. II. Vorladungen, […] Steckbriefe und gewöhnliche Schrannenanzeigen. III. Aufsätze a) zur Beförderung der Landwirthschaft; b) zur Beförderung der Gewerbe und Zünfte; c) zur Beförderung des Handels in philosophischer, staatswirtschaftlicher, technischer und historischer Hinsicht […] IV. Bekanntmachungen neuer Erfindungen und Verbesserungen in der Landwirthschaft, den Gewerben und Zünften. V. Inländische Litteratur, in so weit die Schriften auf den Zweck des Intelligenzblattes Einfluß haben, und Bedeutsamkeit getreue Auszüge zuläßt. Weiter schreibt die Redaktion des Intelligenzblattes: Da also das Intelligenzblatt einen großen Umfang hat, so hängt die mögliche Vervollkommnung dessolchen, von dem thätigen Antheile der Freunde des baierischen Wohlstandes vorzüglich ab, welche zur gefälligen Einsendung ihrer Beyträge hiermit aufgefordert werden; man wird den Gebrauch davon machen, und das Nützlich allzeit einrücken. Ungeachtet dieses wichtigen Inhaltes, und des hierzu nöthigen beträchtlichen Kostenaufwandes soll der Preis des ganzen Jahrganges doch nicht höher als 4 fl. sein; es wird alle Samstag ein Bogen ausgegeben und die Zahlung halbjährig entrichtet. 77 Je intensiver die Beschäftigung mit den sogenannten Intelligenzblättern ausfällt, desto schwieriger scheint eine stichfeste Definition. Was jedoch deutlicher hervortritt, sind die kategorialen Ausprägungen, die zu einer guten Unterteilung in verschiedene Klassifikationsklassen führt. Auf systematischer Ebene lassen sich meines Erachtens drei wesentliche Konstanten für die süddeutschen Blätter herausstellen: Auf gesellschaftlicher Ebene entsteht eine breite Öffentlichkeit, auf ökonomischer Ebene werden die Grundlagen für einen offenen Markt gelegt und auf staatlicher/ verwaltungstechnischer Ebene findet eine Institutionalisierung ihrer selbst in der Bevölkerung statt. Ferner: Auf individueller Ebene entsteht hingegen ein vermehrtes Interesse an Neuigkeiten und Nachrichten, Stichwort Unterhaltung. Ein Aspekt sollte an dieser Stelle noch herangezogen werden: das individuelle Agieren von Druckern und Verlegern. Blicken wir dazu in die kleine Reichsstadt Windsheim, wo sich ein durchaus progressiver Intelligenzblatttyp aufspüren ließ. 78 Johann Georg Nothhelfer, ein Rechtsanwalt aus Ansbach, fasst den Entschluss, 77 Universitätsbibliothek Erlangen, Königlich=baierischen Intelligenzblatt 1807, 1 (Signatur: H00/ Z.B 7539). 78 Für diesen Hinweis danke ich sehr herzlich Michael Schlosser, Stadtarchiv Bad Windsheim. Kleine Welten: Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter 65 spätestens am Jahresbeginn 1754 ein Intelligenzblatt herauszugeben. 79 Er war Besitzer und Zeitungsschreiber, Reporter, Redakteur und Verleger in einer Person. Für die Herstellung und den Druck erhielt er fachkundige Unterstützung von Franz Köngott, einem gelernten Drucker, der nach dem Tod Nothhelfers für Johann Gottfried Groß aus Erlangen arbeitete, der die Druckerei erwarb. Die Windsheimer- Zeitung oder Fränckischer Kriegs- und Friedens Both erschien wöchentlich alle Dienstag, Donnerstag und Samstag. Nicht nur der Titel erscheint programmatischer als in Erlangen, nein, auch das Erscheinen kann für die begrenzten Verhältnisse als beachtenswert herausgestellt werden. Bei einem Blick in die thematische Vielfalt des Inhalts wird dem historischen Kenner schnell deutlich, dass es zu Problemen mit der Zensur kommen musste: Inhaltlich widmete sich das Blatt politischen Meldungen aus Europa: Von Kriegs-Zurüstungen, Von Religions-Sachen. Es gab einen Wirtschaftsteil über Handel und Verkehr: Von Commercien, ferner den Weltspiegel mit Meldungen Von Mordthaten und Strassen-Raubereyen und Vermischte Neuigkeiten. Wiederholt wurde der Rat angerufen, da Alliancen eine anstößige und gefährliche Passage wahrgenommen haben wollen. Nothhelfer, der dem Rat nicht nur wegen seiner publizistischen Aktivitäten bereits gut bekannt war, starb noch vor Jahresmitte 1754 und entzog sich so dem drohenden Scheitern seines Projektes, da ein Arbeitsverbot im Raum stand. 80 79 Vgl. Michael Schlosser, Früher Zeitungversuch ohne Erfolg. Druckerei schon nach zwei Jahren verkauft - Neueste Forschung mit Überraschungen, in: Windsheimer Zeitung, Nr. 299, Bad Windsheim 2004. 80 Vgl. S CHLOSSER , Früher Zeitungversuch ohne Erfolg (wie Anm. 79). Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen in Weißenhorn und Krumbach Wolfgang Ott Es ist nicht sehr sinnvoll und zutiefst unwissenschaftlich, sich seine Geschichte von den Gegenständen zusammenbasteln zu lassen, die nun einmal zufällig oder nicht so zufällig überliefert sind, nur deshalb, weil sie ins Museum gehören, in ihm aufbewahrt sind und nur deshalb, weil sie als Gegenstände den Schein der Anschaulichkeit erwecken. 1 Dieses Zitat von Konrad Köstlin, angebracht auf einer symbolischen Baustellenwand, begrüßt die Besucher des von 1992 bis 1996 neu konzipierten und neu aufgestellten Weißenhorner Heimatmuseums und bringt sehr anschaulich zum Ausdruck, welcher Stellenwert dem Sammeln im Museum zukommt. Beispielhaft kann dies anhand der Gründungsgeschichte zweier Heimatmuseen in Bayerisch-Schwaben aufgezeigt werden. Obwohl beide Museen auf den ersten Blick ähnliche Voraussetzungen für ihre Gründung mit sich brachten, nahm ihre Entwicklung doch ganz unterschiedliche Wege. Zu Beginn soll hier kurz das kulturhistorische Umfeld skizziert werden, das eine Atmosphäre schuf, die in mehreren Phasen die Gründung zahlreicher Heimatmuseen begünstigte. Die Wissenschaft spricht von drei Gründungswellen dieser Einrichtung, wobei die erste in der Zeit zwischen 1870 und 1880 anzusiedeln ist, eine Zeit also, in der mit dem Sieg über Frankreich die Reichseinigung und somit der nationale Gedanke gegenüber dem demokratischen in den Vordergrund rückte. Auch bei der zweiten Gründungswelle zwischen 1895 und 1910, in die auch die Gründung des Heimatmuseums in Weißenhorn fällt, spielen nationale und antidemokratische Gedanken 2 eine wichtige Rolle. Sie gehen aber nun einher mit der Angst um den Werteverlust durch die Industrialisierung, die die konservativen Gründerväter dieser Generation gleichsetzen mit Heimatverlust. 1 K ONRAD K ÖSTLIN , Das Museum zwischen Wissenschaftlichkeit und Anschaulichkeit. Zum Verhältnis zwischen Recherche und Präsentation, in: M ARTIN S CHARFE (Hrsg.), Museen in der Provinz. Strukturen, Probleme, Tendenzen, Chancen, (Untersuchungen des Ludwig- Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 54), Tübingen 1982, 47-60, hier 54. 2 Dies lässt sich bis heute sehr gut an den Sammelkonzepten ablesen. So war in dieser zweiten Gründungsphase der Militarismus ein wichtiges Sammelgebiet, eine Tatsache, die politisch bedingt auch in den 1930er und 1940er Jahren kontinuierlich fortgeschrieben wurde. Vgl. dazu auch: M ARTINA S TEBER , Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime (Bürgertum, Neue Folge, Studien zur Zivilgesellschaft 9), Göttingen 2010. Wolfgang Ott 68 Das Zitat des konservativen Verlegers und Schriftstellers Ferdinand Avenarius (1856-1923), Herausgeber der Zeitschrift „Kunstwart“ und Mitbegründer des Dürerbundes im Jahr 1902, spiegelt den Zeitgeist wider, wie er in den bürgerlichen Kreisen zwischen 1900 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges vorherrschte: Geht es so weiter, so ist der deutschen Landschaft Zukunftsbild ein geometrisch korrektes System: Quadrate von Forsten, die mit geraden Fichten in geraden Linien sozusagen schraffiert sind, gerade Streifen von Äckern und Linien von Straßen, mit geraden Stangen eingefasst, gerade Striche von Wegen, gerade „Röhren“ von Flüssen, in denen die Industriejauchen gleiten. So wird aus Gier nach dem Erwerb Stadt und Land verkoppelt und begradigt. 3 Der dritte Gründungsschub fand zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts statt. Ich werde später noch ausführen, dass dies der Zeitraum ist, in den auch die Gründung des Heimatvereins in Krumbach fällt und dessen zaghafter Versuch einer Museumsgründung. Die meisten Gründerväter, die dieser Generation zuzurechnen sind, waren vor allem Angehörige der bürgerlichen Schicht, die der Weimarer Republik ablehnend oder bestenfalls neutral gegenüberstanden. Auch Martin Roth weist in seiner Dissertation „Heimatmuseum, zur Geschichte einer Institution“ aus dem Jahr 1990 auf diesen Aspekt hin: Zwischen 1924 und 1932 wurden ebenso viele Museen gegründet wie zuvor nur im Chauvinismus-Taumel der Vorkriegszeit. Der Begriff der „Heimatmuseumsbewegung“ wurde geprägt. Dies ist jedoch kein Hinweis auf die Auswirkungen einer demokratischen Kulturpolitik, denn retrospektiv lässt sich das Museumswesen der 1920er Jahre genauso mit der nationalsozialistischen Museumspolitik des Wilhelminismus in Verbindung setzen wie prospektiv mit der Volkstums-Ideologie des Nationalsozialismus. Das Heimatmuseum der Weimarer Republik ist vielmehr ein Bindeglied, die Manifestation eines Interims, ein Sammelbecken immer noch und erneut vorzufindender national-orientierter Kultur-Ideale in einer liberalen Zeit. 4 Für die Beschäftigung mit Museums- und Vereinsgründungen in Schwaben ist noch auf eine weitere großartige Arbeit hinzuweisen, nämlich auf die Dissertation von Martina Steber: „Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime“, Göttingen 2010. Frau Steber gelingt es in ihrer Arbeit, vor allem auch die an der Gründung der Museen beteiligten Personen und Vereine in Schwaben in ihrem politisch-historischen Kontext zu zeichnen. 3 Zitiert nach: G ERHARD K RATZSCH , Kunstwart und Dürerbund, Göttingen 1969, 210. 4 M ARTIN R OTH , Heimatmuseum, zur Geschichte einer deutschen Institution, Berlin 1990, 35f. Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen 69 1. Vorgeschichte der Museumsgründung in Weißenhorn Bereits am 12. Juni 1904 beschlossen das „Collegium der Gemeindebevollmächtigten“ und der Stadtmagistrat von Weißenhorn, dass die Stadt Weißenhorn dem 1902 gegründeten „Verein für Volkskunst und Volkskunde“ in München, der 1916 in „Bayerischer Landesverein für Heimatschutz - Verein für Volkskunst und Volkskunde“ umbenannt wurde, beitritt: Das Collegium ist mit dem Beitritt der Stadt Weißenhorn in den nebenstehend bezeichneten Verein einverstanden, beantragt aber, es möchte sich dahier ein Comite bilden und zwar mit dem Hochw. Herrn geistl. Rath Holl einem Herrn Magistratsrath und einem Mitglied aus dem Gemeindekollegium, welche vielleicht im Parterre des Pfarrhofes ein Zimmer zur Aufbewahrung der eventuell dem Verein zufallenden Gegenstände reservieren würden, damit bei seinerzeitigen Gründung eines solchen Vereins durch eine solche kleine Sammlung schon eine Unterlage gebildet wäre. 5 Bereits in dieser frühen Phase überraschte das Kollegium also mit dem Wunsch der Gründung eines Museums. Es reicht den Herren nicht, nur die Mitgliedschaft im „Verein für Volkskunst und Volkskunde“ anzustreben, sondern sie wollen gleich einen Schritt weitergehen und in ihrer Stadt auch ein Museum gründen. Als möglicher Aufbewahrungsort wird, nachdem der Pfarrer im Pfarrhaus keine Möglichkeit zur Unterbringung sieht, das Stadtarchiv als mögliches Depot vorgeschlagen. Im November 1904 erging dann von Seiten der Verwaltung mittels einer Bekanntmachung ein Aufruf an die Stadtbevölkerung: Die beiden Collegien der Stadt Weißenhorn haben die Anlage eines Museums beschlossen und stellen wir deshalb an die Einwohnerschaft die herzliche Bitte, durch Ueberlassung von Alterthümern dieses Museum bereichern zu wollen. Weißenhorn am 10. November 1904 6 Es entwickelte sich in den nächsten Monaten ein reger Schriftverkehr zwischen dem königlichen Bezirksamt Neu-Ulm und der Stadt Weißenhorn bezüglich der Einrichtung dieses Museums, wobei die Unterbringung der bereits gesammelten Objekte eine zentrale Rolle spielte. Im März 1905 wurde von Seiten des Magistrats festgelegt, welche Herren aus dem Kollegium dem neuen Ausschuss beitreten sollten. Ihnen sollte die Aufgabe zufallen, die Einrichtung eines Museums begleitend zu überwachen und das Kollegium über den Verlauf der Arbeiten zu unterrichten. Im April 1905 wurde der Ausschuss, der zunächst aus dem Bürgermeister Hinträger, dem Magistratsrat Weißenhorner und dem Stadtsekretär Reichl bestand, um den Kirchenmaler Albert Heinle und den Baumeister Luitpold Gaiser erweitert. Des Weiteren wurde Dekan Josef Holl angeschrieben und gebeten, ebenfalls diesem Ausschuss beizutreten. Holl antwortete am 9. April 1905, dass er dieser Bitte gerne 5 Stadtarchiv Weißenhorn (St.A. W.), unverzeichneter Bestand, AZ 321. 6 Ebd. Wolfgang Ott 70 Folge leisten wolle, da es mich freut wenn in dieser Beziehung etwas geschieht und erzielt wird. - Vor allem wird man eine passende Räumlichkeit brauchen, 1-2 passende Kaesten u. auch etwas Geld. - Wenn mir etwas vorkommt, was für eine Sammlung geeignet erscheint, will ich es gern derselben zuwenden, kann aber einen besonderen Eifer im Aufspüren und Zusammenbringen alter Sachen nicht versprechen. 7 Die folgenden zwei Jahre vergingen ohne einen schriftlichen Niederschlag. Wir können aber sicherlich davon ausgehen, dass weiterhin gesammelt wurde, denn mit Schreiben vom 8. Februar 1908 berichtete Bürgermeister Harder dem Bezirksamt, dass er von der „Distriktsthierarztenswittwe Walburga Igel“ das in ihrem Besitz befindliche Richtschwert des ehemaligen Scharfrichters Igel für das Museum erworben habe. 2. Die Gründung des Museumsvereins in Weißenhorn Am 19. Februar 1908 wurde dann von Seiten der Bürgerschaft Weißenhorns die Gründung eines Museums in Angriff genommen. Zu diesem Zweck gründete sich unter der Leitung des Geistlichen Rats Dekan Josef Holl, dessen Benefiziaten Eduard Schmid und des Kirchenmalers Albert Heinle sen. ein Museumsverein, der diese Aufgabe zielstrebig anging. Die Gründungsversammlung fand im „Gasthof zum Lamm“ statt, bei der 40 Gründungsmitglieder anwesend waren. In seiner Satzung legte der neue Verein unter §2 seine Ziele fest: Er hat zunächst den Zweck, historisch interessante Gegenstände als Urkunden und Litteralien, Figuren und Bilder, Waffen und Werkzeuge, Münzen und Medaillen, Gefäße und Hausgeräte zu sammeln und in einem von der Stadt zur Verfügung gestellten Lokal aufzubewahren. Dazu soll eine Sammlung naturgeschichtlicher Gegenstände kommen. Auch will der Verein der Geschichte der Umgebung ständige Aufmerksamkeit schenken und das Interesse besonders durch Vorträge, bei denen tagespolitische Fragen ausgeschlossen sind, fördern. Zu diesem Zwecke will der Verein mit benachbarten historischen Vereinen, besonders dem in Neu-Ulm freundliche Beziehungen unterhalten. Auch soll eine Bibliothek von Werken, welche heimatliche und vaterländische Geschichte oder Naturkunde fördern, angelegt und den Mitgliedern zur Benützung gegeben werden. 8 Der „Museumsverein Weißenhorn und Umgebung“ übernahm ab diesem Zeitpunkt die Aufgabe des Sammelns, während der Stadt die Aufgabe zufiel, geeignete Räumlichkeiten zur Aufbewahrung und Präsentation der Objekte zu suchen und dem Verein zur Verfügung zu stellen. Der Museumsgedanke - von den städtischen Kollegien ins Leben gerufen - war also in Weißenhorn auf fruchtbaren Boden gefal- 7 Ebd. 8 Statuten des Museumsvereins für Weißenhorn und Umgebung, Weißenhorn 1908. Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen 71 len, die Bestände mehrten sich zusehends. Der Raumbedarf wuchs quasi jährlich an, so dass immer wieder weitere geeignete Räume zur Unterbringung der Objekte gesucht werden mussten. In einem kleinen Exkurs sollen nun kurz die drei bedeutendsten „Gründerväter“ vorgestellt werden: Dekan Josef Holl, geboren am 7. September 1844 in Aretsried, von Bischof Pankratius von Dinkel am 1. August 1868 in Augsburg zum Priester geweiht. Am 12. Oktober 1868 erhielt er eine Anstellung als Kaplan in Dinkelscherben. Neun Monate später wurde er, nach dem Tod des Pfarrers von Dinkelscherben, Stadtkaplan bei St. Ulrich in Augsburg. Gesundheitlich angeschlagen bat er um Entlassung aus dem Seelsorgedienst und erhielt am 18. Juni 1871 eine Präfektenstelle am bischöflichen Knabenseminar in Dillingen. Wieder genesen meldete er sich 1873 zurück in der Seelsorge und bekam eine Anstellung als Wallfahrtspriester bei „Unseres Herrn Ruhe“ in Friedberg; gleichzeitig war er als Pfarrvikar in Merching tätig. Bis 1877 blieb er in Merching und wurde dann Pfarrer in Hopferau bei Füssen, einer armen abgelegenen Gemeinde. Hier bewies Holl Qualitäten in der Formulierung von Eingaben, so dass es ihm gelang, Zuschüsse beim Landtag für seine Gemeinde zu bekommen. In politischen Kreisen nannte man ihn darum auch den „federgewaltigen Pfarrer von Hopferau". 9 1883 kam er dann als Stadtpfarrer auf die frei gewordene Stadtpfarrstelle in Weißenhorn. Hier wirkte er bis zu seinem Tode am 8. September 1909. 10 Eduard Schmid, geboren am 7. November 1877 in Muttensweiler, Pfarrei Steinhausen im Landkreis Biberach an der Riß. Nach seinem Studium im Priesterseminar in Dillingen wurde er am 27. Juli 1902 zum Priester geweiht. Er war von 1902-1903 Stadtkaplan in Krumbach, von 1903-1906 in Neu-Ulm, wirkte von 1906-1909 als Benefiziat in Weißenhorn und von 1909-1920 als Pfarrer in Senden. Im gleichen Jahre wurde er auf Präsentationen des Grafen Fugger von Kirchberg-Weißenhorn als Nachfolger des verstorbenen Stadtpfarrers Anton Steidle Stadtpfarrer von Weißenhorn und blieb es bis zu seiner Resignation im August 1946. Eduard Schmid starb am 31. Juli 1950 in Weißenhorn. Albert Heinle sen., geboren am 17. Dezember 1862 in Weißenhorn, kam nach seiner Lehrzeit bei dem Babenhausener Kirchenmaler Stury anfangs der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts nach München. Dort fand er, vermutlich auf eigenes Bestreben hin, eine Anstellung in der Werkstatt des Kirchenmalers Hugo Barthel- 9 J OSEF S TEIDLE , Josef Holl, k. geistl. Rat, Dekan und Stadtpfarrer von Weißenhorn. 1844- 1909. Trauerrede gehalten von SR. Gnaden dem Hochw. Herrn Prälat Dr. Kögel, Domprobst in Augsburg (Biographische Skizze von Benefiziat Josef Steidle), Weißenhorn o. J. [1909]. 10 W OLFGANG O TT , Josef Holl (1844-1909). Königlich geistlicher Rat, Dekan, Stadtpfarrer, Chronist und Ehrenbürger der Stadt Weißenhorn, in: Geschichte im Landkreis Neu-Ulm 10 (2004), 91-105. Wolfgang Ott 72 me. Barthelme hatte 1868/ 69 die Deckengemälde der neu erbauten Weißenhorner Stadtpfarrkirche ausgeführt. Heinles München-Aufenthalt fällt in eine Zeit, in der das Kunstgewerbe, und hier insbesondere die Dekorationsmalerei, in München durch die Ausgestaltung verschiedenster öffentlicher Bauten stark an Bedeutung gewonnen hatte. 1891 kam er zurück nach Weißenhorn und gründete hier eine Kirchenmalerwerkstatt, die nach seinem Tode am 21. Dezember 1934 von seinen Söhnen Albert und Karl übernommen wurde. Für alle drei „Gründerväter“ war die konservative Grundeinstellung auch Antrieb zur Gründung des Heimatmuseums, wobei Ihre Anteile sehr unterschiedlich zu bewerten sind. Während der Kirchenmaler Albert Heinle sich vor allem als Wächter des „guten Geschmacks“ verstand - für ihn ging durch die Industrialisierung wertvolle Handwerkskunst verloren -, waren die beiden Geistlichen für das theoretische Fundament und die Forschungsarbeit im Verein zuständig. Als Initialzündung für das gesamte Vorhaben dürfte die 1904 von Josef Holl verfasste und bei Josef Kösel in Kempten erschienene „Geschichte der Stadt Weißenhorn“ 11 gelten. Holl hatte sich seit seiner Ankunft in Weißenhorn mit der Geschichte der Stadt beschäftigt und schon vor 1904 durch Einzelveröffentlichungen, etwa über die Geschichte des Bauernkriegs in der Region, auf seine historischen Ambitionen aufmerksam gemacht. Ab 1885 entfaltete er als Präses des Gesellenvereins eine immens fleißige Vortragstätigkeit im Vereinslokal. Hier erkannte er in seiner Vortragsarbeit ein Mittel, die Gesellen weiterzubilden und sie vor den Gefahren des Sozialismus und Liberalismus zu schützen. Seine Vortragsthemen waren auf allen Wissensgebieten angesiedelt. Der Geistliche zeigte sich als Universalgelehrter: Kunstgeschichtliche Themen, Architektur, Literatur, rechtswissenschaftliche und historische Themen wurden ebenso von ihm als Referent abgedeckt wie Reiseberichte oder Themen aus der Tagespolitik. So referierte er 1898 in zwei Vorträgen ausführlich über den „papiernen Fels der Sozialdemokratie“, was im Protokoll des Gesellenvereins als „schonungslose Bloßlegung der Fundamente des Materialismus“ 12 festgehalten wurde. Zwei Wochen später wurde das „Erfurter-Programm der Sozialdemokratie“ von Holl unter die Lupe genommen und auf dieselbe Art und Weise „bloßgelegt“. Noch zehn Jahre später beschäftigte ihn das Vortragsthema unter dem Titel „Über den Ursprung und die Grundlehren des Liberalismus als Weltanschauung“ - der Chronist des Gesellenvereins schreibt: sämtliche Reden sehr gut vorbereitet und leicht verständlich. Neben der Historie lag ihm aber auch die Kunstgeschichte sehr am Herzen. Kunst- und Baugeschichte wurden durch Vorträge über das Ulmer Münster, die 11 J OSEPH H OLL , Geschichte der Stadt Weißenhorn, Neudruck nach der Ausgabe von 1904, Weißenhorn 1983. 12 Diözesanarchiv Augsburg, Chronikband des Katholischen Gesellenvereins Weißenhorn 1854-1908,. Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen 73 Baugeschichte des Mittelalters oder in einem seiner zahlreich vorgetragenen Reiseberichte anschaulich und lebendig. Er war es auch, der den Weißenhorner Kunstmaler Konrad Huber (1752-1830) in einer Monographie 1890 als erster würdigte. Aber auch lokalhistorische Themen fehlten bei seinen Vortragsabenden nicht. So wurden immer wieder Einzelaspekte aus der später veröffentlichten „Stadtgeschichte“ in Referaten behandelt. Dies führte sicherlich auch dazu, dass die auf diese Art und Weise auf Geschichte eingestimmten Gesellen und Bürger nicht nur die 1904 erschienene Stadtgeschichte erwarben, sondern auch dem Museumsgedanken sehr offen gegenüberstanden. Wie oben erwähnt war Eduard Schmid 1906 nach Weißenhorn gekommen und hatte sicherlich auch einen großen Anteil daran, die in den Anfängen steckengebliebene Museumsgründung weiter voranzutreiben. Sein Interesse lag in der Zeit seines Benefiziats in Weißenhorn 1906-1909 schwerpunktmäßig auf der Geschichte. Ihm ist es zu verdanken, dass in dieser Zeit das Weißenhorner Stadtarchiv geordnet wurde. Sein Repertorium ist auch heute noch Hilfs- und Arbeitsmittel im Archiv. Nach seiner Rückkehr aus Senden 1920 hatte er in Weißenhorn auch weiter daran gearbeitet und ebenfalls wie sein Vorgänger publiziert, wobei ihm die Vor- und Frühgeschichte besonders am Herzen lag. Er war es auch, der 1908/ 09 den Fragebogen des bayerischen Vereins für Volkskunst und Volkskunde über volkstümliche Überlieferungen und Gebräuche für die Stadt Weißenhorn gewissenhaft ausfüllte und zurücksandte. In ihm sah Holl sicher auch einen Bundesgenossen bezüglich des Museumsgedankens und der historischen Forschung. Zurück zu Albert Heinle, der sich nach der Gründung seiner Kirchenmalerwerkstatt auch aktiv am politischen und gesellschaftlichen Leben in der Stadt beteiligte. So war er unter anderem auch Mitinitiator der Weißenhorner Gewerbeausstellung im Jahr 1908, die vier Monate nach der Museumsgründung ausgerichtet wurde. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf die Rolle und den großen Anteil der Gewerbeausstellungen hinweisen, die diese im Rahmen der Gründung von Heimatmuseen in dieser Zeit einnahmen. 13 In einem Bericht über die Gewerbeausstellung, übrigens eine Jubiläumsausstellung aus Anlass der 25. Wiederkehr der Gründung des Gewerbevereins, wird noch einmal der Ansatz deutlich, der gerade von Seiten der Handwerkerschaft zur Gründung von Museen führte: Wer dann die geschmückten Ausstellungsgebäude, die Schrannen- und Turnhalle, verlassen hat, der lenke seine Schritte hin zu dem alten ehrwürdigen oberen Tor und werfe auch dort noch einen Blick in Weißenhorns Vergangenheit, wie sie sich uns im Museum zeigt. […] Sehen wir in der Ausstellung Handwerk und Industrie auf der Höhe der Gegenwart, so vertiefen wir uns hier in die gutalte Zeit und bewundern neben den geschmackvollen Formen der farbenreichen Malereien die soliden Möbel u. gemütlichen 13 B ARBARA M UNDT , Die deutschen Kunstgewerbemuseen im 19. Jahrhundert, München 1974. Wolfgang Ott 74 Hauseinrichtungsgegenstände. Wir sehen neben Zunftwappen, die Zeichen der Einheit, die alten Handwerkszeuge, mit denen trotz ihrer Einfachheit die alten Meister so Schönes zu Stande brachten. Daneben finden wir schöne Sachen in der Waffen- und Münzsammlung, unter den Zunftgegenständen und Literalien. Darum kommet alle, sehet und lernet! “ 14 Die Beteiligung an der Weißenhorner Gewerbeausstellung machte das Museum und seine Tätigkeit populär. Neben der Sammeltätigkeit war das Wirken des Museumsvereins durch eine überaus rege Vereinstätigkeit charakterisiert: Exkursionen, zahlreiche Museumsbesuche und regelmäßige Vorträge, darunter auch auswärtige Referenten, die Themen aus den Bereichen Geschichte, Kunstgeschichte und Volkskunde zum Gegenstand hatten. Diese intensive Beschäftigung mit der regionalen Geschichte diente der Weiterbildung der Museumsverantwortlichen, aber auch der Vereinsmitglieder. Die Gründer des Museumsvereins waren von Anfang an daran interessiert, mit anderen Museen und Museumsvereinen in Kontakt zu treten. Ergebnis dieser Bemühungen ist ein großer Bestand an heimatgeschichtlichen Publikationen, der durch Schriftentausch in die Museumsbibliothek gelangte. Daneben wurden regelmäßig Weiterbildungskurse für Museumspersonal besucht und es wurde am Leben des Schwäbischen Museumsverbands aktiv teilgenommen. Auch mit dem Historischen Verein Neu-Ulm hatte sich, nach anfänglichen Schwierigkeiten, eine sehr konstruktive Zusammenarbeit entwickelt. So schrieben viele Heimatforscher für beide Vereinspublikationen, den „Mitteilungen des Museumsvereins Weißenhorn und Umgebung“ und „Aus dem Ulmer Winkel. Mitteilungen des Historischen Vereins Neu-Ulm“. Des Weiteren wurden die Ergebnisse intensiver Quellenforschungen oder archäologischer Grabungen von den jeweiligen Forschern im Rahmen von Vereinsabenden vor einem interessierten Publikum referiert und diskutiert. Viele Geistliche aus der Region wirkten dabei kräftig mit. In seinem Rückblick zum 25-jährigen Vereinsjubiläum resümierte Albert Heinle jr.: Dem Museumsverein war es in den 25 Jahren seines Bestehens besonderes Bestreben gewesen, durch öffentliche belehrende und aufklärende Vorträge, Veranstaltungen und Ausflüge Verständnis und Liebe zur heimatlichen Scholle, der Kunst und Geschichte zu wecken und zu fördern. Er hat damit eine schöne Kulturarbeit geleistet. 15 Als wichtige Mitarbeiter bei all diesen Projekten nannte Heinle weiter: den Kammerer und Schuldekan Eberle von Illerberg, Dekan Kolb von Wullenstetten, Pfarrer Christa aus Untereichen, den Stadtprediger Anton Heinle von Friedberg, Dr. Eberl, Kreisheimatpfleger in Obergünzburg und den Landgerichtsrat Häcker aus Ulm. 16 Sie alle hatten sich auch mit Beiträgen in den „Mitteilungen des Museumsvereins Weißenhorn und Umgebung“, die ab 1908 als regelmäßige Beilage 14 Rothtal-Bote 1908, 35. Jg., Nr. 107, vom 12. September 1908, 1. 15 Mitteilungen des Museumsvereins Weißenhorn u. Umgebung, Nr. 2 u. 3, 5. Mai 1933, 4. 16 Rothtal-Bote 1908, 35. Jg., Nr. 107, vom 12. September 1908, 4. Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen 75 im „Rothtalboten“ erschienen, beteiligt. Der Museumsverein, das Museum und seine Tätigkeit hatten dadurch in der Bevölkerung einen hohen Bekanntheitsgrad erworben. 3. Vorgeschichte der Museumsgründung in Krumbach Doch nun wieder zurück ins Jahr 1908 und zur ersten Gemeinsamkeit bei den Museumsgründungen in Weißenhorn und Krumbach. Im Dezember 1908 lud der Museumsverein Weißenhorn und Umgebung den Bauamtsassessor Dr. Otto Löhner aus München als Referenten nach Weißenhorn ein. Die Münchner Neuesten Nachrichten berichteten am 9. Dezember 1908: Weißenhorn. (Förderung der heimischen Bauweise und Denkmalspflege) Auf Einladung des Museumsvereins Weißenhorn und Umgebung hielt kürzlich Bauamtsassessor Dr. Otto Löhner aus München einen Vortrag über heimische Bauweise, die sich nach dem Grundsatze richten soll: möglichste Zweckmäßigkeit und Einfachheit verbunden mit einem gefälligen Aeußern, das sich in die landschaftliche oder bauliche Umgebung harmonisch einfügt. Der lebendige Vortrag und die von Photograph Rehse (in Firma Rehse und Co.) aus München vorgeführten scharfen, plastisch hervortretenden Lichtbilder zeigten schöne und mustergültige Beispiele aus Stadt und Land, doch wurde auch mancherlei Mängel, wie z. B. auf die Uebertünchung der Fachwerke, verfehlten Ein- und Neubau in Wort und Bild hingewiesen. Besondere Anerkennung fanden auch Skizzen, die der Bayerische Verein für Volkskunst und Volkskunde für Städte, Märkte und Dörfer unter Wahrung der Zweckmäßigkeit, Einfachheit und Anpassung an die Umgebung herstellen ließ, die ebenfalls in Lichtbildern gezeigt wurden. Das Anerbieten des Vereins, angefertigte Skizzen nach den Grundsätzen der heimischen Bauweise zu begutachten, wurde allseits mit Freuden begrüßt. Der Vortrag wurde bald darauf in Krumbach wiederholt mit dem Erfolg, daß dort noch am gleichen Abend ein Museumsverein gegründet wurde. 17 Dass dies jedoch nicht der Fall war, obwohl bis 1991 in der Museumsliteratur 18 das Jahr 1908 als Gründungsdatum des Krumbacher Museums genannt wurde, zeigt der am 5. Dezember 1908 im „Krumbacher Boten“ erschienene Bericht zur selben Veranstaltung, bei der sich am Ende des Vortrags Bezirksamtmann Riedel zu Wort meldete: Auch Herr Bezirksamtmann Riedel forderte auf zu praktischer Betätigung auf dem Gebiete des Heimatschutzes, indem er dem Wunsche Ausdruck verlieh, es möchte recht bald nach dem Vorbilde anderer Bezirke auch im Amtsbezirk Krumbach 17 Münchner Neueste Nachrichten, Mittwoch, 9. Dez. 1908, 61. Jg. Nr. 577. 18 O SWALD A. E RICH , Die deutschen Museen: Die Museen in Bayern (Minerva Handbücher, 3 Bde.), Bd. 1, Berlin 1939, 186; H ANS F REI (Hrsg.), Museen in Schwaben, Augsburg 1991, 88. Wolfgang Ott 76 ein Bezirksmuseum errichtet werden, welches Raum bieten würde, um die noch vorhandenen Altertümer des Bezirkes sowie wertvolle Erzeugnisse der Kunst und des Kunsthandwerks früherer Zeiten vor dem Verderben zu retten und der Nachwelt zu überliefern. Da diese Anregung seitens der Versammlung lebhafte Zustimmung fand, wurde sofort ein Komitee gebildet, welches die notwendigen Vorarbeiten für Gründung des Bezirksmuseums beraten soll. In recht baldiger Verwirklichung des Museumsgedankens erblicken wir den schönsten Erfolg des gestrigen Nachmittages. 19 Amtmann Ernst Riedel (1867-1937) war als Bezirksamtmann 1907 nach Krumbach gekommen. Ein Amt, das er bis 1932 innehatte. Auch er ist dem konservativen Bürgertum zuzurechnen und er war es auch, der den Referenten Dr. Otto Löhner zum Vortrag nach Krumbach eingeladen hatte. Zu der Veranstaltung, die im Saal der „Brauerei zum Weißen Roß“ stattgefunden hatte, waren etwa 600 Zuhörer gekommen. Riedels Aufruf am Ende der Veranstaltung fiel sicher auf fruchtbaren Boden, aber die Initiatoren, die sich in einem Komitee zusammenfinden sollten, waren nicht in Sicht. An dieser Stelle sei auch daran erinnert, dass die Stadt Krumbach Sitz eines Bezirksamtes war, was die Bedeutung einer Museumsgründung im Vergleich zum „Landstädtchen“ Weißenhorn aufgewertet hätte. Obwohl also keine Museumsgründung stattgefunden hatte, lässt sich aus Ankäufen Riedels erkennen, dass er bereits zu dieser Zeit Objekte für ein später noch zu gründendes Museum erwarb. In den späteren Inventaren von Krumbach erscheinen dementsprechend gekennzeichnete Exponate. Wenn wir noch einmal den Vergleich mit Weißenhorn ziehen, so wurde im Jahr 1908 in Krumbach auch niemand gefunden, der den Fragebogen des Vereins für Volkskunst und Volkskunde ausgefüllt hätte. Es gibt auch keine Hinweise, dass sich die damalige Geistlichkeit, wie etwa im Kapitel Weißenhorn, mit historischen Fragen beschäftigt hätte. Auf eine wichtige Arbeit sei allerdings hingewiesen: Die 1940 erschienene Stadtgeschichte von Krumbach und Hürben des Ichenhausener Pfarrers Heinrich Sinz. 20 Durch den Appell von Riedel fühlten sich aber dann doch noch weitere Krumbacher zum Sammeln aufgefordert. Vor allem Handwerksmeister wie der Schmiedemeister Scheiter, der eine kleine Beschlägefirma führte und nun begann Beschläge und Türschlösser zu sammeln. Des Weiteren der Zinngießermeister Franz Hofmeister, der bereits eine kleine kunsthandwerkliche Privatsammlung zusammengetragen hatte und dem Museumsgedanken sehr aufgeschlossen gegenüberstand. Trotzdem fehlten in Krumbach wichtige Faktoren wie konkrete Unterstützung durch die Stadtverwaltung und eine größere Gruppe historisch interessierter Personen aus dem bürgerlichen Umfeld. Erst im Zuge der oben erwähnten dritten Gründungswelle 19 Krumbacher Bote vom 5. Dezember 1908. 20 Vgl. hierzu: S ILVESTER L ECHNER , Ein Hürbener, der nationalsozialistischer Geschichtsfälschung widerstand, in: Krumbacher Heimatblätter. Mitteilungen des Heimatvereins für den Landkreis Krumbach e.V.,4/ 5 II/ III (1988), 134-137. Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen 77 konnte im Jahr 1932 ein Heimatverein gegründet werden, der den Gedanken einer Museumsgründung unterstützte. Im Protokollbuch dieses Vereins heißt es unter der Rubrik „Vorgeschichte“: Leider hat es schon damals an den geeigneten Räumlichkeiten für die Unterbringung gefehlt und überhaupt auch an der tatkräftigen Mitarbeit für diesen Zweck. 21 4. Gründung des Heimatvereins und Museums in Krumbach Seit längerer Zeit sind in unserer Stadt Bestrebungen im Gange, das schon vor Jahren geplante Heimatmuseum ins Leben zu rufen. Krumbacher Handwerksmeister, voran Herr Franz Hofmeister, wagten es trotz der mißlichen Zeit, den Gedanken neu aufzugreifen, und fanden sofort die Unterstützung des Bezirksamtsvorstandes, Herr Oberregierungsrat Riedel welch letzterer sich in einer Vorbesprechung bereit erklärte den Vorsitz im provisorischen Ausschuss zu übernehmen. Nach mehreren Beratungen und Sondierungen wurde nun für gestrigen Dienstag im Bärensaal in Krumbach eine Versammlung zwecks Gründung eines Heimatvereins angesetzt, die von großem Interesse zeugte. 22 Aus dem Protokollbuch des Heimatvereins Krumbach erfahren wir weiter, dass am 7. Juli 1931 eine von Franz Hofmeister einberufene erste Besprechung stattgefunden hatte. Eingeladen waren vor allem höhere Beamte, Lehrer, Geistliche und Handwerksmeister. Von den 18 Teilnehmern, die das Protokoll erwähnt, sind die Namen leider nicht bekannt. Besprechungen mit Ernst Riedel folgten am 8. und 21. Juli, denen weitere Besprechungen im September und November folgten. Bei der Sitzung vom 23. November 1931 konnte der Versammlungsleiter Riedel Hauptkonservator Ohlenroth aus Augsburg und den Benefiziaten Dr. Barthel Eberl, Heimatpfleger von Schwaben und Neuburg, begrüßen. Beide referierten über praktische Museumsarbeit. Diese Sitzung, die die Gründung eines Museums in Krumbach zum Ziel gehabt hatte, führte jedoch nicht zum gewünschten Ergebnis. Erst am 29. März 1932 konnte schließlich auf einer Versammlung, auf der 100 Teilnehmer erschienen waren, der „Heimatverein für den Bezirk Krumbach“ gegründet werden. Nach einer Einführung von Oberregierungsrat Ernst Riedel folgte ein Vortrag von Dr. Eberl über den „Gang der Besiedlung in Krumbach“, an den sich die Regularien anschlossen. Die vorgelegte Satzung wurde genehmigt und als erster Vorsitzender Ernst Riedel gewählt. Zweiter Vorsitzender wurde Bürgermeister Dr. Max Sailer. Als Ausschussmitglieder wurden Bezirksschulrat Rösch, Thannhausen, Pfarrer Karl Schilcher, Hasberg, Hauptlehrer Georg Beittinger, Deisenhausen, Bürgermeister Anton Dirr, Nattenhausen, Pfarrer Bobinger, Aichen, gewählt. Zinngießermeis- 21 Protokollbuch des Heimatvereins e.V. für den Bezirk Krumbach, 1932-1952. 22 Krumbacher Bote vom 30. März 1932. Wolfgang Ott 78 ter Franz Hofmeister wurde Schriftführer, Schlossermeister Hans Scheiter Kassier und Malermeister Richard Hilber übernahm das Amt des Konservators im Museum. 23 Die drei letztgenannten bemühten sich ab diesem Zeitpunkt vorrangig um den Aufbau des Museums. Der Aufbau verzögerte sich jedoch, da geeignete Räumlichkeiten fehlten. Die Vereinstätigkeit beschränkte sich in dieser Zeit auf Vorträge und Exkursionen. Im Folgenden sollen auch für Krumbach die beiden ersten Paragraphen der Satzung zitiert werden, die sich von der Weißenhorner insbesondere dadurch unterscheidet, dass weniger gezielt auf die Aufgabe des Sammelns eingegangen wird. Schon die Bezeichnung des Vereins - in Weißenhorn wurde ein „Museumsverein“ gegründet, in Krumbach ein „Heimatverein für den Bezirk“ - macht die Unterschiede im Aufgabenkanon deutlich: Der Verein führt den Namen: „Heimatverein für den Bezirk Krumbach“. Er hat seinen Sitz in Krumbach. Er soll in das Vereinsregister eingetragen werden. §2. Aufgaben und Wirksamkeit. Der Verein stellt sich als Aufgabe: 1.) Schutz und Erhaltung der Boden-Bau und Kunstdenkmale der Vergangenheit. 2.) Weckung der Liebe und des Verständnisses für alle naturgeschichtlich, geschichtlich und künstlerisch bedeutsamen Gegenstände der Heimat. Diese Ziele will er erreichen: a.) durch Ausbau eines Bezirksmuseums, b.) durch Veranstaltung von Versammlungen und Abhaltung von Vorträgen, c.) durch den Beitritt zum Schwäbischen Museums-Verband und rege Verbindung mit Vereinen gleicher Art. Mit der Gründung des Vereins wurde auch Kontakt zum Museumsverein in Weißenhorn aufgenommen. Vor allem zwischen Franz Hofmeister und dem nur drei Jahre älteren Albert Heinle jun., er hatte nach dem Tod seines Vaters 1934 das Amt des Konservators in Weißenhorn übernommen, entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, die sich in einem regen Schriftverkehr niederschlug. Vor allem für Hofmeister und auch für die anderen aktiven Mitglieder in Krumbach waren vorerst das Heimatmuseum und die Vereinsarbeit in Weißenhorn in jeder Hinsicht Vorbild. Die Vereinstätigkeit in Krumbach schlief jedoch bald nach der Gründung wieder ein. 1937 starb der erste Vorsitzende Ernst Riedel, der zweite Vorsitzende Bürgermeister Dr. Sailer war zwischenzeitlich weggezogen. Ein Rundschreiben des Heimatpflegers für den Gau Schwaben, Dr. Barthel Eberl, im Dezember 1937 bot für Franz Hofmeister den Anlass, nach fünf Jahren Pause am 18. Februar 1938 eine 23 G OTTFRIED H OFMEISTER , Heimatverein, Heimatpflege und Heimatmuseum in Krumbach. Ein Rückblick, in: Krumbacher Heimatblätter 7/ 1989 (wie Anm. 20), 40. Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen 79 ordentliche Mitgliederversammlung einzuberufen. Hauptpunkt der Versammlung war die von den Nationalsozialisten geforderte Gleichschaltung und damit die Überführung des Heimatvereins in den „Schwäbischen Heimatdienst für den Bezirk Krumbach“. Da sowohl der Weißenhorner Heimat- und Museumsverein und sein Museum als auch der Heimatverein für den Bezirk Krumbach und seine Sammlung von diesem Rundschreiben betroffen waren, möchte ich kurz zitieren: Die Durchführung der heimatkundlichen und heimatgeschichtlichen Aufgaben auf allen einschlägigen Fachgebieten verlangt angesichts der gewaltig gesteigerten Anforderungen einen Neuaufbau und eine Neubelebung der Arbeit der Heimatvereine. […] Die gesamte im nationalsozialistischen Staate so sehr betonte Heimatarbeit braucht also die Vereine. Sie müssen aber die Arbeit zweckentsprechend und allseitig leisten können. Eine Zersplitterung der Kräfte in viele zu kleine Organisationen lässt dieses Ziel nicht erreichen allein schon im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Kräfte. Ein einziger starker Verein in jedem Bezirk, der alle im Bezirk vorhandenen Kräfte zusammenschließt und auf den verschiedenen Fachgebieten einsetzt, ist die richtige Lösung. […] Die Führung des Vereins muss nationalsozialistisch sein. Als Führer des Heimatdienstes kommt deshalb nur ein Parteigenosse der NSDAP in Betracht. Die künftige Arbeit und Werbung der Vereine wird gerade aus ihrer nationalsozialistischen Einstellung heraus einen besonderen Auftrieb erhalten müssen. 24 Auf dieser Sitzung wurde Christian Wallenreiter (1900-1980) 25 zum neuen Vorstand gewählt. Er war bereits 1929 nach Krumbach gekommen und war dort als stellvertretender Behördenleiter am Bezirksamt tätig. Nach der Versammlung vom 18. Februar 1938 bricht auch die Überlieferung im Protokollbuch des Vereins ab, somit auch die über die Einrichtung des Museums, die 1938 durch den Kauf des jüdischen Anwesens Neuburger erst richtig eingesetzt hatte. Dasselbe gilt für Weißenhorn, auch dort brachen nach der erzwungenen Auflösung des Vereins 1938 die Aufzeichnungen ab, ja selbst das Eingangsbuch wurde nicht mehr fortgeschrieben. Die Generalversammlung zur Auflösung des Weißenhorner Heimat- und Museumsvereins hatte dort bereits am 15. Januar 1938 mit dem Ergebnis stattgefunden, dass der Museumsverein in den „Heimatdienst des Bezirks Neu-Ulm“ überführt wurde. In diesem Zusammenhang ist allerdings auf eine bemerkenswerte Besonderheit hinzuweisen: Da bis zu diesem Zeitpunkt das Museum mit seinen Beständen Eigentum des Heimat- und Museumsvereins war, begegnete man der Verlagerung in die Bezirksstadt Neu-Ulm, also einem Totalver- 24 Stadtarchiv Weißenhorn, unverzeichneter Bestand, AZ 321. 25 G EORG S IMNACHER / A LBERT S CHARF , Christian Wallenreiter (1900-1980). Förderer schwäbischer Kultur- und Heimatpflege (Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, Schwäbische Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte Veröffentlichungen Reihe 3, 15), Weißenhorn 1997, 327-335. Wolfgang Ott 80 lust für Weißenhorn, indem noch am selben Abend das gesamte Sammlungsgut des Museumsvereins der Stadt Weißenhorn übereignet wurde. 26 Zurück nach Krumbach: Anfang Mai 1938 besichtigte der Landeskonservator Dr. Josef Maria Ritz das Sammlungsgut. Damit verbunden war ein Besuch des Anwesens der Berta Neuburger 27 in der Augsburger Straße, heute Heinrich-Sinz-Straße 5, ein jüdisches Anwesen, das zur Einrichtung eines Museums als geeignet erschien. Am 2. Juli 1938 wurde der Kaufvertrag notariell beglaubigt. Das Museumsgut wurde dorthin verlagert und im ersten Obergeschoss wurde damit begonnen, museale Wohnensembles einzurichten. Das Museumskonzept des Landeskonservators Joseph Maria Ritz verfolgte zunächst jedoch eine dezentrale Lösung. Aufgrund der relativ spät einsetzenden Sammeltätigkeit in Krumbach und der daraus resultierenden nicht mehr allumfassenden Objektlage sollten zusammen mit den umliegenden Städten Schwerpunktmuseen gebildet werden. Dabei war Krumbach als Handwerkermuseum vorgesehen: Töpferei, Schmiede, Schreinerei, Wachszieherei und bürgerliches Wohnen sollten den Kern bilden. Volksfrömmigkeit, Volkskunst, Möbelgeschichte und heimische Kunstgeschichte sollten im Weißenhorner Heimatmuseum gezeigt werden, römische Geschichte in Günzburg und die Vor- und Frühgeschichte im Neu-Ulmer Heimatmuseum. Im Schriftverkehr des Weißenhorner Museums finden sich dazu entsprechende Aufzeichnungen. Bereits im April 1938 wurde Frau Dr. Emma Pressmar, eine Vor- und Frühgeschichtlerin, eingestellt. Finanziert sollte diese Stelle von den beteiligten Städten werden. Mit Kriegsausbruch wurde jedoch dieses Projekt nicht weiter verfolgt, Frau Pressmar wechselte in den Schuldienst. Das führte dazu, dass die lokalen Museen wieder getrennt ihre Aufgabe in Angriff nahmen. In Krumbach geschah dies durch Franz Hofmeister, in Weißenhorn durch Albert Heinle jun. Anhand des Schriftverkehrs können wir den Fortgang der Arbeiten in Verbindung mit der Betreuung der beiden Konservatoren durch die zuständigen Ämter in München und Augsburg verfolgen. Franz Hofmeister ging zusammen mit Hans Scheitter, Richard Hilber und Christian Wallenreiter an den Ausbau des Museums. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs behinderten jedoch immer stärker den Fortgang der Arbeiten. Trotzdem gelang es den Akteuren in Krumbach bis Kriegsende, eine Reihe von Räumen fast vollständig einzurichten. Ebenso in Weißenhorn. Dort hatten die Arbeiten bereits 1934, möglich geworden durch eine größere Erweiterung in den Räumen des ehemaligen Postamts, 26 Protokollbuch des Museumsvereins Weißenhorn und Umgebung 1933-1938, 68-77. 27 Berta Neuburger, geb. am 16. Juni 1890, wurde am 1. April 1942 nach Piaski (Polen) deportiert und dort ermordet. Vgl. dazu: B ARBARA S ALLINGER , Zum Schicksal der jüdischen Gemeinde in Krumbach im Dritten Reich, in: Krumbacher Heimatblätter (wie Anm. 20) 4/ 5 II/ III (1988), 19-62. Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen 81 neue Qualitäten angenommen. Gleichzeitig mit der Erweiterung waren auch interessante Neuzugänge zu registrieren. 1937 konnte ein weiteres Stockwerk mit ca. 200 qm dem Museum zugeschlagen werden und im Jahr 1940 konnte sich das Heimatmuseum noch einmal um 200 qm erweitern. Die Arbeiten am Museum wurden bis ins Jahr 1944 fortgeführt und konnten nach kurzer Unterbrechung bereits Mitte 1945 wiederaufgenommen werden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass im September 1947 zur Eröffnung geladen wurde: Nach einer in den vergangenen Jahren durchgeführten, umfangreichen Neugestaltung des Heimatmuseums in Weißenhorn findet im Einvernehmen mit dem Bayerischen Landesamt für Heimatpflege in München, am Samstag, den 20. September 1947, die offizielle Eröffnung des Museums statt. Am Freitag, den 19. September 1947, 20 Uhr, wird in der Stadthalle Weißenhorn ein gesellschaftlicher Abend als Einleitung vorausgehen mit Vortrag vom Museumspfleger des Landes Bayern, Herrn Hauptkonservator DR. J. M. Ritz, München über: „Die Bedeutung der Heimatmuseen“. 28 In Krumbach dauerte es noch drei weitere Jahre, bis das Museum der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte. Anlässlich des Schwäbischen Heimattages am 3. September 1950 wurde das Museum unter Beteiligung zahlreicher Ehrengäste ebenfalls von Joseph Maria Ritz eröffnet. Abschließend stellt sich nun die Frage, welche Faktoren die frühe Gründung des Heimatmuseums in Weißenhorn begünstigt hatten, bzw. welche Faktoren zum Scheitern der Museumsgründung zur gleichen Zeit im benachbarten Krumbach geführt hatten. Generell ist die Quellenlage für die Aufarbeitung der Geschichte des Weißenhorner Heimatmuseums bedeutend besser als die in Krumbach. In Weißenhorn hat sich der gesamte Schriftverkehr mit dem Landesamt für Denkmalpflege erhalten. Aus diesem Schriftverkehr geht hervor, dass den Gründervätern die große Ausstellung für Volkskunst 1901 in Kaufbeuren bekannt war und der dazugehörige Ausstellungskatalog selbstverständlich in der Museumsbibliothek vorhanden war. Ebenso sind die „Deutschen Gaue“ des Riehl-Schülers Christian Frank in der Bibliothek vorhanden und von Josef Holl ist uns bekannt, dass er die Hefte ab 1899 abonniert hatte. Die Stadt Weißenhorn war zudem ab 1902 Mitglied im Freundeskreis des Germanischen Nationalmuseums, das aus Anlass seines 50-jährigen Bestehens 1902 den Trakt mit Bauernstuben als Teil der Volkskundlichen Abteilung eingerichtet hatte. Man kann sicher davon ausgehen, dass die Ausstellungen sowohl von Kaufbeuren als auch von Nürnberg einen großen Einfluss auf die Weißenhorner Gründerväter bei der Einrichtung ihres Museums hatten. Das Weißenhorner Heimatmuseum, gegründet im Jahr 1908 - die Sammeltätigkeit hatte wie oben erwähnt bereits einige Jahre zuvor eingesetzt, - kann heute, vor allem dank der Sammelleidenschaft der Weißenhorner Kirchenmalerfamilie 28 Stadtarchiv Weißenhorn, unverzeichneter Bestand, AZ 321. Wolfgang Ott 82 Heinle, auf eine für die Größe der Stadt Weißenhorn außergewöhnlich umfangreiche Sammlung zurückgreifen. Schon in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts galt das Museum in Fachkreisen wegen seines reichen und überaus vielfältigen Bestandes als eine herausragende Sammlung und war weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt, wobei die Kunstgeschichtliche Sammlung des Hauses vergleichsweise eine für ein Heimatmuseum bedeutende Rolle spielt und bis heute im Sammlungskonzept trotz knapper Gelder durch Ankäufe immer wieder erweitert wird. Wichtig für das Sammlungskonzept der Gründungsphase des Museums waren die die Sammlungstätigkeit fast von Anfang an begleitenden Forschungen zur Stadtgeschichte Weißenhorns. Sie wurden von dem am Ort wirkenden Geistlichen Rat und Dekan Joseph Holl begründet und später von ortsansässigen oder mit der Stadt verbundenen Theologen oder Heimatforschern weitergeführt. Von ihnen gingen in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse aus, die auch eine rege historische Forschungstätigkeit im Gebiet des heutigen Landkreises Neu-Ulm anregten. Infolge dieser Gleichzeitigkeit von Forschen und Sammeln wurde zum einen gezielt gesucht und ausgewählt, zum anderen aber auch, und das gilt für sehr viele Objekte, "ganzheitlich gesammelt". Es wurde nicht nur zusammengetragen, was man vor dem Totalverlust retten wollte, sondern man richtete den Blick immer auch auf das Umfeld des Objektes. So steht heute beispielsweise der im Museum zu sehende Gebärstuhl nicht als kurioses Einzelstück in der Ausstellung, sondern er kann mit Hilfe der ebenfalls gesammelten Hebammenlehrbücher in seinem ehemaligen Kontext erklärt werden. All diese Voraussetzungen fehlten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Krumbach. Die Museumsarbeit und Sammeltätigkeit bekam in Krumbach erst nach der Neugründung des Heimatvereins 1948 neue Impulse. Hauptsächlich verantwortlich dafür war der neu gewählte Vorsitzende Dr. Dr. Viktor Sprandel. 29 Er hatte dieses Amt fast 40 Jahre inne, wobei er zwar die Defizite im Vergleich zu Weißenhorn nicht mehr ausgleichen konnte, aber er brachte mit neuen Schwerpunkten neue Anregungen für das Haus. Vor allem das Brauchtum lag ihm am Herzen und so entwickelte sich im Verein das Bewahren und Beleben alter Bräuche zu einer Hauptaufgabe. Vor allem der Neubelebung des Krippenschauens verdankt das Museum bis heute großartige Ausstellungen und Besucherströme. Auch verstand er es schon früh, eine konstruktive Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Beide Museen haben sich auch in den letzten zwanzig Jahren durch Neuaufstellungen und Erweiterungen den neuen Anforderungen gestellt und erfüllen die ihnen gestellten Aufgaben nach ihren Möglichkeiten. 29 A NTON M AIER , Dr. Dr. Viktor Sprandel - Ehrenvorsitzender des Heimatvereins, in: Krumbacher Heimatblätter (wie Anm. 20) 3 I(1988), 7-11. Gründungsgeschichte und Entwicklung der Museen 83 Zuletzt sei an einen Mahnruf des deutschen Museumsbunds aus dem Jahr 1919 erinnert, der aktueller nicht sein könnte. Er beinhaltet ein Zitat von Alfred Lichtwark, dem Hamburger Kunsthallendirektor von 1886-1914 und Begründer der Museumspädagogik: Solange die Museen nicht versteinern, werden sie sich wandeln müssen. Jede Generation wird ihnen neue Aufgaben bieten.“ Diese Worte sprach Alfred Lichtwark auf der Tagung der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen, die im Jahre 1904 in Mannheim die „Museen als Volksbildungsstätten“ behandelte. Sie sind uns heute ein Mahnruf, wo es gilt, die Zeit einer völligen materiellen Erschöpfung zu überwinden und dem äußerlich hart bedrängten Dasein geistig und sittlich aufbauende Werte gegenüber zu stellen. Auch die Museen werden ihren Anteil an dieser Aufgabe haben, wollen sie jene Mahnung Lichtwarks und damit ihre Mission richtig verstehen und ausüben. Museen sind keine Stätten des Luxus; diese eherne Gewissheit wird als Erkenntnis in die Zukunft hinübergetragen; ihre soziologische Struktur ist erkannt, ihr Geltungswert unumstößlich. So werden auch heute Staat und Gemeinde die sittliche Verpflichtung nicht verkennen, die die Zeit im Hinblick auf die öffentlichen Sammlungen ihnen auferlegt. 30 30 W. F. S TORCK , Die Museen und das Ausstellungswesen, in: K ARL K OETSCHAU (Hrsg.), Die Kunstmuseen und das deutsche Volk (Deutscher Museumsbund), München 1919, 216. Der Weinberg - Schauplatz transalpiner Wirtschafts- und Kulturgeschichte en miniature Andreas Otto Weber Der Weinberg ist ein Ort, der in der christlichen Religion großen Symbolwert hat. In der Bibel kommt das Wort Weinberg hundertmal vor, das Wort Wein sogar über zweihundertmal, einmal abgesehen von anderen Wortverbindungen mit Wein. 1 Angesichts der Omnipräsenz der Weinsymbolik in der christlichen Liturgie und in der christlichen Kunst, ist es aber erstaunlich, dass sich die Geschichtsforschung, und auch die Landesgeschichte, erst seit relativ kurzer Zeit mit diesem Themenkreis beschäftigt. 2 Ich will in diesem Beitrag zeigen, dass es sich lohnt, sich mit dem Weinberg wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Der Ansatz, aus der Betrachtung kleiner Strukturen wichtige Erkenntnisse für allgemeine geschichtliche Bedingungen und Prozesse zu erarbeiten, soll uns dabei leiten. Beispiele aus den drei Regionen Franken, Altbayern und Südtirol werden dabei zeigen, welche weitreichenden und zum Teil bislang völlig unbekannten Phänomene bei der Interpretation von lokalen Quellenüberlieferungen zum Vorschein kommen können. 1 G ERD H EINZ -M OHR , Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst, München 1998, 330. 2 Neuere Dissertationen zum Themenkreis: L UKAS C LEMENS , Trier - eine Weinstadt im Mittelalter (Trierer historische Forschungen 22), Trier 1993; E RICH L ANDSTEINER , Weinbau und Gesellschaft in Ostmitteleuropa. Materielle Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft im Weinbau, dargestellt am Beispiel Niederösterreichs in der frühen Neuzeit, Wien 1992; A NDREAS O TTO W EBER , Studien zum Weinbau der altbayerischen Klöster im Mittelalter. Altbayern - österreichischer Donauraum - Südtirol (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 141), Stuttgart 1999. Zur Wirtschaftsgeschichte: R OLF S PRANDEL , Von Malvasia bis Kötzschenbroda: die Weinsorten auf den spätmittelalterlichen Märkten Deutschlands (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 149), Stuttgart 1998; Sammelbände: M ICHAEL M ATHEUS (Hrsg.), Weinbau zwischen Maas und Rhein in der Antike und im Mittelalter (Trierer historische Forschungen 23), Mainz 1997; DERS . (Hrsg.), Weinproduktion und Weinkonsum im Mittelalter (Geschichtliche Landeskunde 51), Stuttgart 2004; A LOIS G ERLICH (Hrsg.), Weinbau, Weinhandel und Weinkultur. 6. Alzeyer Kolloquium (Geschichtliche Landeskunde 40), Stuttgart 1993; F ERDINAND O PLL , (Hrsg.), Stadt und Wein (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 14), Linz 1996. Andreas Otto Weber 86 1. Der älteste schriftlich überlieferte Weinberg in Franken Die Anfänge des fränkischen Weinbaus werden schriftlich in der Zeit Kaiser Karls des Großen (reg. 768-814 n. Chr.) fassbar. 3 Das heutige Franken war Teil der rechtsrheinischen „Francia Orientalis“, also des Ostfrankenreiches. Die karolingische Machtexpansion machte aus Franken auf lange Sicht ein Königsland. Im 8. und 9. Jahrhundert entstanden hier zahlreiche Königspfalzen, also Zentren der königlichen Macht. Aber es gab auch einen mächtigen fränkischen Adel mit weitreichendem Großgrundbesitz, Eigenkirchen und Eigenklöstern, der auf seiner Eigenständigkeit beharrte. In der Zeit, in der sich die ersten schriftlichen und archäologischen Spuren des fränkischen Weinbaus finden, war Franken ein wichtiger Stützpunkt der karolingischen Königsmacht, besiedelt von einer Mischbevölkerung aus autochthonen thüringisch-elbgermanischen Einwohnern, zugewanderten Franken und - vor allem im Osten - Slawen. Mit Würzburg und Eichstätt besaß es zwei Bistümer, daneben entstanden die ersten Klöster, die vorwiegend von Adeligen gegründet wurden. Diese größeren kirchlichen Institutionen und die zahlreichen Pfarr- und Eigenkirchen auf dem Land benötigten für die Liturgie Messwein. Die älteste Erwähnung des Weinbaus im Raum Franken ist in den Traditionsnotizen des Klosters Fulda überliefert: Am 28. Dezember 770 schenkten ein gewisser Egi und seine Gattin Sigihilt dem Kloster Fulda ihren Besitz zu Münnerstadt (im Grabfeld, südlich der Saale) und Halsheim (im Werntal bei Tüngen) samt 19 genannten Unfreien. 4 In deutscher Übersetzung lautet der Eintrag im „Codex Eberhardi“ wie folgt: Ich Egi und meine Frau Sigihilt schenken für unser Seelenheil im Ort Minirihestat [Münnerstadt] im Gau Grapfeld und in Haholtesheim [Halsheim] im Gau Werangeu, alles was uns dort nach unserem Wissen gehört, sowohl Land, Häuser, Gebäude, Bauern, Grundholden, deren Namen sind Wenilo, Egilolf, Reginolf, Otwin, Leobolf, Megina, Perhthilt, Ezzilo, Ruadbirge, Ratbirg, Wonatheri, Waho, Adalger, Abbo, Managold, Ratwar, Himiltrud, Egina, und Liba, zusammen mit Weingärten, Wäldern Feldern, Wiesen, Weiden, Teichen und Bächen, Mobilien und Immobilien und was man sonst noch benennen kann [...] 5 3 A NDREAS O TTO W EBER , Weinbau und Weinhandel in Franken, in: H ELMUT F LACHEN- ECKER / R OLF K IESSLING (Hrsg.), Wirtschaftslandschaften in Bayern (ZBLG Beiheft 39), München 2010, 402. 4 E DMUND E. S TENGEL , Urkundenbuch des Klosters Fulda: Die Zeit der Äbte Sturmi und Baugulf (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck X,1), Bd. 1, Marburg 1958, 85f. 5 Idcirco ego [...] Egi et coniux mea Sigihilt donamus pro animae nostrae remedio [...] hoc est in loco nuncupante Minirihestat situm in pago Grapfeld et in Haholtesheim situm in pago Uuerangeuue, quicquid ibidem ad nos noscitur pervenisse, tam terris, domibus, aedificiis, accolabus, mancipiis, quorum nomina sunt: Uuenilo, Egilolf, Reginolf, Otuuin, Leobolf, Megina, Perhthilt, Der Weinberg - Schauplatz transalpiner Wirtschafts- und Kulturgeschichte 87 Die nach den Namen der Grundholden eingetragene Beschreibung des Besitzzubehörs ist eine sogenannte Pertinenzformel. Diese Formeln treffen wir in den Urkunden des Mittelalters in fast der gleichen Form immer wieder. 6 Dabei wird jeweils eingetragen, was eben bei der jeweiligen Schenkung an Zubehör oder an landwirtschaftlichen und anderen Nutzungen besteht. Sie bleibt aber, was die Lage der jeweiligen Zubehöre betrifft, ungenau. Für die Interpretation der Schenkung bedeutet dies, dass wir nicht erkennen können, ob die Weinberge in Halsheim oder im etwa 45 km nordöstlich gelegenen Münnerstadt oder eben in beiden Orten lagen. In diesem Fall erscheint ein Bezug der genannten Weinberge auf Halsheim als wahrscheinlicher: Als Abt Sigihart von Fulda 887 den Besitz des Klosters in Münnerstadt gegen Besitz in Tückelhausen bei Ochsenfurt tauschte, enthält die entsprechende Pertinenzformel, die in diesem Fall klar auf Münnerstadt bezogen ist, nämlich keine Weinberge. 7 Über die Frage, wo die in der Notiz zu 770 genannten Weinberge lagen, hinaus, verrät uns die Quelle auch nicht, wie groß die Weinberge waren und ob die Weinbauern, die ihn bebauten zu den genannten Grundholden zählten. Wir können der Quelle also nur folgendes sicher entnehmen: 1. Egi und Sigihilt waren Grundbesitzer in weit voneinander liegenden Gebieten. Wir können damit rechnen, daß sie dem fränkischen Adel angehörten. 2. Sie haben in ihrer Grundherrschaft bereits um 770 bestehende Weinberge. Die Weinkultur wurde demnach im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts bereits auf adeligen Gütern gepflegt. Das Kloster Fulda erhielt hier also bereits bestehende Weinberge und mußte diese nicht erst neu anlegen. 3. Die Nennung der Weinberge erfolgt ganz am Anfang der Pertinenzformel. Dies ist immerhin ein Zeichen für ihre Wichtigkeit. 8 Wenn wir diese Beobachtungen einordnen und bewerten wollen, kann ein Vergleich mit den Verhältnissen in benachbarten Regionen helfen. Der „Codex Eberhardi“, in welchem erwähnte Schenkung überliefert ist, enthält zahlreiche Abschriften von Schenkungsnotizen von Weinbergen an Fulda aus dem 8. und 9. Ezzilo, cuius ad nos tertia pars pertinet, similiter Ruadbirge, Ratbirg, Uuonatheri, Uuaho, Adalger, Abbo, Managold, Ratuuar, Himiltrud, Egina, Liba, cum vineis, silvis, campis, pratis, pascuis, aquis, aquarumque decursibus, mobilibus et immobilibus, quicquid dici aut nominari potest [...]“, zitiert nach: S TENGEL , UBF (wie Anm. 4), 85f. 6 B ERENDT S CHWINEKÖPER , Cum aquis aquarumque decursibus. Zu den Pertinenzformeln in Herrscherurkunden bis zur Zeit Ottos I., in: K URT -U LRICH J ÄSCHKE / R EINHARD W ENSKUS (Hrsg.), Festschrift für Helmut Beumann, Sigmaringen 1977, 22-56. 7 E RNST F RIEDRICH J OHANN D ROHNKE (Hrsg.), Codex Diplomaticus Fuldensis, 1850, Nr. 625: Munrichestat [...] domibus edificiis mancipiis campis agris pratis pascuis siluis cultis et incultis uiis et inuiis aquis aquqrumque desursibus. 8 Vgl. dazu W EBER , Studien zum Weinbau (wie Anm. 2), passim. Andreas Otto Weber 88 Jahrhundert auch außerhalb Frankens. 9 Als zeitnahes Vergleichsbeispiel aus diesem Raum soll uns eine Traditionsnotiz an Fulda vom 16. Februar 771 dienen. Sie berichtet über die Schenkung einer Gruppe von Personen von zwei Weingärten in Zornheim und Mommenheim im heutigen Rheinhessen an das Kloster Fulda. 10 In deutscher Übersetzung lautet der Schenkungstext wie folgt: Wir schenken im Gau Worms im Ort Zareganheim, einen Weingarten, dessen Angrenzer sind: an der einen Seite Anberct, an der nächsten Rimhild, an der dritten Seite St. Maria [das St. Marienstift in Worms] und an der vierten Seite Hradhad und seine Brüder. Auf ähnliche weise schenken wir einen weiteren Weinberg im Ort Mononheim und in dessen Mark, dessen Angrenzer sind [... es folgt erneut eine ähnliche Beschreibung und eine Personenliste]. 11 Im Vergleich mit der Nennung des Weinbaus in Franken 770 zeigt sich deutlich, dass in der Umgebung von Worms, also im Kerngebiet des heutigen Rheinhessischen Weinbaugebietes, schon im 8. Jahrhundert eindeutige Anzeichen für eine Besitzzersplitterung und für Weinbaumonokulturen feststellbar sind. Hier befinden wir uns aber auch im direkten Umland wichtiger Römerstädte, wo wir den Weinbau sehr häufig kontinuierlich von der Römerzeit bis in das frühe Mittelalter annehmen können. 12 Dies zeigt uns zum Beispiel auch die Winzersprache, die am Rhein und besonders an der Mosel viele lateinische Grundworte enthält, während sie zum Beispiel in Altbayern und Österreich nur relativ wenige derartige Bestandteile aufweist. 13 An der Mosel besitzen wir mit der Mosella des Ausonius und einem Gedicht 9 U LRICH W EIDINGER , Untersuchungen zur Wirtschaftsstruktur des Klosters Fulda in der Karolingerzeit (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 36), Stuttgart 1991, 96f. 10 S TENGEL , UBF (wie Anm. 4), Nr. 52, 86 ff. 11 [...] donamus in pago Uuormacinse in villa que dicitur Zareganheim, vineam I, cui sunt adfines de una parte Anbercti, de alia parte Rimhildis, tertia parte sanctae Mariae, quarta parte Hradhadi et fratrum suorum. Simili modo donamus aliam vineam in Mononheimo villa et in ipsa marca, quod sunt adfinis[...] - S TENGEL , UBF (wie Anm. 4), Nr. 51, 85. 12 Dazu: K ARL J OSEF G ILLES , Der moselländische Weinbau zur Römerzeit unter besonderer Berücksichtigung der Weinkeltern, in: M ICHAEL M ATHEUS (Hrsg.), Weinbau zwischen Maas und Rhein in der Antike und im Mittelalter (Trierer historische Forschungen 23), Mainz 1997, 7-51, bes. 8f. In Rheinhessen, besonders im Umland der bedeutenden Römerstadt Moguntiacum (Mainz) ist die Frage des römischen Weinbaus aber keineswegs klar beweisbar. Es fehlen bislang eindeutige archäologische Nachweise von Kelteranlagen (wie in der Pfalz und an der Mosel) und auch Keltersteine aus möglicherweise römischen Kelteranlagen, die in Sekundärverwendung an zahlreichen Orten vorhanden sind, sind in ihrer Datierung nicht problemfrei. Vgl. dazu: P ATRICK J UNG , Keltersteine, Winzermesser und Traubenkerne. Gab es römischen Weinbau in Rheinhessen? , in: DERS . / M ARGARETHE K ÖNIG (Hrsg), Zur Frage des römischen Weinbaus in Rheinhessen (Schriften zur Weingeschichte 168), Wiesbaden 2010, 5-65. Auch Funde von Pflanzenresten bieten keinen eindeutigen Befund - vgl. M ARGARETHE K ÖNIG Fakten, Überlegungen und Hintergründe aus archäobotanischer Sicht, in: ebd., 67-75. 13 W EBER , Studien zum Weinbau (wie Anm. 2), 60 ff. Der Weinberg - Schauplatz transalpiner Wirtschafts- und Kulturgeschichte 89 des Venantius Fortunatus klare schriftliche Belege für eine blühende Weinkultur im späten 4. Jahrhundert n. Chr. und in der Wachau belegt die Vita Sancti Severini Weinberge für das späte 5. Jahrhundert. 14 Auch die frühesten Quellen zum Weinbau im altbayerischen Donauraum liegen zeitlich deutlich vor den ersten Erwähnungen in Franken. Schon um 700 und bald danach finden wir hier Weinberge, die mit genauen Maßangaben und zusätzlich häufig mit zum Weinberg gehörenden Winzern genannt werden. Hier im Donautal können wir demnach bereits im 8. Jahrhundert mit einer an einigen Stellen stark spezialisierten Weinwirtschaft rechnen, aber nur in der Nähe von Orten, die noch im späten 5. Jahrhundert als spätrömische Militärstandorte beziehungsweise Zivilsiedlungen bezeichnet werden können. 15 Alleine aus diesen Vergleichen von Weinbergen in diesen drei angesprochenen Regionen, können wir also bereits deutliche Unterschiede zwischen den frühen Strukturen des Weinbaus in Franken und seinen Nachbarräumen im Westen und Süden erkennen: Während im Raum um Worms am Rhein um 770 in den Weinbergen bereits eine Besitzzersplitterung mit zahlreichen genau abgemessenen Weinbergen, bei denen sogar die einzelnen Besitzer der Nachbarparzelle genannt werden, feststellbar ist, und an der altbayerischen Donau bereits um 700 deutliche Hinweise auf eine spezialisierte Weinwirtschaft auf genau abgemessenen Weinbergen und mit zum Teil namentlich genannten Winzern vorliegen, zeigen die ersten Quellen zum Weinbau in Franken ein anderes Bild: Hier war der Weinbau in den 770er Jahren offensichtlich in die adeligen Gutskomplexe eher eingestreut und diente wohl in erster Linie der lokalen Eigenversorgung innerhalb einer Grundherrschaft. 2. Ein Weinberg in Altbayern Das Kloster Prüfening, das 1109 von Bischof Otto I. von Bamberg vor den Toren Regensburgs gegründet wurde, hatte einen wirtschaftlichen Schwerpunkt: Dies war nicht, wie in Altbayern eigentlich zu erwarten, der Getreidebau oder die Forstwirtschaft, sondern der Weinbau, den das Kloster vor allem in zwei Dörfern in der Nähe an der Donau betrieb: Matting und Oberndorf. An der Grundherrschaftsentwicklung dieses Klosters kann eindeutig gezeigt werden, dass es im Mittelalter und zweitweise auch in der Frühen Neuzeit möglich war, in Altbayern eine intensive und 14 A USONIUS , Mosella, in: J OACHIM H ERRMANN (Hrsg.), Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u.Z., Dritter Teil: Von Tacitus bis Ausonius (2. bis. 4. Jh.), Berlin 1991, 479-481.V ENANTIUS F ORTUNATUS , Opera poetica (Monumenta Germaniae Historica, Auctores Antiquissimi, 4), 1-2; E UGIPPIUS , Vita Sancti Severini. Das Leben des heiligen Severin (Lateinisch / Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Theodor Nüsslein), Stuttgart 1986, 38f. 15 W EBER , Studien zum Weinbau (wie Anm. 2), 351f. Andreas Otto Weber 90 wirtschaftlich lukrative Weinwirtschaft zu entwickeln, die auch über eine speziell dem Weinbau gewidmete schriftliche Rechenführung bereits im 15. Jahrhundert verfügte. 16 Soweit ich sehe, ist dies für den altbayerischen Weinbau einmalig. Es handelt sich dabei um die Prüfeninger Weinregister, die von 1447 an mit gewissen Lücken jährlich erhalten sind und bis ins 16. Jahrhundert reichen. 17 Sie stellen eine der bedeutendsten Quellen zur Geschichte des Weinbaus an der Donau bei Regensburg dar. Die Quellen des Klosters Prüfening bieten uns über die Weinlese, die anschließende Weinabgabe und die Weinvermarktung sehr ausführliche Informationen. Ich will mich bei diesem Beispiel ganz auf die Frage der Weinvermarktung beschränken. Wie das Kloster Prüfening den Wein aus Matting und Oberndorf vermarktete, erfahren wir sehr anschaulich aus den Prüfeninger Weinregistern der Jahre 1454, 1455 und 1480 und aus weiteren, die jedoch bereits aus dem frühen 16. Jahrhundert stammen. 18 1454 wurden 102 hl. direkt in den Klosterkeller geliefert 19 , dort ausgebaut und möglicherweise später zum Teil auf dem wichtigen Regensburger Weinmarkt verkauft. Ähnlich wird wohl mit weiteren 80,3 hl verfahren worden sein, die in den Keller des Klosteramtshofes nach Oberndorf gebracht wurden. 20 Außerdem kamen 34,4 hl in das Oberndorfer Winthaus (Haus mit der grundherrlichen Weinpresse) des Klosters und waren für den dortigen Weinausschank vorgesehen. 21 Genauere Informationen besitzen wir über die direkte Vermarktung des Traubenmosts aus Oberndorf, die nicht über die bisher genannten Stellen lief. Das Weinregister berichtet von einer Reihe von Weinfuhren. Dabei wurde von Beauftragten des Klosters der vorgeschriebene Mostanteil bei den Winzern abgeholt und anschließend direkt zu den Abnehmern geliefert: Am Freitag, den 18. Oktober 1454 wurden von den Weinlieferanten Chonradt Wagenknecht, Ulreich Ostermayr und Hanns Lehener in drei Fuhren insgesamt 72 Eimer, zwei Quartl, drei Napf Traubenmost (40,7 hl) aus Oberndorf zum Wittelsbachischen Hauskloster Scheyern gebracht. 22 Einer zusammenfassenden Zeile unter dem Eintrag der Weinlieferungen zufolge, nahm dieses Kloster in diesem Jahr insgesamt aber vier Fuder, zwei Eimer, zwei Quartl, zwei Napf (69 hl) Traubenmost aus Prüfeninger Weinbergen ab. 23 Die 16 W EBER , Studien zum Weinbau (wie Anm. 2), 198-248. 17 Archiv der Benediktinerabtei Metten (KlA Metten), Prüfeninger Mansarde (PM), 1259, 3195, 3195c. 18 KlA Metten, PM 3195. Vgl. zum Folgenden: W EBER , Studien zum Weinbau (wie Anm. 2), 225-230. 19 KlA Metten, PM 3195, f. 40'. 20 KlA Metten, PM 3195, f. 41'. 21 KlA Metten, PM 3195, f. 42. 22 KlA Metten, PM 3195, f. 42'. 23 KlA Metten, PM 3195, f. 42'. Der Weinberg - Schauplatz transalpiner Wirtschafts- und Kulturgeschichte 91 Mostlieferungen an Kloster Scheyern sind besonders interessant, weil dieses Kloster selbst Weinberge im Isartal und in Südtirol besaß. 24 Über deren Ertrag und Rentabilität im 15. Jahrhundert ist aber bisher nichts bekannt. Insgesamt verschickte das Kloster auf diese Weise über 160 hl Most. Das Kloster lieferte neben dem frischgepressten Traubenmost aber auch den fertig ausgebauten und gelagerten Wein im Sommer nach der Ernte an Weinhändler und Wirte aus dem altbayerischen Raum. 1454 können wir beispielsweise am Freitag nach Ostern feststellen, daß der Bräu (! ) von Pfaffenhofen an der Ilm zwei Fässer mit Baierisch Wein, mit je 17 Eimern Inhalt (963 l) erwirbt. Dabei zahlt er einen Preis von 45 Denaren pro Eimer (Summe: 6 lb 3 sol.). 25 Wir können in diesem Jahr also einen Preis von 1,2 Denaren pro Liter ausgebauten Wein berechnen. Im Juli desselben Jahres ist derselbe Brauer wieder in Oberndorf um Wein zu kaufen. Am Freitag vor Braxedis (21. Juli) kauft er diesmal zwei Fässer Bayerwein mit je 20 Eimern (1.131 l) zu nun schon 48 Denaren pro Eimer 26 , insgesamt also für acht lb. Wir können hier also bereits während des Jahres Preissteigerungen feststellen. Ein im Weinregister eingelegter Zettel gibt eine Rechnung wieder, die zeigt, dass der Pfaffenhofener Bräu auch im Juni desselben Jahres schon ein weiteres Mal in Oberndorf zum Weinkauf gewesen war und dabei ebenfalls zwei Fässer gekauft hatte. 27 1446 läßt sich Herzog Albrecht III. von Bayern ein Fass Wein aus Prüfening liefern. Es enthält 20 Eimer Wein (11 hl), wobei ein Eimer mit 36 Denaren berechnet wird, sein Wert lag also bei drei lb Regensburger Denaren. 28 Bis 1488 konnte das Kloster den Abnehmerkreis noch um zwei weitere südbayerische Klöster vermehren: In vier Fuhren brachten in diesem Jahr die Lieferanten Albrecht Knittl und Hanns Hofmaister 84 Eimer Wein (47,6 hl) zum Kloster Andechs. 29 Dieses erst 1455 gegründete Kloster verfügte zu dieser Zeit über keine eigenen Weinberge. Erst 1674 kaufte man zwei Weingüter in Moritzing bei Bozen in Südtirol. 30 Im Kloster Andechs wurde der Wein erst 1524 als Tischgetränk er- 24 W EBER , Studien zum Weinbau (wie Anm. 2), 174. 25 KlA Metten, PM 3195, f. 57'. 26 KlA Metten, PM 3195, f. 57'. 27 Diesmal enthielten die Fässer 623 l und 340 l, der Eimer kostete 50 Denare (KlA Metten, PM 3195, Einsteckzettel zwischen f. 57' und f. 58). 28 KlA Metten, PM 3195, f. 70. 29 KlA Metten, PM 3195, f. 24. 30 D IETMAR S TUTZER , Die bayerischen Klöster als Arbeitgeber um 1800. Die bayerischen Klöster als Unternehmenseinheiten und ihre Sozialsysteme zur Zeit der Säkularisation 1803 (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 28), Göttingen 1986, 220. Andreas Otto Weber 92 laubt. 31 Der aus Prüfening eingeführte Wein dürfte demnach, neben der Verwendung als Messwein, hauptsächlich im Klostergasthof ausgeschenkt worden sein. Hier - an einer Stelle, wo heute fast ausschließlich Andechser Bier getrunken wird - erinnert noch heute das Wirtshausschild mit einem Weinglas an den Wein, der im 15. Jahrhundert von Oberndorfer und Mattinger Winzern angebaut und von den Prüfeninger Weinlieferanten hierher gebracht wurde. Das zweite neubelieferte Kloster war Ebersberg, das 23,8 hl Wein erhielt. 32 Im frühen 16. Jahrhundert zeigen uns die Prüfeninger Weinregister weitere Absatzmöglichkeiten: 1526 kam beim Mostverkauf nach der Weinernte ein Regensburger Händler namens Schwoller mit dem Schiff nach Oberndorf und kaufte 63 Eimer Most (43 hl), die in fünf Fässer zu je 860 l gefüllt wurden und anschließend mit dem Schiff abtransportiert wurden. 33 Der herzogliche Pfleger zu Abbach namens Pfeffenhauser kaufte sich 13 Eimer, der Brundlwirt zu Siegenburg (südl. von Abensberg, LK Kelheim) erwarb drei Eimer. In den folgenden Jahren sind Wirte aus Moosburg (LK Freising) und Tünzling (LK Regensburg), der Pfleger von Abbach, wieder das Kloster Scheyern, der Bürgermeister Paul von Regensburg, der Landrichter zu Kelheim (sechs Eimer ein Viertl) und ein Christoff aus Ingolstadt als Käufer klösterlichen Weines aus Matting und Oberndorf nachweisbar. 34 Wir können somit als Absatzgebiet der Prüfeninger Weinwirtschaft den ober- und niederbayerischen Donauraum und das südlich angrenzende Hügelland bis in das Isartal um Moosburg und mit den belieferten Klöstern einige noch weiter südlich liegende Kunden ausmachen. Damit überschneidet sich das Absatzgebiet leicht mit jenem des Bozner Heilig-Geist-Spitals im frühen 16. Jahrhundert, dessen nördlichste Abnehmer in Altbayern Walter Schneider in Landshut, Erding und Freising feststellen konnte. 35 3. Der Wein aus Südtirol in den Zollrechnungen Oberbayerns im späten Mittelalter Während der bayerische Donauraum, besonders bei Regensburg, schon seit dem frühen Mittelalter ein Weinland war, war der Süden Schwabens und Bayerns weitgehend ein Weinmangelgebiet. Hier auf der Hochebene und am Nordrand der 31 W ILLIBALD M ATHÄSER OSB, Andechser Chronik. Die Geschichte des heiligen Berges nach alten Dokumenten und aus neueren Quellen ergänzt durch persönliche Erinnerungen, München 1979, 70. 32 KlA Metten, PM 3195, f. 25'. 33 KlA Metten, PM 1295, Weinzinsregister, Teil II, in Ledermappe, unfoliert. 34 KlA Metten, PM 1295 (wie Anm. 33). 35 W ALTER S CHNEIDER , Weinverkauf des Heilig-Geist-Spitals Bozen im 16., 17. und 18. Jahrhundert, in: Der Schlern 70 (1996), 195-221, hier 208-213. Der Weinberg - Schauplatz transalpiner Wirtschafts- und Kulturgeschichte 93 Alpen war das Klima für eine ausreichende Weinproduktion zu keinem Zeitpunkt geeignet. Nur an wenigen Stellen konnte die Rebe überhaupt gedeihen. Die Klöster am Alpenrand, also Weingarten, Kempten, Füssen, Wessobrunn, Polling, Benediktbeuern, Schäftlarn, Tegernsee, Schliersee, Frauenchiemsee und andere benötigten relativ viel Wein. Der Wein war bis in das 16. Jahrhundert das wichtigste Tischgetränk und er wurde auch für die Liturgie benötigt. 36 Da ein Großteil des heutigen Südtirols im frühen Mittelalter zum Herzogtum Bayern gehörte, bestand hier die Möglichkeit des Erwerbs von Weingütern. Und hier konnte des warmen Klimas wegen auch ausgezeichneter Wein wachsen. So war es einerseits die geringe Entfernung von Südschwaben und Südbayern nach Südtirol und zweitens die hohe Qualität des Südtiroler Weines, der die Klöster nach Süden lockte. 37 Welche Bedeutung Weintransport und Weinhandel am Scharnitzpass und an der Zollstelle Mittenwald hatten, zeigt sich im Jahr 1558: Als der Mittenwalder Zöllner den dorttigen Zolltarif neu schriftlich festhält, weist er auf die herausragende Bedeutung des Weines bei den Zolleinnahmen hin. Auf einem mit rotem Siegellack eingeklebten Zettel notiert er zum Weinzoll: Nota: Diß ist der maist vnnd gresst Anteil, den Ich wol zubedenckhen biten thue, davon ich dem H(er)z(og) schreib. Dies zeigt, dass Wein das wert- und mengenmäßig wichtigste Handelsgut war, das über den Scharnitzpaß nach Werdenfels und Bayern kam. 38 Auch für dieses Beispiel geben uns wieder lokale Quellen, die eher kleine Strukturen erwarten lassen, weitreichende Analysemöglichkeiten. Betrachten wir dazu die Zollrechnung des Zollamtes von Wolfratshausen aus dem Jahr 1477. 39 In ihr ist der Teil des Weines erkennbar, der auf Flößen von Mittenwald nach Wolfratshausen und weiter nach Oberbayern kam. Diese Zollrechnung unterscheidet zwischen Gastwein und Bürgerwein, also zwischen hier durch geflößten Wein und in den Ort eingeführten Wein von Wolfratshauser Weinhändlern. Dabei zeigt sich deutlich, dass Wolfratshausen im späten Mittelalter ein wichtiger Stützpunkt des Weinhandels im südlichen Oberbayern war. 36 S TEPHAN H AERING OSB, Der Wein im kanonischen Recht. Die geltenden Bestimmungen der universalen und partkularen Gesetzgebung zur Materie der hl. Eucharistie, in: In Vino Bavaritas. Studien zu Weinliteratur, Weintheorie und Weingeschichte als Festgabe zum 30. Geburtstag von Andreas Otto Weber, München 1996, 35-40. 37 Vgl. W EBER , Studien (wie Anm.2) 55-67. 38 A NDREAS O TTO W EBER , Regionalhandel zwischen Südbayern und Tirol im Mittelalter und Früher Neuzeit, in: K ONRAD A CKERMANN / A LOIS S CHMID / W ILHELM V OLKERT (Hrsg.), Bayern vom Stamm zum Staat. Festschrift für Andreas Kraus zum 80. Geburtstag, Bd. 1, München 2002, 336. 39 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Herzogtum Bayern, Ämterrechnungen bis 1506, 1546. Andreas Otto Weber 94 1477 werden 182 Fässer von Wolfratshausner Händlern verzollt, von Händlern aus anderen Orten nur 110 Fässer. Insgesamt sind es in diesem Jahr 292 Fässer Wein, bei einer angenommenen Faßgröße von 2 Fuder Wein (ca. 1200 1) also ca. 3504 hl. 40 Eine beachtliche Menge also, bedenkt man, daß dazu bis Mittenwald 292 große Fuhrwerke mit je acht Pferden als Transportmittel nötig waren. Auf Saumpferde umgerechnet hätten 2.920 Pferde den Brenner und den Scharnitzpass mit je einem Tragegestell mit zwei Lagern zu 60 Liter überqueren müssen. Sehr interessant sind die jahreszeitlichen Schwankungen der Weinmenge, die auf der Isar nach Wolfratshausen kommen. Vom Aschermittwoch bis Pfingsten sind es 71 Fässer, von Pfingsten bis Michaeli (29. September) nur vier, von Michaeli bis Weihnachten wird dann der Hauptteil von 171 Fässern geflößt, bis zum nächsten Aschermittwoch nochmals 46 Fässer. Wir können also auch im Flusstransport auf Flößen einen Abtransport des Weines bald nach der Ernte feststellen, wobei vor allem zwischen der Weinlese im Oktober und dem Frühjahr transportiert wird, im Sommer jedoch fast nichts. 41 Aus den Zollrechnungen können wir auch Namen und Herkunft der Händler bzw. Transporteure entnehmen. Die Liste der Orte reicht von Nürnberg im Norden bis Innsbruck im Süden. Am häufigsten treffen wir dabei den Namen Halbpax an, ein Nürnberger Händler, der immerhin 23 Fässer (27 600 1) verzollte. Noch heute erinnert das Halbwachsgässchen in der Sebalder Altstadt Nürnbergs an die ehrbare Kaufmannsfamilie Halbwachs. 42 Aus Landshut kommen die Händler Eysgrueber, Strasser und Altdarffer, ein namentlich nicht genannter aus dem Kloster Weihenstephan bei Freising, aus München ein Jorg Schatz, aus Weilheim kommen Hanns Lederer, der Prantmayr und Wilhalm Vogl. Dieser Wilhalm Vogl kann auch in der Zollrechnung von Eschenlohe aus dem Jahr 1478 nachgewiesen werden, wo er am St. Jacobsabend 1478 fünf Kreuzer Zoll für fünf Säcke Korn bezahlt. 43 Er ist also in der Gegenrichtung Getreidehändler. Dies gilt offensichtlich auch für seine Verwandtschaft: 1515 kauft Hans Vogel aus Weilheim beim Heiliggeistspital in Bozen für 670 lb. Wein und für weitere acht lb. Senfwein (also gewürzten Wein), sein Fuhrmann kauft ebenfalls in kleinerem Maßstab ein. 44 Mitglieder dieser Familie begegnen uns in den Rechnungen des Heiliggeistspitals Bozen jährlich bis 1520, dann nicht mehr. Weitere Händler kommen aus Murnau, Mittenwald Zirl, Innsbruck und aus Imst. 45 40 BayHStA, 1546 (wie Anm. 39). 41 BayHStA, 1546 (wie Anm. 39). 42 Vgl. W ILTRUD F ISCHER -P ACHE , Art. Halbwachsengäßchen, in: M ICHAEL D IEFENBACHER / R UDOLF E NDRES (Hrsg.), Stadtlexikon Nürnberg, zweite Auflage, Nürnberg 2000, 396. 43 BayHStA, Herzogtum Bayern, Ämterrechnungen bis 1506, 1035. 44 Südtiroler Landesarchiv Bozen, Rechnungsbücher des Heiliggeistspitals Bozen 1515. 45 BayHStA, 1035 (wie Anm. 43). Der Weinberg - Schauplatz transalpiner Wirtschafts- und Kulturgeschichte 95 Auf der südlichen Seite der Alpen spiegeln die Rechnungsbücher des Bozner Heiliggeistspitals aus dem 16. bis 18. Jahrhundert den Weinverkauf eines der bedeutendsten Bozner Weinproduzenten und Weinvermarkter wider. 46 Hier finden wir direkten Aufschluss über die Herkunft der Händler, die ihren Wein über Brenner und Scharnitzpass transportierten. Dabei zeigt sich, dass von allen Orten des bayerischen Oberlandes die über den Weg Zirl - Scharnitz - Mittenwald mit Wein aus Südtirol versorgt wurden, Weilheim im 16. und 17. Jahrhundert eine dominante Rolle als Weinhandelsstadt spielte. Daneben sind Partenkirchen und Garmisch als Sitz von Weinhändlern zu erwähnen, geringere Bedeutung hatten Starnberg, München und im Westen Schongau und Kaufbeuren. 47 Greifen wir einige Beispiele heraus: Hans Vogel aus Weilheim und sein Weinkauf von 1515 wurde bereits genannt. Im Jahr danach ist er wieder in Bozen und kaufte wieder ‚gewöhnlichen‘ Wein und dazu Salsenwein, also mit Salbei versetzten Wein, eine Spezialität. Im Gegenzug verkaufte er dem Bozner Heiliggeistspital ein Pferd. Jörg Manner aus Partenkirchen kauft ebenfalls eine Spezialität: Rosmarinwein, der als Heilmittel für das Herz bekannt war. Weitere Händler, die Wein bei diesem Spital erwarben, waren z.B. des Fuggers Diener aus Augsburg (1517), des Frölichs Sohn aus Partenkirchen (1518) und Matheis Maurer aus Garmisch, der sogar als Weinkäufer im großen Stil zu bezeichnen ist (1519-1531). Weitere Händler und Verkäufer kommen aus Partenkirchen, Zirl, Habach, Benediktbeuern, Mittenwald, Oberammergau und anderen Orten. 48 Was können wir nun aus diesen vielen Zahlen und Namen, die uns diese lokalen Rechnungen überliefern schlussfolgern? Was ist das Neue? Zunächst einmal geben sie uns Einblick in die Transportrichtungen und in die Transportreichweite des in Südtirol erzeugten Weines. Seine Ausdehnung überschneidet sich im Raum zwischen Donau und dem Alpenvorland mit dem des an der Donau erzeugten Baierweines. Zum zweiten werden die Dimensionen des Wein- und Getreidehandels zwischen Tirol und Bayern deutlich: Sie dominieren die Zoll- und Verkaufsrechnungen. Der große Fernhandel der städtischen Handelsfamilien, der in der Wirtschaftsgeschichte bislang vor allem untersucht wurde, spielte in der Menge und im Zollwert nur eine untergeordnete Rolle. Zum dritten zeigt sich eine Händlerschicht in den Märkten und Kleinstädten des bayerischen Oberlandes, von der man bisher in der Forschung bislang noch fast nichts erfahren hat. Alle drei Beispiele, der Weinberg von Egi und Sigihild in Franken, der Weinberg des Klosters Prüfening in Matting und zuletzt die Rechnungseinblicke in den Weinhandel mit Südtirol zeigen uns also mustergültig, wo die Geschichtswissenschaft noch richtig unerforschtes Neuland mit weitreichenden Interpretationsmög- 46 S CHNEIDER , Weinverkauf (wie Anm. 34), 205-213. 47 S CHNEIDER , Weinverkauf (wie Anm. 34), 208f. 48 Südtiroler Landesarchiv Bozen, Rechnungsbücher des Heiliggeistspitals Bozen, 1516. Andreas Otto Weber 96 lichkeiten vorfindet: In den kleinen Strukturen und in den Quellen, die dazu in den Archiven liegen. Im Dickicht der historischen Atlasforschung - Kleinheit als methodische Chance? Matthias Körner In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich im Zuge der sogenannten „cultural turns“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften neue Paradigmen etabliert. 1 So wurde zum Beispiel durch den „spatial turn“ der Raum zu einer neuen zentralen Wahrnehmungseinheit und zu einem theoretischen Konzept. Mit dieser Hinwendung zu Raum und Räumlichkeit treten Gleichzeitigkeit und Nebeneinander in den Vordergrund und rücken eine zeitbezogene und evolutionistische Vorstellung von Entwicklung eher ins Abseits. 2 Die Verflechtung von Raum und Macht wird zu einem wichtigen Untersuchungsfeld. Das Augenmerk der raumkritischen Wende richtet sich auf Konstellationen wechselseitiger Abhängigkeiten, Verbindungen und Beziehungsnetzwerke. Der dadurch entstehende Austausch, gegebenenfalls auch über territoriale Grenzen hinweg, das Zusammenwirken von Strukturen und individuellen Entscheidungen und das Verhältnis von Theorie und Praxis werden in einer Zusammenschau umfassend analysiert. 3 Die Geschichtswissenschaft greift den „spatial turn“ vor allem über die Kommunikationsdimension auf. Hier bietet der Kommunikationsansatz eine komplexe Möglichkeit zur Untersuchung räumlich-historischer und politischer Zusammenhänge. Auch in die bayerische und fränkische Landesgeschichte hat die Kommunikationsforschung als Bezugsfeld Eingang gefunden. 4 Schließlich bot sich insbesondere Franken als klassisches „territorium non clausum“ für herrschaftsübergreifenden, mehrschichtigen Informationsaustausch geradezu an. So waren Absprachen und Verträge der politischen Akteure häufig genutzte Mittel, um die vielfachen herrschaftlichen, sozialen und religiösen Verschränkungen und Überschneidungen aus- 1 Vgl. dazu: D ORIS B ACHMANN -M EDICK , Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften dritte, neu bearbeitete Auflage, Hamburg 2009, 7f. und 284f. 2 B ACHMANN -M EDICK , Cultural Turns (wie Anm. 1), 285. 3 B ACHMANN -M EDICK , Cultural Turns (wie Anm. 1), 304; Vgl. auch: B ENNO W ERLEN , Sozialgeographie. Eine Einführung, dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bern / Stuttgart / Wien 2008, 275f. 4 Vgl. W OLFGANG W ÜST (Hrsg.), Frankens Städte und Territorien als Kulturdrehscheibe. Kommunikation in der Mitte Deutschlands (Mittelfränkische Studien 19), Ansbach 2008; C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IESSLING (Hrsg.), Kommunikation und Region (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 4), Konstanz 2001. Matthias Körner 98 zugleichen oder zumindest halbwegs zu ordnen. 5 Angesichts dieser neuen wissenschaftlichen Herangehensweise wirkt eine Längsschnittstudie wie der Historische Atlas von Bayern auf den ersten Blick schnell veraltet. Doch ist er dies keineswegs. Bei näherem Hinsehen ergeben sich zahlreiche Schnittstellen. Zuerst ist die Atlasarbeit natürlich hauptsächlich Grundlagenforschung. Bezugsgröße der einzelnen Atlasbeiträge bildet ein kleiner, genau umgrenzter Raum, der durch die einzelnen ehemaligen Landkreise, wie sie bis 1972 existierten, bestimmt wird. Ziel der Atlasforschung ist die flächendeckende Erfassung der Zustände des Alten Reiches und deren Umwandlung in der neubayerischen Zeit. 6 Daraus entsteht eine Statistik der Hoheitsträger, der Jurisdiktions- und Verwaltungssprengel und vor allem der Orte in den jeweiligen Untersuchungsbereichen, die schließlich kartographisch umgesetzt wird. 7 Die einzelnen Atlasbände versuchen so, ein „neues Bild vom kleinen Raum aus zu zeichnen“ 8 , das letztlich zu einer Gesamtschau des Reihenunternehmens führen soll. Daneben leistet der Atlasband in seiner Einleitung eine historisch-genetische Untersuchung, die Herrschaftskräfte, -stufen und -formen seit dem Mittelalter herausarbeitet. Freilich liegt hier der Schwerpunkt auf einer chronologischevolutionistischen Darstellung und damit auf einer Herangehensweise, die der „spatial turn“ eher in den Hintergrund drängt. Dieses chronologische Raster wird aber gleichzeitig mit einem thematischen Raster gekreuzt, das sich aus den Geschichts- und Kulturraum prägenden Herrschaftstypen wie König, Kirche, weltlichen und geistlichen Fürsten, hohem und niederem Adel, aber auch städtisch-bürgerlichen Akteuren oder den Untertanen im Dorf zusammensetzt. 9 Dadurch rücken jetzt unter dem Überbegriff der Kommunikation soziale Beziehung, Interaktion und Konfliktlinien, die sich in der Regel auf den unterschiedlichsten politischen und sozialen Ebenen abspielten, in das Blickfeld der Untersuchungen. Mit diesen analytischen Ansätzen, die auch herrschaftliche Dynamik, kollektive Identitäten, Bezie- 5 Vgl. A NDREAS O TTO W EBER , Grenzüberschreitungen und Friedenspolitik in der Mitte Frankens. Studien zu politischer Praxis, Professionalisierung und Institutionalisierung in der Außen- und Nachbarschaftspolitik zu Beginn der Frühen Neuzeit. Die hohenzollerischen Markgraftümer und das Hochstift Bamberg im Vergleich (phil. Habil. Uni. Erlangen), 2008. 6 W ALTER Z IEGLER , Der Historische Atlas von Bayern - Teil Franken - und sein Ertrag für die Geschichtsforschung, in: A NDREAS K RAUS (Hrsg.), Land und Reich. Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte, Bd. 1, München 1984, 69-88, hier 71. 7 Zur Bedeutung der Statistik im Atlasprojekt vgl.: W ILHELM S TÖRMER , Auswertungsmöglichkeiten der „Statistik“ des Historischen Atlas von Bayern. Aufgezeigt an oberbayerischen Beispielen, in: K RAUS , Land und Reich (wie Anm. 6), 15-33. 8 E RWIN R IEDENAUER , Der Historische Atlas von Bayern. Zur Geschichte und Methode eines landeskundlichen Unternehmens mit besonderer Berücksichtigung Frankens, in: Jahrbuch für fränkische Landesgeschichte 43 (1983), 21-58, hier 23. 9 R IEDENAUER , Der Historische Atlas (wie Anm. 8), 46. Im Dickicht der historischen Atlasforschung - Kleinheit als methodische Chance? 99 hungsnetzwerke und politisches Handeln vor Ort umfassen können, geht die Atlasarbeit durchaus mit den neuen Sicht- und Arbeitsweisen eines postmodernen, raumkritischen Paradigmas konform. Durch die Konzentration auf den kleinen Raum leistet das Atlasprojekt also sowohl grundlegende herrschafts- und verwaltungsgeschichtliche Forschung und kann gleichzeitig auch mehr oder weniger abstrakte Begriffe wie Hochgericht, Landeshoheit und Herrschaft allgemein mit Leben erfüllen und so anschaulich werden lassen. Gerade für letzteres eignet sich besonders gut eine Konfliktanalyse. Dies soll nun im Folgenden an einigen Beispielen aus der Atlasforschung zum ehemaligen Landkreis Naila deutlich gemacht werden. 1. Der Konflikt zwischen dem Markgraftum Brandenburg- Culmbach-Bayreuth und dem Hochstift Bamberg im Raum Naila am Beispiel der Rittergüter Marlesreuth und Nestelreuth Die Region Naila befindet sich im Übergangsgebiet zwischen Frankenwald im Westen und dem sogenannten Hofer Land im Ost. 10 Im Spätmittelalter war der dort ansässige vogtländische Niederadel mit einer Vielzahl verschiedener kleiner Adelsherrschaften und Rittergüter lange Zeit der maßgebliche Herrschaftsträger vor Ort. Dieser Niederadel hatte sich überwiegend aus der Gefolgschaft der Vögte von Weida, Gera und Plauen entwickelt, die im 13. und 14. Jahrhundert in Hof ein bedeutendes Machtzentrum hatten. Zu deren Gefolgsleuten zählten unter anderen die Familien von Reitzenstein und von Wildenstein, die aus dem Geschlecht der von der Grün stammten und im Raum Naila mit Abstand am stärksten vertreten waren. Insbesondere im Frankenwaldgebiet um Schwarzenbach am Wald konnten sie durch intensive Rodung freieigene Ansitze errichten, die sich im ausgehenden Spätmittelalter weitgehend unabhängig von fürstlichen Eingriffen zu kleinen niederadeligen Herrschaften entwickelten. Stärker werdender fürstlicher Druck im Zuge markgräflicher und bischöflicher Territorialisierungspolitik war letztlich dafür verantwortlich, dass dieser Adel bis Mitte des 16. Jahrhunderts in die Lehensabhängigkeit der Hohenzollern bzw. des Hochstiftes Bamberg kam. Im Laufe der Frühen Neuzeit änderte sich die machtpolitische Situation im Raum Naila deutlich. Einige Adelsherrschaften gelangten durch Heimfall oder Kauf an das Markgraftum Brandenburg-Culmbach. Den verbleibenden vogtländischen 10 Vgl. dazu im Folgenden: M ATTHIAS K ÖRNER , Kooperation - Koexistenz - Konkurrenz, Herrschaftskräfte und Herrschaftsformen im Raum Naila vom Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches (Historischer Atlas Bayern: Der Landkreis Naila) (phil. Diss. Uni. Erlangen) 2010. Matthias Körner 100 Rittern ging nach der fürstlichen Lehensbindung durch den Submissionsrezess von 1615, in dem sie sich der markgräflichen Landeshoheit unterwarfen und in der Folge die landsässige sogenannte Vogtländische Ritterschaft bildeten, ein weiterer Teil ihrer Unabhängigkeit verloren. Den markgräflichen Territorialisierungsbestrebungen im Raum Naila verweigerten sich letztlich nur die Rittergüter Marlesreuth und Nestelreuth. Der dortige Adel bestand auf seiner Reichsunmittelbarkeit und verhinderte so die Arrondierung des zollerischen Territoriums in diesem Gebiet. Für die Markgrafen lagen aber die beiden reichsfreien Rittergüter im Raum Naila eindeutig in ihrem machtpolitischen Interessensgebiet. Schließlich hatte der gesamte umliegende Adel die Landeshoheit der Markgrafen anerkannt und war freiwillig ins Landsassiat gegangen. Über das umstrittene Hochgericht versuchten die Zollern in der Folge landeshoheitliche Rechte abzuleiten und den widerspenstigen Adel in die eigene landsässige Ritterschaft einzubinden. Diese Sichtweise wurde im Konflikt mit Hochstift und reichsfreiem Adel bis zum Schluss beibehalten. Das Hochgericht spielte hier einmal mehr für die markgräfliche Staatstheorie zur Begründung territorialer und landeshoheitlicher Ansprüche eine entscheidende Rolle. 2. Hochgericht, Territorium und Landeshoheit in der fränkischen Verfassungswirklichkeit und in markgräflicher Staatstheorie Die Frage, was Landesherrschaft letztlich ausmacht, hatte im Historischen Atlas von jeher einen großen Stellenwert und wurde seit Beginn der Atlasforschung durchaus kontrovers diskutiert. Auch Pankraz Fried beschäftigte sich intensiv mit der Entstehung der Landesherrschaft in Altbayern, Franken und Schwaben im Lichte der Historischen Atlasforschung und veröffentlichte hierzu 1984 auch einen entsprechenden Überblick. 11 Pankraz Fried schloss sich im Großen und Ganzen der Meinung Hanns Hubert Hofmanns an, der bereits 30 Jahre vorher versucht hatte „das Wesen des Staatlichen im Franken des ausgehenden Alten Reiches“ zu definieren. Demnach lässt es sich als „Bündelung vielfach abgestufter Herrschafts- und Hoheitsrechte, die - zentriert um die unmittelbare vogteiliche Obrigkeit - unter wechselnden machtpolitischen Gesichtspunkten über mittel- und unmittelbare Untertanen verschiedener 11 Vgl. P ANKRAZ F RIED , Die Entstehung der Landesherrschaft in Altbayern, Franken und Schwaben im Lichte der Historischen Atlasforschung. Ein Überblick, in: K RAUS , Land und Reich (wie Anm. 6), 1-14. Im Dickicht der historischen Atlasforschung - Kleinheit als methodische Chance? 101 Abschichtung in grundherrlicher Gemengelage ausgeübt wurden“, umschreiben. 12 Diese herrschaftliche Gemengelage ist charakteristisch für die „territoria non clausa“ in Franken. Die starke territoriale Zersplitterung war gekennzeichnet durch eine Vielzahl kleinsträumiger und personalbezogener Herrschaftsgebilde. Ansätze zu einer flächendeckenden Territorienbildung durch eine Verfestigung und Ausbreitung der Hochgerichtsbarkeit konnten sich in Franken, anders als in geschlossenen institutionellen Flächenstaaten, nur schwer durchsetzen. 13 Vielmehr definierte sich über die „unmittelbare vogteiliche Obrigkeit“ der Reichsunmittelbaren, die den gesamten Bereich der Gerichtsbarkeit mit Ausnahme der Kriminaljurisdiktion umfasste, die Territorial-Superiorität, für die sich immer mehr der Begriff „Landeshoheit“ durchsetzte. 14 Elemente und Ausprägungen der Landeshoheit stellen sich dabei von Region zu Region, von Herrschaft zu Herrschaft durchaus unterschiedlich dar. 15 Zu den wichtigsten Herrschaftsrechten, auf denen die vogteiliche Obrigkeit basierte, zählten neben der niederen Gerichtsbarkeit auch die Steuer- und Wehrhoheit, die Dorf- und Gemeindeherrschaft sowie polizeiliche Aufgaben wie Konzessions- und Aufsichtsrechte. Da aber diese Gerichts- und Herrschaftsbereiche nicht überall gleichdefinierte Gerechtsame waren, sondern sich aus einer Vielzahl von Einzelrechten zusammensetzten, die oftmals unterschiedlichen Rechtsbegriffen zugeordnet wurden, müssen sie im Zweifel am konkreten Beispiel genau bestimmt werden, um ein klares Bild über Ausmaß und Umfang der Obervogtei zu bekommen. 16 Zu den Hauptkriterien der Landeshoheit gehörten darüber hinaus das jus reformandi und die private Erbhuldigung. Fraisch, Zoll, Geleit, Wildbann und andere Regalien kamen oftmals ergänzend hinzu, waren aber nicht Voraussetzung. 17 12 H ANNS H UBERT H OFMANN , Mittel- und Oberfranken am Ende des Alten Reiches (1792) (Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken II, 1), München 1954, 2. 13 Vgl. dazu: H ANNS H UBERT H OFMANN , Adelige Herrschaft und souveräner Staat (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte II), München 1962, 48f.; R UDOLF E ND- RES , Die „Staatlichkeit“ in Franken, in: A NDREAS K RAUS (Hrsg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte. III/ 1: Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts dritte, neubearbeitete Auflage, München 1997, 702-706, hier 703. 14 R OBERT S CHUH , Das vertraglich geregelte Herrschaftsgemenge. Die territorialstaatsrechtlichen Verhältnisse in Franken im 18. Jahrhundert im Lichte von Verträgen des Fürstentums Brandenburg-Ansbach mit Benachbarten, in: Jahrbuch für fränkische Landesgeschichte 55 (1995), 137-170, hier 138f. 15 Vgl. E RWIN R IEDENAUER , Zur Einführung, in: E RWIN R IEDENAUER (Hrsg.), Landeshoheit. Beiträge zur Entstehung, Ausformung und Typologie eines Verfassungselements des Römisch-Deutschen Reiches (Studien zur bayerischen Verfassungs- und SozialgeschichteXVI), München 1994, 1-10. 16 R OBERT S CHUH , Anspruch und Inhalt des Prädikats „hoch“ in der politischen und Verwaltungssprache des Absolutismus, in: R IEDENAUER , Landeshoheit (wie Anm. 15), 27f.; Vgl. auch: S CHUH , Herrschaftsgemenge (wie Anm. 14), 147f. 17 R IEDENAUER , Landeshoheit (wie Anm. 15), 5. Matthias Körner 102 Die Bedeutung der unmittelbaren vogteilichen Obrigkeit entsprach der Rechts- und Staatswirklichkeit in Franken vor allem dort am ehesten, wo sich viele kleine, meist reichsritterschaftliche oder reichsstädtische Herrschaften fanden, und so eine territoriale Geschlossenheit am wenigsten gegeben war. Betrachtet man aber die herrschaftlich und territorial relativ homogenen Gegenden Frankens, rückt die Stellung des Hochgerichts bei der Ausbildung von Territorium und Landeshoheit stärker in den Vordergrund. Die Hervorhebung des Hochgerichtsbezirkes für die Schaffung des geschlossenen Landesstaates entspricht eher dem allgemeinen Rechtsdenken der damaligen Zeit 18 und war auch für die markgräfliche Staatstheorie von entscheidender Bedeutung. 19 Die zollerische Rechtsauffassung negierte die Bedeutung der vogteilichen Obrigkeit als zentrales Element der Landeshoheit und versuchte stattdessen Territorial- Superiorität in erster Linie über das Hochgericht zu begründen. Zwar scheiterten die Markgrafen meist mit dem Versuch, ihre Rechtstheorie in der Praxis überall durchzusetzen und somit einen flächendeckenden Territorialstaat zu schaffen, an ihrem Anspruch hielten sie aber bis zum Ende des Alten Reiches fest. 20 Dies führte zwangsläufig zu zahlreichen Auseinandersetzungen mit der im Nordosten Oberfrankens verbliebenen Reichsritterschaft und dem Hochstift Bamberg. Welche Konfliktpartei im Zweifelsfall tatsächlich Territorium und Landeshoheit behauptete, welche Argumente dabei ins Feld geführt wurden und welche Rechts- und Herrschaftsfaktoren letztlich den Ausschlag gaben, lässt sich am umstrittenen Objekt am besten aufzeigen und soll nun im Folgenden am Beispiel der Auseinandersetzungen um die Rittergüter Marlesreuth und Nestelreuth darstellt werden. 3. Der Streit um Hochgericht, Territorium und Landeshoheit Der Ausgangspunkt des jahrhundertlangen Konfliktes lag in Naila, zu dessen Gerichtsbezirk ursprünglich auch die Gegend um Marlesreuth gehörte. Das Hochgericht über Naila war seit dem Ende des 14. Jahrhunderts zwischen dem Hochstift und dem Burggraftum Nürnberg umstritten. 21 Die Bischöfe von Bamberg beanspruchten es für ihre Ritterlehen in Naila. Die Zollern leiteten hingegen aus der Nachfolge der Vögte von Weida im Regnitzland das Halsgericht über alle Adelsbesitzungen und somit auch über die bambergischen Ritterlehen ab. Der Versuch eines Ausgleichs dieser konträren Ansprüche vor einem Schiedsgericht führte Anfang 18 Vgl. dazu: D IETMAR W ILLOWEIT , Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, Köln / Wien 1975, 198f. 19 Vgl. dazu im Folgendem: H OFMANN , Adelige Herrschaft (wie Anm. 13), 75f. 20 Vgl.: H OFMANN , Adelige Herrschaft (wie Anm. 13), 79f. 21 Vgl. dazu im Folgenden: K ÖRNER , Kooperation (wie Anm. 10), 99f. und 180f. Im Dickicht der historischen Atlasforschung - Kleinheit als methodische Chance? 103 des 15. Jahrhunderts zu keinem Ergebnis. Beide Seiten beharrten auf ihren Vorstellungen. Ab 1422 belehnte das Hochstift die von Wildenstein mit Besitz und dem darauf liegenden Hochgericht in Naila und Marlesreuth. Den markgräflichen Hochgerichtsanspruch über Marlesreuth versuchte ab den 1430er Jahren teils das Vogteiamt Naila und teils das Amt Schauenstein zu wahren. Seit 1493 belehnten die Markgrafen die von Reitzenstein zu Schwarzenbach am Wald mit dem Hochgericht über Marlesreuth. Damit wurde auch der regionale Adel von beiden Fürstentümern in den Konflikt mit einbezogen. Die Auseinandersetzungen um das Hochgericht trugen danach zuerst die Wildensteiner und Reitzensteiner miteinander aus. Dabei schienen anfangs die von Wildenstein ihr durch das Hochstift verliehenes Halsgerichts behauptet zu haben, wie einige Fraischfälle deutlich machen. Als im Laufe des 17. Jahrhunderts das Vogteiamt Naila anstelle der Reitzensteiner zu Schwarzenbach immer mehr Marlesreuther Hochgerichtsfälle aufgriff, schalteten sich die bambergischen Ämter Kupferberg und Enchenreuth auf Seiten der von Wildenstein verstärkt in den Konflikt ein. 22 Die Wildensteiner und die Reitzenstein als eigentliche Hochgerichtsträger zogen sich schließlich zunehmend aus dem Konflikt zurück und überließen ihren Lehensherren und deren fürstlichen Beamten die Behauptung ihrer Fraischansprüche. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gewannen die Zollern durch ihr in unmittelbarer Nähe zu Marlesreuth und Nestelreuth liegendes Vogteiamt Naila in diesem Streit Schritt für Schritt die Oberhand. Den Bamberger Ämtern Kupferberg und Enchenreuth gelang es nur noch selten, Marlesreuther Hochgerichtsfälle in ihrer Zuständigkeit zu halten und abzuurteilen. 23 Dem Hochstift blieb meist nur noch der Protest gegen das Vorgehen der markgräflichen Beamten. Im 18. Jahrhundert übte faktisch das Vogteiamt Naila das Hochgericht über die Rittergüter Marlesreuth und Nestelreuth und die dazugehörenden Ortschaften aus. Selbst in die Vogteihoheit und die Dorf- und Gemeindeherrschaft der Rittergüter griff das Vogteiamt zeitweise ein. Das Hochstift hielt aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts formal an seinem umfassenden Gerichtsanspruch in dieser Gegend fest. Auch das Territorium und die Landeshoheit über die Rittergüter waren zwischen dem Hochstift und dem Markgraftum umstritten. 24 Der Konflikt um die Landeshoheit war untrennbar mit dem Streit um das Hochgericht verbunden, da vor allem die Markgrafen aus dem ihnen vermeintlich zustehenden Hochgericht ihre landesherrliche Obrigkeit ableiteten. Diese Ansicht entsprach ganz der bereits kurz skizzierten markgräflichen Staatstheorie. Grundherrschaftliche und vogteiliche Rechte hatten die Zollern mit Ausnahme des sogenannten „Bayreuther Wirtshauses“ in Marlesreuth und Umgebung hingegen nicht. Der markgräfliche landeshoheitliche 22 Staatsarchiv Bamberg (StABa), B 46 a, Nr. 331. 23 StABa, B 46 a, Nr. 331. 24 Vgl. im Folgenden: K ÖRNER , Kooperation (wie Anm. 10), 252f. Matthias Körner 104 Anspruch auf diese Rittergüter fußte einzig und allein auf dem umstrittenen Hochgericht. Die formalrechtliche Position des Hochstiftes war dagegen von vornherein deutlich stärker. Der ehemals freieigene Besitz war vom dortigen Adel im Spätmittelalter den Bischöfen als Lehen aufgetragen worden und wurde seitdem als bambergische Ritterlehen hauptsächlich an die von Wildenstein wieder ausgegeben. Aber nicht nur der örtliche Adelsbesitz und damit einhergehende vogteiliche Rechte waren über das Lehensrecht an das Hochstift gebunden, auch das Hochgericht war nach Meinung Bambergs ein hochstiftisches Lehen, das den Wildensteinern von ihnen übertragen wurde. Damit konnten die Bischöfe ihre territorialhoheitlichen Ansprüche sowohl auf die „vogteiliche Obrigkeit“ als auch auf das Halsgericht stützen. Den Wildensteinern in Marlesreuth und Nestelreuth, die sich selbst der Reichsritterschaft zugehörig sahen, gelang es nicht, eigene landeshoheitliche Ansprüche auszubilden. Schließlich war ihre örtliche Herrschaft permanenten markgräflichen Eingriffen ausgesetzt, weshalb sie auf die Hilfe ihres Bamberger Lehensherrn zurückgreifen mussten. Das Hochstift wurde so zum Garant wildensteinischer Herrschaftsrechte und konnte seinen Einfluss auf die Adelsfamilie deutlich verstärken. Eine eigenständige, von fürstlicher Einflussnahme freie, reichsunmittelbare Herrschaft als Basis einer ritterschaftlichen Landeshoheit war deshalb nicht möglich. Folglich trugen die beiden beteiligten Fürstentümer diesen Konflikt hauptsächlich untereinander aus. 1628 kam es bezüglich dieser Differenzen erstmals zu einem Prozess vor dem Reichskammergericht. 25 Markgraf Christian von Brandenburg-Bayreuth klagte gegen Bischof Johann Georg II. von Bamberg, da bischöfliche Beamte eine Säule mit markgräflichem Wappen auf dem Gebiet von Marlesreuth entfernt hatten. Dadurch wurde nach Ansicht des Markgrafen die brandenburgische Hochgerichts- und Landeshoheit über Marlesreuth verletzt. Diese Wappensäule - ein sichtbares Zeichen der territorialen Grenze und der Landeshoheit - hatten wildensteinische Hintersassen sieben Jahre zuvor eigenmächtig aufgestellt, um den Angriffen der protestantischen Union unter Ernst von Mansfeld auf das Hochstift zu entgehen. Laut dem Bischof von Bamberg war die Aufstellung einzig den Kriegsumständen geschuldet und bedeutete keine Manifestierung markgräflicher Hoheitsansprüche. Zwar erreichte der Markgraf ein Restitutionsedikt für die entfernte Säule, von Seiten des Hochstiftes wurde dies allerdings nicht anerkannt. 40 Jahre später stritten die Konfliktparteien erneut vor dem Reichskammergericht um Hochgericht und Lan- 25 Vgl. im Folgenden: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA), RKG, Nr. 15077 (unfoliert); vgl. auch: M ANFRED H ÖRNER / B ARBARA Gebhardt (Bearb.), Bayerisches Archivinventar, Bd. 50/ 4, Nr. 1407-1839 (Buchstabe B), München 1998, 24f. Im Dickicht der historischen Atlasforschung - Kleinheit als methodische Chance? 105 deshoheit über die betreffenden Rittergüter. 26 Beide Parteien versuchten in dem Prozess unter anderem durch Zeugenaussagen, ihre Ansprüche zu untermauern. So gaben einige Bürger vor den Ämtern in Naila und Schauenstein zu Protokoll, dass Fraischfälle im Gebiet um Marlesreuth zwar umstritten waren, aber letztlich durch die markgräflichen Ämter geahndet wurden. 27 Der Anwalt des Hochstiftes verwies hingegen auf Aussagen des Enchenreuther Vogtes und Marlesreuther Hintersassen, die das Hochgericht in den Händen der Wildensteiner und deren Lehensherren sahen. 28 Auch dieser Prozess, der nach acht Jahren 1676 zum Stillstand kam und erst 1763 wieder aufgenommen wurde, brachte keine endgültige Klärung der Differenzen. Hochgericht, Territorium und Landeshoheit blieben umstritten. Zu Zugeständnissen und Kompromissen war keine Seite bereit. Das Hochstift hielt seinen Anspruch auf Landeshoheit nicht nur auf Grundlage der vogteilichen Obrigkeit seiner Lehensmänner für gerechtfertigt. Die Bischöfe konnten sich sogar noch auf das ihnen ihrer Ansicht nach zustehende Hochgericht als zusätzliches obrigkeitsbegründendes Recht beziehen. Die Markgrafen hielten ebenfalls kompromisslos an ihrer Auffassung fest; nicht zuletzt, weil über das markgräfliche Territorium und die Landeshoheit im Vogtland nach Ansicht der Zollern auch die Zugehörigkeit des dortigen Adels zu ihrer landsässigen Vogtländischen Ritterschaft bestimmt wurde. Dies führte zu einen weiteren Problem. 4. Der Streit um die korporative Zuordnung der Rittergüter Durch den Submissions-Agnitions-Rezess 1615 29 entstand zwischen den von Wildenstein zu Marlesreuth/ Nestelreuth und dem Hochstift Bamberg auf der einen Seite und dem Markgraftum auf der anderen Seite eine neue Konfliktline, in die sich auch der Kanton Gebirg der Reichritterschaft und die sich nun formierende Vogtländische Ritterschaft einschalteten. 30 Mit diesem Rezess unterwarf sich der vogtländische Adel der markgräflichen Landeshoheit. Nur wenige vogtländische Adelige verweigerten sich der Submission. Im Raum Naila unterzeichnete neben den Waldenfelsern zu Lichtenberg und Thierbach auch Wilhelm von Wildenstein zu Marlesreuth den Vertrag nicht. Die Wildensteiner zu Marlesreuth beharrten auf ihrer Reichsunmittelbarkeit. Das Hochstift unterstützte seine Lehensträger in dieser Haltung und bekämpfte den zollerischen Versuch, auch eindeutig bambergische 26 BayHStA, RKG, Nr. 3556; vgl. auch: H ÖRNER , Archivinventar (wie Anm. 25), Bd. 50/ 2, 86f. 27 BayHStA, RKG, Nr. 3556, Quad. 20, Lit. N und O. 28 BayHStA, RKG, Nr. 3556, Quad. 6, 9 und 43. 29 StABa, A 160, L 566, Nr. 1260. 30 Vgl. dazu im Folgenden: K ÖRNER , Kooperation (wie Anm. 10), 254f. Matthias Körner 106 Ritterlehen in das markgräfliche Landsassiat zu ziehen. Die Markgrafen waren hingegen der Meinung, dass sich mit dem Rezess der vogtländische Adel geschlossen unter die markgräfliche Landeshoheit begab und beanspruchten dementsprechend auch die Rittergüter Marlesreuth und Nestelreuth für ihre Vogtländische Ritterschaft. Bezüglich Marlesreuth versuchte man über die bereits bekannten Argumente zur Begründung der Landeshoheit nun auch das Landsassiat des örtlichen Adels zu belegen. So stand ja nach Ansicht der Markgrafen ihnen das Hochgericht über Marlesreuth zu. Demnach lagen die Rittergüter auch in ihrem Territorium und ihrer Landeshoheit. Da aber in der zollerischen Vorstellung nach dem Rezess von 1615 alle vogtländischen Rittergüter im markgräflichen Territorium der Vogtländischen Ritterschaft angehörten, müsse dies deshalb ebenfalls für Marlesreuth und Nestelreuth gelten. Letztlich muss man aber wohl Marlesreuth der Reichsritterschaft zurechnen. Die Erbhuldigung als deutlichstes Zeichen der Submission der Vogtländischen Ritterschaft leisteten die Wildensteiner und deren Hintersassen nicht. 31 Außerdem begriffen sich die Besitzer von Marlesreuth selbst immer als reichsunmittelbar und konnten dabei auf die Hilfe der Bischöfe von Bamberg und des Kantons Gebirg zählen. 5. Faktoren der Herrschaftsdurchsetzung Bei den dargestellten Konfliktpunkten zwischen dem Hochstift und dem Markgraftum wurde deutlich, dass umstrittene Gerichts- und Hoheitsrechte nur dann faktisch Herrschaft bedeuteten, wenn die Streitparteien ihre Ansprüche auch tatsächlich durchsetzen konnten. Ein formaler Anspruch und selbst gute Argumente halfen wenig, wenn die Gegenseite bessere Mittel und Wege fand, ihre Rechte in der Praxis zu behaupten und umzusetzen. Somit ist also für die Frage nach tatsächlicher territorialer und landeshoheitlicher Zugehörigkeit die konsequente Durchsetzung dieser Rechte entscheidend. 32 Letztere wurde in den skizierten Konflikten durch mehrere Faktoren maßgeblich beeinflusst. Eine wichtige Rolle spielten zum einen die Entfernung und die geopolitische Lage des Streitgegenstandes zum jeweils nächsten Herrschaftsträger. 33 So zeigte sich bei einigen Marlesreuther Hochgerichtsfällen, dass häufig derjenige seinen Anspruch auch realiter umsetzen konnte, der als erster vor Ort war, um den Täter bzw. das Opfer in Gewahrsam zu nehmen und den Sachverhalt zu klären. Zum Beginn der 31 StABa, A 160, L 565, Nr. 1234 und C 7 II b, Nr. 76, fol. 9v. 32 Vgl. R IEDENAUER , Einführung (wie Anm. 15), 10. 33 Vgl. dazu im Folgenden: K ÖRNER , Kooperation (wie Anm. 10), 257f. Im Dickicht der historischen Atlasforschung - Kleinheit als methodische Chance? 107 Frühen Neuzeit gelang dies noch in der Regel den seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Marlesreuth ansässigen Wildensteinern. Die von Reitzenstein zu Schwarzenbach und Schwarzenstein hatten dagegen vor allem aufgrund der großen Entfernung zwischen ihren Schlössern und Marlesreuth meist das Nachsehen bei der Wahrung ihres Halsgerichtsanspruches. Nicht zuletzt deswegen überließen sie dessen Durchsetzung ihren Lehensherrn und deren Vogteiamt Naila. Mit dem Eingreifen des Vogteiamtes Naila und gegebenenfalls des benachbarten Vogteiamtes Schauenstein in den Streit wurde die Distanz zu Marlesreuth deutlich verringert. Die dortigen markgräflichen Beamten waren schnell vor Ort und konnten den reitzensteinisch-markgräflichen Fraischanspruch besser ausüben. Das Vogteiamt Enchenreuth, das sich daraufhin auf Seiten der Wildensteiner einschaltete, lag hingegen mehr als doppelt so weit von Marlesreuth entfernt wie die markgräflichen Amtsorte, die noch dazu zusammen mit dem unter markgräflicher Landeshoheit stehenden umliegenden Adel das reichsfreie Rittergut mit Ausnahme einer schmalen Landbrücke fast ganz umschlossen. Die Distanz zwischen Nestelreuth und Enchenreuth war noch größer und erschwerte die Durchsetzung Bamberger Rechtsansprüche dort besonders. Dies tritt bei einem Fraischfall, der sich auf den zum Rittergut Nestelreuth gehörenden Feldern 1737 ereignete, deutlich zu Tage. Dort wurde am 11. November der Nestelreuther Schäfer ermordet aufgefunden und durch den Vogt von Naila und seine Helfer nach Naila überführt. Der Enchenreuther Vogt protestierte zwar am folgenden Tag gegen dieses Vorgehen, konnte aber nicht mehr in das Geschehen eingreifen. Er entschuldigte sein spätes Vorgehen gegenüber der vorgesetzten Behörde damit, daß Nailau nur eine halbe stund von Nestelreuth - Enchenreuth aber über 2 bis 3 stund weg entlegen seye. 34 Bei einem anderen Vorfall beklagte der Bamberger Beamte erneut das Problem der Entfernung und sein damit zusammenhängendes verzögertes Handeln: Als nun das meinige commando zu Marlesreuth einrückte, ziehe allschon das Nailauische mit denen arrestanten hinaus. 35 Wenn der Entfernungs- und Zeitaspekt bei der Herrschaftswahrung nicht zum Tragen kam, da sowohl Vertreter des Hochstiftes als auch des Markgraftums zeitgleich vor Ort waren, gerieten die Streitparteien bei der Umsetzung ihrer vermeintlichen Rechte oftmals ernsthaft aneinander. Nun entschied die Auseinandersetzung entweder das Recht des Stärkeren - meist bedeutete dies, dass derjenige die Oberhand gewann, der rigoros, oft unter Androhung bzw. Anwendung von Gewalt, vorging - oder man gab sich kompromissbereit und arrangierte sich mit der Situation. Dies konnte unter anderem dazu führen, dass man dann, wie etwa im Streit um den Kirchweihschutz, das umstrittene Recht gemeinsam kontrollierte und ausübte. 36 34 StABa, B 58, Nr. 7028 (unfoliert - Schriftstück vom 17.1.1782). 35 StABa, B 58, Nr. 7028 (unfoliert - Schriftstück vom 16.3.1782). 36 Vgl. K ÖRNER , Kooperation (wie Anm. 10), 259. Matthias Körner 108 In jedem Fall rückten nun das herrschaftliche Personal und seine Bereitschaft zu einer wie auch immer gearteten Konfliktlösung in den Vordergrund. Die Motivation des fürstlichen Beamten war jetzt im entscheidenden Maße gefragt. 37 Schließlich konnte eine Herrschaftsbehauptung nur dann erfolgreich sein, wenn auch der Beamte vor Ort bereit war, im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür einzutreten. Gerade die Bamberger Beamten aus Enchenreuth scheinen Mitte des 18. Jahrhunderts im Konflikt eher defensiv aufgetreten zu sein. Dies wird bei dem Heimfall des Rittergutes Nestelreuth an das Hochstift 1782 deutlich. So rechtfertigte sich der bambergische Vogt Roppelt auf die Frage, warum er nicht mit mannschaft nach das schloss Nestelreuth vorgerücket seye, indem er betonte, dass sonst zu viel eclat gemacht worden wäre und er der Gegenseite so ebenfalls zu gleichmässiger mannschaftszusammenziehung gelegenheit gegeben hätte. 38 Da aber das Vogteiamt Naila zugleich das amt Selbitz und Schauenstein an der hand hat, so Roppelt weiter, sei dies eher ohnräthlich. 39 Das Vorgehen des markgräflichen Vogts aus Naila war in demselben Fall wesentlich energischer. Dieser besetzte mit 40 Mann den ehemals zum Rittergut Nestelreuth gehörenden Ort Schottenhammer und nahm die markgräflichen, nun ebenfalls heimgefallenen Lehen deutlich sichtbar für Brandenburg-Bayreuth in Besitz. 40 Nach dem Übergang der Markgraftümer an Preußen wurden die Bewohner von Marlesreuth und Nestelreuth 1796 durch den Nailaer Vogt Stainlein und 50 Mann eines preußischen Ausschusskommandos gewaltsam nach Naila gebracht und dort in Wirtshäusern so lange festgesetzt, bis sie dem neuen preußischen Landesherren den Huldigungseid geleistet hatten. 41 Aufgrund dieses Vorgehens schrieb der Bamberger Fürstbischof Christoph Franz eine Beschwerde an Hardenberg und verlangte die Auslieferung des Vogtes. Auch der neue Enchenreuther Vogt Körner richtete eine Protestnote an seinen direkten Gegenspieler Stainlein in Naila und kündigte an, dass zukünftig Gewalt mit Gewalt vergolten werde. 42 Tatsächlich rückte wenig später auf Befehl Körners ein Bamberger Kommando von 110 Mann in Marlesreuth ein, ließ die preußischen Hoheitstafeln niederreißen und die neu angebrachten Hausnummern löschen. 43 Zwei preußisch gesinnte Bewohner wurden dabei schwer verletzt und nach Enchenreuth verschleppt. Dagegen protestierte die preußische Regierung scharf und verlangte nun ebenfalls die Auslieferung des Vog- 37 Zur Bedeutung des politischen Personals im Konflikt zwischen dem Hochstift und dem Markgraftum zu Beginn der Frühen Neuzeit vgl. vor allem: W EBER , Grenzüberschreitungen (wie Anm. 5), 34f. 38 StABa, B 58 III, Nr. 7028 (unfoliert - Schriftstück vom 17.1.1782). 39 StABa, B 58 III, Nr. 7028 (unfoliert - Schriftstück vom 17.1.1782). 40 StABa, B 58 III, Nr. 7028 (unfoliert - Schriftstück vom 19.1.1782). 41 StABa, B 46 a, Nr. 369 (unfoliert - Schriftstück vom 22.10.1796). 42 StABa, B 46 a, Nr. 369 (unfoliert - Schriftstück vom 30.10.1796). 43 StABa, B 46 a, Nr. 369 (unfoliert - Schriftstück vom 16.11.1796). Im Dickicht der historischen Atlasforschung - Kleinheit als methodische Chance? 109 tes der Gegenseite. 44 Der Bischof versprach daraufhin, den Fall zu untersuchen und den Vogt gegebenenfalls zu bestrafen, zumal der Bamberger Beamte bei diesem Vorfall wohl ohne Anweisung des Hochstiftes agiert hatte. Der Enchenreuther Vogt Körner zeigte sich im Konflikt um Landeshoheit und Territorium also deutlich aggressiver als sein Vorgänger Roppelt und scheute auch vor Gewalt nicht zurück. So gelang es ihm, dem Bamberger Hoheitsanspruch für kurze Zeit zur Geltung zu verhelfen. Dabei überschritt er durch sein eigenmächtiges, mit den vorgesetzten Behörden nicht abgestimmtes Handeln sogar seine eigentlichen Kompetenzen. Diese Beispiele machen die Bedeutung des herrschaftlichen Personals vor Ort im Konfliktfall deutlich. Motivation und Tatkraft der örtlichen Beamten gaben oftmals den Ausschlag zwischen tatsächlicher Herrschaftsbehauptung und Herrschaftsverlust. Eine zwar geringere, aber nicht unerhebliche Rolle spielte in diesen Auseinandersetzungen auch die Haltung der Untertanen. Diese dürften in der Regel mit ihren adeligen Lehensherren sympathisiert und deren Herrschaftsanspruch am ehesten akzeptiert haben. Schließlich beeinflussten die Wildensteiner als unumstrittene Grund- und Vogteiherren den Alltag der Hintersassen maßgeblich, zumal sie lange Zeit mit Schlössern in Marlesreuth und Nestelreuth direkt vor Ort präsent waren. Der Hochgerichtsanspruch der Reitzensteiner bzw. der Markgrafen war wohl für die meisten ritterschaftlichen Hintersassen eine abstrakte Größe, die nur dann an Relevanz gewann, wenn tatsächlich ein seltener Hochgerichtsfall zu Auseinandersetzungen der Konfliktparteien führte und dies für sie Konsequenzen hatte. Da aber im Laufe der Frühen Neuzeit die Markgrafen bekanntermaßen über das Hochgericht die Landeshoheit ableiteten und dementsprechend die Hintersassen der Rittergüter nun als ihre Untertanen ansahen, wurden sie mit landesherrlichen Abgaben belegt und sollten an die vogtländische Ritterkasse Steuern abführen. Nun positionierten sich die Einwohner von Marlesreuth und Nestelreuth eindeutig. Die vermeintliche Landeshoheit und Hochgerichtszuständigkeit der Markgrafen wurden abgelehnt. Die Zeugenaussagen Marlesreuther Einwohner im Zuge der erwähnten Reichskammergerichtsprozesse zeigen dies deutlich. Das hatte zur Folge, dass die von ihnen verweigerten Steuern an die Ritterkasse in Hof nun durch markgräfliche Beamte zwangsweise und häufig gewaltsam eingezogen wurden. Außerdem mussten sie bei schwerwiegenden Rechtsvergehen damit rechnen, doppelt belangt zu werden, nämlich sowohl durch das markgräfliche Vogteiamt Naila als auch durch die Wildensteiner bzw. das bambergische Zentamt Enchenreuth. 45 Dennoch hatten die unklaren Gerichts- und Hoheitsverhältnisse im Raum Marlesreuth für die Bewohner 44 StABa, B 46 a, Nr. 369 (unfoliert - Schriftstück vom 25.12.1796). 45 StABa, B 58 III, Nr. 7028 (unfoliert - Schriftstück vom 17.1.1782) und B 54, Nr. 1286 (unfoliert -Schriftstück vom 12.7.1792). Matthias Körner 110 auch positive Seiten. So wussten Marlesreuther Hintersassen die umstrittene landeshoheitliche Situation ihrer Umgebung während der Wirren des Dreißigjährigen Krieges geschickt zu nutzten. Sie richteten an ihrer Ortsgrenze eine Säule mit markgräflichem Wappen auf, wiesen damit Marlesreuth als vermeintliches Brandenburger Territorium aus, und hofften so, den Kriegszügen der protestantischen Heere zu entgehen. Nachdem sie danach allerdings durch den Hauptmann von Hof zu Zahlungen an das Markgraftum aufgefordert wurden, beriefen sie sich wieder auf die hochstiftische Landeshoheit, entfernten die Säule und verweigerten die Abgaben. 46 Ritterschaftliche oder landesherrliche Steuerzahlungen stellten sie im Laufe des 18. Jahrhunderts aufgrund der unklaren Ansprüche ganz ein. 47 Lange Zeit sahen sich die Hintersassen der Rittergüter Marlesreuth und Nestelreuth wohl mehrheitlich der wildensteinischen bzw. hochstiftischen Gerichtsbarkeit und der Bamberger Landeshoheit zugehörig. Im Wirtschaftsleben waren die Beziehungen der Marlesreuther und Nestelreuther zu den umliegenden großen markgräflichen Ortschaften allerdings deutlich intensiver als zu Döbra oder dem Bamberger Amtsort Enchenreuth. Dies geht aus einem Bericht eines hochstiftischen Beamten an die Hofkammer in Bamberg deutlich hervor. So äußerte er sich zu den Beziehungen der Einwohner von Marlesreuth zum Hochstift mit den Worten: Die Marlesreuther hätten mit den bambergl. untertahnen sehr wenig verkehr; ihre seilschaften brächten sie nach Naila und andere Bayreuther städte, wo sie auch daselbst ihre nothwenigkeiten erkauften. 48 Auch über die Religionszugehörigkeit gab es eine feste Anbindung an das Markgraftum. Schließlich war der gesamte Raum Naila, eingeschlossen der Gegend um Marlesreuth und Döbra, seit der Reformation evangelisch. Gegen Ende des Alten Reiches identifizierten sich die Bewohner der Ortschaften dann stärker mit dem Markgraftum bzw. Preußen, auch wenn sie erst unter Druck 1796 den König von Preußen als ihren Landesherrn offiziell anerkannten. Das Hochstift verlor hingegen zunehmend an Rückhalt in der Bevölkerung der Gegend. 1792 musste schließlich ein Bamberger Beamter bezüglich Marlesreuth feststellen: Kein inwohner sey bambergisch gesinnt, sämtliche eiferten für das bayreutl. interesse. 49 46 BayHStA, RKG, Nr. 15077 (unfoliert). 47 StABa, B 58 III, Nr. 7028 (unfoliert - Schriftstück vom 17.1.1782) und B 54, Nr. 1285 (unfoliert -Schriftstück vom 12.7.1792). 48 StABa, B 54, Nr. 1285 I (unfoliert - Schriftstück vom 12.7.1792). 49 StABa, B 54, Nr. 1285 I (unfoliert - Schriftstück vom 12.7.1792). Mikrokosmos Kempten: „Kleine Strukturen“ - „Große Geschichte“? Franz-Rasso Böck In der Geschichtswissenschaft bergen griffig formulierte Tagungsthemen das Risiko in sich, als schlüssige und perfekt organisierte historische Räumlichkeiten und Bezugswelten zu erscheinen, zu denen nur der Zutritt zu haben scheint, dessen eigener Tagungsbeitrag sich als weitgehend kompatibel, am besten kongruent mit der Formulierung des Themas erweist. Und nicht nur mit der Formulierung, sondern auch inhaltlich, denn die Überschrift ist natürlich ein Wegweiser, ja gewissermaßen eine Verdichtung, worum es in einer Tagung gehen soll, worauf sie hinaus will. So läuft man Gefahr, mit seinem eigenen Beitrag das Tagungsthema nicht nur aufgreifen, sondern auch inhaltlich möglichst zwingend bestätigen zu wollen. Löst man sich jedoch von dieser Fixierung, so kann das eigene Beispiel sehr wohl zur Bestätigung des Tagungsthemas beitragen, es aber durch Gegenpositionen auch reizvoll bereichern und damit den Horizont des Bezugsrahmens wertvoll erweitern. 1. Sonderfall Kempten Die Geschichte Kemptens als einer „elliptisch gleichsam in zwei Brennpunkten“ 1 angelegten Doppelstadt spiegelt sich im Dualismus von Fürststift und Reichsstadt wider und stellt einen Sonderfall mit stets reizvoller Herausforderung für die Forschung dar. Als geschichtliches Kuriosum vermag die Polarität der einstigen beiden Kempten reichlich Anhaltspunkte zu liefern, sich exakt in Formulierung und Inhalte eines Tagungsthemas einzufügen - oder aber gegen den Strom zu schwimmen. Dazu seien einige Beispiele Irseer Tagungen 2 angeführt. Sowohl im Fürststift als auch in der Reichsstadt Kempten finden wir in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Gedankengut der Aufklärung, ohne dabei um 1 B ERNHARD Z ITTEL , Der „Familienstreit“ zwischen Reichsstadt und Stift Kempten, in: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 14 (1984), 177. 2 Vgl. dazu die Tagungsbände: Aspekte der Aufklärung in Altbayern und Ostschwaben (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 54, Bd. 1, München 1991), Wolfgang Wüst / Georg Kreuzer / Nicola Schürmann (Hrsg.), Der Augsburger Religionsfriede 1555. Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 98), Augsburg 2005; Wolfgang Wüst / Georg Kreuzer / David Petry (Hrsg.), Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in Mittelalter und Neuzeit (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 100), Augsburg 2008. Franz-Rasso Böck 112 jeden Preis aufklärerische Züge entdecken zu wollen, was die ganze inhaltliche Diskussion und Ambivalenz des Begriffes Aufklärung betrifft. Auch wenn von einer unmittelbaren inhaltlichen Rezeption und Umsetzung des Augsburger Religionsfriedens 1555 in der Reichsstadt Kempten nicht gesprochen werden kann, eröffnete der Friedensschluss der Stadt im Prozess der Konfessionalisierung weitere Möglichkeiten, ihre noch junge Unabhängigkeit vom Stift zu festigen, auszubauen und eigene politische und kirchenpolitische Wege zu gehen. Was die nachbarschaftlichen Kontakte und die außenpolitischen Beziehungen von Fürststift und Reichsstadt im Innenverhältnis wie in der überregionalen Verflechtung betrifft, kann für Kempten nicht von „Entterritorialisierung“ und „Entgrenzung“ gesprochen werden, sondern es ist trotz manch’ günstiger Entwicklung zum Ende des Alten Reiches hin eher eine Verfestigung und Abschottung von Grenzen und Mentalitäten festzustellen - eine Hypothek für die Vereinigung der Anfang des 19. Jahrhunderts an Bayern gefallenen beiden Kempten. Daraus wird ersichtlich, dass die Geschichte Kemptens alles andere als „stromlinienförmig“ verläuft. Die Forschung ist nach wie vor stark auf eben dieses innere Verhältnis im „Mikrokosmos“ Kempten fixiert, die reichhaltigen Dimensionen der Außenbeziehungen von Fürststift und Reichsstadt Kempten sind bis heute allenfalls ansatzweise und exemplarisch, keinesfalls zusammenfassend erforscht und dargestellt worden. Doch gerade für die Thematik „Kleine Strukturen“ lohnt der Blick auf Kempten, das in seiner besonderen Verfasstheit nahezu ein Musterbeispiel einer lokalen und regionalen Geschichtswelt ist, deren Repräsentanten die kleine Reichsstadt und das Fürststift Kempten sind, das Peter Blickle als einen „typischen Kleinstaat“ 3 charakterisiert hat. Gleichwohl müssen die „Großen Strukturen“ für Kempten nicht angestrengt bemüht werden, sie fallen sozusagen mit der Tür ins Haus, haben doch bedeutende Ereignisse der deutschen und europäischen Geschichte ihren Niederschlag wie unter einem Brennglas gebündelt in den „Kleinen Strukturen“ Kemptens gefunden - ein dankbares Terrain für die Forschung wie für einen didaktisch beispielhaften schulischen Geschichtsunterricht. Besonders signifikant tritt die Verknüpfung der „kleinen Strukturen“ Kemptens mit der „großen Geschichte“ im Bauernkrieg 1525, im Dreißigjährigen Krieg 1618-1648 und in der Revolution 1848/ 49 hervor. 3 P ETER B LICKLE , Das Fürststift Kempten. Ein typischer Kleinstaat in der Frühneuzeit, in: V OLKER D OTTERWEICH / G ERHARD W EBER / K ARL F ILSER . (Hrsg.), Geschichte der Stadt Kempten, Kempten 1989, 184-202. Mikrokosmos Kempten: „Kleine Strukturen“ - „Große Geschichte“? 113 2. Bauernkrieg 4 Peter Blickle, der wohl renommierteste Historiker des Bauernkrieges, schreibt: „Die Politik der Territorialstaatsbildung nämlich wurde überwiegend auf dem Rücken der Bauern ausgetragen. Die Bauern wehrten sich. Dadurch hat das Allgäu ‚Weltgeschichte’ gemacht - Der Bauernkrieg von 1525, die hinsichtlich Massenbasis, Gewaltsamkeit und perspektivischer Weite des Programms bedeutendste bäuerliche Bewegung in Alteuropa begann und endete im Fürststift Kempten“. 5 Dabei bedrückte die Bauern weniger eine unmittelbare Notlage als vielmehr die allgemeine Instabilität der Verhältnisse und ein Gefühl der Rechtsunsicherheit. Die Politik der Fürstäbte war darauf gerichtet, freie Untertanen in den Stand der Leibeigenschaft zu drücken und mittels Tausch von Leibeigenen mit benachbarten Herrschaften (z.B. Kloster Ottobeuren) einen einheitlichen Untertanenverband in einem geschlossenen Territorium zu schaffen. Besonders bei den abgabeüberlasteten Bauern des Stiftes Kempten fiel Luthers Lehre von der „Freiheit eines Christenmenschen“ auf fruchtbaren Boden, die freilich der obrigkeitstreue Luther innerlich verstanden wissen wollte und nicht aktiv politisch als Signal zu umstürzlerischen Veränderungen. Wollte Luther den Geltungsbereich des Evangeliums auf die kirchlich-religiöse Ordnung beschränkt sehen, so sahen die Bauern unter Berufung auf das „Göttliche Recht“ in der Hl. Schrift das geeignete Mittel zur Reformierung einer Gesellschaft, in der die bislang unmündigen Bauern als freie Christenmenschen am gesellschaftlichen Prozess teilhaben wollten. Unter den im Verlauf der bäuerlichen Aktionen aufgestellten Forderungen und Beschwerdeschriften gelten die im März 1525 in Memmingen veröffentlichten „Zwölf Artikel“ der oberschwäbischen Bauern als das am weitesten verbreitete programmatische Dokument des Deutschen Bauernkrieges, das auch für die Allgäuer und Kemptener Bauern große Integrationskraft besaß. Darin forderten sie vor allem die reine Predigt des Evangeliums, die freie Wahl der Pfarrer durch die Gemeinden und die Aufhebung der Leibeigenschaft, da doch Christus alle Menschen zur Freiheit erlöst habe. Luther dagegen sah in den Aktionen der Bauern obrigkeitsfeindliche Bestrebungen und stellte sich dann auch im großen Bauernkrieg 1525 mit seiner Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ ganz auf die Seite der Fürsten. Letztlich unterlagen die Bauern dem besser organisierten Heer des Schwäbischen Bundes und mussten einen 4 Vgl. zum Gesamtzusammenhang E LMAR L. K UHN (Hrsg.), Der Bauernkrieg in Oberschwaben, Tübingen 2000; P ETER B LICKLE , Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, München 1973, hier 316-394; DERS ., Die Landstandschaft der Kemptener Bauern, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 30 (1967), 201-241. 5 P ETER B LICKLE , Klosterherrschaft im Mittelalter. Zur Entstehung des stift-kemptischen Territorialstaats, in: D OTTERWEICH , Kempten (wie Anm. 3), 78-89, hier 87f. Franz-Rasso Böck 114 hohen Blutzoll zahlen. Machte der Martinszeller Vertrag vom 25. Oktober 1525 eher vage und unverbindliche Zugeständnisse, so brachte der Memminger Vertrag vom 19. Januar 1526 eine genaue Bezifferung der zu leistenden Steuern und Abgaben und schuf für die Zukunft ein Stück Rechtssicherheit, so dass der Kampf der Bauern um ihre Rechte im Fürststift Kempten nicht ganz vergebens gewesen ist. In diesem Zusammenhang ist forschungsgeschichtlich zu betonen, dass der Martinszeller und der Memminger Vertrag bis zu den wegweisenden Arbeiten Peter Blickles (zu den Verträgen erstmals 1967) 6 als eher unbedeutend eingestuft wurden, da sie an der tristen Lage der Bauernschaft praktisch nichts geändert hätten. Schon der Martinszeller Vertrag sei nicht gänzlich umsonst gewesen, auch wenn sich ihm die Mehrheit der Kemptener Untertanen (der Begriff „Landschaft“ als Bezeichnung für die gesamte Untertanenschaft des Klosters Kempten begegnet erstmals 1525) nicht anschließen wollte, „weil er wenig zu bieten schien“. 7 Im Memminger Vertrag hingegen sieht Blickle die „Magna Charta“ 8 der Landschaft des Stiftes Kempten, denn trotz der Niederlage der Bauern liege die Bedeutung der Übereinkunft darin, dass die „stift-kemptischen Untertanen als Vertragspartner des Klosters von der Schiedskommission des Schwäbischen Bundes anerkannt“ 9 wurden. Somit könne der Vertrag auch nicht einseitig als „ein Diktat des Siegers“ 10 gesehen werden, er „trägt vielmehr wider Erwarten den Forderungen der kemptischen Bauern in beschränktem Maße Rechnung. Zwar gab man nicht allen Beschwerden der Untertanen statt, aber sie erreichten immerhin eine Fixierung ihrer Abgaben und Verpflichtungen, die somit vom Kloster nicht mehr willkürlich erhöht werden konnten“. 11 Die Bauern „weigerten sich nun auch vielfach, dem Abt die Huldigung zu leisten oder die Abgaben zu entrichten“. 12 Es sei „nicht zu übersehen, dass das Abkommen für die kemptischen Bauern gegenüber den bisher herrschenden unsicheren Rechtsverhältnissen Vorteile brachte“. 13 Blickle resümiert: „Wenn sich der Memminger Vertrag auch nicht wesentlich von dem zu Martinszell geschlossenen unterscheidet und damit die Erwartungen der Landschaft nicht in vollem Maß erfüllt wurden, so trugen die Memminger Bestimmungen in einzelnen Bestimmungen doch freundlicheren Charakter“ 14 . 6 B LICKLE , Landstandschaft (wie Anm. 4); Abdruck der Bestimmungen des Memminger Vertrages in: P ETER B LICKLE / R ENATE B LICKLE (Hrsg.), Schwaben von 1268 bis 1803 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern II, 4), München 1979, 292- 305. 7 B LICKLE , Landstandschaft (wie Anm. 4), 218. 8 B LICKLE , Landstandschaft (wie Anm. 4), 208. 9 B LICKLE , Landstandschaft (wie Anm. 4), 208 f. 10 B LICKLE , Landstandschaft (wie Anm. 4), 209. 11 B LICKLE , Landstandschaft (wie Anm. 4) 209. 12 B LICKLE , Landstandschaft (wie Anm. 4), 218. 13 B LICKLE , Landstandschaft (wie Anm. 4) 218. 14 B LICKLE , Landstandschaft (wie Anm. 4), 218, Anm. 39. Mikrokosmos Kempten: „Kleine Strukturen“ - „Große Geschichte“? 115 3. Dreißigjähriger Krieg 15 Die Reichsstadt und das Fürststift Kempten mit seinem Umland waren von 1618 bis 1631 nicht unmittelbar von den Kampfhandlungen des Dreißigjährigen Krieges betroffen. Allerdings wurden die Truppendurchzüge und Einquartierungen zu einer starken Belastung. Im Stiftsgebiet mussten die Bauern die Soldaten verpflegen, in der Stadt waren für einquartierte Kompanien zusätzliche Geldmittel aufzubringen. Seit 1632 aber sollten sich die Schrecken des Krieges unmittelbar auf das Allgäu und Kempten konzentrieren. Dazu kam der alte Gegensatz zwischen Stift und Stadt, der seit der Einführung der Reformation in der Reichsstadt 1527 besonders an konfessioneller Schärfe gewann: Kloster und Reichsstadt zerstörten sich 1632/ 33 schließlich gegenseitig - ein trauriger Höhepunkt in der Kemptener Geschichte. Besonders die bäuerliche Landbevölkerung des Stiftes Kempten hatte unter den Verhältnissen und den sich daraus ergebenden Folgen zu leiden. Die anhaltenden Durchzüge und Einquartierungen von Truppen sowie die unmittelbaren Verheerungen des Krieges hatten den Mangel der wichtigsten Versorgungsgüter zur Folge und führten zu Notlagen. Nach dem damaligen Brauch wurden die Soldaten aus dem besetzten oder gerade durchzogenen Land nicht bloß verpflegt, sondern auch ihre Entlohnung musste durch Kontributionen (Kriegsumlagen) aufgebracht werden, oft binnen kürzester Frist. Die Kriegführenden pressten dabei so viel Geld wie nur irgend möglich aus der Bevölkerung, um neben dem Sold für ihre Truppen auch die Kriegskassen und den eigenen Beutel zu füllen. Außerdem mussten die Bürger der Städte und die Untertanen der Grundherrschaften die fast unerschwinglichen Steuern für das Reich aufbringen. All’ diese Belastungen waren schon in den ersten Kriegsjahren zu spüren, lange bevor der eigentliche Krieg ins Allgäu kam. Die nähere ländliche Umgebung Kemptens hatte wegen der Stadtnähe erheblich unter den Truppen zu leiden. Dazu kam noch eine gewaltige Geldentwertung, woraus sich das inflationistische Merkmal einer ungeheuren Preissteigerung in den Jahren 1621/ 22 erklären lässt. So war auch das Allgäu schon vor den erst später einsetzenden Kriegshandlungen ausgesogen und verarmt. Aber es sollte noch wesentlich schlimmer kommen. Die wechselnde Schreckensherrschaft der Schweden bzw. der Kaiserlichen in den Jahren 1632 und 1633 hatte zahllose Bettler, geschändete Frauen und Mädchen, verbrannte Höfe und leere Ställe und Scheunen hinterlassen, was ihnen folgte, waren Hungersnot und Pest. 15 Vgl. zum Gesamtzusammenhang W ILHELM LIEBHART , Krieg und Frieden. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1803, in: D OTTERWEICH , Kempten (wie Anm. 3), 244-256, hier 246-249. Franz-Rasso Böck 116 In Kempten begannen die durch die Einquartierungen ruinierten Bürger auszuwandern oder sich in fremde Kriegsdienste zu begeben. Am 24. Januar 1634 berichtet der Siechenpfleger dem Stadtrat, die armen Leut’ im Siechenhaus hätten kaum etwas zu essen 16 , worauf allerdings der Stadtrat antwortet, die Leut sollen sich doch gedulden, die Ratsherren hätten auch nichts zu essen. 17 Im Ratsprotokoll der Reichsstadt Kempten vom 21. November 1634 heißt es: Groß Jammer und Not ist in der Stadt und uff dem Land, dass die Nachkommen solches künftig nit glauben werden. 18 Die Bauern konnten ihre Felder nicht mehr oder nicht mehr ausreichend bebauen, denn dazu fehlte es an Arbeitskräften, an Saatgut und Vieh. So gab es 1634 eine abermalige Teuerung und Hungersnot. Franz Ludwig Baumann schrieb in seiner „Geschichte des Allgäus“: Um seinen Hunger zu stillen, aß das Volk im Schreckensjahr 1634 Gras, Baummoos, Rinden, Brennnesseln, Eicheln, Hunde, Katzen, Mäuse, Frösche, ja Kröten und Aas. 19 Mit bewegten Worten berichtet der Kemptener Fürstabt Johann Willibald Schenk von Kastell (Regierungszeit 1631 bis 1639) an Kaiser Ferdinand II (Regierungszeit 1619 bis 1637): Der Hunger, Kummer und das Elend bei den Leuten ist groß, dass es einen Stein erbarmen sollte, täglich werden Tote gefunden. Es hat kein Aufhören, denn das Land wird nicht nur von den Soldaten in der Stadt, sondern auch von denen, die in der Nachbarschaft wie Memmingen, Kaufbeuren, Mindelheim, Isny und Leutkirch stündlich durchstreift und unsicher gemacht. Die Felder sind nicht angesät worden, so dass Jammer und Not auch im künftigen Jahr desto mehr sich finden wird. Es ist unmöglich, dass die armen Untertanen die Last noch länger tragen müssen, umso mehr sie auch für andere zahlen müssen. 20 Wenn Stadt und Stift zwischen 1635 und den letzten Kriegshandlungen 1646 auch elf Jahre lang von militärischen Auseinandersetzungen verschont blieben, zu spüren bekam Kempten den Krieg immer noch hauptsächlich durch die Truppeneinquartierungen und Durchzüge, die kein Ende nehmen wollten. Allein von Mai 1635 bis August 1636 kamen neun verschiedene Regimenter durch die Stadt, für welche sie nach geringster Berechnung 62000 Gulden aufzuwenden hatte. 16 Zit. nach A LFRED WEITNAUER , Allgäuer Chronik - Daten und Ereignisse, II, Kempten 1971, 213. 17 A LFRED WEITNAUER , Allgäuer Chronik (wie Anm. 16), 213. 18 Stadtarchiv Kempten (StA Kempten), Ratsprotokolle der Reichsstadt Kempten, Bd. 15 (1634-1637), fol. 22 r-24 v. 19 F RANZ L UDWIG BAUMANN , Geschichte des Allgäus, Bd. 3, Kempten 1894, 198. 20 Zit. nach J OSEF R OTTENKOLBER , Geschichte des hochfürstlichen Stiftes Kempten, München o.J. (1932), 127f., DERS ., Stadt und Stift Kempten im Dreißigjährigen Kriege, in: Heimgarten 15 (1930), 16-55, hier 51. Mikrokosmos Kempten: „Kleine Strukturen“ - „Große Geschichte“? 117 Als 1647/ 1648 noch einmal kaiserliche und bayerische Besatzung in der Stadt Kempten lag und, um ihr Leben zu fristen, auf dem Lande die nötigen Mittel erpresste, klagte Fürstabt Roman Giel von Gielsberg (Regierungszeit 1639 bis 1673) dem bayerischen Kurfürsten Maximilian I. (Regierungszeit 1598 bis 1651) sein Leid: Die von der kaiserlichen und bayerischen Armee ausstreifenden Soldaten schonen weder Kirchen, Pfarrhöfe noch Geistliche; das meiste Vieh, Stroh und Hausrat wird weggenommen, die Leute werden geprügelt und mit Füßen getreten, tyrannisch behandelt und ausgeraubt. Die Kisten, Öfen, Fenster und Häuser werden zerschlagen, Menschen getötet, Höfe verbrannt, die Früchte auf den Feldern abgemäht. 21 Der Versuch, ein „Verlustkonto“ des 30-jährigen Krieges für das Allgäu aufzustellen, kann nicht gewagt werden, weil letztlich nur ein kleiner Teil der Geschehnisse überliefert ist. 4. Revolution 1848/ 49 22 Die Revolution 1848/ 49 für Freiheit und Einheit in Europa und Deutschland hatte im deutschen Südwesten einen ihrer Brennpunkte. Auch das Allgäu und Kempten waren von den Ereignissen maßgeblich betroffen. Im Gefolge der französischen Juli-Revolution von 1830 griff die Bewegung eines zur politischen Mündigkeit erwachenden Bürgertums, getragen vom Zeitgeist des Liberalismus und Nationalismus, auf Deutschland über. Ihre zweifache Zielsetzung bestand darin, zum einen eine freiheitliche Verfassung auf Basis der Grund- und Menschenrechte nach amerikanischem und französischem Vorbild, zum anderen einen deutschen Nationalstaat zu schaffen. Diese Vorstellungen fanden im Allgäu und in Kempten zunächst keine große Resonanz: Die Kemptener Bürger neigten noch zu politischer Abstinenz und betätigten sich in zunächst rein gesellig ausgerichteten Vereinen wie der „Harmonie“ oder dem „Liederkranz“. Erste Anzeichen einer Auflehnung gegen das staatliche 21 Zit. nach R OTTENKOLBER , Stadt und Stift Kempten im Dreißigjährigen Kriege (wie Anm. 20), 55. 22 Vgl. zum Gesamtzusammenhang P ETER F ASSL (Hrsg.), Die Revolution 1848/ 49 in Bayerisch-Schwaben. Dokumentation der Wanderausstellung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben 1998/ 99, Augsburg 1998, zu Kempten bes. 39, 47-49; F RANZ R ASSO B ÖCK , Kempten vom Übergang an Bayern bis 1848, in: D OTTERWEICH , Kempten (wie Anm. 3), 349-371, bes. 366-371; DERS ., Anmerkungen zur Kemptener Zeitungsgeschichte, in: F RANK EDELE (Hrsg.), Neueste Weltbegebenheiten. 225 Jahre Verlag und Buchhandlung Tobias Dannheimer (Katalog zur Ausstellung „Neueste Weltbegebenheiten“ im Allgäu- Museum Kempten 7. Juni bis 7. September 2008), Kempten 2008, 68-79. Franz-Rasso Böck 118 Regime traten seit 1829 in den Agitationen 23 des zeitweise vom Dienst suspendierten Kemptener Rechtsrats (seit 1821) Balthasar Waibel (1796-1865) 24 zutage. Sodann beobachtete die bei Tobias Dannheimer verlegte Kemptner Zeitung, 1841 aus den seit 1784 erscheinenden „Neuesten Weltbegebenheiten“ hervorgegangen, die politisch-gesellschaftliche Entwicklung im Sinne des Liberalismus und als schließlich Waibel im Revolutionsjahr 1848 am 1. März die Schriftleitung übernahm, entwickelte er das Blatt mit der ganzen Kraft seiner Sprachgewalt beinahe über Nacht zum meistgelesenen, im Allgäu und weit darüber hinaus verbreiteten Kampforgan antikonservativer Prägung. Bereits im Frühjahr 1848 kam es zu Unruhen und tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und Zivilisten, besonders auch Bauern. Die Aufklärungskampagnen und Aktivierungsappelle der Kemptner Zeitung entfalteten bereits nachhaltige Wirkung auf das Verhalten der Bevölkerung. Sofort mit Beginn seiner Tätigkeit als Redakteur machte Waibel seine politische Haltung unmissverständlich deutlich und erläuterte in einem Kommentar ausführlich seine redaktionellen Prinzipien und Fragen der Pressefreiheit: Von morgen an wird die Kemptner Zeitung unter Verantwortlichkeit des Unterzeichneten redigiert […] Tendenz und Haltung des Blatts erleiden hiedurch keine Aenderung und es hat weder der Sonderbund der Rückwärtsler und Finsterlinge noch die diplomatische Allianz der Süßlächler und Leisetreter die mindeste Concession, sondern stets entschiedene Opposition zu erwarten. 25 Waibel wurde von namhaften Gesinnungsgenossen unterstützt, die Kempten zu einer „aufmüpfigen Provinz“ machen sollten: Den Verlegern der Kemptner Zeitung, Tobias Dannheimer (1769-1861) und seinem Sohn Johann Martin Dannheimer (1804-1851), dem Gutsbesitzer und Käsehändler Johann Michael Schnetzer (1809-1880), Abgeordneter im Bayerischen Landtag, und nicht zuletzt dem Kemptener Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, Geschichtsschreiber 23 StadtA Kempten, A III 32 (Personalakten Balthasar Waibel); B 35 (Höschels Chronik von Kempten 1829-1877); Protokoll des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten vom 9. Sept. 1829. 24 Zu Person, Leben, Leistung und Tragik Balthasar Waibels vgl. bes. P AUL H OSER , Die kurze Blütezeit der demokratischen Presse im Allgäu - Balthasar Waibel und die ‚Kemptner Zeitung‘ 1847 bis 1851, in: P ETER F ASSL / W ILHELM L IEBHART / D ORIS P FISTER und W OLF- GANG W ÜST (Hrsg.), Bayern, Schwaben und das Reich. Festschrift für Pankraz Fried zum 75. Geburtstag (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 11), Augsburg 2007, 347-363; U LRICH K LINKERT , Revolution in der Provinz. Kaufbeuren in den Jahren 1848 und 1849 (Kaufbeurer Schriftenreihe 5), Thalhofen 2004, hier zu Kempten 215-224, 287-292; A NGELA W AGNER , Die Revolution von 1848/ 49 im Allgäu unter besonderer Berücksichtigung der Kemptner Zeitung, Magisterarbeit München 1986 (ungedruckt, Manuskript im StadtA Kempten). 25 Kemptner Zeitung Nr. 60 vom 29. Februar 1848. Mikrokosmos Kempten: „Kleine Strukturen“ - „Große Geschichte“? 119 Johann Baptist Haggenmüller (1792-1862) 26 , dessen in der Kemptner Zeitung veröffentlichten 40 Berichte ein anschauliches Bild vom wechselhaften Gang der Paulskirchendebatten vermittelten. Haggenmüller hatte bereits in seiner Geschichte des Stiftes und der Stadt Kempten (1840 und 1847) die Traditionen der Selbstbehauptung von Stadt und Volk in einer feudalen Umwelt markant heraus gearbeitet. So wurden die geforderten Freiheitsrechte im Allgäu einhellig begrüßt, nirgendwo in Schwaben war der Wunsch nach einer republikanischen und demokratischen Staatsform so verbreitet. Die Revolutionsforderungen entsprachen dem Selbstverständnis, dem Unabhängigkeitsstreben, dem historischen Selbstbewusstsein und dem Freiheitsdrang der Allgäuer, die sich nur schwer mit der noch relativ neuen bayerischen Verwaltung abfinden mochten. Als bestimmende Figur der Jahre 1848/ 49 und „Motor“ der Volksbewegung rief Waibel am 22. August 1848 den „Kemptner Volksverein“ als Gegengewicht zum konservativen „Constitutionellen Verein“ ins Leben, der seit September 1848 beim Kösel-Verlag unter Johannes Huber eine „Allgäuer Zeitung“ herausgab. Zur ersten Ausgabe der „Allgäuer Zeitung“ meinte Waibel nur: Kein scharfer Essig wie in der Kemptner Zeitung, sondern lauter mildes, lauwarmes Wasser! 27 . Der Kemptner Zeitung wurde seit März 1849 einmal wöchentlich das „Volksvereinsblatt“ beigegeben. Die bayerische Regierung freilich unterstützte nach Kräften die neue Allgäuer Zeitung - die Resonanz bei der Bevölkerung blieb im Gegensatz zur Kemptner Zeitung allerdings gering. Dieser Schritt war die Initialzündung für die Gründung zahlreicher Volksvereine im Allgäu - selbst in den kleinsten Dörfern kamen die Bauern Sonntag für Sonntag zu den gut besuchten Versammlungen. Am 6. Mai 1849 fand in Kempten mit über 10000 Teilnehmern von 35 Volksvereinen die größte Versammlung statt. Hinsichtlich einer Volksbewaffnung gibt sich Waibel zwar radikal im Ton (Wer die Freiheit erlangen will, darf den Kampf nicht scheuen 28 ), doch ist die tatsächliche Bereitschaft zur Gewaltanwendung für die Ziele der Revolution in der Bevölkerung als eher gering einzuschätzen. 26 Zu Haggenmüller vgl. grundlegend immer noch J OSEF R OTTENKOLBER , Der Kemptener Geschichtsschreiber Johann Baptist Haggenmüller. Ein Bild seines Lebens und seiner Zeit, in: Allgäuer Geschichtsfreund 25 (1926), 1-30; DERS ., Johann Baptist Haggenmüller, in: G ÖTZ F REIHERR VON P ÖLNITZ (Hrsg.), Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, Bd. 1, München 1952, 365-370 (Zusammenfassung der Studie von 1926); F RANZ R ASSO B ÖCK , Bedeutende Rolle für Kemptener Geschichtsschreiber: 200. Geburtstag von Johann Baptist Haggenmüller, in: Das schöne Allgäu 55 (1992), Heft 10, 64f. 27 Kemptner Zeitung Nr. 247 vom 3. September 1848. 28 Zit. nach K ARL B ACHMANN , Die Volksbewegung 1848/ 49 im Allgäu und ihre Vorläufer (Erlanger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, NF 6), Erlangen 1954, 124f. Franz-Rasso Böck 120 Allerdings hatte sich zu dieser Zeit das Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung bereits angekündigt, die doppelte Zielsetzung „Freiheit und Einheit“ überforderte das Parlament, das die alten Mächte (Fürsten, Beamte, Militär, Kirche) im Kern unangetastet ließ, sich mit der teils halbherzigen Zustimmung der Regierenden zu Reformen begnügte und vor einer gewaltsamen Fortführung der Revolution letztlich zurückschreckte. Das sich abzeichnende Scheitern der Revolution wurde vom Kemptner Volksverein mit einer Adresse an die Nationalversammlung scharf kritisiert. Als die Nationalversammlung schließlich Ende Mai 1849 ergebnislos auseinander ging, schloss sich auch Haggenmüller noch einigen Unentwegten an, die den Sitz der Versammlung nach Stuttgart verlegten. Dieses „Rumpfparlament“ wurde aber schon im Juni von württembergischen Truppen aufgelöst. Haggenmüller wurde nach seiner Rückkehr nach Kempten am 11. August 1849 in der Frohnfeste Augsburg inhaftiert. Eine mögliche Flucht lehnte er ab: Ich werde mich meiner Verhaftung nicht entziehen, das Volk soll sehen, dass es Männer gibt, die alles, Freiheit und Leben, für dasselbe [das Volk]einzusetzen entschlossen sind. 29 Nach der Amnestierung Ende 1849 wurde Haggenmüller bei seiner Ankunft in Kempten begeistert empfangen. Angesehen, aber zurückgezogen lebte er in seiner Heimatstadt und starb am 16. Februar 1862. An Haggenmüller erinnern eine Straße zwischen Adenauerring und Stella Maris sowie eine Gedenktafel an seinem Wohnhaus Herbststraße 22. Die Kemptner Zeitung aber war seit Juli 1849 unter strenge Zensur gestellt, Waibel musste wiederholt ins Gefängnis und Strafe zahlen, unter anderem, weil er am 13. August 1849 nach Haggenmüllers Verhaftung in seiner bekannt ironischen Manier geschrieben hatte: Bald kommt es in Bayern dahin, dass ein ehrlicher Mann sich gar schämen muss, wenn er nicht in der Frohnfeste sitzt. 30 Die stürmischsten Jahre der Allgäuer Presse waren die Revolutionsjahre 1848/ 49 mit Balthasar Waibel als Redakteur der „Kemptner Zeitung“, die dann seit Anfang Juni 1850 auf Grundlage des neuen bayerischen Pressegesetzes (17. März 1850) unter verschärfte Zensur gestellt wurde, an die sich Waibel freilich nicht hielt, bis er 1851 resignierte und die Redaktionsleitung aufgab. Am 5. November 1850 heißt es im „Augsburger Tagblatt“: „Die Kemptner Zeitung ist wieder einmal konfisziert worden. Es scheint, dass sich Waibel um keinen Preis einen edleren Stil angewöhnen kann“ 31 . Am 31. Mai 1851 gab Waibel die Redaktion schließlich auf, an eine öffentliche Tätigkeit war nicht mehr zu denken. Gesundheitlich stets angeschlagen, starb Waibel am 15. Oktober 1865. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde er 29 Zit. nach B ALTHASAR W AIBEL , Kemptner Zeitung Nr. 225 vom 13. August 1849. 30 Zit. nach H ANS Z ECH , Geschichte der im Bayerischen Allgäu bis 1900 erschienenen Zeitungen, Diss. Phil. München 1949 (ungedruckt, Manuskript im Stadtarchiv Kempten), zu Kempten 26-68, hier 24. 31 H ANS Z ECH , Zeitungen (wie Anm. 30), 24. Mikrokosmos Kempten: „Kleine Strukturen“ - „Große Geschichte“? 121 neben seinem Freund und Mitstreiter Johann Baptist Haggenmüller beerdigt. Selbst in den USA wurde sein Tod von ausgewanderten Allgäuer Revolutionären wie dem Immenstädter Fidel Schlund 32 wahrgenommen, der an Waibels Witwe schrieb: Ruhe sanft, Du treuer Freund des Volkes, Du hast Dir in der alten Welt wie in der neuen Welt ein bleibendes Denkmal gesetzt. 33 Die „journalistische Persönlichkeit Waibels blieb im Allgäu eine einmalige Erscheinung, die keinen Nachfolger fand.“ 34 Trotz des Scheiterns der Revolution setzten die Allgäuer und Kemptener mit der 1848er Bewegung jene Tradition couragierter Einforderung politischer Mitbestimmung fort, die ihre Wurzeln bereits in der Frühen Neuzeit (Bauernkriege) hatte. 32 Zu Schlund vgl. R UDOLF V OGEL , Der Briefwechsel zwischen Fidel Schlund (Newark, USA) und Max Mahler (Oberstaufen) in den Jahren 1876-1881, in: Allgäuer Geschichtsfreund 102 (2002), 15-105. 33 Zit. nach B ACHMANN , Volksbewegung (wie Anm. 28), 150; K LINKERT , Revolution in der Provinz (wie Anm. 24), 221. 34 Vgl. H OSER , Balthasar Waibel (wie Anm. 24), 363. Artensterben durch Wildflussverbauung am Beispiel des Naturschutzgebietes „Stadtwald Augsburg“ Eberhard Pfeuffer Zum letzten Mal haben wir den Schrei einer Lachseeschwalbe 1930 gehört, aber kein Nest mehr gefunden. Aelopus tergestinus, einen äußerst seltenen Heuschreck, der von wenigen Küstenstrichen bei Bordeaux, Triest und China und auch von Ungarn bekannt ist, den ich erst 1936 auf den Lechkiesbänken entdeckt hatte, sah ich 1941 zum letzten Mal. Eine Uferwanze, Teloleuca nobilis, die ihr nächstes Vorkommen erst wieder in Ungarn hatte, habe ich am 20.9.36 in der Höhe von Siebenbrunn entdeckt und dann nie mehr gesehen. Eine kleine Schmuckfliege, Hypochra albipennis, (Familie Otitidae), die bisher nur in wenigen Stücken aus Griechenland und Italien bekannt war, konnte ich am 4.8.37 auf den Kiesbänken bei der Moosquelle fangen - ich habe nie mehr eine beobachtet. 1 1. Einleitung Alpine und dealpine Wildflussauen waren bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts im nördlichen Alpen- und Voralpenraum an Rhein, Iller, Lech, Isar, Inn, Salzach, Traun und Enns weit verbreitet. Dank ihrer Biotopvielfalt zählte dieser Landschaftstyp zu den artenreichsten Regionen Europas. Wasserbauliche Maßnahmen - zunächst als Hochwasserschutz, später zur Energiegewinnung - haben diesen Lebensraum in den letzten 100 Jahren so nachhaltig wie wohl keinen anderen in Mitteleuropa verändert. 2 Mit der Wildfluss- und Auenzerstörung war ein Artensterben verbunden, das besonders wildflusstypische Arten betraf. 3 Bereits unmittelbar nach der Flussverbau- 1 H EINZ F ISCHER , Der alte Lech, in: 18. Bericht der Naturforschenden Gesellschaft Augsburg 1966, 73-104, hier 73. 2 N ORBERT M ÜLLER , 1. Einleitung, in: DERS . / K. R. S CHMIDT (Hrsg.), Der Lech. Wandel einer Wildflußlandschaft (Augsburger Ökologische Schriften 2), Augsburg 1991, 10-11, hier 10. 3 Vgl. A NTON F ISCHER , Die Brutvögel auf den Lechkiesbänken, in: Vierundvierzigster Bericht des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schwaben und Neuburg (1926), 102-156, hier 105, 156; H ARALD P LACHTER , Die Fauna der Kies- und Schotterbänke dealpiner Flüsse und Empfehlungen für ihren Schutz, in: Berichte der Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege 10 (1986), 119-147; K LAUS K UHN , Amphibien und Reptilien, in: 100 Jahre Eberhard Pfeuffer 124 ung verschwanden die Pflanzen und Tiere, die eine enge Bindung an Habitate im Flussbett aufweisen. Zeitlich verzögert, teils bis in unsere Zeit, erfolgte und erfolgt ein Verlust selbst von Arten, die in weit vom Fluss entfernten Auenbereichen leben. Dieser Prozess wird sich in Zukunft fortsetzen. Abb. 1: Wasserbauliche Eingriffe in die großen Wildflusslandschaften Mitteleuropas (aus: N ORBERT M ÜLLER , Zur Ökologie alpiner Wildflusslandschaften, in: Augsburger Ökologische Schriften 2, 24). Der irreversible Biodiversitätsverlust als Folge der Wildflussverbauung betrifft, mit Ausnahme der letzten verbliebenen Wildflussauen des Tiroler Lechs und des Tagliamento in Italien/ Friaul, alle alpinen und ebenso alle dealpinen Wildflüsse im nördlichen und im südlichen Voralpenland. Er lässt sich am Beispiel der Lechaue des Naturschutzgebietes und Natura 2000-(FFH)-Gebietes „Stadtwald Augsburg“ 4 besonders anschaulich belegen, weil diese Region einmal zu den weiträumigsten Wasserbau am Lech zwischen Landsberg und Augsburg (Schriftenreihe des Landesamtes für Wasserwirtschaft 19), München 1984, 83-85; U WE B AUER , Auswirkungen wasserbaulicher Maßnahmen auf die Avifauna des Lech, in: Augsburger Ökologische Schriften (wie Anm. 2), 121-128; N ORBERT M ÜLLER , Auenvegetation des Lech bei Augsburg und ihre Veränderungen infolge von Flußbaumaßnahmen, ebd., 79-108; R EINHARD W ALDERT , Auswirkungen wasserbaulicher Maßnahmen auf die Insektenfauna flußtypischer Biozönosen, ebd., 109- 120; E BERHARD P FEUFFER , Bestandsentwicklung der Tagfalterfauna am Unteren Lech seit 100 Jahren. Der Wandel einer Wildflußlandschaft und seine Folgen, in: Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Bergwelt 61 (1996), 13-40; DERS ., Die Heuschreckenfauna des Lechs - Der Wandel einer alpinen und außeralpinen Wildflusslandschaft und seine Folgen, ebd., 72 (2007), 151-184. 4 1940/ 1942 wurde der „Stadtwald Augsburg“ als Naturschutzgebiet ausgewiesen und im Jahr 2000 nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) der Europäischen Union zur Aufnahme in das europäische Schutzgebietsnetz „Natura 2000“ gemeldet. Artensterben durch Wildflussverbauung 125 Wildflussauen des Voralpenlandes überhaupt zählte und zum anderen aus diesem Gebiet detaillierte Daten zum Artenspektrum vor und nach der Flussverbauung vorliegen. 2. Biotopvielfalt der Wildflussaue als Basis für Artenvielfalt Der Artenreichtum von Wildflussauen gilt sowohl quantitativ (= Anzahl der Arten) als auch qualitativ (= „wertgebende“ Arten). Grundlage für diesen Artenreichtum ist die kleinräumige Zusammensetzung der Aue aus einer Vielzahl unterschiedlicher Biotope, die zusammen ein mosaikartig verflochtenes Biotopsystem ergeben. Voraussetzung für die Entstehung und für den Erhalt dieses Systems ist die Dynamik des Wildflusses. Periodische reißende Hochwasser und Geröllaufschüttungen unterbinden die fortschreitende Sukzession und schaffen damit immer aufs Neue Kies- und Sandbänke, Feucht- und Nasslebensräume sowie flussnahe schütter bewachsene Magerrasen samt zugehörigen Übergangsstufen zwischen den einzelnen Biotoptypen. Gleichzeitig entsteht durch die Hochwasserfluten, die vom Flussbett ausgehend in die Aue hinein allmählich an Intensität und Häufigkeit abnehmen, eine für Wildflussauen typische Zonierung. Abb. 2: Auenzonierung am Beispiel des Tiroler Lechs (aus: E BERHARD P FEUFFER , Der Lech, Augsburg 2010, 129). In den „Umlagerungsstrecken“ des Flussbettes, die mehrmals jährlich durch reißende Hochwasser überflutet werden, können nur wenige extrem angepasste Arten Eberhard Pfeuffer 126 leben. 5 In der anschließenden Weiden-Tamariskenregion, in der immer noch periodisch auftretende Hochwasserfluten eine fortlaufende Sukzession verhindern, finden sich bereits deutlich mehr Pflanzen und Tiere, wobei sich auch hier nur die spezifisch an diesen Lebensraum angepassten Arten dauerhaft behaupten können. Sprunghaft nimmt die Artenzahl in den nur noch selten oder gar nicht mehr überfluteten Trockenwäldern und Heiden zu. Auch wenn hier viele Pflanzen und Tiere leben, die nicht ausschließlich an Wildflussauen gebunden sind, ist das Gesamtartenspektrum auentypisch. So kommen hier Arten kühl-feuchter und trockenwarmer Bereiche eng benachbart vor, ganz entsprechend dem nur für Auen typischen Mosaik aus Biotopen mit unterschiedlichsten mikroklimatischen Bedingungen auf engstem Raum. Für die hier skizzierte Auenzonierung und die damit verbundene Artenvielfalt gelten heute, nach der Verbauung aller anderen Flüsse, der Tiroler Lech und der Tagliamento als Referenz- und Modellökosystem. 6 Für die ursprüngliche Lechaue im „Stadtwald Augsburg“ lässt sich auf Grund der Datenlage erloschener und noch vorhandener „Zeigerarten“ - freilich nur noch theoretisch - eine letztlich für alle einstigen Wildflüsse des Alpenvorlandes geltende Auenzonierung „rekonstruieren“. 3. Der „Stadtwald Augsburg“ - ein Musterbeispiel für die einstige Biotopvielfalt von Wildflussauen Auen fungieren generell als Verbundsysteme. Entlang der Flüsse konnten sich nach der Eiszeit die zuwandernden Arten, besonders die Licht und Wärme liebenden „Offenlandarten“, ausbreiten und sich dank der Biotopvielfalt an den jeweils für sie geeigneten Stellen dauerhaft ansiedeln. Dies trifft in besonderem Maße für Wildflussauen und ganz besonders für den Lech zu. 7 5 In den Umlagerungsstrecken tragen die Hochwasserfluten immer aufs Neue Kies- und Sandbänke ab, um sie flussabwärts wieder aufzuschütten. Auch die Flussarme und -rinnen ändern sich ständig. Deshalb ist dieser Teil der Wildflusslandschaft ein besonders ausgeprägtes „Extrembiotop“. 6 N ORBERT M ÜLLER , Zur Flora und Vegetation des Lech bei Forchach (Reutte-Tirol) - letzte Reste nordalpiner Wildflusslandschaften, in: Natur und Landschaft 63 (1988), 263-269; K LEMENT T ROCKNER / N ICOLA S URIAN / N ICOLETTA T ONIUTTI , Geomorphologie, Ökologie und nachhaltiges Management einer Wildflusslandschaft am Beispiel des Fiume Tagliamento (Friaul, Italien) - ein Testfall für die EU-Wasserrahmenrichtlinie, in: Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Bergwelt 70 (2005), 3-17. 7 Unter den Flusstälern der Alpen nimmt, auch aus faunistischer Sicht, das Lechtal eine besondere Stellung ein. Die Konzentration von Nachweisen seltener Arten, hohe Artenzahlen und biogeografische Besonderheiten sind dafür kennzeichnend. Vgl. W ALDERT , in: Auswirkungen wasserbaulicher Maßnahmen (wie Anm. 3), hier 110. Artensterben durch Wildflussverbauung 127 Abb. 3: Lech und Lechaue im „Stadtwald Augsburg“ (Luftbild aus dem Jahr 1924, Dr. Heinz Fischer Sammlungen, Königsbrunn). Eberhard Pfeuffer 128 Einmal liegt am Lech der Schnittpunkt der Ausbreitungsrouten nacheiszeitlicher Zuwanderung von Arten aus dem submediterranen, kontinentalen und alpinen Bereich. 8 Zusätzlich gilt der Lech aufgrund seiner geografischen Lage als wesentliche „Biotopbrücke“ zwischen den großen Naturräumen Alpen und Alb. 9 Zum anderen bot die überaus reich gegliederte Auenlandschaft südlich von Augsburg für viele zugewanderte Arten die Möglichkeit einer dauerhaften Besiedlung. Hier hatte sich der Lech besonders weiträumig, das heißt stellenweise in eine kilometerbreite Umlagerungsstrecke, die größte Umlagerungsstrecke im nördlichen Alpenvorland, 10 ausgeweitet. An die ausgedehnten Kies- und Sandbänke mit unzähligen Flussrinnen und -armen schloss sich eine Auenlandschaft an, die zu den besonderen Biodiversitätszentren Mitteleuropas zählte. Hinzu kam, dass sich die Heide des Lechfeldes, neben der Garchinger Heide die größte Heide Süddeutschlands, 11 bis in den „Stadtwald Augsburg“ erstreckte. Hier hatte der Lech, der sich in den letzten 1.700 Jahren über dreieinhalb Kilometer nach Osten verlagert hatte, das differenzierte Relief des Flussbettes aus Rinnen und Mulden sowie flachen Kies- und Sandbänken hinterlassen. Mit diesem Auenrelief, das bei anderen Wildflüssen bestenfalls nur kleinräumig zu finden ist, war die Voraussetzung für eine besondere Biotopvielfalt, die weit über den Begriff „Magerrasen“ hinausgeht, gegeben. 12 Lückig bewachsene Trockenstandorte ehemaliger Kiesbänke wechselten mit dichten Vegetationsbereichen ehemaliger Sandbänke aus feinkörnigem und Feuchtigkeit speicherndem Material. In den ehemaligen Flussrinnen und -mulden bildeten sich neben wechselfeuchten Bereichen Quellen und Quellbäche, sogenannte Gießer, die, wie der Augsburger Botaniker Friedrich Caflisch 1848 schrieb, an ihren Ufern hie und da kleine Sümpfe bilden und das Land umher befeuchten. 13 Überregional bedeutend im „Stadtwald Augsburg“ sind auch die lichten Kiefernwälder auf Flussterrassen, die als Endglieder der Auenzonierung typische Be- 8 N ORBERT M ÜLLER , Das Lechtal - Zerfall einer übernationalen Pflanzenbrücke - dargestellt am Lebensraumverlust der Lechfeldhaiden, in: Berichte des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schwaben e. V., 94.2 (1990), 26-39, hier 30f.; E BERHARD P FEUFFER , in: Der Lech, Augsburg 2010, hier 47. 9 M ÜLLER , Das Lechtal (wie Anm. 8), 29; P FEUFFER , in: Der Lech (wie Anm. 8), hier 50. 10 M ÜLLER , in: Auenvegetation des Lech (wie Anm. 3), hier 81. 11 […] jedenfalls stehen das Lechfeld und die Garchingerhaide unter diesen Bildungen in Südbayern obenan; ihre Ausdehnung ist die grösste, der Charakter der süddeutschen Haide ist am ausgeprägtesten; sie sind am genauesten erforscht Vgl. O TTO S ENDTNER , Die Vegetationsverhältnisse Südbayerns, München 1854, hier 443. 12 Siehe dazu: G ÜNTER R IEGEL / F RITZ H IEMEYER , Flora und Vegetation am Nördlichen Lech, in: Der Nördliche Lech: Lebensraum zwischen Augsburg und Donau (Naturwissenschaftlicher Verein für Schwaben - Sonderbericht), Augsburg 2001, 65-82, hier 74. 13 F RIEDRICH C AFLISCH , Die Vegetationsgruppen in der Umgebung Augsburgs, in: Berichte des Naturhistorischen Vereins in Augsburg 1 (1848), 9-16, hier 14f. Artensterben durch Wildflussverbauung 129 standteile der Wildflussaue darstellen. Während der Schneeheide-Kiefernwald auf Flussterrassen mit grobem Schotter stockt, hat der Pfeifengras-Kiefernwald seine Hauptverbreitung auf sandigen bis lehmigen Böden. Der Schneeheide-Kiefernwald des Stadtwaldes, der nach der Vernichtung einstiger weiterer Vorkommen am Lech 14 80 Prozent der lichten Kiefernwälder am bayerischen Flussverlauf ausmacht, ist als trocken-warme Waldgesellschaft sehr artenreich, gerade auch hinsichtlich seltener Arten. Er fungiert zudem als Verbundsystem zwischen den heute weit zerstreut liegenden Heiden. Ähnliches gilt für den Pfeifengras-Kiefernwald, der dank seines mehr Wasser speichernden Bodensubstrates und seines ausgeglichenen Mikroklimas sich im Artenspektrum deutlich vom Schneeheide-Kiefernwald unterscheidet. Daten zum Arteninventar des „Stadtwaldes Augsburg“ reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. 15 Umfangreiche Mitteilungen stammen aus dem 19. Jahrhundert, als Augsburg eine Blütezeit der Naturforschung erlebte. 16 Für das bereits damals hohe Interesse an der Region des heutigen „Stadtwaldes Augsburg“ war neben dem Artenreichtum der Lechaue 17 sicher auch deren Lage unmittelbar vor der Stadt ausschlaggebend. 4. Die Verbauung des Wildflusses Während der Lech nördlich von Augsburg bereits zwischen 1852 und 1900 „korrektioniert“ wurde, erfolgte die konsequente Verbauung unmittelbar südlich von Augsburg erst nach dem Jahrhunderthochwasser von 1910. Die Flussstrecke im Naturschutzgebiet „Stadtwald Augsburg“ wurde zwischen 1925 und 1928 begradigt. 14 M ÜLLER , Auenvegetation des Lech bei Augsburg (wie Anm. 3), hier 93f. 15 J OHN R AY , Observations topographical, moral & physiological; made in a journey through part of the Low-Countries, Germany, Italy, and France; with a catalogue of plants not native in England, found spontaneously growing in those parts, and their virtues, London 1673, hier 109f. 16 Vgl. J ACOB H ÜBNER , Systematisch-alphabetisches Verzeichnis aller bisher bey den Fürbildungen zur Sammlung europäischer Schmetterlinge angegebenen Gattungsbenennungen mit Vormerkung auch augsburgischer Gattungen, Augsburg 1822; J OHANN VON A LTEN , Augsburgische Blumenlese, Augsburg 1822; C AFLISCH , Die Vegetationsgruppen in der Umgebung Augsburgs (wie Anm. 13); C HRISTIAN F RIEDRICH F REYER , Die Falter um Augsburg, in: Berichte des Naturhistorischen Vereins in Augsburg 13 (1860), 19-86; J OHANN F RIED- RICH L EU , Bericht über die Vögel des Regierungs-Bezirkes Schwaben und Neuburg, in: Berichte des Naturhistorischen Vereins in Augsburg 8 (1855), 15-34; A NDREAS W IEDEMANN , Die im Regierungsbezirke Schwaben und Neuburg vorkommenden Kriechthiere und Lurche, in: Berichte des Naturwissenschaftlichen Vereins Augsburg 29 (1887), 11-171. 17 Die ganze Lechebene ist unstreitig diejenige Parthie unserer Umgebung, welche die reichste, eigenthümlichste und interessanteste Flor aufzuweisen hat. Vgl. C AFLISCH , Die Vegetationsgruppen in der Umgebung Augsburgs (wie Anm. 13), hier 14. Eberhard Pfeuffer 130 Abb. 4: Auf der Luftaufnahme von 1924 ist der Lech südlich von Unterbergen noch als Wildfluss zu erkennen, nördlich davon ist er bereits „korrektioniert“ (Dr. Heinz Fischer Sammlungen, Königsbrunn). Artensterben durch Wildflussverbauung 131 Abb. 5: Flussverbauung im „Stadtwald Augsburg“ in Höhe des Sebastiananstiches: Der Fluss ist in ein enges Korsett gezwängt und von der Aue abgeschnitten (Foto um 1934, Dr. Heinz Fischer Sammlungen, Königsbrunn). Der Fluss, der nach der Verbauung durch Betondämme von der Aue rigoros getrennt war, tiefte sich in Folge der Begradigung so schnell ein, dass bereits zehn Jahre nach der Regulierung allein in der Flussstrecke des „Stadtwaldes Augsburg“ sechs Sohlschwellen eingebaut werden mussten. 18 Diese überaus kostenintensiven Querbauten konnten den Prozess der Eintiefung zwar deutlich verringern, aber letztlich die Sohle nicht dauerhaft stabilisieren. Heute tieft sich der Lech zwischen 18 Die Gefahr einer sehr ausgeprägten Eintiefung nach der Flussbegradigung war bekannt: Bedeutsam erweisen sich insbesondere Veränderungen, die durch die geradlinige Lech-Korrektion innerhalb der beiden letzten Jahrzehnte hervorgerufen wurden. Der Lech, der, wie noch heute oberhalb des Ablasses, ehedem auch unterhalb der Friedberger Brücke ufervoll dahinströmte, hatte sich seither [nach der Längsverbauung] volle 7 Meter tief in seinen eigenen Alluvionen und in den tertiären Flinz eingegraben, einen tiefen schlauchartigen Kanal geschaffen und gleichzeitig an den Ufern ein neues System von Terrassen zurückgelassen, dessen Verfolgung nicht ohne Interesse ist . Vgl. A LOIS G EISTBECK , Der Boden des heimischen Florengebietes, in: Berichte des Naturhistorischen Vereins in Augsburg 33 [1898], 244-261, hier 253f. Eberhard Pfeuffer 132 den Sohlschwellen im Mittel ein bis zwei Zentimeter jährlich weiter ein, unterhalb der Sohlschwellen und in weiteren Bereichen wesentlich mehr. 19 Abb. 6: Links: Flussaue des „Stadtwald Augsburg“ vor 1930 (aus: Geologische Karte von Augsburg, Sonderdruck des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schwaben und Neuburg). Rechts: Die gleiche Flussstrecke 2006 (Wiedergabe aus TK 7631 mit freundlicher Genehmigung des Bayerischen Vermessungsamtes München). 19 Nachdem seit Jahrzehnten ein Rückgang hygrophiler Arten zu verzeichnen ist, hatten Naturschützer lange vor Bekanntwerden dieser Daten immer wieder warnend auf eine mögliche Eintiefung des Lechs als Ursache für die schleichende Austrocknung der Aue hingewiesen. Artensterben durch Wildflussverbauung 133 Abb. 7: Lech in Höhe des Lochbachanstiches 1915 (Foto: Anton Fischer und M. Liebhäuser, Dr. Heinz Fischer Sammlungen, Königsbrunn). Abb. 8: Der gleiche Flussabschnitt wie in Abb. 7 im Jahr 2010 (Staustufe 22). Eberhard Pfeuffer 134 5. Artensterben durch Flussverbauung Die direkten Folgen der flussbaulichen Maßnahmen, nämlich die Eintiefung des Flusses, der weitgehende Verlust an Sand- und Kiesbänken, die für Wasserorganismen unüberwindbaren Querbarrieren und die Abtrennung der Aue vom Fluss, waren bereits unmittelbar nach der Verbauung unübersehbar. Betroffen waren vor allem Arten, die ökologisch sehr eng an Wildflussbiotope im Flussbett gebunden sind. Sie erloschen sehr schnell und vollständig. Zudem hatte die fehlende Flussdynamik eine weitgehende Auflösung der Auenzonierung zur Folge, wobei sich die Auswirkungen auf weiter vom Flussbett entfernte Auenbereiche erst allmählich, teilweise erst nach Jahrzehnten bemerkbar machten. 20 Sehr bald nach der Flussbegradigung war eine land- und forstwirtschaftliche Nutzung der Aue bis in unmittelbare Nähe des Flussbettes möglich. 21 Mit der Nutzungsintensivierung verfiel zusehends die Wanderschäferei, bis sie mit schwerstwiegenden Folgen für die verbliebenen Heideflächen in der Mitte des letzten Jahrhunderts endgültig eingestellt wurde. Als Folge gingen große Teile der noch verbliebenen Heideflächen durch Verbuschung und Umwandlung in Waldflächen selbst im Naturschutzgebiet „Stadtwald Augsburg“ verloren. Letztlich überlebten viele der heute noch bestehenden Heideflächen des Unteren Lechtales nur als baumfrei zu haltende Trassen unter Stromleitungen oder als militärisch genutztes Gebiet, einige Restflächen wie die Königsbrunner Heide auch durch Mahd, die zunächst ausschließlich durch ehrenamtlich arbeitende Naturschützer eingeleitet und durchgeführt wurde. Für die große Zahl der ausgestorbenen Pflanzen und Tiere der Lechaue im „Stadtwald Augsburg“ sollen hier nur wenige Beispiele als typische Repräsentanten der in Abbildung 2 dargestellten Auenzonen aufgeführt werden. 20 […] wenn nicht durch die Flußlaufkorrektion jene Dynamik unterbunden worden wäre, die Standorte bemerkenswerter Pflanzengesellschaften stetig neu schuf und alte, am Ende ihrer Entwicklung befindliche wieder zur Auflösung brachte. Der ewige Auf- und Abbau ist letztlich die Voraussetzung für die Erhaltung der alpinen Pionierschuttgesellschaften und der Schneeheidekiefernwälder, die nur unter extremen, die Konkurrenz anderer Arten ausschaltenden Bedingungen gedeihen können. Der Verlust der Dynamik eines ungestörten Flusses lässt aber nun die Sukzessionen, d.h. die gesetzmäßigen Reihenfolgen der Pflanzengesellschaften an einem Platze mit zunehmender Bodenentwicklung einem Endstadium zustreben, in dem schließlich die seltenen alpinen, kontinentalen und submediterranen Pflanzenarten der Konkurrenz anderer Pflanzenarten unterliegen werden. Vgl. A NDREAS B RESINSKY , Wald und Heide vor den Toren Augsburgs. Zerfall berühmter Naturschutzgebiete? , in: Jahrbuch des Vereins zum Schutze der Alpenpflanzen und -Tiere 27 (1962), 125-140, hier 128. 21 Heute beherrscht der Pflug und die gleichförmige Kulturwiese die ehemalig so bunte Heide. Vgl. A NTON M ICHELER , Der Lech: Bild und Wandel einer voralpinen Flusslandschaft, in: Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Alpenpflanzen und -Tiere 18 (1953), 53-68, hier 62. Artensterben durch Wildflussverbauung 135 Jede dieser Arten steht nicht nur exemplarisch für eine ganze Reihe weiterer ausgestorbener Arten. 22 Sie vertritt auch eine jeweils typische Lebensgemeinschaft der Aue. Tab. 1: Im „Stadtwald Augsburg“ ausgestorbene/ verschollene und hochgradig gefährdete Arten* Lebensraum Erloschene Arten Gefährdete Arten** Innerhalb des Flussbettes (Umlagerungsstrecke) fast vegetationslose bis vegetationsarme Kiesbänke Knorpelsalat (Chondrilla chondrilloides), Gemskresse (Hutchinsia alpina), Alpenleinkraut (Linaria alpina), Alpenrispengras (Poa alpina), Bergbaldrian (Valeriana montana), Silberwurz (Dryas octopetala), Triel (Burhinus oedicnemus), Lachseeschwalbe (Sterna nilotica), Lachmöve (Larus ridibundus), Flussregenpfeifer (Charadrius dubius) [als Brutvogel], Krickente (Anas crecca) [als Brutvogel], Großer Brachvogel (Numenius arquata), Blauflügelige Sandschrecke (Sphingonotus caerulans) alle hier noch vorkommenden an Kies- und Sandbänke gebundene Arten, insbesondere auch die noch vorkommenden charakteristischen Käferarten feuchte Schwemmsande über grobem Schotter sowie schlammige Kiesbänke Zwerg-Rohrkolben (Typha minima), Türks Dornschrecke (Tetrix türki), Fluss- Strandschrecke (Epacromius tergestinus) Ufer-Reitgras (Calamagrostis pseudophragmites) (möglicherweise schon erloschen) 22 Ein nicht unwesentlicher Teil ausgestorbener Arten ist unbekannt. Dies betrifft insbesondere unscheinbare Vertreter, besonders Insekten und Spinnen. Eberhard Pfeuffer 136 strukturierte Flussschotterbänke mit lichten Gebüschzonen Deutsche Tamariske (Myricaria germanica), Flussuferläufer (Tringa [h.], hypoleukos) [als Brutvogel], Kiesbank-Grashüpfer (Chorthippus pullus) Idas-Bläuling (Plebeius idas) [nur noch auf Sekundärstandorten], Schwarzgraue Sklavenameise (Formica lefrancoisi) [nur noch auf Sekundärstandorten] Kalkflachmoore, Feuchthabitate an Still- und Fließgewässern, feuchte Hochstaudenfluren und Seggenbestände Karlszepter (Pedicularis sceptrum-carolinum), Kies- Steinbrech (Saxifraga mutata), Quellsteinbrech (Saxifraga aizoides), Wechselkröte (Bufo viridis), Kreuzkröte (Bufo calamita), Langflüglige Schwertschrecke (Conocephalus fuscus) Lungen-Enzian (Gentiana pneumonanthe), Erdkröte (Bufo bufo), Grasfrosch (Rana temporaria), Kreuzotter (Vipera berus) Schneeheide- und Pfeifengras-Kiefernwälder Rotflügelige Schnarrschrecke (Psophus stridulus) Schneeheide (Erica carnea), Regensburger Geißklee (Chamaecytisus ratisbonensis), Buchsblättrige Kreuzblume (Polygala chamaebuxus), Scheidige Kronwicke (Coronilla vaginalis), Heideröschen (Daphne cneorum) Heide Kalkmagerrasen mit lückigen und schütteren Strukturen Rauher Enzian (Gentiana aspera), Mauerfuchs (Lasiommata megera), Rostbinde (Hipparchia semele), Wundklee-Bläuling (Polyommatus dorylas), Segelfalter (Iphiclides podalirius), Idas-Bläuling (Plebeius idas), Blauflügelige Ödlandschrecke (Oedipoda caerulescens), Italienische Schönschrecke (Calliptamus italicus), Rotflügelige Zwerg-Sonnenröschen (Fumana procumbens), Steinbrech-Felsennelke (Petrorhagia saxifraga), Kriechendes Gipskraut (Gypsophila repens), Erdsegge (Carex humilis), Schlingnatter (Coronella austriaca), Schwarzfleckiger Grashüpfer (Stenobothrus nigromaculatus), Warzenbeißer (Decticus verrucivorus) Artensterben durch Wildflussverbauung 137 Schnarrschrecke (Psophus stridulus), Rotleibiger Grashüpfer (Omocestus haemorrhoidalis), Heideschrecke (Glampsocleis glabra), Gefleckte Keulenschrecke (Myrmeloetettix maculatus), Große Höckerschrecke (Arcyptera fusca) * Die aufgeführten Arten sind als Beispiele für weitere Arten mit ähnlichen ökologischen Ansprüchen zu verstehen. ** Arten mit hohen Bestandseinbußen, stellenweise schon erloschen. 5.1. Flussarme und Flussrinnen Nach der Einbindung des Flusses in ein Korsett aus Betondämmen reduzierte sich die Vielzahl der gewundenen Flussarme und Flussrinnen sehr schnell zu einem einzigen gestreckten Wasserlauf, der durch die folgende rasche Einsenkung sehr bald einem Kanal ohne Uferstrukturierung und Altwässer glich. Der spätere Aufstau des Lechs südlich des „Stadtwald Augsburg“ in eine Staustufenkette verändert zudem die Wasserqualität im Sinne einer Erwärmung, die auch die vom Lech gespeisten Bäche im „Stadtwald Augsburg“ betrifft. 23 Wie desolat sich die Flussverbauung auf wandernde Fischarten auswirkte, lässt sich am Beispiel der Nase (Chondrostoma nasus), einem typischen „Kieslaicher“, aufzeigen. Die Nase, von der bei Augsburg in glücklichen Jahren dreißigbis vierzigtausend Stück gefangen wurden, zog jährlich in ungeheuren Zügen von der Donau kommend lechaufwärts. 24 Nachdem der Zugang zu ihren Laichplätzen durch eine Vielzahl unüberwindbarer Querbauten gleichsam verriegelt wurde, die Laichplätze heute aufstaubedingt verschlammt sind und den Jungfischen durch die Querverbauung jegliches Rückzugsgebiet versperrt ist, stehen gegenwärtig die wenigen, jeweils bis auf wenige Exemplare geschrumpften und zudem überalterten Populationen dieses Fisches, der vor der Verbauung des Wildflusses ein „Massentier“ war, vor dem Erlöschen. 23 Der Verlust der Bachforelle (Salmo trutta fario) in den Bächen des „Stadtwald Augsburg“ dürfte wohl auf die Erwärmung des Wassers durch die vorgeschalteten Staustufen zurückzuführen sein. 24 G OTTLIEB T OBIAS W ILHELM , Unterhaltungen aus der Naturgeschichte, Der Fische zweyter Theil, Augsburg 1800, hier 397. Eberhard Pfeuffer 138 5.2. Stillwasser Die sich schnell erwärmenden kleinen Tümpel waren für Kreuzkröte (Bufo calamita) 25 und Wechselkröte (Bufo viridis), 26 die zu den typischen Bewohnern der Lech- Altwassertümpel zählten, ideale Laichplätze. Für beide im „Stadtwald Augsburg“ längst nicht mehr nachweisbaren Arten gibt es heute im Augsburger Raum keine geeigneten Biotope mehr. 27 Ebenso ist der Zwerg-Rohrkolben (Typha minima), der im gesamten Alpenvorland sein Hauptverbreitungsgebiet am Lech in weitgehend vegetationslosen Tümpeln auf sandig-schluffigem Grund hatte, 28 heute im gesamten bayerischen Lechtal ausgestorben. 5.3. Sand- und Kiesbänke („Schwemmlingsflur“ und Weiden- Tamariskengebüsch) Nach der Längsverbauung des Flusses wurden sehr schnell nahezu alle Kies- und Sandbänke abgeräumt. Da die überwiegend lineare Strömung, ohne Wasserwalzen und Strudel, grobes und feines Sediment nicht mehr trennt, sind die wenigen noch verbliebenen Kiesflächen kaum noch strukturiert, dafür aber nicht selten verschlammt. Sandbänke gibt es praktisch überhaupt nicht mehr. Der spätere Aufstau des Lechs südlich des „Stadtwald Augsburg“ in 20 große Stauseen 29 unterbindet zudem jegliche Zuführung von Geschiebe, sodass anstelle einer Umlagerung der Kiesbänke ganz überwiegend eine Abtragung stattfindet. Entsprechend gravierend ist der Verlust der Arten, die in der Umlagerungsstrecke des Lechs bei Augsburg bis zur Flussverbauung häufig waren. Mit dem Knorpelsalat (Chondrilla chondrilloides), der namensgebend für die „Knorpelsalatflur“ im Flussbett ist, verschwanden sehr schnell auch die Alpenschwemmlinge, wie die Gämskresse (Pritzelago alpina), das Alpen-Fettkraut (Pinguicula alpina), das Alpen- Leinkraut (Linaria alpina), das Kugelschötchen (Kernera saxatilis) und das Alpen- Rispengras (Poa alpina). Diese im Gebiet des „Stadtwald Augsburg“ längst ausgestorbene Pflanzengesellschaft 30 war überregional auch deshalb bedeutend, weil sie 25 Mit Sicherheit nachgewiesen ist ihr Vorkommen in Altwassern des Lech bei Haunstetten, Augsburg, Meitingen und Rain. Vgl. W IEDEMANN , Die im Regierungsbezirke Schwaben und Neuburg vorkommenden Kriechthiere und Lurche (wie Anm. 16), hier 208) 26 Auch in der Umgebung von Augsburg und Haunstetten wurden öfters einzelne Tiere dieser Art beobachtet. Vgl.W IEDEMANN , Die im Regierungsbezirke Schwaben und Neuburg vorkommenden Kriechthiere und Lurche (wie Anm. 16), hier 209. 27 Die letzte Population der Wechselkröte in Augsburg erlosch vor wenigen Jahren. 28 Vgl. P ETER S CHÖNFELDER / A NDREAS B RESINSKY , Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen Bayerns, Stuttgart 1990, hier 660. 29 Zwischen 1943 und 1982. 30 Durch die Flußlaufkorrektion ist diese Initialgesellschaft im Bereich des Mittel- und Unterlaufes [des Lechs] ausgestorben. Vgl. A NDREAS B RESINSKY , Die Vegetationsverhältnisse der weiteren Artensterben durch Wildflussverbauung 139 Abb. 9: Flussseeschwalbennest unter Deutscher Tamariske auf einer Kiesbank zwischen Mering und Kissing, 14.6.1914 (Foto: Anton Fischer und M. Liebhäuser, Dr. Heinz Fischer Sammlungen, Königsbrunn). hier einen besonders großen und weit ins Alpenvorland vorgelagerten Standort hatte. 31 Genauso ist die Deutsche Tamariske (Myricaria germanica), die auf den Kiesbänken im „Stadtwald Augsburg“ besonders großflächig verbreitet war, heute am gesamten bayerischen Lech ausgestorben. Schnell und restlos erloschen auch die Populationen der Brutvögel der Lechkiesbänke wie Lachseeschwalbe (Gelochelidon nilotica), Flussseeschwalbe (Sterna hirundo), Lachmöve (Chroicocephalus ridibundus), Krickente (Anas crecca), Kiebitz (Vanellus vanellus), Triel (Burhinus oedicnemus), Flussregenpfeifer (Charadrius dubius), Rotschenkel (Tringa totanus), Uferläufer (Elaphrus riparius) und Großer Brachvogel (Numenius arquata). 32 Anton Fischer hat den unmittelbar auf die Längsverbauung folgenden Untergang dieser einzigartigen Vogelfauna 1926 beschrieben: Da Umgebung Augsburgs, in: Bericht der Naturforschenden Gesellschaft Augsburg 11 (1959), 1-216, hier 158. 31 M ÜLLER , Auenvegetation des Lech bei Augsburg (wie Anm. 3), hier 96. 32 Dass der Verlust typischer „Lecharten“ von landesweiter Bedeutung ist, lässt sich am Triel beispielhaft aufzeigen. Dieser Vogel, der einst auf den Kiesbänken der Voralpenflüsse, insbesondere des Lechs brütete, ist heute als Brutvogel in ganz Mitteleuropa verschwunden. Vgl. E INHARD B EZZEL / I NGRID G EIERSBERGER / G ÜNTER VON L OSSOW / R OBERT P FEIFER , Brutvögel in Bayern, Stuttgart 2005, hier 466. Eberhard Pfeuffer 140 Abb. 10: Nest einer Lachseeschwalbe auf einer Kiesbank zwischen Mering und Kissing, 30.5.15 (Foto: Anton Fischer und M. Liebhäuser, Dr. Heinz Fischer Sammlungen, Königsbrunn). im Anfang dieses Jahres [= 1926] auch an dieser Stelle [= Flussstrecke zwischen Mering und Kissing] mit den Korrektionsarbeiten begonnen wurde, ist den Lechbrütern ihr letztes Asyl genommen, die einst so reiche und einzigartige Lechvogelfauna vernichtet. Einzelne Paare mögen dieses Frühjahr wiederkommen und nochmals Brutversuche wagen, aber die Zeit, in der es eine für die Lechkiesbänke charakteristische Vogelfauna gab, ist vorbei - für immer. 33 Ausnahmslos sind auch die Populationen der Kies- und Sandbänke bewohnenden Heuschrecken ausgestorben. 34 Am Beispiel dieser Arten, für die die heute noch bestehenden Restkiesflächen kein geeignetes Habitat mehr darstellen, lässt sich der Verlust der Strukturvielfalt der einstigen Kies- und Sandbänke belegen. 35 Während die Blauflügelige Sandschrecke (Sphingonotus caerulans) nahezu vegetationslose Kiesbänke mit ausgeprägten Temperaturschwankungen besiedelt, ist der Kiesbank- 33 A NTON F ISCHER , Die Brutvögel (wie Anm. 3), hier 105, 156. 34 H EINZ F ISCHER (1911-1991) hat die Heuschreckenfauna im Flussbett des Lechs im „Stadtwald Augsburg“ gerade noch vor ihrem Untergang erforscht. Die Sammelobjekte befinden sich im Naturmuseum Augsburg, die Kartierungsunterlagen im Stadtarchiv Königsbrunn. 35 E BERHARD P FEUFFER , Ausgestorbene Heuschreckenarten im „Stadtwald Augsburg“ als Indikatoren für den Verlust und die Veränderung auentypischer Lebensräume, in: Berichte des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schwaben e. V. 114 (2010), 116-133. Artensterben durch Wildflussverbauung 141 Abb. 11: Strukturierte Kiesbänke auf der Höhe von Kissing, 23.9.1936 (Foto: Heinz Fischer, Dr. Heinz Fischer Sammlungen, Königsbrunn). Grashüpfer (Chorthippus pullus) vorzugsweise ein Bewohner lichter Areale in der Weiden-Tamariskengebüsch-Zone. Die nur wenige Millimeter messende Türks Dornschrecke (Tetrix türki) ist dagegen eng an feuchte Schwemmsande gebunden. Die Fluss-Strandschrecke (Epacromius tergestinus) konnte Heinz Fischer nur in schluffigen feuchten Flussmulden zwischen Mering und Kissing, dem bis heute einzigen bekannten Fundort in Deutschland, nachweisen. 36 36 H EINZ F ISCHER , Hypochra albipennis und Aelopus tergestinus neu für Großdeutschland, in: Mitteilungen der Deutschen Entomologischen Gesellschaft 10 (1941), 75f. Eberhard Pfeuffer 142 Abb. 12: Belegexemplar der Fluss-Strandschrecke vom Lech bei Kissing, dem einzigen bekannten Fundort in Deutschland (Dr. Heinz Fischer Sammlung, Naturmuseum Augsburg). 5.4. Grauerlengebüsche Erlen- und weidenreiche Auwälder breiteten sich nach der Flussverbauung zunächst auf den ehemaligen Umlagerungsstrecken aus. Bei fehlender Überflutung schreitet allerdings die seit Jahrzehnten sich abzeichnende Degradierung der Grauerlenwälder fort. 37 Selbst innerhalb der Dämme lösen sich die Bestände in den letzten Jahren zusehends auf. 5.5. Kalkflachmoore sowie feuchte und wechselfeuchte Bereiche Nass- und Feuchtgebiete waren ein wesentlicher und charakteristischer Bestandteil der Aue, deren Pflanzengesellschaften sich gerade im Wasserhaushalt unterscheiden. In vom Fluss abgetrennten Rinnen und Mulden hatten sich Kalkflachmoore, 38 Quellen und Quellbäche sowie feuchte und wechselfeuchte Bereiche entwickelt. Nach der Flussverbauung erfolgte bedingt durch die Flusseintiefung eine Grundwasserabsenkung in Flussnähe um zwei bis drei Meter, im Bereich des übrigen Stadt- 37 M ÜLLER , Auenvegetation des Lech bei Augsburg (wie Anm. 3), hier 96. 38 In Abb. 2 fehlt dieser Biotoptyp. Er wäre in das Schema unter 1c einzutragen. Artensterben durch Wildflussverbauung 143 waldes um einen Meter. 39 Zu den Auswirkungen auf die Vegetation schrieb 1962 Andreas Bresinsky: Ehemalige Quellen versiegten und der Zuwachs der Bäume nahm deutlich ab. Am stärksten hatte der Auwaldstreifen in unmittelbarer Nähe des Flusses gelitten, aber auch im übrigen Stadtwaldgebiet verschwand manch feuchtigkeitsliebende seltene Pflanze nach und nach, andere wurden seltener. 40 So ist der Kies-Steinbrech (Saxifraga mutata), ein Vertreter offener feuchter Kiesbereiche, längst erloschen. Der Quellsteinbrech (Saxifraga aizoides), den Andreas Bresinsky 1962 im „Stadtwald Augsburg“, seinem nördlichsten Vorkommen in Bayern, noch in dichten Polstern fotografieren konnte, 41 ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich geschwunden, bis letztmals im Jahr 2007 noch ein kümmerliches Restexemplar übrig geblieben war. Das bayernweit vom Aussterben bedrohte Karlszepter (Pedicularis sceptrumcarolinum), dem nicht nur als besonders markantem Vertreter der Niedermoorgesellschaft, sondern auch als letztem Eiszeitrelikt im „Stadtwald Augsburg“ eine besondere Bedeutung zukam, ist seit Jahren nicht mehr nachweisbar. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich für den Lungen-Enzian (Gentiana pneumonanthe) ab, den es nur noch an einer eng begrenzten Stelle gibt. Seit Jahren verschollen ist auch die an feuchte Bereiche gebundene Langflüglige Schwertschrecke (Conocephalus fuscus). Sogar die allgemein noch am weitesten verbreiteten Amphibien Grasfrosch und Erdkröte gelten selbst in Auengebieten bezüglich ihres Fortbestandes als „gefährdet“. 42 39 B RESINSKY , Wald und Heide (wie Anm. 20), hier 128. 40 B RESINSKY , Wald und Heide (wie Anm. 20), hier 128. 41 B RESINSKY , Wald und Heide (wie Anm. 20), hier 140. 42 R EINHARD W ALDERT , Selektive zoologische Kartierung im Augsburger Stadtgebiet, in: Biotopkartierung Augsburg, Augsburger Ökologische Schriften 1 (1988), 77-128, hier 103f. Abb. 13: Karlszepter - letztes Exemplar im „Stadtwald Augsburg“ (Foto: 3.6.2000). Eberhard Pfeuffer 144 5.6. Schneeheide- und Pfeifengras-Kiefernwald Trotz der ökologisch hohen Bedeutung lichter Kiefernwälder (siehe dazu 3.) hat gerade dieser für die Wildflussaue charakteristische Waldtyp in den letzten Jahrzehnten massive Flächeneinbußen erlitten. 43 Zur Nutzungsintensivierung lichter Kiefernwälder im Naturschutzgebiet „Stadtwald Augsburg“ sei Norbert Müller aus dem Jahr 1991 zitiert: Seit 40 Jahren und insbesondere in den letzten Jahrzehnten wurde von der Forstwirtschaft versucht zusätzlich auf reiferen Böden Edellaubhölzer wie Buchen einzubringen. Dies führt ebenso wie die Fichtenaufforstungen zu einer starken Standortveränderung und vollständigen Zerstörung der charakteristischen Waldbiozönosen im Untersuchungsgebiet. 44 Der „Forstwirtschaftsplan 1987 - 2006 für den ‚Stadtwald Augsburg, Forstbetrieb Auwald‘“, der keine Rücksicht auf das spezifische Arteninventar des Naturschutzgebietes erkennen lässt, bestätigt die bisherige Bewirtschaftungsform. 45 Hinzu kommt, dass sich in den noch bestehenden Flächen seit der Einstellung der Waldbeweidung eine zunehmend dicht verfilzte Gras- und Krautschicht und nicht selten darüber noch eine Gebüschvegetation entwickelt hat. Damit ändert sich die Wärme und Trockenheit liebende (xerothermophile) Pflanzengesellschaft des Schneeheide-Kiefernwaldes zu einer Pflanzengesellschaft mit einem ausgeglichenen (mesophilen) Charakter. So verschwand bereits vor Jahrzehnten die Rotflügelige Schnarrschrecke (Psophus stridulus), die auf offene Stellen im lichten Kiefernwald angewiesen ist. 46 Längst sind auch im Schneeheide-Kiefernwald die südlichen Ragwurzarten, die Andreas Bresinsky noch 1962 vorfand, 47 verschwunden. Zu den typischen Pflanzen, die zusehends massive Einbußen erleiden, zählen der Regensburger Geißklee (Chamaecytisus ratisbonensis), die Buchsblättrige Kreuzblume (Polygala chamaebuxus), die Scheidige Kronwicke (Coronilla vaginalis) sowie das Heideröschen (Daphne cneorum) und mittlerweile selbst die Schneeheide (Erica carnea). Die verbliebenen Bestände dieser Arten ersticken förmlich in der zunehmend dichter werdenden Grasschicht und in dem ebenfalls immer dichter werdenden Buschwerk. In gleicher Weise zeichnet sich diese Entwicklung für die Pfeifengras- Kiefernwälder ab. Hier hat sich beispielsweise der Bestand des Frauenschuhs (Cypri- 43 Vgl. dazu die Karten in: M ÜLLER , Auenvegetation (wie Anm. 3), hier 84f. 44 M ÜLLER , Auenvegetation (wie Anm. 3), hier 94. 45 Dazu sei aus dem Forstwirtschaftsplan 1987-2006, 65 zitiert: Für den Stadtwald Augsburg bedeutet diese Zielsetzung: Die Abkehr von der führenden Beteiligung von Kiefer und Fichte unter Hinwendung zu führender Beteiligung des Laubholzes, insbesondere der Edellaubhölzer und der Eiche. 46 Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts erlosch auf der inmitten von Kiefernwäldern liegenden Kuhheide die letzte Population der Rotflügeligen Schnarrschrecke für den außeralpinen Lech. Zuletzt hatte sie sich bei immer dichter werdender Vegetation nur noch auf den Trampelpfaden mit immer weniger werdenden Individuen einige Jahre halten können. 47 B RESINSKY , Wald und Heide (wie Anm. 20), hier 133. Artensterben durch Wildflussverbauung 145 Abb.14: Zentrum des Schneeheide-Kiefernwaldes im „Stadtwald Augsburg“: Unter der dichten und verfilzten Grasschicht ersticken typische Arten. Ein lückiges Bild der Bodenvegetation ist nicht mehr zu erkennen (Foto: 6.3.2011). pedium calceolus), der bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts noch zahlreich war, bis auf wenige und in ihrem Fortbestand hochgradig gefährdete Exemplare reduziert. Langfristig gesehen werden sich, wenn nicht bald eine Abhilfe erfolgt, die lichten Kiefernwälder im Naturschutzgebiet auflösen, da sich die Kiefer als Lichtkeimer in der dichten Gras- und Strauchschicht nicht mehr verjüngen kann. Neue lichte Kiefernwälder, wie sie für intakte Wildflussauen typisch sind, entstehen aufgrund der fehlenden Flussdynamik nicht mehr. Diese Entwicklung ist besonders schwerwiegend, weil einmal den lichten Kiefernwäldern auf den Terrassen der Wildflüsse als Reliktföhrenwäldern der nacheiszeitlichen Wiederbesiedlung eine besondere Bedeutung in der Vegetationsgeschichte zukommt. 48 Zum anderen weisen diese heute im außeralpinen Bereich extrem seltenen Wälder ein sehr reiches und vor allem ein sehr spezifisches Artenspektrum auf. 48 M ÜLLER , Auenvegetation (wie Anm.3), hier 93. Eberhard Pfeuffer 146 5.7. Heide Von den Flussschotterheiden im Alpenvorland, die zu den artenreichsten Lebensräumen in Mitteleuropa zählen, sind nach der Flussverbauung rund 99% verloren gegangen. 49 Auch im Unteren Lechtal weisen die Heiden nach den Kies- und Sandbänken den größten Flächenverlust auf. 50 Die verbliebenen Heidereste zählen jedoch immer noch zu Biodiversitätszentren mit landesweiter Bedeutung, wobei allerdings auch hier, selbst im Naturschutz- und Natura 2000-Gebiet „Stadtwald Augsburg“, ein schleichend fortschreitender Artenschwund stattfindet. Betroffen sind vor allem Pflanzen und Tiere mit ökologisch komplexen Ansprüchen. 51 Die Ursachen sind vielfältig. Die inselartig verstreuten Heidereste sind durch zunehmend dichter werdende Wälder so isoliert, dass heute der Genfluss zwischen den getrennten Flächen weitgehend unterbunden ist. Zudem hat ein Großteil der Lechfeldheiden eine kritische Bestandsgröße erreicht. Dies verdeutlichen die Populationsschrumpfungen und -verluste vieler stenöker (=hoch angepasster) Pflanzen- und Tierarten. 52 Hinzu kommt, dass auch innerhalb der Magerrasen die gerade für Lechfeldheiden typischen kleinräumig ausgeprägten Standortunterschiede verloren gehen. Zu einer zusätzlichen Strukturverarmung führte die Einstellung der Wanderschäferei, die über Jahrhunderte wesentlich das Arteninventar der Heiden mitbestimmt hatte. Zudem entstehen nach dem Verlust der Flussdynamik keine jungen Heiden mehr. Damit entfallen Standorte, die dank ihres lückigen Bewuchses auf kiesigem Grund ein trocken-warmes (xerothermes) Mikroklima aufweisen. 53 Mit dem Verlust dieser lückigen Strukturen verschwinden zusehends Pionierarten wie das Kriechende Gipskraut (Gypsophila repens) oder die Zwerg-Glockenblume (Campanula cochleraiifolia). Besonders deutlich wird der Verlust am Beispiel ausgestorbener xerothermer Insektenarten wie dem Segelfalter (Iphiclides podalirius), dem Mauerfuchs (Lasiommata megera), dem Goldenen Scheckenfalter (Euphydryas aurinia) 54 oder der Italienischen Schönschrecke (Calliptamus italicus), die alle seit Jahrzehnten nicht mehr nachweisbar sind. 55 49 G ÜNTER R IEGEL , Erhaltung und Entwicklung von Flussschotterheiden (Bayerisches Landesamt für Umwelt), Augsburg 2008, 1-43, hier 4. 50 M ÜLLER , Auenvegetation (wie Anm. 3), hier 96. 51 E BERHARD P FEUFFER , Artenreichtum und Artenverlust der Heiden im Unteren Lechtal, in: Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Bergwelt 68/ 69 (2003/ 2004), 181-203. 52 M ÜLLER , Das Lechtal (wie Anm. 8), hier 35, 38. 53 […] unsere Heiden altern (Dr. Fritz Hiemeyer, zit. nach R IEGEL , Erhaltung und Entwicklung von Flussschotterheiden [wie Anm. 49], hier 28). 54 Der Goldene Scheckenfalter lebt sowohl auf Feuchtwiesen am Rande von Mooren und ebenso auf Trockenrasen. Für den „Stadtwald Augsburg“ ist nicht mehr zu klären, welche der beiden Ökovarianten - beide sind theoretisch denkbar - hier lebte. 55 E BERHARD P FEUFFER , Verschollene Tagfalter im Unteren Lechtal als Indikatoren für Veränderungen auentypischer Lebensräume, in: Berichte des Naturwissenschaftlichen Vereins für Artensterben durch Wildflussverbauung 147 In vielen Bereichen ist die Veränderung der Vegetationsstruktur bereits augenscheinlich. So würde beispielsweise heute kein Entomologe die Blauflügelige Ödlandschrecke (Oedipoda caerulescens) auf der Dürrenastheide mehr suchen, obwohl Belegexemplare dieser Heuschrecke aus dem Jahr 1946 aus diesem Gebiet vorhanden sind. Zu sehr hat sich die Heide vom typischen Habitat dieser Heuschrecke, einem lückig bewachsenen und mit kleinen offenen Kiesflächen versehenen Standort, zu einer dichten Vegetationsdecke entwickelt. Eine Änderung der Vegetation und damit auch des Mikroklimas ist auch für das Erlöschen der Heideschrecke (Gampsocleis glabra) auf der Königsbrunner Heide in den 50er Jahren und der Großen Höckerschrecke (Arcyptera fusca) auf der Schießplatz-Heide in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verantwortlich. Bei beiden Arten handelte es sich jeweils um die letzte Population in Bayern. 6. Ausblick Alle im „Stadtwald Augsburg“ ausgestorbenen wildflusstypischen Arten sind nicht nur in den Roten Listen gefährdeter Pflanzen und Tiere Bayerns, sondern auch in denen der Bundesrepublik Deutschland den höchsten Gefährdungsstufen zugeordnet. Schon allein daraus lässt sich ableiten, dass der Biodiversitätsverlust der Lechaue im „Stadtwald Augsburg“ sich auf sämtliche verbauten Wildflüsse übertragen lässt. Deshalb sind, will man die letzten auentypischen Arten erhalten, die wenigen noch verbliebenen Wildflussstrecken und Auenreste der Alpen und des Alpenvorlands bedingungslos zu schützen. Für das offensichtlich einer ständig fortschreitenden Entwertung ausgesetzte Naturschutzgebiet „Stadtwald Augsburg“ hatte bereits 1962 Andreas Bresinsky eine baldige und endgültige Ordnung gefordert. 56 Auch wenn in den letzten Jahren wesentliche Verbesserungen in der Biotoppflege erfolgten, wie die Wiedereinführung der Schafbeweidung in Teilbereichen sowie das „Pilotprojekt einer Waldbeweidung“ durch Schwaben e.V. 101 (1997), 52-68; P FEUFFER , Ausgestorbene Heuschreckenarten (wie Anm. 35), 116-133. 56 B RESINSKY , Wald und Heide (wie Anm. 20), hier 139f. Abb. 15: Große Höckerschrecke einer bereits deutlich geschrumpften Population auf der Schießplatzheide (Foto: 16.7.1993). Eberhard Pfeuffer 148 Przewalski-Pferde und Rothirsche auf jeweils 13 und 15 Hektar, steht über 50 Jahre nach dem dringenden Aufruf von Andreas Bresinsky ein Gesamtkonzept, das alle Bestandteile des Naturschutzgebietes (Fluss, Wald und Heide) umfasst, immer noch aus. Vordringlich ist eine Flusssanierung nach ökologischen Standards, die Wiedervernetzung der Aue mit dem Fluss, die Erstellung und Umsetzung eines Managementplanes zum Erhalt aller lichten Waldstrukturen, vor allem der Schneeheide- und Pfeifengras-Kiefernwälder, und die Schaffung eines Verbundsystems, das diesen Namen auch verdient. In einem Naturschutz- und FFH-Gebiet, das immer noch zu den Kernzonen der Biodiversität in ganz Bayern zählt, sollte dies entsprechend dem Bayerischen Naturschutzgesetz (u.a. Art. 7) und der Naturschutzgebietsverordnung vom 6. Mai 1994 (§ 3) eine Selbstverständlichkeit sein, zumal mit einer weiteren Degradierung des Naturschutzgebietes auch einer der letzten wesentlichen Trittsteine in der „Biotopbrücke Lechtal“ zwischen Alpen und Alb verloren ginge. Die negative Biotop- und Bestandsentwicklung neueren Datums zeigt, dass Eile geboten ist, wenn ein weiterer Artenschwund wenigstens eindämmt und der endgültige Zerfall der für ganz Mitteleuropa bedeutenden „Biotopbrücke Lechtal“ verhindert werden soll. II. Kirche, Recht und Medien vor 1803/ 06 cenobium sanctimonialium, ancillae Dei, monasterium puellarum Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg Wilhelm Liebhart Als Kurbaiern am 23. August 1802 das Reichsstift Kaisheim und am 1. September 1802 die Reichsstadt Nördlingen provisorisch besetzte, begann die Phase der Säkularisation und Mediatisierung im schwäbischen Reichskreis, die in der Region zwischen Iller und Lech zum Ende des Alten Reiches führte. Dem Reichsdeputationshauptschluß (RDHS) vom 25. Februar 1803 fielen nach neueren Berechnungen im heutigen Regierungsbezirk Schwaben 73 Stifte, Klöster, Konvente und Institute zum Opfer. 1 Geht man vom Bistum aus, ist die Zahl sogar noch höher, weil der Sprengel größer als der heutige Regierungsbezirk war und ist. Unter den aufgehobenen Instituten des Bistums Augsburg befanden sich auch vier Benediktinerinnenklöster: Kloster Holzen und Klosterwald bei Ottobeuren im schwäbischen Teil, Kühbach und Hohenwart im oberbayerischen Teil des Bistums. Mittelalterliche Ursprünge besaßen Kühbach, Hohenwart und Holzen, aber nicht das erst 1706 ins Leben gerufene Benediktinerinnenpriorat Klosterwald bei Ottobeuren. Ursprünglich war die Zahl der Benediktinerinnenklöster höher gewesen. Reformbewegungen des Mittelalters und besonders die Reformation haben ihre Zahl reduziert: Traditionell werden als Benediktinerinnenklöster - zum Teil nur auf Zeit - Mönchsdeggingen, Unterliezheim, Neuburg an der Donau, Donauwörth/ Heilig Kreuz und Augsburg/ St. Nikolaus angesprochen. Mit den schon genannten Klöstern kommen wir auf neun Institute. Nur Kloster Holzen in Schwaben und Kühbach sowie Hohenwart in Baiern existierten ununterbrochen von der Gründung im Mittelalter bis zur Säkularisation. 1. Forschungsstand Ein Altmeister der benediktinischen Forschung und Geschichtsschreibung, Stephan Hilpisch (1894-1971) OSB, schrieb 1951 in seiner kleinen „Geschichte der Benediktinerinnen“ zur Rolle der Frau im Benediktinertum: „Die Benediktinerinnen 1 W ERNER S CHIEDERMAIR , Das Klosterland Bayerisch Schwaben und die Säkularisation, in: DERS . (Hrsg.), Klosterland Bayerisch Schwaben, zweite Auflage, Lindenberg 2008, 17-34, mit einer Liste der Institute auf 28-30. Wilhelm Liebhart 152 haben die benediktinische Geschichte nicht gestaltet. Das ist nicht die Aufgabe der Frau, aber sie haben das Ideal des monastischen Lebens in jeder Zeit, wenn es von den Mönchen rein und lauter geschaut und verkündet wurde, in noch größerer Reinheit und Unbedingtheit gelebt, und oft, wenn in den Mönchsklöstern die heilige Flamme schon erloschen war, hüteten noch die Nonnen in ihren Klöstern das Licht Christi, und das ist der große Beitrag, den sie zur benediktinischen Geschichte geliefert haben“. 2 Die Feststellung ruft Zuspruch, aber auch Widerspruch hervor. Beide Male wird aber der kritische Forscher feststellen müssen, dass wir noch immer zu wenig über die Frauenklöster wissen. Diesem Tatbestand versucht erst in den letzten Jahren die historische und kirchenhistorische Forschung Abhilfe zu schaffen. So wie in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte die Rolle der Frau immer mehr zum Gegenstand der Forschung wurde, rückten auch die religiösen Frauengemeinschaften stärker in den Vordergrund. Innerhalb Deutschlands lässt sich aber ein Gefälle beobachten, wie 2005 auf einer Tagung zum Thema „Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen. Religiöse Frauengemeinschaften in Süddeutschland“ auf Frauenchiemsee festgestellt worden ist. Die Erforschung der Frauengemeinschaften liegt in Süddeutschland „weit hinter der männlicher Institutionen zurück. In vielen Fällen kennen wir die äußere Geschichte auch bedeutender Gemeinschaften kaum in ihren Grundzügen und […] ist die Quellengrundlage insgesamt weitgehend unerschlossen. Während die früh- und hochmittelalterlichen sächsischen Gründungen aber auch die rheinischen und norddeutschen Frauenklöster in den letzten Jahren ein reges Forschungsinteresse gefunden haben, ist der bayerischfränkische Raum bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben“. 3 Zwei Großprojekte versuchen Abhilfe zu schaffen: Einmal die „Germania Benedictina“ der Historischen Sektion der Bayerischen Benediktinerakademie 4 , gegründet 1965, und seit 2008 das DFG-Projekt „Schriftlichkeit in süddeutschen Frauenklöstern“. 5 Ein Band „Bavaria Benedictina“, der neben den Mönchsklöstern 6 erstmals auch die Nonnenklöster erfasst, ist im Entstehen. Das DFG-Projekt hat 2 S TEPHANUS H ILPISCH , Geschichte der Benediktinerinnen (Benediktinisches Geistesleben III), St. Ottilien 1951, V (Vorwort). - Zum Autor vgl. u.a. den Nachruf in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 24 (1972) 309. 3 E VA S CHLOTHEUBER / H ELMUT F LACHENECKER / I NGRID G ARDILL (Hrsg.), Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen. Religiöse Frauengemeinschaften in Süddeutschland (Beiträge zur interdisziplinären Tagung vom 21. bis 23. September 2005 in Frauenchiemsee) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 235 = Studien zur Germania Sacra 31), Göttingen 2008, 9 (Vorwort der Herausgeber). 4 Bisher sind zehn Bände erschienen. Die Frauenklöster von Österreich, Südtirol, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen liegen vor. 5 B ETTINA W AGNER , Klosterfrauen und das Buch, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 02 (2010), 23-25. 6 Dazu J OSEF H EMMERLE , Die Benediktinerklöster in Bayern (Germania Benedictina II), Augsburg 1970. Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg 153 sich neben dem Dominikanerinnenkloster Altenhohenau, dem Benediktinerinnen- und Birgittenkloster Altomünster 7 und zwei Münchner Franziskanerinnenkonventen 8 mit dem Benediktinerinnenkloster Neuburg an der Donau auch einem in der Diözese Augsburg liegenden Frauenkloster zugewandt. Im Folgenden geht es um die Anfänge im Mittelalter, insbesondere um die Frage, ob hochmittelalterliche Frauengemeinschaften von Anfang an als Benediktinerinnenklöster anzusprechen sind oder ob sie nicht ursprünglich als Frauenstifte gegründet worden sind. Aufgrund der Vorarbeiten für die „Bavaria Benedictina“ kann ein Zwischenbericht für die Diözese Augsburg gegeben werden. Im Manuskript liegen die Benediktinerinnenklöster Augsburg/ St. Nikolaus (Bearbeiter David Petry), Hohenwart (Bearbeiter Wilhelm Liebhart), Holzen (Bearbeiter Walter Pötzl), Kloster Wald (Bearbeiter Ulrich Faust), Kühbach (Bearbeiter Wilhelm Liebhart), Mangoldstein/ Heilig Kreuz (Bearbeiter Wilfried Sponsel), Neuburg an der Donau (Bearbeiter Reinhard H. Seitz) und Unterliezheim (Bearbeiter Rudolf Wagner) vor. 9 2. Stift und Kloster Am Anfang des gemeinschaftlichen Lebens von Frauen standen im Frühmittelalter nicht das Kloster, sondern das Damenstift und das Kanonissenstift. 10 Seit 813 konnten sich Frauen für die Benediktregel oder die Kanonissenregel entscheiden. 11 Welcher Regel ein Institut tatsächlich folgte, muss in jedem Einzelfall geprüft werden. Vielfach ist dies für die Frühzeit gar nicht mehr möglich. Die vor allem vom Benediktinerorden selbst getragene ältere Forschung neigte dazu, ausgehend von einem späteren Status retrospektiv von Anfang an bei einer Frauengemeinschaft ein Benediktinerinnenkloster zu unterstellen. Frühe Beispiele hierfür wären Frauenchiemsee, Nonnberg in Salzburg oder St. Walburg in Eichstätt. 12 Immo Eberl hat auf stifti- 7 W ILHELM L IEBHART , Das Kloster des hl. Benedikt, in: DERS . (Hrsg.), Altomünster. Kloster, Markt und Gemeinde, Altomünster 1999, 79-108; DERS ., Das Frauenstift und Benediktinerinnenkloster Altomünster. Zur Geschichte des Kanonissenstifts und Frauenklosters 1056 bis 1488, in: Amperland 45 (2009), 344-351; DERS ., Altbayerisches Klosterleben. Das Birgittenkloster Altomünster 1496-1841, St. Ottilien 1987. 8 Pütrichhaus, Klarissenkloster St. Jakob am Anger. 9 Ich danke R EINHARD H. S EITZ , R UDOLF W AGNER und W OLFGANG W ÜST für die Möglichkeit der Einsichtnahme. 10 I RENE C RUSIUS (Hrsg.), Studien zum Kanonissenstift (Veröffentlichungen des Max-Planck- Instituts für Geschichte 167 = Studien zur Germania Sacra 24), Göttingen 2001. 11 M ICHAEL H EIMBUCHER , Die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche, Bd. 1, dritte Auflage, Paderborn 1933, 304. 12 Dazu H EINZ D OPSCH , Gründung und Frühgeschichte des Klosters Frauenchiemsee bis zum Tod der seligen Irmengard (866), in: W ALTER B RUGGER / M ANFRED W EITLAUFF (Hrsg.), Wilhelm Liebhart 154 sches Leben in Klöster des Spätmittelalters hingewiesen, was aber nicht ein Zeichen des „Verfalls“ gewesen sein muss, sondern auf ältere Traditionen zurückgehen konnte. 13 Auch im Bistum Augsburg lassen sich im Bereich der weiblichen Institute seit dem Hochmittelalter alle Formen gemeinschaftlichen Lebens in der Nachfolge Christi, aber auch Mischformen und sogenannte Doppelklöster beobachten. Das Bistum Augsburg beherbergte zum Beispiel drei Frauenstifte, die bis 1803 als solche existierten und nicht in Benediktinerinnenklöster umgewandelt wurden: das fürstliche Damenstift Lindau, das Stift St. Stephan zu Augsburg und das freiweltliche Damenstift Edelstetten (Lkr. Günzburg). Historische Einschnitte waren neben den kirchlichen Reformbewegungen und Reformbestrebungen des hohen und späten Mittelalters besonders die Reformation und schließlich die Säkularisation 1802/ 1803. 3. Klostergründungen um 1000 Die Epoche der Ottonen und ersten Salier soll in Süddeutschland, gemeint ist Bayern, „keine Zeit vermehrter Klostergründungen“, sondern nach den Ungarneinfällen eine Phase der „Konsolidierung“ der bestehenden Gemeinschaften gewesen sein. 14 Auffällig ist aber, dass um 1000, von um 970 bis um 1030, im damals noch großen Herzogtum Baiern mindestens 14 neue geistliche Gemeinschaften 15 entstanden, darunter sieben weibliche. 16 Vier von diesen 14 neuen Gemeinschaften lagen im baierischen Teil des Bistums Augsburg: Neuburg an der Donau (um 1000 gegründet), Thierhaupten (Neu- oder Wiederbegründung 1023/ 1028) 17 , Kühbach bei Aichach (1011 gegründet) und Hohenwart (vor 1074). Im alten Bistum Augsburg Kloster Frauenchiemsee 782-2003, Weißenhorn 2003, 29-55; M ARIA M AGDALENA Z UN- KER , Geschichte der Benediktinerinnenabtei St. Walburg in Eichstätt von 1035 bis heute, Lindenberg 2009. 13 I MMO E BERL , Stiftisches Leben in Klöstern. Zur Regeltreue im klösterlichen Alltag des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: C RUSIUS , Studien (wie Anm. 10), 275-315. 14 F RANZ -R EINER E RKENS , Die Salzburger Kirchenprovinz und das Bistum Augsburg im Zeitalter der Ottonen und frühen Salier (907-1046), in: W ALTER B RANDMÜLLER (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte. Von den Anfängen bis zur Schwelle der Neuzeit: Kirche, Staat und Gesellschaft, Bd. 1. 1, St. Ottilien 1998, 133-186, hier 180. 15 Regensburg/ Mittelmünster (St. Paul), Bergen bei Neuburg a.d.D., St. Walburg, Altomünster, Seeon, Prüll, Thierhaupten, St. Georgen am Längsee, Neuburg a.d.D., Göß, Kühbach, Ossiach, Geisenfeld und Hohenwart. 16 Regensburg/ Mittelmünster (St. Paul), Bergen bei Neuburg a.d.D., Neuburg a.d.D., Kühbach, St. Walburg, Geisenfeld und Hohenwart. 17 W ILHELM L IEBHART , Studia Thierhauptana. Beiträge zur Geschichte des Benediktinerklosters Thierhaupten, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens 120 (2009), 185-210. Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg 155 als Ganzes wurden um 1000 insgesamt neun neue geistlichen Institute gegründet 18 , davon neben den vier schon genannten bayerischen weitere fünf im schwäbischen Teil: Mönchsdeggingen im Ries (angeblich 959/ 965, 1016 genannt), St. Ulrich und Afra (zwischen 1006/ 1012), Augsburg/ St. Moritz (1021), Mangoldstein (Heilig Kreuz) in Donauwörth (nach 1024, vor 1049) und Unterliezheim bei Höchstädt an der Donau (vor 1026). Unweit der Bistumsgrenze, aber bereits in den Nachbarbistümern Eichstätt und Regensburg lagen die gleichfalls um 1000 gestifteten Gemeinschaften Bergen (976) bei Neuburg, Eichstätt/ St. Walburg (1035) und Geisenfeld (1030/ 1037) bei Ingolstadt. Merkwürdig ist, dass sich die Gründungen auf den nordöstlichen Teil des Herzogtums Schwaben bzw. den nordwestlichen Teil des Herzogtums Bayern (Oberbayern) im Einzugsgebiet der Donau konzentrierten. War vielleicht die Herzogsresidenz Neuburg ein gewisser Kristallisationspunkt? Von den neun Instituten im Bistum Augsburg waren auffälligerweise sechs Frauengemeinschaften: Mönchsdeggingen, Neuburg a.d.D., Kühbach, Donauwörth/ Mangoldstein (Heilig Kreuz), Unterliezheim und Hohenwart. Nimmt man noch die benachbarten Konvente von Bergen und Geisenfeld hinzu, ergibt sich eine Dominanz von Fraueninstituten in einer schwäbisch-baierischen Übergangsregion. Das kann kein Zufall sein. Gab es eine religiöse Aufbruchsbewegung des Adels insbesondere der Frauen? Welche Rolle spielte die Reformbewegung von Gorze- Cluny 19 , die über Regensburg nach Süddeutschland kam? Die Quellen schweigen dazu, auch darüber welcher Regel bzw. welchen Konstitutionen die Institute folgten. 4. Mönchsdeggingen und Donauwörth Innerhalb dieser hochmittelalterlichen Frauengemeinschaften im Bistum Augsburg lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Die erste Gruppe mit Mönchsdeggingen und Mangoldstein (Heilig Kreuz) bestand nicht lange, weil die Institute schon im frühen 12. Jahrhundert in Benediktinerklöster umgewandelt wurden. Der Ort (locum) Mönchsdeggingen kam 1007 durch König Heinrich II. zum Hochstift Bamberg, die im Dorf bereits bestehende Abtei St. Martin (abbatia), ein 18 Dazu auch S ÖNKE L ORENZ , Klöster und Stifte - Zur Sakrallandschaft Schwaben im 10. und 11. Jahrhundert. Ein Überblick, in: B ARBARA S CHOLKMANN / S ÖNKE L ORENZ (Hrsg.), Schwaben vor tausend Jahren, Filderstadt 2002, 94 (Karten). 19 K ASSIUS H ALLINGER , Gorze-Kluny. Studien zu den monastischen Lebensformen und Gegensätzen im Hochmittelalter, 2 Bde., 1950/ 1951, ND. Graz 1971. Vgl. auch M ICHEL P ARISSE , Der Anteil der lothringischen Benediktinerinnen an der monastischen Bewegung des 10. und 11. Jahrhunderts, in: P ETER D INZELBACHER / D IETER R. B AUER (Hrsg.), Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, Köln / Wien 1988, 83-97. Wilhelm Liebhart 156 Erbe seiner Eltern, wohl erst am 11. Oktober 1016. 20 Die Namen einer Nonne (monacha) und einer Konversin (conversa) sind im Nekrolog des Bamberger Klosters Michelsberg überliefert. 21 Bischof Otto I. von Bamberg brachte nach einer Verselbständigung vor 1139 die abbaciam sanctimonialem wieder unter seine Hoheitsgewalt zurück. 22 Die Umwandlung in ein Benediktinerkloster erfolgte nach seinem Tod bis 1142 durch Michelsberger Mönche. Der Edelfreie Mangold I. von Werd stiftete im Burgbereich von Mangoldstein in Donauwörth zwischen 1029 und 1049 ein Frauenkloster zum Heiligen Kreuz. Eine Urkunde Papst Leos IX., die anlässlich der ersten Kirchen- und Klosterweihe 1049 ausgestellt wurde, spricht von einer abbatissa Gunderade, von ancillae Dei, von einem monasterium bzw. von einer congregatio. 23 Das Kloster mit einem Kreuzpartikel aus Byzanz 24 , der Ursache der Stiftung gewesen sein dürfte, wurde 1101 von Mangold IV. mit Benediktinermönchen aus St. Blasien um einen Männerkonvent erweitert. Bis zur Verlegung an den heutigen Ort 1125 bestand parallel noch einige Zeit der Frauenkonvent weiter. Ob es sich wirklich um Benediktinerinnen handelte, ist unklar. 5. Neuburg an der Donau und Unterliezheim Die zweite Gruppe dieser um 1000 entstandenen Frauengemeinschaften mit Neuburg an der Donau und Unterliezheim überstand zwar die Reformen und Krisen des Mittelalters, aber nicht die Reformation des 16. Jahrhunderts. Kloster Neuburg soll von Herzog Heinrich IV. von Bayern und seiner Gemahlin Kunigunde vor 1002 gegründet oder wiederbelebt worden sein. Als König hat Heinrich II. das 1002 erwähnte cenobium sanctimonialium 25 als abbatia seinem Bistum Bamberg 1007 geschenkt. 26 Die Abtei war wohl kein Benediktinerinnenkloster, 20 D IETER K UDORFER , Nördlingen (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Heft 8), München 1974, 238f.; S ABINE U LLMANN , Mönchsdeggingen, in: Hans-Michael Körner / Alois Schmid (Hrsg.), Handbuch der Historischen Stätten. Bayern: Altbayern und Schwaben, Stuttgart 2006, Bd. 7.1, 501f. (mit Literatur). 21 K UDORFER , Nördlingen (wie Anm. 20), 239. 22 K UDORFER , Nördlingen (wie Anm. 20), 239. 23 Abdruck bei G ABRIELE D EIBLER , Das Kloster Heilig Kreuz in Donauwörth von der Gegenreformation bis zur Säkularisation, Weißenhorn 1989, 131f. Anm. 11. Faksimile ebd. vor 17; D ORIS P FISTER , Donauwörth (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Heft 17), München 2008, 69-78. 24 M ANFRED K ESSLER , Zur ‚Narratio Bertholdi‘ aus Kloster Heilig Kreuz in Donauwörth, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 74 (2011), 1-43. 25 Monumenta Germaniae Historia (MGH) Scriptores (SS) 9, 567, Zeilen 11-12. 26 MGH Diplomata (DD) Heinrich II., 193f., Nr. 163. Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg 157 sondern ein Damenstift. 27 Ein Benediktinerinnenkloster ist frühestens ab 1168 28 anzunehmen, als Personal aus dem Benediktinerinnenkloster Admont 29 geholt wurde. Das Kloster kam 1505 in das neu gebildete, wittelsbachische Fürstentum Pfalz- Neuburg zu liegen. Dort wurde seit 1542/ 1543 durch Pfalzgraf Ottheinrich die Reformation eingeführt. Als Aussterbekloster hielt es bis 1584 durch. Die letzten vier Nonnen zogen aus, drei gingen zunächst nach Kühbach und dann nach Hohenwart, eine nach St. Stephan (Damenstift) in Augsburg. Ein Kreuzpartikel, 30 der auf Heinrich II. zurückgehen soll, verblieb in Kühbach, wo er noch heute zu sehen ist. Das nur wenige Kilometer von Neuburg entfernte, aber schon im Bistum Eichstätt gelegene Bergen scheint das älteste aller Fraueninstitute der Ottonen- und frühen Salierzeit gewesen zu sein. 976 erstattete Kaiser Otto II. Biletrud, der Witwe des baierischen Herzogs Berthold (938-947) aus der Familie der Luitpoldinger Güter zurück, die sie für die Ausstattung einer Frauengemeinschaft verwenden wollte. 31 Die Gründung erfolgte demnach nach 976, aber vor 995. Es könnte sein, dass von dieser Stiftung die Inititalzündung für die weiteren Frauengemeinschaften ausging. Die Stiftung Mönchsdeggingens soll zwar nach Haustradition früher gewesen sein, was aber eher unwahrscheinlich ist. Neuburg war herzogliche Pfalz, das nahe Bergen zwar eine einsame Rodungsinsel, aber doch so nah, dass die Witwe jeder Zeit am Leben in der Pfalz teilnehmen konnte. Es drängen sich zwei Fragen auf, 1. warum gründete die Liudolfingerin nicht direkt in Neuburg einen Frauenkonvent? 2. warum hat dann wenige Jahrzehnte später Herzog Heinrich IV. nicht schon das bestehende Bergen, sondern eine eigene Stiftung in Neuburg ausgestattet? Es ist belegt, dass Biletrud das Bistum Eichstätt stärken wollte. 32 Über die Motive Heinrichs IV. für Neuburg wissen wir nichts. Da neben Mönchsdeggingen und Neuburg auch Bergen 1007 an Bamberg kam, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass 27 Freundliche Mitteilung von R EINHARD H. S EITZ , Neuburg a. d. D. 28 MGH DD Friedrich I., 453-454 Nr. *1149. 29 Zu Admont vgl. H. P. N ASCHENWENG , Admont, Frauenkloster, in: U LRICH F AUST / W AL- TRAUD K RASSNIG (Bearb.), Die benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Österreich und Süditirol (Germania Benedictina III/ 1), München 2000, 189-212. 30 R UDOLF W AGNER , Das „Heilige Kreuz“ aus Neuburg muss in Kühbach bleiben. Die Bemühungen des Klosters Kühbach 1589, in: Altbayern in Schwaben. Jahrbuch für Geschichte und Kultur (2010), 43-66. 31 Zum Hintergrund vgl. R EINHARD H. S EITZ , Das Benediktinerinnenkloster Bergen und die Bergener Klosterkirche, in: B RUNO B USHART / F RIEDRICH K AESS (Hrsg.), Kloster Bergen bei Neuburg an der Donau und seine Fresken von Johann Wolfgang Baumgartner, Weißenhorn 1981, 5-38; M ARKUS N ADLER , Neuburg an der Donau. Das Landgericht Neuburg und die Pfleggerichte Burgheim und Reichertshofen (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben 16), München 2004, 120-127; freundliche Mitteilung von A NNETT H ABERLAH -P OHL , Verfasserin des Beitrags „Bergen“ für den geplanten Band der Bavaria Benedictina. 32 N ADLER , Neuburg (wie Anm. 31), 121. Wilhelm Liebhart 158 die Gründung dieses neuen Bistums von langer Hand geplant. In Stiftungsbesitz umgewandelter Herzogs- und Reichsbesitz konnte nicht angetastet werden und kam auf einem Umweg an Bamberg. 33 Kloster Bergen fiel gleichfalls der 1542/ 1543 im Fürstentum Pfalz-Neuburg eingeführten Reformation zum Opfer. 1026 übertrugen in Gegenwart des Augsburger Bischofs Brun (Sedenzzeit 1006-1029) 34 und des Regensburger Bischofs Gebhard II. (1023-1036) 35 Graf Adalpert und seine Gemahlin Judith die abbacia Liedesheim (Unterliezheim), der Augsburger Domkirche. In der Traditionsnotiz, die Antonius von Steichele entdeckte, ist von einer Äbtissin (abbatissa) und von Nonnen (sanctimoniales) die Rede, die im Kloster (monasterium) unter einer Regel (sub regula) nicht näher spezifizierter Art leben würden. 36 Daraus auf die Benediktinerregel zu schließen, ist möglich, aber eben auch nicht. Interessant sind die Bestimmungen über den Lebensunterhalt der Nonnen. Jeder Nonne standen am Tag zwei Brote, eines aus Dinkel (Spelz) und das andere aus Roggen zu. An drei Tagen gab es zweimal Fleischspeisen, an drei weiteren zweimal Fisch- oder Käse- oder Eier- oder Gemüsegerichte, jeweils dazu einen Becher Bier. Den Fleischgenuss untersagt die Benediktusregel, 37 interessant ist, dass kein Wein ausgeschenkt wurde. Jedes Jahr musste für die Kleidung ein Tuchmaß Leinen oder gewebte Schafwolle zur Verfügung gestellt werden. Ausdrücklich wurde von den Tradenten festgehalten, dass keine Äbtissin oder eine andere Person die Macht habe, die Verfügungen zu kürzen. Die Stifter und Schenker konnten erst 2003 sicher identifiziert werden als Graf Adalbert von Metz (gest. 1033) und Judith, Tochter Herzog Konrads von Schwaben (982/ 3-997), identisch mit Kuno von Öhningen. 38 Um diesen Kuno von Öhningen und seine Gleichsetzung mit Herzog 33 Vgl. dazu I MMO E BERL , Das Bistum Bamberg und seine Abteien und Stifte in der Gründungszeit, in: J OACHIM A NDRASCHKE / E NNO B ÜNZ / S TEPHAN D ILLER (Hrsg.), Das Bistum Bamberg um 1007. Festgabe zum Millennium, Bamberg 2006, 343-347. 34 Zur Person vgl. zuletzt P ETER G EFFCKEN / H ELMUT Z ÄH , Bischof Brun und die Gründung des Stifts St. Moritz, in: G ERNOT M ICHAEL M ÜLLER (Hrsg.), Das ehemalige Kollegiatstift St. Moritz in Augsburg (1019-1803), Lindenberg 2006, 123-151. 35 Der Bischof war vor seiner Wahl Kanoniker in Augsburg gewesen. Zu ihm R UDOLF W AG- NER , Die Stifter der einstigen Benediktinerinnenabtei Unterliezheim von 1026, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 96 (2003), 7-26, hier 19f. Gebhard II. dürfte auch der Gründer oder Wiederbegründer des Benediktinerklosters Thierhaupten unweit des Lechs gewesen. Dazu: L IEBHART , Studia Thierhauptana (wie Anm. 17), 185-210. 36 A NTONIUS VON S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg, Bd. 4, Augsburg 1883, 759-768, hier 759f.; W ILHELM V OLKERT (Bearb.), Die Regesten der Bischöfe und des Domkapitels von Augsburg, Bd. 1, Lieferung 2, 973-1063, Augsburg 1964, 142, Nr. 246. Wiederabdruck der Tradition bei W AGNER , Stifter (wie Anm. 35), 25f. 37 Die Benediktus-Regel. Lateinisch-Deutsch, hrsg. von Basilius Steidel, dritte Auflage, Beuron 1978, 132f., cap.39. 38 W AGNER , Stifter (wie Anm. 35). Zum Herzog selbst vgl. H ELMUT M AURER , Der Herzog von Schwaben, Sigmaringen 1978. Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg 159 Konrad I. von Schwaben gab es eine wissenschaftliche Kontroverse. 39 Mittlerweile besteht Einigkeit. Judith war in erster Ehe mit einem Graf von Rheinfelden und in zweiter mit dem Lothringer Adalbert vermählt. Herzog Hermann II. von Schwaben (997-1003) war ihr Bruder, Ita von Öhningen, verheiratet mit dem Welfen Rudolf von Altdorf, eine ihrer Schwestern. Die Schenker trennten sich vom väterlichen Erbe Judiths in Schwaben und übertrugen es dem Augsburger Bischofsstuhl. Eine Untersuchung der Zeugenreihe hat ergeben, dass die Genannten mit einem Graf Adalbero (von Ebersberg? von Kühbach? ) an der Spitze zeitgleich auch für das Benediktinerinnenkloster Kühbach in Erscheinung traten. Gründer Kühbachs war ein Graf Adalbero gewesen sein, von dem noch die Rede sein wird. Kein Zufall dürfte es sein, dass in Nachbarschaft zu Kühbach, aber in der Diözese Freising, Ita, die Schwester Judiths, die Mönchsgemeinschaft Altomünster 40 zusammen mit ihrem Sohn Graf Welf II. wiederbelebte. Ita fand im welfischen Altomünster ihre letzte Ruhe. Einer der Liezheimer Zeugen von 1026 führte den Namen Mangold. Warum sollte dieser nicht Mangold I. von Werd, Stifter von Mangoldstein, gewesen sein? Unterliezheim löste sich zwar auch wie Neuburg und Bergen seit 1542/ 1543 im Gefolge der Reformation auf, aber die Landesfürsten Ottheinrich und Philipp hatten schon 1530 von Papst Clemens VII. den Aussterbestatus erwirkt. 41 Das Vermögen sollte karitativen Stiftungen zugeführt werden. Immerhin erlebte Unterliezheim eine Wiederbelebung im 17. Jahrhundert. Nach der Rekatholisierung Pfalz- Neuburgs trat Pfalzgraf Philipp Wilhelm 1655/ 1656 an die Benediktiner- Reichsabtei St. Ulrich und Afra zu Augsburg für 12.000 Gulden die alte Anlage mit Teilen des ursprünglichen Grundbesitzes ab. 42 St. Ulrich und Afra richtete eine bis 1802/ 1803 bestehende Propstei ein, die von bis zu drei Patres betreut wurde. Die Schenkungsurkunde von 1026 erweist sich von überregionaler Bedeutung, weil sie uns mit einem hochadeligen Stifterkreis und seinen Umkreis bekannt macht: Die schwäbischen Herzogstöchter Judith und Ita von Öhningen, die eine mit einem Grafen aus Lothringen, die andere mit einem Welfen verheiratet, die Grafen von Kühbach und die Mangolde von Donauwörth haben zu Beginn des 11. Jahrhunderts Klöster gestiftet. 39 Literaturhinweise bei W AGNER , Stifter (wie Anm. 35). 40 W ILHELM L IEBHART , Ida von Öhningen, Irmentrud von Luxemburg und das welfische Hauskloster Altomünster, in: Oberbayerisches Archiv 109 (1984), 233 241. 41 S TEICHELE , Bisthum 4 (wie Anm. 36), 764. 42 W ILHELM L IEBHART , Die Reichsabtei St. Ulrich und Afra zu Augsburg. Studien zu Besitz und Herrschaft, (1006-1803) (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben II, 2), München 1982, 230 und 641-645. Wilhelm Liebhart 160 6. Kühbach Wir kommen zur dritten und letzten Gruppe, zu den Klöstern Kühbach und Hohenwart. Beide bestanden kontinuierlich bis 1803. Ihr Überleben verdankten sie einer starken Territorialgewalt, den Wittelsbachern als Herzögen und Kurfürsten. Am Anfang der Klostergeschichte von Kühbach 43 steht eine Königsurkunde, die nicht im Original, aber als Nachzeichnung noch des 11. Jahrhunderts erhalten blieb. Am 26. Juni 1011 soll König Heinrich II. (1002-1024) in Regensburg eine Urkunde ausgestellt haben, wonach ein Graf Adalbero ein monasterium puellarum ad regulam sancti Benedicti in honorem vero sancti Magni im Ort Chuibach in der Grafschaft Hörzhausen gründete und dieses dem König als Eigentum tradierte: in nostra potestate libertandi gratia transfundit. 44 Graf Adalbero, wohl der Zeuge von 1026 für Unterliezheim, erhielt die Vogtei auf Lebenszeit, nach seinem Tod sollten das Recht der Äbtissinnenwahl und der freien Vogtwahl allein beim Konvent liegen. Sollte es sich um eine Fälschung handeln, dann bestand ihr Zweck darin, das Nonnenkloster als Reichskloster mit freier Äbtissinnen- und Vogtwahl erscheinen zu lassen. Die Frage, wann die Fälschung entstand und wer sie anfertigte, lässt sich nicht sicher beantworten. Manches spricht für die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts, als die Grafen von Scheyern die Vogtei erbten. Die „Stammmutter“ der Grafen von Scheyern war Gräfin Haziga, die durch ihren Vater Babo den Kühbachern zuzuordnen ist. 45 Wahrscheinlich stammt die Fälschung aus der Zeit um 1130. Das Jahr der Stiftung lässt sich nicht bestimmen, da eine eigentliche Stiftungsurkunde fehlt und von einem längeren Gründungsprozess auszugehen ist. Die Gründung dürfte zwischen 1005 und 1011. Der Kopialtätigkeit des Augsburger Humanisten und Stadtschreibers Konrad Peutinger sind die wenigen Quellen des 11./ 12. Jh. aus Kühbach zu verdanken, neben der Urkunde König Heinrichs II. von 1011, eine Urkunde Kaiser Heinrichs III. von 1041, zwei Urkunden Augsburger Bischöfe von 1127 und 1154 sowie zwölf undatierte Traditionsnotizen. 46 Fünf der undatierten Traditionsnotizen gehören in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts und dokumentieren den 43 Zur Klostergeschichte zuletzt W ILHELM L IEBHART , Das Benediktinerinnenkloster Kühbach, in: W ILHELM L IEBHART / R UDOLF W AGNER (Hrsg.), Kühbach. Kloster, Markt und Schlossgut, Kühbach 2012, 33-58 (mit Bibliografie). 44 Monumenta Boica 11, 529f. Nr. I; MGH DD III, Nr. 230; H ANS C ONSTANTIN F AUSSNER , Zur Frühzeit der Babenberger in Bayern und Herkunft der Wittelsbacher, Sigmaringen 1990, 88-94. 45 Zuletzt R UDOLF W AGNER , Die Grafen von Kühbach, in: L IEBHART / W AGNER , Benediktinerinnenkloster Kühbach (wie Anm. 43), 21-31. 46 Monumenta Boica 11, Nr. I, II, III u. IV; E DMUND F RHR . VON O EFELE , Traditionsnotizen des Klosters Kühbach, in: Sitzungsberichte der philosoph.-philolog. und histor. Classe der k. b. Akademie d. Wissenschaften zu München (1894), 269-286. - Peutinger benutzte ein lateinisches Salbuch, das verschollen ist. Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg 161 Gründungsprozess des Dynastenklosters bis 1041. 47 Wie eine Urkunde Kaiser Heinrichs III. vermuten lässt, dürfte der Gründungsvorgang 1041 abgeschlossen gewesen sein. 48 Neben dem Gründer Graf Adalbero schenkten auch sein frater Graf Udalschalk und ihre Schwestern Liutkart und Hilta (= Hiltegard) Grundbesitz. 49 Sie hatten alle unterschiedlichen Anteil an der Stiftung. Auch die nachfolgende Generation beteiligte sich daran, indem sie die Verfügungen der Gründer vollzog. Am wichtigsten war das Testament des Grafen Udalschalk, da es von einem noch zu gründenden Kloster spricht und deshalb deutlich vor 1011 anzusetzen ist. 50 Udalschalk darf als eigentlicher Stifter zu sehen sein, sein frater Adalbero vollendete aufgrund des Vermächtnisses Udalschalks die Gründung. Die im Anschluss an die Historia Welforum 51 vorgenommene Gleichsetzung der Kühbacher Grafenfamilie mit den Grafen von Ebersberg wird bezweifelt, nachdem sie lange als sicher galt. Graf Eberhard von Ebersberg gründete 1037 das Benediktinerinnenkloster Geisenfeld, sein Bruder Adalbero, der mit Adalbero von Kühbach gleichgesetzt wurde, wandelte 1040 das Stift Ebersberg in ein Benediktinerkloster um. Da Graf Eberhard 1011 für Tegernsee mit einem Adalbero de Chvpach preses in Erscheinung tritt, vermutet man neuerdings, dass ein Ebersberger in die Kühbacher Familie eingeheiratet haben könne. 52 Nur eine Kühbacher Tradition lässt sich relativ genau auf 1024/ 1025 datieren, da in ihr Kaiserin Kunigunde für das Seelenheil Kaiser Heinrichs II. (gest. 13. Juli 1024) Besitz an Kühbach verfügte. 53 Hier ist von einem bestehenden monasterium in loco Chu(o)bach constructum und von Nonnen, die nach der Regel des hl. Benedikt leben (sub regula sancti Benedicti), die Rede. Kunigunde starb am 3. März 1033. Die ersten Kühbacher Nonnen dürften wohl aus Regensburg, aus dem Stift Mittelmünster gekommen sein, das dem Reformkreis von Gorze-Trier-Regensburg angehörte. Das Totenbuch der Regensburger Reformabtei St. Emmeram verzeichnet von 1045 bis 1155 die frühen Äbtissinnen Friderun (20.1.), Irmingarda (10.3.), 47 O EFELE , Traditionen (wie Anm. 46), Nr. 1, 5, 6, 7 u. 11. 48 Monumenta Boica 11, 530f.; MGH DD V, Nr. 87. 49 Zur Familie vgl. zuletzt G OTTFRIED M AYR , Die Grafen von Kühbach und ihr Verwandtschaftskreis, in: F ERDINAND K RAMER / W ILHELM S TÖRMER (Hrsg.), Hochmittelalterliche Adelsfamilien in Atbayern, Franken und Schwaben (Studien z. bayer. Verfassungsu. Sozialgeschichte 20), München 2005, 97-139. 50 O EFELE , Traditionen (wie Anm. 47), Nr. 1: si monasterium ibi construat. 51 Historia Welforum, neu hrsg., übersetzt und erläutert von Erich König, Sigmaringen 1978. 52 So W AGNER , Grafen (wie Anm. 45). Das wäre möglich, wenn frater nicht nur mit Bruder zu übersetzen ist. In unserem Fall wäre dann Adalbero der Schwager des Udalschalk gewesen. Vgl. dazu R OBERT H OLTZMANN , Kann frater „Schwager“ bedeuten? , in: Historische Vierteljahrsschrift 28 (1933), 832-835. 53 O EFELE , Traditionen (wie Anm. 46) Nr. 11. - Vgl. dazu auch W ILHELM S TÖRMER , Kaiser Heinrich II., Kaiserin Kunigunde und das Herzogtum Bayern, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 60 (1997), 437-463. Wilhelm Liebhart 162 Berhta (10.5.) und Hadamo(v)t (20.9.), letztere ist als einzige 1041 urkundlich bezeugt, sowie neun weitere Nonnen. 54 Eine Äbtissin Hadamuta ist annähernd zeitgleich auch für Kloster Neuburg nachgewiesen. 55 Erstmals 1255 wird eine komplette Konventsliste zusammen mit den Mitgliedern der klösterlichen familia (Propst, Koch, Bäcker, Kämmerer) überliefert. Der Konvent setzte sich aus elf adeligen Nonnen der Region zusammen. 56 Den Versorgungscharakter für Töchter des höheren und niederen Adels sowohl aus dem Herzogtum Bayern als auch aus Schwaben offenbart eine Bischofurkunde von 1346. Bischof Heinrich III. von Augsburg versprach darin, zwei Töchter Heinrichs von Schwangau auf Pfründen in Frauenklöstern seiner Diözese u. a. auch in Kühbach unterzubringen. 57 Seit der Einführung der Melker Reform im Verlauf des 15. Jahrhunderts durch St. Ulrich und Afra und Augsburg/ St. Nikolaus 58 setzte sich an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit das bürgerliche Element durch, dennoch blieb der Adel bis zur Säkularisation vertreten. 1481 bestand der Konvent aus 19 Chorfrauen und sechs Laienschwestern, aus insgesamt 25 Konventualinnen. 59 Die Größe der Konvente war im 15./ 16. Jahrhundert deutlich geringer als in der folgenden Barockzeit. 60 1642 61 betrug das Durchschnittsalter im Konvent 40 Jahre. Von den 33 Nonnen waren 17 Chorfrauen, zwei Novizinnen und 14 Laienschwestern. 14 von 33 Nonnen stammten aus einer altbayerischen Stadt oder einem Markt. 62 Zwei Nonnen kamen aus den Reichsstädten Augsburg und Regensburg, einzelne aus Würzburg, Radstadt, Salzburg, Stuhlweißenburg und Verona. Adelig waren die Priorin Veronica Fugger, Gräfin von Kirchberg-Weißenhorn, und Anna Scholastica Villinger zu Seifriedsberg (Ldkr. Augsburg). Ländlich-bäuerlicher Herkunft waren nur einige Laienschwestern. Anhand von Visitationsprotokollen lässt sich für das 17. Jh. ein zuverlässiges Bild nicht nur über die soziale Zusammensetzung, sondern auch über 54 MGH Libri memoriales et necrologia. Nova Series III: Das Martyrolog-Necrolog von St. Emmeram zu Regensburg, Hannover 1986, 194. 55 N ADLER , Neuburg (wie Anm. 31), 125. 56 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Klosterurkunden (KU) Kühbach von 1255 Juli 9. 57 Monumenta Boica 33/ 2, Nr. 134. 58 R UDOLF W AGNER , Benediktinerinnen der Abtei Kühbach im Totenbuch des Klosters St. Nikolaus in Augsburg, in: Altbayern in Schwaben. Jahrbuch für Geschichte und Kultur (2002), 39-50. 59 W ILHELM L IEBHART , Kloster, Wallfahrt und Markt in Oberbayern. Die Benediktinerinnenklöster und Märkte Altomünster, Kühbach und Hohenwart sowie der Wallfahrtsmarkt Inchenhofen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. - Ein Beitrag zum Marktproblem im Mittelalter, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens 88 (1977), 324-549, hier 412f. 60 1551: 14 Nonnen, 1590: 15 Nonnen, 1625: 20 Nonnen, 1642: 33 Nonnen, 1671: 35 Nonnen, 1675: 38 Nonnen und 1803: 29 Nonnen. 61 Nach Visitationsakt im Stadtarchiv Augsburg, Kath. Wesensarchiv B 2. 62 Burghausen, Geisenfeld (2), Ingolstadt, Landsberg (2), Landshut, Moosburg, München (2), Pfaffenhofen, Rain, Rosenheim, Schrobenhausen, Weilheim. Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg 163 die inneren Verhältnisse gewinnen. Bis 1663 stieg die Zahl der bürgerlichen Nonnen auf genau vier Fünftel des Gesamtkonvents, die Zahl der aus dem ländlichen Bereich kommenden blieb bei einem Fünftel. Das Verhältnis Inländer (12) und Ausländer (8), die der Augsburger Bischof präsentierte, erscheint unverändert. Im Vergleich zu 1642 nahm aber die Zahl der Münchner Bürgerstöchter sprunghaft von vier auf neun zu. Spielte 1645 das adelige Element mit Ausnahme der Äbtissin keine Rolle, so trat bis 1662 eine Änderung ein. Es lebten sechs adelige Mädchen im Konvent, deren Profess bevorstand, darunter die Schwestern Helena und Franziska von Lerchenfeld, die 1.000 Gulden Mitgift mitbrachten. Es handelte sich um Töchter des bayerischen Beamten- und Neuadels. Ihre Familien gehörten wenige Generationen früher selbst noch dem Bürgerstand an. Zwei Fünftel der Chorfrauen kamen Mitte des 18. Jahrhunderts wieder aus dem Adel. Seit dem Mittelalter hatte es keinen so starken adeligen Anteil mehr gegeben. Dem Adel gehörten die Äbtissinnen Franzisca von Lerchenfeld (1638-1643), Helena von Lerchenfeld (1685-1718), Scholastika Reichsgräfin von Khuen-Belasi (1725-1743), Rosa von Altkirch (1744- 1766) und Anna Bennonia von Kreittmayr (1799-1803) an. Letztere war eine Nichte des kurbayerischen Ratskanzlers, Konferenzministers und Juristen Wiguleus Xaver Alois Freiherr von Kreittmayr, dessen Schwester schon 1767 bis 1787 Äbtissin gewesen war. 1762 trat die Oberin der Augsburger Englischen Fräulein, Ludovika Holzapfel, ein, ein seltener Fall eines Ordenswechsels. Mitte des 18. Jahrhunderts geriet Kühbach in eine schwere Finanzkrise, 63 ,aus der das Kloster bis zur Säkularisation nicht mehr herauskam. Da sich weder größere Erwerbungen noch aufwendige Klosterbauten oder außergewöhnliche Belastungen im Österreichischen Erbfolgekrieg (1741-1745) feststellen lassen, ist die Hauptursache wohl in der Verdoppelung des Konvents von durchschnittlich 25 im 17. Jahrhundert auf knapp 50 Konventualinnen im 18. Jahrhundert zu suchen. 64 Das Stiftungsgut reichte dafür nicht aus. Auf Dauer war der Konvent überbesetzt, was sich im Laufe der Jahre auswirkte. Die Aufhebung erfolgte am 17. März 1803. 7. Hohenwart Die Anfänge liegen mehr noch als bei Kühbach im Dunkeln. Nach Haustradition, ausschließlich in mittelalterlichen Handschriften 65 überliefert, stiftete das wohl gräf- 63 W ILHELM L IEBHART , Kloster und Markt Kühbach bis 1803, in: M AX A NNESER (Bearb.), 500 Jahre Marktrecht Kühbach 1392-1481, Kühbach 1981, 13-74, hier 49-54. 64 L IEBHART , Kloster und Markt Kühbach (wie Anm. 63), 51-54 mit Konventslisten von 1718 u. 1744. 65 Bayerische Staatsbibliothek (BSB), Codex latinus Monacensis (Clm) 7383, fol. 293v; Clm 7384, fol. 82v, 104v, 106-109 („Goldenes Buch von Hohenwart“); Clm 7390 (Nekrolog). Wilhelm Liebhart 164 liche Geschwisterpaar Ortolf 66 und Wiltrudis 67 ein Benediktinerinnenkloster, 68 dessen Weihe 1074 durch den Augsburger Bischof Embrico erfolgte. 69 Nach Haustradition habe Wiltrudis ihren Bruder gebeten, seine Burg auf einem mächtigen Höhenrücken an der Straße von Augsburg nach Regensburg in ein Nonnenkloster umzuwandeln. Die Eltern der Geschwister hießen Rapoto und Hemma. 70 Das Stifterpaar ist historisch, da um 1077 in einer Tradition für Ilmmünster eine Wiltrudis als nobilis femina von Hohenwart bezeugt ist 71 und ein Ortolf 1062/ 1068 als Vogt Ilmmünsters erscheint. 72 Die Einordnung des Stifterpaares und seiner Eltern, der Rapotonen von Hohenwart, in die Genealogie hochmittelalterlicher edelfreier und gräflicher Adelsfamilien ist problematisch. Sie gehörten zu den Rapotonen, den Ahnen der Grafen von Andechs. 73 Es bestanden Verwandtschaftsbeziehungen zu den Welfen. Die spätmittelalterliche Hausüberlieferung spricht von den Grafen von Thaur-Hohenwart. Rapotos Bruder soll Bischof Gebhard I. von Regensburg (996- 1023), der Wiederbegründer des Benediktinerklosters Thierhaupten, gewesen sein. 74 Zur Familie soll auch der legendäre hl. Romedius gehört haben, dem man 1480 einen Altar mit Reliquien aus St. Georgenberg weihte. 75 Der Einflussbereich und Besitz der „Rapotonen von Hohenwart“ im nordwestlichen Oberbayern reichte vermutlich vom Lech (Thierhaupten) bis zur Paar (Hohenwart) und Ilm (Ilmmünster). Sie waren die nördlichen Nachbarn der Grafen von Kühbach, die vor 66 Todestag lt. Necrolog 22. Juli (MGH Necrologia I, 34), lt. Scheyerner Necrolog 21. Juli (MGH Necrologia III, 136). 67 Todestag lt. Necrolog 2. Juli (MGH Necrologia I, 34). 68 Zur Frühgeschichte S TEICHELE , Bisthum 4 (wie Anm. 36), 855-864; L IEBHART , Kloster, Wallfahrt und Markt (wie Anm. 59), 442-449. 69 S TEICHELE , Bisthum 4 (wie Anm. 36), 859; V OLKERT , Die Regesten der Bischöfe und des Domkapitels von Augsburg (wie Anm. 36), Bd. 1, Lieferung 3, 1063-1133, Augsburg 1974, 195 Nr. 325. 70 Zur Familie vgl. S TEFANIE H AMANN , Das Frauenkloster Hohenwart als dynastische Gründung des Hochmittelalters, in: Tiroler Heimat 48/ 49 (1984/ 1985), 25-33; DIES ., Die Grafen von Hohenwart, in: K RAMER / S TÖRMER , Hochmittelalterliche Adelsfamilien (wie Anm. 49), 65-96. 71 A DALBERT E BNER , Historisches aus liturgischen Handschriften Italiens, in: Historisches Jahrbuch 13 (1892), 748-770, hier 761; H ERMANN T ÜCHLE , Eine Handschrift aus Ilmmünster und eine Hohenwarter Tradition, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 27 (1973), 161-175, hier 174f. 72 Die Traditionen des Klosters Tegernsee 1003-1242, bearbeitet von Peter Acht (Quellen u. Erörterungen zur bayer. Geschichte NF 9/ 1), München 1952, Nr. 63. 73 Zuletzt zusammenfassend H AMANN , Grafen von Hohenwart (wie Anm. 70) 68 Anm. 2. 74 BSB, Codex germanicus Monacensis (Cgm) 1777 (1485 begonnen) und Cgm 2935 (1489, Ergänzung 1551). 75 BSB, Clm 7384, fol. 108b von 1244 erwähnt bereits eine Romedius-Reliquie. Die Reliquien aus St. Georgenberg brachte der Klosterschreiber Erhard Sparnhaller mit. Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg 165 ihnen ein Benediktinerinnenkloster stifteten. Diese können durchaus eine Vorbildrolle gespielt haben. Ein Traditionsbuch, das Aufschluss über fromme Stiftungen geben könnte, ist nicht vorhanden, es haben sich nur drei Traditionen des 12./ 13. Jahrhunderts in Handschriften erhalten. 76 Das späte Necrolog von 1548 verzeichnet neben frühen Äbtissinnen des 11./ 12. Jahrhunderts für das 12. Jahrhundert als einzige Laien Graf (Herzog) Konrad III. von Dachau (gest. 1182) und Kaiser Friedrich I. Barbarossa (gest. 1190), für das Spätmittelalter Herzog Ludwig I. (gest. 1231), die heilige Herzogin Hedwig von Schlesien (gest. 1243), Marschalk Bertold von Schiltberg, Konrad von Lechsberg sowie Kaiser Ludwig IV. (gest. 1347). 77 Die Zusammenhänge bleiben unklar. Wann lassen sich sicher Benediktinerinnen nachweisen? 1208 spricht eine Urkunde von dominae und einem Konvent unter Leitung einer Äbtissin. 78 Papst Bonifaz VIII. gewährte 1300 abbatisse ac conventui monasterii de Hohenbbart ordinis sancti Benedicti ein Privileg. 79 Dies scheint der erste klare Beleg für ein Benediktinerinnenkloster zu sein! Die Zusammensetzung des Konvents wird erst im Spätmittelalter fassbar. Die Klosterurkunden zeigen, dass Nonnen des höheren und niederen Adels Nordwestoberbayerns eintraten. 80 Im 15. Jahrhundert kam das bürgerliche Element hinzu, das sich dann in der Folgezeit weitgehend durchsetzte, ohne dass der Adel, meist dann der neue Beamtenadel, verschwand. Die neuadeligen Beamtenfamilien von Neusoner, von Laubheim, von Mändl auf Deutenhofen, von Deuring und von Aretin schickten im 18. Jahrhundert Töchter nach Hohenwart. Der Beamtenadel besetzte im 17./ 18. Jahrhundert mit Sabina Richildis von Wämpl (1700-1737), Tochter eines Landshuter Bürgermeisters, aber nur einmal den Äbtissinnenstuhl. Freiinnen von Welden waren Mitte 17. Jahrhundert die Schwestern Veronika (1609-1647) und Sibylla (1610-1667) Fugger. Vier Äbtissinnen der Frühen Neuzeit kamen aus Ingolstadt. 81 Stark war auch das Münchner Bürgertum im Konvent vertreten, im 18. Jahrhundert die Familien Ettenhofer, Gerstens, Marini, Pöcher, Steidl, Weiß und Weller. Ältestem altbayerischen Adel entsprang Äbtissin Amalia Gräfin Closen zu Gern (1760-1767). Die Säkularisation erfolgte am 19. März 1803. 76 J OSEF W IDEMANN , Die Traditionen der bayerischen Klöster, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 1 (1928), 225-243, hier 231. Abgedruckt bei S TEICHELE , Bisthum 4 (wie Anm. 36), 856f. 77 MGH Necrologia 1, 33-35. 78 Monumenta Boica 17, 101f. 79 Monumenta Boica 17, 105. 80 Sie stammten aus den Familien Absberger, Arnbach (Nieder- und Oberarnbach), Birkhaimer, Judmann zu Staingriff und Oberarnbach, Gurr, Hinzenhauser, Höhenkircher, Köllner, Münsterer, Parsberger, Pappenberger, Rehlinger, Rohrenfels, Rotenstein, Schaldorfer, Seckendorf , Starzhauser, Streitberg und Truchsäß . 81 Barbara II. Brenzinger, Anna I. Mantlacher, Kunigunde II. Frey, Tochter des Bürgermeisters Friedrich Carl Frey, und Gertrud Reiter. Wilhelm Liebhart 166 8. Kloster Holzen Der früheste urkundliche Nachweis für die Existenz eines Benediktinerinnenkonvents in Kloster Holzen 82 datiert vom 1. Dezember 1183. 83 Papst Lucius III. nahm den Konvent in den päpstlichen Schutz (sub beati Petri et nostra protectione suscipimus) auf und verbot, dass monasterium temere, perturbare aut eius possessiones auferre. Lucius gewährte und bestätigte den monialibus 1. die freie Wahl einer Meisterin (liberam magistrae electionem), 2. den ordo monasticus qui secundum deum et beati Benedicti regulam, 3. alle Besitzungen (possessiones), 4. die Konversion von freien und freigelassenen Personen (personas liberas et absolutas ad conversionem recipere), 5. die Erhebung von Zehnten aus Neubrüchen (decimas exigere) und 6. die üblichen Ausnahmen während eines Interdikts. Da sich die Papsturkunde auf ein früheres Privileg Eugens III. (1145-1153) bezog, dürfte Holzen schon um 1150 durch Sigfrid von Donnersberg, Vertreter einer in unmittelbaren bischöflichen Diensten stehenden Ministerialenfamilie, die später das erbliche Marschallamt innehatte, gegründet worden sein. In den Quellen erscheint Ende des 12. Jahrhunderts ein Propst Heinrich von Holzen. Man geht deshalb von zwei Konventen oder einem Doppelkloster aus, was aber zu bezweifeln ist. Einige Priester machen noch keinen Konvent aus, da es sich um Laienpriester gehandelt haben dürfte. Der „Männerkonvent“ soll sich schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts aufgelöst haben. Als sich 1401 die Schwestern des Konvents von Salmannshofen mit dem Konvent dez Closters ze dem Holtz 84 unter der Leitung einer Meisterin vereinigten, nahmen sie den Orden vnd die Regel dez egenanten Closters an. 1458 wurde eine widerspenstige Zisterzienserin aus Oberschönenfeld ad Monasterium in Holcz ordinis sancti Benedicti 85 verpflanzt. 1469 erfolgte die Reform durch das Augsburger Benediktinerinnenkloster St. Nikolaus. Im Zeitalter der Reformation nahm Holzen flüchtige Nonnen aus diesem Kloster, aber auch aus Bergen bei Neuburg auf. 86 Die Zugehörigkeit zum Hochstift Augsburg sicherte das Überleben in allen Krisenzeiten. Seit 1606 führten die Meisterinnen den Äbtissinnentitel. Mit einer Ausnahme entstammten alle Äbtissinnen bis 1803 entweder dem altbayerischen oder dem schwäbischen Alt- und Beamtenadel. 82 Folge hier W ALTER P ÖTZL , Vom Doppelkloster zum adeligen Stift - 650 Jahre benediktinisches Leben in Holzen, in: W ALTER P ÖTZL / H ERBERT I MMENKÖTTER , Kloster Holzen. Ein Juwel des schwäbischen Barock, Weißenhorn 2009, 7-56. 83 Staatsarchiv Augsburg, Holzen Klosterurkunde Nr. 2. Zitate ebd. 84 Zitate aus Monumenta Boica 31, 147-149. 85 Monumenta Boica 31, 499. 86 P ÖTZL , Holzen (wie Anm. 82), 10. Zur Geschichte der Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg 167 9. Augsburg/ St. Nikolaus Eine Sonderentwicklung zeigt das vergessene, schon in der Reformation untergegangene Benediktinerinnenpriorat St. Nikolaus zu Augsburg. Keuschheit, Armut, Gebet, Fasten und ein gemeinsames Leben führten im 2. Viertel des 13. Jahrhunderts Mädchen, ledige Frauen und Witwen an mehreren Orten der aufstrebenden Bischofs- und Königsstadt Augsburg zusammen. Diese Frauengemeinschaften waren sogenannte Beginen und verkörperten eine alternative Lebensform, weshalb sie auch verdächtig erschienen. Sie lebten nach gewissen Statuten gemeinsam in lockerer Klausur, konnten aber jederzeit wieder austreten. Mitgiften und die eigene Handarbeit sicherten ihren Lebensunterhalt. Diese Frauenkommunen kamen mit einer Ausnahme unter dem Einfluss der jungen Bettelordenniederlassungen der Dominikaner zu St. Magdalena und der Franziskaner des Barfüßerkonvents. Ein Kristallisationspunkt war die Vorstadt auf dem Gries in Richtung Friedberg, im Pfarrsprengel der Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra. Dort lassen sich vor 1250 die Vorläuferinnen von St. Katharina und von St. Nikolaus nachweisen. Während sich die Seelschwestern bei St. Katharina 1246 den Dominikanern anschlossen und 1251 in die Oberstadt hinein zogen, erhielten die anderen, die sorores sub regula sancti Benedicti existentes, 1262 vom Kloster St. Ulrich und Afra ein Haus mit Hofstatt apud sanctum Nycolaum in arena überlassen. 87 Bischof Hartmann (1248-1286) weihte im selben Jahr einen Altar. 88 Diese Dotation stand wohl in Zusammenhang mit der Annahme der Benediktregel. Mit diesem Frauenkloster reformierte dann St. Ulrich und Afra im 15. Jahrhundert im Auftrag des Bischofs und der Wittelsbacher Herzöge die Benediktinerinnenklöster Bergen (1456), Kühbach (1467), Holzen (1469) und wohl auch Geisenfeld im Sinne der Melker Reform. 89 Vorausging eine Reform in St. Nikolaus 1442/ 43. 90 St. Nikolaus unterstand seitdem als Priorat direkt dem Abt von St. Ulrich und Afra. Ob man von einem „Doppelkloster“ sprechen kann, wie es Friedrich Zoepfl tat, ist zu bezweifeln. 91 St. Nikolaus versuchte diese enge Bindung wohl mit Hilfe einflussreicher städtischer Familien aus welchen Gründen auch immer zu lösen. 1476 befreite Papst Sixtus IV. den Konvent in spiritualibus et temporalibus a superioritate et obediencia von der Abhängigkeit. 92 Der Konvent kam 87 C HRISTIAN M EYER (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Augsburg, Bd. 1, Augsburg 1874, 21 Nr. XXII. 88 F RIEDRICH Z OEPFL , Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Mittelalter, Augsburg 1955, 219. 89 L IEBHART , Reichsabtei Sankt Ulrich und Afra (wie Anm. 42), 147. 90 Z OEPFL , Bistum (wie Anm. 88), 441. 91 Z OEPFL , Bistum (wie Anm. 88), 569. 92 P LACIDUS B RAUN , Notitia historico-literaria de codicibus manuscriptis in bibl. Liberi ac imperialis monasterii O.S.B. ad SS. Udalricum et Afram Augustae extantibus, 6 Bde., Bd. 3, Augsburg 1793, 152. Wilhelm Liebhart 168 unter reichsstädtische Pflegschaft. Vermutlich war die Erhebung zur Abtei beabsichtigt. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Erste Auflösungserscheinungen im Gefolge der Reformation machten sich seit 1524 bemerkbar. 93 1537 hob die Stadt im Zusammenhang mit der Einführung der Reformation das Kloster auf und brach es sogar ab. Die noch vorhandenen Nonnen unter der Meisterin/ Priorin Margaretha Herwarth kamen trotz heftigster Gegenwehr zunächst nach St. Katharina und dann ins leer stehende Dominikanerinnenkloster St. Ursula. 94 Inwieweit dann die erzwungene Laisierung gelang, ist nicht bekannt. Kloster Holzen nahm Nonnen auf, die weiterhin entsprechend ihrem Gelübde leben konnten. 10. Zusammenfassung Das Bistum Augsburg beherbergte bis zum Ende des Alten Reiches nicht nur Männerklöster, sondern auch Frauenklöster, die nach der Regel des hl. Benedikt lebten. Es fällt auf, dass in der 1. Hälfte des 11. Jahrhundert sechs Frauengemeinschaften in einer gemeinsamen Region diesseits und jenseits des Lechs entstanden wie Neuburg an der Donau (1007 abbatia), Mönchsdeggingen (1016 abbatia), Kühbach (1011 monasterium), Unterliezheim (1026 abbacia sub regula), Donauwörth (1049 monasterium mit abbatissa) und Hohenwart (vor 1074). Manche dürften zunächst Stifte gewesen sein, ehe sie die Benediktusregel annahmen. Die Stifter und Gründer der sechs Klöster entstammten dem Dynastenadel, gehörten Herzogs- und Grafenfamilien an. Spätere Gründungen und deshalb Sonderfälle stellten Kloster Holzen (1183 ordo monasticus qui secundum deum et beati Benedicti regulam) und Augsburg/ St. Nikolaus (1262) dar. 93 F RIEDRICH R OTH , Augsburgs Reformationsgeschichte, 2 Bde., Bd. 1, München 1901, 293. 94 F RIEDRICH R OTH , Augsburgs Reformationsgeschichte, 2 Bde., Bd. 2, München 1904, 320f. und 347 Anm. 54. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft - Kriminalitätsgeschichte im Kleinen Marina Heller 1. Einleitung Der italienische Historiker Carlo Ginzburg gilt mit seiner Monographie von 1979 „Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600“ 1 als Pionier in der Mikrogeschichte. Es handelt sich dabei um eine Studie über den Müller Domenico Scandella, genannt Menocchio, welcher 1532 in einem Bergdorf in Friaul geboren und 1599 nach zwei Prozessen als Ketzer hingerichtet wurde. Hier dient ein einzelner Mensch als Untersuchungseinheit für die Erforschung größerer Zusammenhänge bzw. Probleme, wie in diesem Fall die Bauernkultur. 2 So meint Ginzburg, dass die „unendlich feinen Spuren“ erlauben „eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen.“ 3 Laut Otto Ulbricht tragen alle mikrohistorischen Untersuchungen die Überzeugung in sich, durch eine „Erforschung im Kleinen - nicht des Kleinen“, neue Fakten ans Licht zu bringen. 4 Eine kleine Untersuchungseinheit als Vergrößerung des Maßstabs ist notwendig, um die Handlungsfähigkeit und -möglichkeit des einzelnen Menschen unter bestimmten Bedingungen in der Geschichte in den Blickpunkt zu nehmen. 5 Kleine Untersuchungseinheiten können dabei ein Dorf oder eine einzelne Person sein, wobei eine umfassende Erschließung aller Quellen erfolgen sollte. Die daraus gewonnenen Ergebnisse führen dann zu allgemeineren Erkenntnissen. Die Bodenhaftung für die Mikrogeschichte ist ihre Quellenbindung. 6 1 C ARLO G INZBURG , Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt a.M.1979. 2 G INZBURG , Der Käse und die Würmer (wie Anm. 1), Einleitung 9-22, 25; O TTO U L- BRICHT , Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2009, 17-18. 3 C ARLO G INZBURG , Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: Freibeuter 3 (1980), H. 3, 7-17, H. 4, 11-36, hier 16, zit. nach U LBRICHT , Mikrogeschichte (wie Anm. 2), 13. 4 U LBRICHT , Mikrogeschichte (wie Anm. 2), 13. 5 U LBRICHT , Mikrogeschichte (wie Anm. 2), 12. 6 U LBRICHT , Mikrogeschichte (wie Anm. 2), 14-16. Marina Heller 170 Die Studie von Ginzburg kann, da es sich bei dem untersuchten Quellenmaterial zum großen Teil um Inquisitionsakten handelt, auch als Teil der Kriminalitätsgeschichte angesehen werden. Die Kriminalitätsgeschichte hat sich in Deutschland spätestens seit den 90er Jahren etabliert und erlebte einen Publikationsschub an Sammelbänden und Monographien. 7 Es dominierten zunächst Arbeiten zum Spätmittelalter und zur Frühen Neuzeit. 8 Dabei ist es „naheliegend, die Analyse auf Teile einer Herrschaftseinheit, auf ein Gericht oder ein Amt zu begrenzen.“ 9 Dies hat den Vorteil, „näher an die einzelnen Akteure heranzukommen und ihre Handlungsoptionen auszuloten.“ 10 Dabei dienen unter anderem neben Territorien oder Landschaften auch einzelne Städte oder Dörfer als Untersuchungsgegenstände. 11 So behandelt zum Beispiel die Dissertation von Gerd Schwerhoff von 1991 „Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft“ in der frühneuzeitlichen Stadt Köln. 12 Andere Studien der Kriminalitätsgeschichte stellen bestimmte Delikte in den Vordergrund, wie zum Beispiel die Ordnungsdelikte. 13 Für den Fränkischen Raum wichtig ist die Studie von Ernst Schubert über „Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts“ von 1983. 14 In diesem Kontext der Kriminalitätsgeschichte im Kleinen wird hier im Folgenden ein ausgewählter Fall vorgestellt, welcher sich im 18. Jahrhundert im reichsritterschaftlichen Dorf Mitwitz im heutigen Oberfranken ereignet hat. 1726 hatten dort zwei herrschaftliche Dienstmägde des Unteren Schlosses in Mitwitz sich unterfangen von jhrer Herschafft getreyd Böden, durch ein dazu erfunden und erbrochenes diebs Loch geraume Zeit her, und biß mann erst kürzlich dahinter kommen, nach und nach eine ziemliche quantitaet getreyd heimlich zuentwenden und wurden daher nebst ihren Höhlern und Unterschleiff gebern zur Inquisition gezogen, und in die bande gelegt 7 G ERD S CHWERHOFF , Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992), 385-414; J OACHIM E IBACH , Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 681-715, hier 683, 689. 8 G ERD S CHWERHOFF , Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen 9), Frankfurt a. M. / New York 2011, 19. 9 S CHWERHOFF , Historische Kriminalitätsforschung (wie Anm. 8), 19. 10 S CHWERHOFF , Historische Kriminalitätsforschung (wie Anm. 8), 19-20. 11 Vgl. dazu die Bibliographie von S CHWERHOFF , Historische Kriminalitätsforschung (wie Anm. 8), 197-225 sowie die Bibliographie von DERS ., Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen 3), Tübingen 1999, 195-224. 12 G ERD S CHWERHOFF , Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn / Berlin 1991. 13 S CHWERHOFF , Historische Kriminalitätsforschung (wie Anm. 8), 27. 14 E RNST S CHUBERT , Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt a.d. Aisch 1983 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe IX, Darstellungen aus der Fränkischen Geschichte 26). Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 171 […]. 15 Zunächst aber soll kurz auf die fränkische Reichsritterschaft eingegangen und die Herrschaft Mitwitz der Freiherren von Würtzburg vorgestellt werden. Domdechant Johann Veit Freiherr von Würtzburg hatte zum Zeitpunkt dieses Vorfalles die Leitung des Rittergutes Mitwitz inne und musste als oberster Gerichtsherr maßgebliche Entscheidungen treffen, wie sein Amtmann den Fall zu behandeln und zu untersuchen hatte. 2. Die Fränkische Reichsritterschaft Der fränkische Ritterkreis bildete zusammen mit dem schwäbischen und dem rheinischen Ritterkreis die unmittelbare freie Reichsritterschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Der Fränkische Kreis wies etwa 700 Rittergüter mit etwa 150 Rittergeschlechtern auf. Er gliederte sich in die sechs Kantone Odenwald, Gebirg, Rhön-Werra, Steigerwald, Altmühl und Baunach. 16 Die Reichsritter zählten nicht zu den Reichsständen, waren jedoch als reichsfreie Adelige den Reichsständen gleichgehalten und hoben sich von der großen Masse der landsässigen Adeligen scharf ab. 17 Die Reichsritter lagen mit ihren Rittergütern meist zwischen kleineren weltlichen oder geistlichen Herrschaften. Die Ritterfamilien konnten sich von der landesherrlichen Obrigkeit der umliegenden Stände frei halten und sich direkt dem Schutz des Kaisers unterstellen. 18 Für die Reichsritterschaft war entscheidend, dass ihr das Kriterium der Landeshoheit zuerkannt wurde, denn eine gewisse Art von Landesherrlichkeit besaßen auch die landsässigen Adeligen. Vom Reichshofrat ist die Landeshoheit wiederholt der freien Reichsritterschaft zugesprochen worden. 19 Doch was machte die Landeshoheit überhaupt aus? Die Landeshoheit in Franken war vielschichtig und erwuchs aus der Grund- und Vogteiherrschaft. 20 Es ging der Reichsritterschaft aber nicht nur um die 15 Stadtarchiv Bamberg (StA Bamberg), Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. H-II 1587. 16 W OLFGANG VON S TETTEN , Die Rechtsstellung der unmittelbaren freien Reichsritterschaft, ihre Mediatisierung und ihre Stellung in den neuen Landen. Dargestellt am fränkischen Kanton Odenwald (Forschungen aus Württembergisch Franken 8), Schwäbisch Hall 1973, 29. 17 H EINRICH M ÜLLER , Der letzte Kampf der Reichsritterschaft um ihre Selbständigkeit (1790- 1815) (Historische Studien LXXVII), Berlin 1910, 15. 18 E RWIN R IEDENAUER , Die fränkische Reichsritterschaft, in: A LFRED W ENDEHORST (Hrsg.), Erwin Riedenauer. Fränkische Landesgeschichte und Historische Landeskunde. Grundsätzliches - Methodisches - Exemplarisches (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 134), München 2001, 135-140, hier 137-138. 19 S TETTEN , Kanton Odenwald (wie Anm. 16), 47-53. 20 H ANNS H UBERT H OFMANN , Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 2), München 1962, 60. Marina Heller 172 staatsrechtliche Anerkennung als Landesherrn, sondern auch um die konkreten Rechte, die ihr nachgeordnet waren. 21 Fehlten einem Rittergut bestimmte Rechte, so behauptete ein benachbarter Reichsstand diese. Dabei konnte es sich um die Hochgerichtsbarkeit und um den Wildbann handeln. 22 In Franken hatten nur wenige reichsritterschaftliche Familien die Hochgerichtsbarkeit inne. Ihre große Bedeutung für die Herrschaft darf dabei keineswegs unterschätzt werden. Zum einen galt es als Prestige, als Oberster Gerichtsherr über Leben und Tod entscheiden zu können. 23 Zum anderen war die Ausübung der hohen Fraisch auch ständiger Streitpunkt mit den größeren Territorien, die diese oftmals für sich selber beanspruchen wollten. 24 Für den Untertanen des Reichsritters selbst war der Faktor Herrschaft entscheidend, „als eine Instanz, die Maßstäbe setzt, Entscheidungen trifft, Anordnungen ergehen läßt und deren Befolgung erzwingt“. 25 Hochgericht, Vogtei, Grundrechte, Steuer und Dorfherrschaft stehen daher im Rahmen des umfassenden Begriffs der Herrschaft. 26 21 S TETTEN , Kanton Odenwald (wie Anm. 16), 53. 22 M ÜLLER , Kampf der Reichsritterschaft (wie Anm. 17), 20-21. 23 S TETTEN , Kanton Odenwald (wie Anm. 16), 54-55; H OFMANN , Adelige Herrschaft (wie Anm. 20), 58: Einige ritterschaftliche Herrschaften besaßen eine limitierte Cent, welche dem Reichsritter als Vogtherrn die Centeinfallsfreiheit zusicherte. Dafür musste der Vogtherr den Delinquenten innerhalb einer gewissen Frist dem zuständigen Hochgericht überstellen. 24 R OBERT S CHUH , Das vertraglich geregelte Herrschaftsgemenge. Die territorialstaatlichen Verhältnisse in Franken im 18. Jahrhundert im Lichte von Verträgen des Fürstentums Brandenburg-Ansbach mit Benachbarten, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 55 (1995), 137-170, hier 142; G ERHARD R ECHTER , Die Seckendorff. Quellen und Studien zur Genealogie und Besitzgeschichte, Die Linien Aberdar und Hörauf, Teil 1 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe IX, 36), Bd. 3, Neustadt a.d. Aisch 1997, 122*; W OLFGANG W ÜST , Das inszenierte Hochgericht. Staatsführung und blutiges Herrschaftszeremoniell in Bayern, Franken und Schwaben, in: K ONRAD A CKERMANN / A LOIS S CHMID / W ILHELM V OLKERT (Hrsg.), Bayern vom Stamm zum Staat. Festschrift für Andreas Kraus zum 80. Geburtstag, (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 140), Bd. 1, München 2000, 273-300, hier 282-283. 25 E RWIN R IEDENAUER , Gestaltung der Landschaft durch die Herrschaft. Begriffe - Modelle - Probleme, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 57/ 3 (1994), 585-600, hier 588. 26 E RWIN R IEDENAUER , Zur Einführung, in: DERS . (Hrsg.), Landeshoheit. Beiträge zur Entstehung, Ausformung und Typologie eines Verfassungselements des Römisch-deutschen Reiches (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte XVI), München 1994, 1- 10, hier 4. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 173 3. Die Herrschaft Mitwitz Zum ersten Mal erwähnt wurde Mitwitz 1266 als Minwize. 27 In diesem Jahr sind die Schaumberg als Besitzer der Herrschaft Mitwitz bezeugt. Im 14. Jahrhundert trugen diese Mitwitz dem Hochstift Bamberg zu Lehen auf. Unter den Schaumberg wurde Burggrub, das bisher einen eigenen Halsgerichtsbezirk bildete, mit der Herrschaft Mitwitz verbunden. 28 1425 verkauften die Schaumberg „ihr Schloß und ihre Behausung zu Minwicz mit allen Zugehörungen […] etc. um 2800 fl.“ sowie die Schenkstatt, das Gericht und Halsgericht an die Rosenau. 29 Unter den Rosenau wurde die Herrschaft Mitwitz in das Untere und das Obere Schloss geteilt, welche an jedem Ort und Waldung Besitz hatten. 30 Außerdem führten sie in Mitwitz und Burggrub die Reformation ein. 31 1575 verkaufte Hans Berthold von Rosenau und Ahorn das Untere Rittergut Mitwitz um 27.500 fl. an Hieronymus II. von Würtzburg. Die Kaufsumme stellte wohl sein Onkel Veit II. Bischof zu Bamberg zur Verfügung. Des Weiteren erwarb Hieronymus II. die Hoch- und Niedergerichtsbarkeit zu Mitwitz und Burggrub, den Kirchweihschutz, das Kirchweihverbot, die Patronatsherrschaft und das hohe und niedere Jagdrecht. 32 Dessen Neffe Hans Veit I. kaufte 1594 das Obere Schloss zu Mitwitz von Adam Alexander von Rosenau zu Öslau um 25.000 fl. 33 Noch im selben Jahr erwarb er zudem ein weiteres Drittel von Burggrub und ließ sich mit dem sächsischen Anteil an Burggrub belehnen. Er besaß somit die gesamte Herrschaft Mitwitz. 34 Insgesamt gehörten die Dörfer und Weiler Mitwitz, Neundorf, Schwärzdorf, Kaltenbrunn, Burgstall und Rotschreuth sowie weitere Wüstungen grundherrschaftlich geschlossen zur Herrschaft Mitwitz und bildeten zudem den Halsgerichtsbe- 27 W ILHELM H OTZELT , Familiengeschichte der Freiherren von Würtzburg, Freiburg i. Br. 1931, 310. 28 H ELMUT D EMATTIO , Kronach der Altlandkreis(Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken, Reihe I, Heft 32), München 1998, 405-408. 29 R UDOLF P FADENHAUER , Die Gerichte Mitwitz und Burggrub, Haig und Rothenkirchen in alten Urkunden, Karten und Bänden, erschienen zur gleichnamigen Ausstellung im Oktober 1991 im Wasserschloß Mitwitz, Kronach 1991, 27. 30 D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 410. 31 D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 419. 32 P FADENHAUER , Die Gerichte Mitwitz und Burggrub (wie Anm. 29), 29; D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 410-411. 33 P FADENHAUER , Die Gerichte Mitwitz und Burggrub (wie Anm. 29), 31. 34 H OTZELT , Familiengeschichte von Würtzburg (wie Anm. 27), 408; D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 411. Marina Heller 174 zirk. 35 Über alle im Hochgerichtssprengel liegenden Orte besaßen die Würtzburg auch die Dorf- und Gemeindeherrschaft. So ließ Hans Veit 1595 zu Beginn seiner Herrschaft eine Dorfordnung erstellen. 36 Die Würtzburg ließen sich von Bamberg mit dem Hochgericht belehnen. 37 Das Halsgericht Burggrub ging seit 1601 je zur Hälfte vom Hochstift Bamberg und vom Herzogtum Sachsen-Coburg zu Lehen. 38 Das Rittergut Mitwitz war dem Ritterkanton Gebirg inkorporiert. Die anderen Rittergüter, welche dem Kanton Gebirg angehörten, hatten seit dem Rezess zwischen Bamberg und dem Ritterkanton im Jahr 1700 nur die limitierte Cent. Doch dies war für Mitwitz ohne Belang. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden hier Hochgerichtsprozesse abgehalten. 39 Das Rittergut Mitwitz behielt auch seine protestantische Konfession bei, als die Familie von Würtzburg selbst zum katholischen Glauben zurückkehrte. 40 Als Reichsritter hatten die von Würtzburg das Recht Juden anzusiedeln und von ihnen ein Schutzgeld einzunehmen. Ab 1789 besaßen die Mitwitzer Juden eine Synagoge. Anfang des 19. Jahrhunderts lebten circa 20 jüdische Familien in Mitwitz. 41 4. Domdechant Johann Veit Freiherr von Würtzburg Er war der älteste Sohn Hans Veits IV. und wurde im Oktober 1674 geboren. Als Jugendlicher wurde er vom Würzburger Domkapitel aufgenommen, wo er 1688 eine Präbende erhielt. Er studierte in Würzburg und in Salzburg. 1714 wird er zum Geistlichen Rat ernannt und ein Jahr später als Kapitularherr ins Kapitel eingeführt. Im Februar 1720 wurde Johann Veit zum Hofrat und Kammerpräsidenten ernannt. Im Dezember 1724 wurde er zum Domdechant gewählt und 1729 zum Statthalter von Würzburg ernannt. Er ließ sich durch den Architekten Balthasar Neumann ein Palais in Würzburg errichten, das 1728 fertiggestellt wurde. Dort konnte er als Statthalter des Stifts und Vertreter des Bischofs standesgemäß Repräsentationen durchführen. Nebenbei hatte Johann Veit noch eine Präbende im Domstift Bamberg und war dort Kapitular und geheimer Rat. 42 35 P FADENHAUER , Die Gerichte Mitwitz und Burggrub (wie Anm. 29), 9; D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 409. 36 D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 418. 37 D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 409. 38 D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 417. 39 D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 416. 40 P FADENHAUER , Die Gerichte Mitwitz und Burggrub (wie Anm. 29), 10; D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 419. 41 D EMATTIO , Kronach (wie Anm. 28), 415. 42 H OTZELT , Familiengeschichte von Würtzburg (wie Anm. 27), 520-525. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 175 Nach dem Tod seines Vaters 1703 wurde er dessen Stellvertreter in Mitwitz. 43 Zusammen mit seinem Bruder Georg Heinrich Wilhelm bildete er eine Partei gegen den jüngsten Bruder Johann Ludwig, was am 13. Januar 1713 zu einem Teilungsvertrag führte. Johann Ludwig zog 1716/ 17 aus dem Unteren Schloss in das Obere Schloss ein und übernahm das Obere Gut. Dies leitete bis 1800 die Trennung des Gutes in Verwaltung und Gericht ein. 44 5. Der Fall der herrschaftlichen Dienstmägde Elisabetha und Amalia in Mitwitz Am 21. August 1726 beschreibt Reinelius, Amtmann des Unteren Schlosses, wie mann einige zeit, uff […] herrn domdechantens barons von Würtzburg p. untern getreÿd-boden, der Laimen-boden genannt, wahrnehmen müssen, daß sowohl die gersten, als auch der waitz hauffen, ohne daß etwas davon abgelasset worden, zieml. masen abgenommen. Daher hat man es für notwendig befunden beÿ heutig gewohnl. abgebung des habers vor das gezieffer aller orten genau zu visitiren. 45 Tatsächlich entdeckte man, dass links vom Eingang des Bodens ein Brett so manipuliert worden war, dass dieses unbemerkt geöffnet und geschlossen werden konnte. Der Amtmann hatte sogleich die herrschaftlichen Dienstmägde in Verdacht. Seiner Meinung nach hätten auch sonsten sich einige muthmasungen ergeben, daß solches durch die herschafftl. dienstmägde müße freventlich unternommen seÿn worden. 5.1. Die ersten Verhöre im August 1726 Um nun hinter die grundl. wahrheit zukommen, wurde zuerst Johann Stephan Schreck, Müllerknecht der Föritzmühle, befragt. Er sollte dem Gericht sagen, wann, wie viel und wie oft die Mägde ihm Getreide zum Mahlen gegeben hatten, und welche Personen genau beteiligt gewesen waren. Weil er auf diese gütl. vorstellung des Verwalters gantz keck antwortete, dass er nichts weiter als ein beck korn erhalten hätte wurde er etwas schärfer angegangen und direkt danach gefragt, was von hiesigen vieh-mägdl. Amalien Wagnerin vergangenen Montag in einem körbl. in die mühle getragen worden? Es gab wohl mehrere Augenzeugen, die davon berichtet hatten. Der Müllerknecht gab nun nach ziemli. angewendeter mühe zur Antwort, dass ihm ein Achtel Gerste gebracht wurde. Nach weiteren ernsten Befragungen änderte er seine 43 H OTZELT , Familiengeschichte von Würtzburg (wie Anm. 27), 532. 44 P FADENHAUER , Die Gerichte Mitwitz und Burggrub (wie Anm. 29), 12-13. 45 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 332: Getreidediebstahl 1726; StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 356 (Reinschrift von 332). Alle folgenden Zitate in 5, 5.1. und 5.2 entstammen den eben angegeben Akten. Marina Heller 176 Aussage und gab an, dass es sich um ein Viertel Weizen und nicht um ein Achtel Gerste handeln würde. Nach ihm wurde die sogenannte kleine Magd Amalia Wagnerin vor die Gerichtsstelle gebracht und belehrt, die reine wahrheit anzuzeigen. Sie wurde gefragt wo sie das diese woche zu zweÿen mahlen in einem tragkörbl. in hiesige Föritz Mühle gebrachte achtel gersten und waitz hergenommen? Auch mit weßen vorwißen sie es da hingebracht? Dann wie, oder weme das davon gekommene mehl zugestellet worden? Amalia aber beharret beständig in negativis, und will […] solches als ein lächerl. und wunderl. ansinnen vorkommen lassen. Der Verwalter ließ daher noch mal den Müllerknecht vorbringen, der seine Aussage im Beisein der kleinen Magd wiederholen musste. Daraufhin gab Amalia zu, auf Verlangen der sogenannten großen Magd Elisabetha Büttnerin Getreide durch das abgebrochene Brett geholt zu haben. Nach vieler gütl. anmahnung gab sie in antwortt wie sie alles offenbahren und nichts verhalten wollen, und hätte neml. einstmahls sich ergeben, da der gewesenen wirthin Wilkußin jüngste tochter Maria Johanna hereingekommen und die Ließ [=große Magd] geklagt, daß sie sowenig vor ihr geziefer zufüttern, diese die anleitung gegeben, ob sie dann nicht uff den boden kommen könnten, sie solten ein brett abreißen, so könnten sie sich ja allzeit helffen. Die kleine Magd hätte daraufhin mit der Wirtstochter den Plan in die Tat umgesetzt und sich eine Schürze voll mit Hafer geholt. Vier Mal hätte sie sich auf diese Weise Hafer sowie ein Viertel Weizen genommen. Da sie trotz aller angewendeten mühe nun darauf bestand alles gesagt zu haben, beendete man dieses Verhör. Johann Stephan Schreck musste allerdings noch einmal erscheinen, da er im ersten Verhör ein Achtel Gerste verleugnet hatte. Er gab an, daß von denen herrschafftl. mägden es ihm verbotten gewesen, und hätte er sie also nicht gerne verrathen wollen, […], wolte aber künfftighin alles und jedes was in hiesige oeconomie gemahlen würde, uffschreiben, damit er red und antwortt davor geben könnte. Der Amtmann Reinelius wollte daraufhin den sich noch in der Mühle befindenden Weizen abholen lassen. Doch ihm wurde berichtet, dass dieser in der Zwischenzeit von der großen Viehmagd Elisabetha heimlich abgeholt worden war. Schon wieder musste Amalia dafür Frage und Antwort stehen. Sie wusste aber nicht wohin Elisabetha den Weizen gebracht hatte und gab an, daß es eben nicht so arg, als mann es machen wolte, und dass das meiste Getreide ja zur Fütterung des Geziefers diente, somit sie es nicht aus frevel vorgenommen, welches sie allstündl. mit einem eÿd behaupten könnte. Reinelius vermutete hinter dieser Aussage eine Absprache zwischen den beiden Mägden und ließ Amalia bis zur Ankunft von Elisabetha im Amthaus sitzen. Sebastian Engel von Neundorf, Müller der Föritzmühle, gab in der Zwischenzeit an, dass er seine Mühle zum größten Teil dem Knecht übergeben hätte. Er berichtete, dass der Müllerknecht der kleinen Viehmagd ständig hinterhergelaufen wäre und vermutete, dass dieser auch bei ihr im Schloss gewesen sei. Johann Stephan Schreck gab schließlich zu, der Dienstmagd die Ehe versprochen und ihr des- Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 177 wegen ein halbes Kopfstück gegeben zu haben. Auch war er, mit Wissen und Erlaubnis der großen Magd, am Sonntag bis ein Uhr in der Nacht bei ihr im Schloss gewesen. Amalia dagegen verneinte das Eheversprechen. Das halbe Kopfstück hätte er ihr nur zur Verwahrung gegeben. Außerdem betonte sie, dass nichts Ungebührliches vorgefallen sei. Endlich wurde auch Elisabetha befragt. Diese gab Maria Johanna Wilkusin die alleinige Schuld, weil diese auf die Idee gekommen war, ein Brett auf dem Boden abzubrechen und die Amalia dazu angestiftet hätte auf diese Weise Hafer und Gerste für das Geflügel zu holen. Sie selber hätte die beiden dafür ausgeschimpft. Sie wäre nie mit auf den Boden gegangen und hätte nur Hafer und etwas Gerste für die Hühner erhalten. Den Weizen aus der Mühle hatte sie aus Angst in den Bach geschüttet. Am Ende der Verhöre wurde Amalia Wagnerin in die Frohnveste gebracht. Der Verwalter wollte damit verhindern, dass sich die beiden Mägde weiter besprechen und ihre Aussagen angleichen konnten. Vom Müllerknecht Johann Stephan Schreck dagegen wurde eine Bürgschaft verlangt. Zwei Tage später wurde ein Getreidesturz vorgenommen, um die genauen Verluste dokumentieren zu können. Dabei fand man heraus, dass auch vom Boden der Witwe des Georg Heinrich Wilhelm, Bruder des Domdechants Johann Veit, Getreide fehlte. Daher wurde Amalia noch einmal verhört. Diese nahm sich jedoch in Schutz und schob die Schuld auf die große Magd, welche mehr verstand haben soll. Sie hätte es nur auf Elisabethas Verlangen hin getan und nicht davon profitiert. Da nun aber der anzeige nach deren vatter sich darüber sehr entsetzet, daß mann geglaubt er würde gäntzl. von sinnen kommen durfte sie die Frohnveste verlassen und ihrer Arbeit nachgehen. Am 27. August wurde Maria Johanna Wilkusin vorgeladen. Diese schob die Schuld ebenfalls auf die große Magd Elisabetha und meinte, dass diese sie zum Stehlen animiert habe. So hätte sie ihren Eltern öfters Bier gestohlen, um es zur Elisabetha zu bringen, die ihr dafür Eier und Schmalz gegeben hatte. Sie gestand, die Magd auf die Idee gebracht zu haben etwas für das Geziefer heimlich aus dem Getreideboden zu holen. Während sie zusammen mit Amalia ein loses Brett gesucht und Gerste und Hafer zurück in die Küche gebracht hatte, hielt Elisabetha Wache, damit sie nicht entdeckt werden konnten. Einige Zeit später sei sie wieder mit auf dem Boden gegangen, um Weizen und Hafer zu holen. Doch nach den Angaben Maria Johannas blieb es nicht beim Getreidediebstahl. So hätten die Mägde heimlich einen Koppen und eine Ente gegessen. Der Frau des Juden Samuel hätte die große Magd Milch und Butter gegeben. Außerdem hatte Maria Johanna zusammen mit der kleinen Magd Kraut nach Coburg getragen und dort verkauft, wofür Amalia Stoffe kaufte. Ein anderes Mal hätten die Mägde aus dem herrschaftlichen Keller Bier gestohlen und dafür Wasser in die Fässer gefüllt. Man ließ Elisabetha vor die Gerichtsstelle kommen und Maria Johanna musste ihre Aussage in deren Gegenwart wiederholen. Elisabetha war darüber sehr erschro- Marina Heller 178 cken, stritt die meisten Vorwürfe aber ab. Sie wäre nie mit auf den Boden gegangen, hätte nur etwas für das Geziefer erhalten und in der Aumühle wären nur ein halbes Achtel Weizen und ein halbes Achtel Gerste gebracht worden. Für das Kraut hätte sie Gewürze für die herrschaftliche Küche gekauft und niemals Bier gestohlen. Auch Amalia sollte zu diesen Vorwürfen Stellung beziehen. Diese wollte aber nur mit dem Pfarrer Fickweiler sprechen, den man dann auch kommen ließ. Sie versuchte, den Pfarrer für sich zu gewinnen mit dem Argument, dass sie doch nur getan habe was die große Magd ihr befohlen hätte, welche die Aufsicht und die Verantwortung für die Haushaltung und das Geflügel hatte. Sie hoffte, dass er für sie sprechen würde. Schließlich gestand sie, die erwähnten Getreidemengen in die Au- und in die Föritzmühle gebracht zu haben. Im Auftrag der Elisabetha hatte sie Kraut nach Coburg verkauft und Stoffe dafür erworben. Außerdem brachte sie eine neue Person ins Spiel: So hatte eine Catharina, Herbergsfrau im etwa acht Kilometer entfernten Küps, welches zum Rittergut der Freiherren von Redwitz gehörte, gegen Geld Gerste bekommen. Elisabetha bestätigte dies und gab Auskunft über deren Adresse und den Namen des Ehemannes der Herbergsfrau aus Küps an. Damit waren die Verhöre für den Tag beendet und Reinelius schickte die gesammelten Informationen an Domdechant Johann Veit Freiherr von Würtzburg. 5.2. Die Verhöre im September 1726 und die Gefängnisausbrüche der Mägde Auf den Befehl Johann Veits hin wurden am 7. September das Vieh und das Geflügel an eine neue Magd übergeben und Elisabetha Büttnerin und Amalia Wagnerin in die Frohnveste gebracht. Außerdem kam die Anweisung, Maria Johanna Wilkusin mit 24 stündigen gefängnus straffe und einjährigen Gerichtsraumung zu bestrafen. Johann Stephan Schreck sollte mit 3 mahl 24 stundiger gefängnus-straffe gestraft werden. Am 9. September wurde die Inquisition fortgesetzt. Man erwartete nun bezüglich des mit den herrschaftl. getraÿd vorgenommenen unterschlags ein vollständiges Geständnis der Mägde. So wurde Amalia ernstl. angemahnet, Gott die ehre auch gndge. herrschafft den schuldigen gehorsam zu erweisen und mit der wahrheit endl. heraus zu gehen. Man fragte nach, wer denn genau die Löcher in die Bretter getan hatte und warf ihr vor, dass ihr bisheriges Geständnis über die Höhe des Getreidediebstahls nicht mit der Menge übereinstimmte, welche von den Getreideböden Johann Veits und seiner Schwägerin fehlen würde. Amalia wollte nichts weiter eingestehen und gab zur Antwortet, daß sie von mehreren nicht wiße, und wann mann ihr das leben nehme, sie könnte auch mehrers nichts sagen. Von Elisabetha war aber ebensowenig als von der ersten heraus zu bringen geweßen. Diese sprach sogar von einer Verleumdung, und dass ihr vorheriges Geständnis gegen ihren Willen geschehen sei. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 179 Sie wurde zurück in das Gerichtshaus gebracht. Der Amtmann schickte die Akten wiederum an Johann Veit von Würtzburg. Am 20. September wurden die Verhöre auf Befehl Johann Veits weitergeführt. Zunächst wurde Amalia befragt, welche aber trotz allergütl. anmahnung sowohl als auch lezl. gethanen scharffen anredungen nichts weiter aussagen wollte. Vielmehr ist selbige […] beÿ ihren läugnen verblieben. Man drohte ihr mit dem Turmgefängnis, worüber dieselbe sich aber dermaßen ungebürtig gestellet, als ob sie sogleich das böse wesen ankommen würde. Also hat der Verwalter Reinelius sie dagegen nur mit einer ruthe etwas streichen laßen, worauf solche vorgab, daß sie die wahrheit anzeigen und alles eröffnen wolle. Sie gestand, dass auch die Bäckerstochter Ursula Dietlin aus Burggrub Getreide erhalten hatte. Daraufhin brachte man Amalia in das Gefängnis im Kutschenhaus. Elisabetha blieb gleicherweise beständig im läugnen. Nach gleichfals vorgekehrter schärffe aber, und da mann sie in obgedachtes gefängnis [=Turm] stecken ließ, gestand sie, dass auch der Bruder der Amalia, nämlich der Zeugmacher Philip Frantz Wagner, die hiesige Margaretha Försterin und die Bäckertochter Ursula Dietlin Korn erhalten hatten. Amalia musste auf diesen Neuigkeiten hin nochmals erscheinen und wurde uff alle ersinnl. weiße in der güthe angegangen die wahrheit von allen zu melden, welches aber keine frucht gefunden. Man ließ sie daraufhin nochmals mit Ruten streichen, worauf sie die von Elisabetha genannten Personen Philip Frantz Wagner, Margaretha Försterin und Ursula Dietlin ebenfalls anzeigte. Man brachte sie wieder in das Gefängnis und ließ ihren Bruder Philip Frantz Wagner vor das Gericht zitieren. Philip Franz stellte sich zwar erst fremd, gestand dann aber ein, den Mägden Gerste und Korn abgekauft zu haben. Während er weiter befragt wurde geschah allerdings etwas, womit der Amtmann wohl nicht rechnete: Die kleine Magd Amalia hatte in der Zwischenzeit einen riegelfelch aus dem gefängnus gebrochen, und die schelle vom bein abgestupfet, und ist sofort durchgegangen. Gleich nach dieser Entdeckung wurden Boten zur Einholung der geflüchteten Amalia geschickt. Diese berichteten, daß sie [Amalia] durch Steinach durch, und sodann über dem berg durch das holtz die wiesen gegen Withenbach hinauff in vollem lauffen von einigen hirten gesehen worden. Trotz Nachfrage in den entsprechenden Dörfern konnten sie die desertierte Inquisitin nicht ausfindig machen. Am 21. September ließ man Margaretha Försterin vor das Gericht kommen und hat ihr die wahrheit in allen und jeden anzuzeigen ernstl. und beÿ vermeidung anderweitig vorkehrender mittel bedeutet. Sie gestand, Korn von den Mägden gekauft zu haben und zwar unter deren mägd vorwand, daß es aus dem stadel beÿ ausbutzung des bahrens ausgefeget worden. Des Weiteren gab sie zu, Kraut, frische Milch, Butter und Schmalz gekauft und im Auftrag der Magd zwei Koppen und ein Huhn verkauft zu haben. Auch Philip Frantz Wagner wurde nochmals vor das Gericht zitiert. Man erinnerte ihn daran, mit der reinen wahrheit heraus zu gehen. Dieser meinte, er Marina Heller 180 könnte nicht mehr sagen, um wie viel Getreide es sich handelte, nur dass den Sonntag nach hiesige kirchweÿh vor einen jahr, die Sache ihren Anfang genommen hatte. Außerdem hätte seine Frau auch einiges abgeholt. Die Mägde hätten beim ersten Mal erklärt, es seÿe ihnen zu brandwein eingefaset worden sie mögten es aber nicht brennen, sondern lieber Geld dafür haben. Nach den Aussagen der Margaretha Försterin und des Philip Frantz Wagners wurde Elisabetha nochmals befragt und durch den Gerichtsknecht mit Ruten ausgepeitscht, mit der ernstl. anmahnung, weilen das selbstige eingeständnis vorherstehenden deponenten ein mehrers als sie angezeiget auswürffe, sie die reine wahrheit auch einmahl eröffnen oder erwartten solte, daß sie mit weiterer schärffe angegriffen würde. Sie machte daraufhin genauere Angaben zu den gestohlenen Waren, die sie Philip Frantz Wagner und Margaretha Försterin verkaufte. Dabei wurde sie mit Philip Frantz konfrontiert; Margaretha bestätigte die Angaben der Elisabetha. Auch zu den diebischen Geschäften mit Ursula Dietlin und Catharina Puhlin machte sie Angaben. Eine Konfrontation mit der Bäckerstochter Ursula musste vorerst ausbleiben, da diese gerade verreist war, um Tücher zu verkaufen. Um Catharina Puhlin verhören zu können, musste der Verwalter erst den Amtmann Schorn der Herrschaft Küps anfragen. Das Verhör fand am 23. September statt. Sie gab zu, von der Magd Elisabetha Gerste erhalten zu haben, welches das mägdlein auch selbsten hierunter getragen unter dem vorwand sie hätten es aus dem staub ausgefeget. Das sei im Frühjahr vor einem Jahr gewesen und daneben hätte sie noch Butter und sechs Eier erhalten. Catharina Puhlin wurde anschließend mit Elisabetha Büttnerin konfrontiert, welche ihr ins Gesicht sagte zu 3 mahl getraÿd nebst 8 maas schmaltz auch etwas kraut erhalten zu haben. Jene entgegnete es hätte gemelte Büttnerin ihr durch ihre schwester zu Traib vergangenen Bußtag melden laßen, sie sollte nur die gersten nicht aber das korn eingestehen. Sie hätte aber gar keine Gerste sondern nur drei Achtel Korn, außerdem Schmalz, Kraut und Brandwein erhalten. Man fragte Elisabetha warum sie erstl. fälschl. angegeben, daß sie nacher Kupß 2 8tl gersten verkauffet, da doch diese von weiter nichts als korn eingestünde. Sie antwortete weilen die Ammel [=Amalia] bereits einmahl die gersten angezeiget gehabt so hätte sie es nicht gerne wieder zurück nehmen wollen, und weilen sie Puhlin ihr vorhero sagen laßen, daß sie inquisitin ja uff sie nichts bekennen solte so hätte sie ihr dann wißen laßen, daß sie nichts mehrers dann 2 8tl gersten gestanden, wie viel es aber gewesen, daß sie würckl. erhalten, wiße sie ohnmögl. mehr. Catharina Puhlin wurde nochmals etwas schärffer befragt, beharrte aber auf ihre Aussage. Weil sie die verlangte Bürgschaft nicht bezahlen konnte, wurde sie in die Frohnveste gebracht, wo sie bis zur Einholung der herrschaftlichen Resolution bleiben sollte. Am 30. September wurde die nun wieder in Burggrub verweilende Ursula Margaretha Dietlin, Tochter des Georg Dietels, vorgeladen. Sie wurde angehalten, die gründl. wahrheit von allen mit den gewesenen herrschaftl. dienstmagd Elisabetha Büttnerin getriebenen unterschlaiff anzuzeigen. Sie gestand, Semmeln gegen Eier und Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 181 Butter getauscht und dreimal Getreide erhalten zu haben. Vom Brandwein und dem Schmalz wollte sie nichts wissen, wegen des getraÿdes aber hätten ihr die mägde weiß gemachet, daß es von einfaßen und da es nicht gar in die säcke gegangen übrig geblieben. Sie wurde anschließend in Verwahrung gebracht und Elisabetha nochmals vorgeführt und neu befragt. Sie beharrte darauf, dass Ursula Dietlin auch Schmalz und Brandwein erhalten hatte und verneinte dabei, dass das Getreide vom einfaßen übrig geblieben vorgegeben, gegen übrig hätte obgedachte Dietlin ihr die hand gegeben, sie sollten wann sie einfaßen ließen allezeit etwas zurück behalten, es käme ja uff ein oder ½ laib brod nicht an, […] weiter hätte sie ihr auch verbotten, ja uff sie nichts zu bekennen, und sie zu veroffenbahren. Auch bei der anschließenden Konfrontation blieb Elisabetha bei dieser Aussage. Ursula Dietlin brachte man biß weitere einholung gndg. herrschafftl. befehls in verwahrung. Sie durfte allerdings das Gefängnis verlassen, nachdem sich Hannß Seuhel von Burggrub einschaltete und eine Bürgschaft leistete. Eine weitere Inquisition wurde aufgeschoben, da Johann Ludwig Freiherr von Würtzburg, Bruder des Domdechants Johann Veit von Würtzburg, der Meinung war, es müsse erst ein rechtliches Gutachten des Konsulenten und Hofrats Pfannenstiel eingeholt werden. Während man auf dieses Gutachten wartete, entledigte sich die Magd Elisabetha am 15. Oktober ihrer Ketten und konnte ebenfalls aus dem Gefängnis fliehen. Ihr wurden zwar Boten mit Steckbriefen hintergejagt, welche sich einen Tag durch die Ortschaften fragten. Aber sie konnten die Flüchtige nicht mehr ausfindig machen. 5.3. Die Gerichtskosten und die Einziehung des Vermögens der Mägde Die entstandenen Gerichtskosten sollten mit der Versteigerung des Besitzes sowie der Einziehung des Vermögens der Mägde beglichen werden. 46 Unter den Gerichtskosten befanden sich über 7 fl. für Amtssporteln, die aus insgesamt neun Verhören, den Konfrontationen, einer Beichte sowie einem Gutachten durch die Magd Elisabetha entstanden. Durch die Magd Amalia entstanden etwa 5 fl. Gerichtskosten. Bezahlt werden mussten unter anderem auch der Botenlohn und das Brot, welches die Delinquentinnen erhielten. Der Gerichtsknecht Johann Georg Müller stellte ebenfalls Rechnungen. Dies waren 3 fl. für Elisabetha und etwas mehr wie 2 fl. für Amalia. Insgesamt handelte es sich um eine Summe von etwa 21 fl. Verkauft wurden mehrere Röcke, ein Wams, mehrere Schürzen, Kopftücher, ein Halstuch und Winterhandschuhe. Diese Kleidungsstücke gingen an andere Dienstmägde, so zum Beispiel an die neue herrschaftliche Viehmagd und an die 46 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 348: Designation Derer entwichenen beeden diebinnen hinterlaßenen vermögens, und was davor erlößet worden. Alle folgenden Zitate wie eben angegeben. Marina Heller 182 Dienstmagd der Witwe des Georg Heinrich Wilhelm von Würtzburg, aber auch an Mägde, die bei verschiedenen Untertanen in Dienst standen. Ein Rock wurde an eine Frau aus Neundorf verkauft. Der Rest wurde an den Juden Salomon Leud veräußert. Insgesamt wurde durch den Verkauf ein Erlös von etwa 28 fl. erzielt. Interessant ist dabei, dass Elisabetha Büttnerin ihr Bargeld an verschiedene Untertanen des Ritterguts Mitwitz verliehen hatte. Insgesamt waren an außenstehenden Geldern etwa 40 fl. vorhanden, das meiste davon gehörte Elisabetha, nur wenig der Amalia. So lieh Elisabetha der Margaretha Bäuerin vor fünf Jahren 5 fl. damit diese ihr Haus neu decken lassen konnte. Als Zinsen gab sie der Magd öfters Flachs und Tuch. Auch der Schuster schuldete Elisabetha über 2 fl.. Als Zinsen hat dieser der Magd ein Paar Pantoffeln gefertigt. An Stelle der Elisabetha Büttnerin zog nun die Herrschaft diese Gelder an sich. Allgemein beschränkte sich der Besitz einer Magd meist auf eine Truhe, ein wenig Wäsche und Ersparnissen. Am Ende von 50 Jahren Dienstbotenlohn konnten 50 bis 100 Gulden angespart werden. 47 Der gesamte Besitz wurde in der Truhe aufbewahrt, die bei jedem Dienstwechsel mitgenommen wurde. Von dem geringen Lohn wurden auch Kleidungsstücke wie Röcke und Tücher gekauft. 48 Das Nachlassinventar einer Magd, die Ende des 17. Jahrhunderts in Oberaltenbernheim im Zenngrund starb, enthielt 23 Gulden, Bettzeug und Kleidung bestehend aus vier Halshemden, einem groben Hemd, zwei Kragen, zwei Schürzen, zwei Röcken, einem Kittel, einem blauen Mieder, einem alten schwarzen Mieder, einer Pelzhaube, ein Paar weiße Wollstrümpfe sowie einem Messinggürtel und einem Ledergürtel. Das Geld war wohl der gesparte Lidlohn, neben dem Bettzeug befanden sich noch die Arbeitskleidung und ein Sonntagsstaat im Besitz der Magd. 49 Im Nachlass einer Magd aus dem 19. Jahrhundert im Coburger Raum befand sich eine Bibel, ein Gesang- und Gebetbuch, ein wenig Geld und Kleidung. 50 47 C LAUS K APPL , Die Not der kleinen Leute. Der Alltag der Armen im 18. Jahrhundert im Spiegel der Bamberger Malefizamtsakten (Historischer Verein Bamberg, Beiheft 17), Bamberg 1984, 138. 48 P ETER I LISCH , Zum Leben von Knechten und Mägden in vorindustrieller Zeit, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde XXII (1976), 255-264, hier 258-259. 49 S CHUBERT , Arme Leute, Bettler und Gauner (wie Anm. 14), 104. 50 S IMONE M ÜLLER , Rittergutsgesinde im Herzogtum Coburg. Dienstbotenordnungen als rechtliche Grundlage für die Arbeits- und Lebensbedingungen von gutsherrschaftlichem Gesinde am Beispiel des Rittergutes Ahorn bei Coburg, in: H ERMANN H EIDRICH (Hrsg.), Mägde, Knechte, Landarbeiter. Arbeitskräfte in der Landwirtschaft in Süddeutschland (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums 27), Bad Windsheim 1997, 61- 77, hier 69. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 183 6. Die Supplikation der Elisabetha Büttnerin Die geschäftstüchtige Elisabetha machte jedoch noch einen Versuch, ihren Besitz zurückzuerhalten. So schickte sie am 2. Februar 1727 einen Brief aus Kulmbach direkt an Domdechant Johann Veit nach Würzburg. 51 Am 14. März erreichte der Brief auch den Amtmann in Mitwitz, welcher ihn kopierte und das Original am 24. März zurück nach Würzburg schickte. Elisabetha beschreibt sich darin als ein armes und betrübtes weibs bild, welches neun Jahre lang als Hausmagd in Mitwitz bei der hochfreiherrlichen Haushaltung in Diensten stand: in der zeit meiner arbeit so vorgewesen, so viel mir in meinen eusersten vermögen und cräfften gestanden. Interessanterweise beschreibt sie dann einen Konflikt, welcher mit dem Amtmann Reinelius bestanden hatte. Dieser hätte sie weiß nicht aus was ursache, immer zu angefeindet und ziemlich hart gehalten, bis dieser aus einer - ihrer Meinung nach - geringe[n] ursache sie dermaßen fälschlich angegeben hatte und sie dadurch bei Johann Veit von Würtzburg in Ungnade gefallen sei, was nun ihr zeitliches verderben sei. […] noch dazu hat herr verwalter mich [Elisabetha] ganzer drey wochen lang in ein loch einsperren laßen, wo man nicht gerne einen hund hinthut, in welchen tag und nacht bleiben, und […] nicht waßer und brodt genug gehabt, auch […] meinen gesunden leib darüber eingebüßet, daß zur stunde noch keiner rechten arbeit vorsehen kann, […] er hätte mich drinnen sterben lassen. Die Angst, im Turmgefängnis sterben zu müssen, war auch ihr Motiv für die Flucht aus dem Gefängnis. So hätte Reinelius ihr gesagt, dass er sie biß uf den todt kräncken wolle. In einem nächsten Schritt bittet sie ihn, ihr zu vergeben worwieder ich mich gegen dieselben versündiget. Dann folgt das eigentliche Anliegen. Und zwar geht es um ihren gesamten Besitz, den Reinelius eingezogen hatte. Dazu gehörten ihre Ersparnisse, nämlich ihr sauer verdienter liedl lohn, den sie an freiherrliche Untertanen verliehen hatte und ihre Kleidung, so sie nun wenig oder gar nichts anzuziehen habe. Sie bittet daher darum, ihr Eigentum wieder in Besitz nehmen zu können. Doch mit ihrer Supplikation hatte sie nichts erreichen können, ihrer Bitte wurde, wie oben beschrieben, nicht nachgegeben. 7. Die Strafen Landesverweis, Pranger und Gefängnishaft Wie oben beschrieben gelang beiden Delinquentinnen die Flucht aus dem Gefängnis bevor diese durch ein Gerichtsurteil bestraft werden konnten. Das Strafmaß stand für das Untere Schloss eigentlich schon fest, bevor Amalia aus dem Gefängnis 51 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 594: Brief der Elisabetha Büttnerin 1727. Alle folgenden Zitate wie eben angegeben. Marina Heller 184 fliehen konnte und bevor die Untersuchungen gänzlich abgeschlossen waren. Man hatte vorgesehen, beide Diebinnen an das hiesige Halß Eißen anzuschließen, eine gewiße zeit daran stehen zu lassen, und sodann sie des hießigen gerichts verweisen zu lassen. Der Grund dafür war, dass der Wert des Diebstahls wohl mer dann zweymahl 5 fl. importiret. 52 Leider befindet sich das bestellte Gutachten von Herrn Pfannenstiel nicht im untersuchten Aktenbestand, so dass nicht vergleichbar ist, ob dieser andere Strafen vorgeschlagen hatte. Es ist aber durch die Akten bekannt, dass der Müllerknecht Johann Stephan Schreck mit drei Tagen Gefängnis bestraft wurde. Die Wirtstochter Maria Johanna Wilkusin hingegen, welche den Mägden half das Brett zu manipulieren und Getreide zu entwenden, musste einen Tag ins Gefängnis und wurde darüber hinaus mit einem einjährigen Landesverweis bestraft. 53 Über mögliche Bestrafungen der anderen Personen, die in diesem Fall verwickelt waren, ist dagegen nichts bekannt. Die Strafe des Landesverweises wurde im 17. und 18 Jahrhundert häufig verhängt. 54 In Frankfurt am Main wurden im 18. Jahrhundert fast ein Viertel der Delinquenten mit einem Stadtverweis bestraft. In Kurmainz nahm der Stadtverweis einen Anteil von 16 % der Hauptstrafen ein. 55 Die stadtzentrierten Fürstentümer Bamberg und Würzburg praktizierten die Verbannung bereits im 15. Jahrhundert. 56 Um 1600 wurde in Köln etwa jeder fünfte Delinquent, meist wegen Diebstahl oder Leichtfertigkeiten, vom Rat mit dem Stadtverweis bestraft. Das erzbischöfliche Hochgericht bestrafte sogar 40 % seiner Delinquenten mit eben dieser Strafe. Ein Teil wurde mit einem ewigen Verweis bestraft, der andere nur mit einem zeitlich begrenzten Stadtverweis. Um 1700 hatte diese Strafe noch an Bedeutung gewonnen: 58 % der Gefangenen wurden der Stadt verwiesen, wobei viele von ihnen noch zusätzlich mit Prügel- oder Ehrenstrafen bestraft wurden. 57 Auch in der Carolina nahm der Landesverweis als Strafe eine Rolle ein. Demnach sollte der kleine Diebstahl mit Pranger, Prügelstrafe und Landesverweis bestraft werden. 58 So war der erste und auch der zweite Diebstahl mit Pranger, Ruten und 52 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. H-II 1587. 53 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 332, 356. 54 H ELGA S CHNABEL -S CHÜLE , Die Strafe des Landesverweises in der Frühen Neuzeit, in: A ND- REAS G ESTRICH (Hrsg.), Ausweisung und Deportation. Formen der Zwangsmigration in der Geschichte (Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung 2), Stuttgart 1995, 73-82, hier 75. 55 G ERD S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe. Der Stadt- und Landesverweis im Ancien Régime, in: S YLVIA H AHN / A NDREA K OMLOSY / I LSE R EITER (Hrsg.), Ausweisung - Abschiebung - Vertreibung in Europa: 16.-20. Jahrhundert (Querschnitte 20, Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte), Innsbruck / Wien / Bozen 2006, 48-72, hier 53. 56 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 56. 57 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 49, 52. 58 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 53. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 185 Landesverweis zu bestrafen, wenn der Wert des Diebstahls unter fünf Gulden betrug und kein Einbruch oder Einstieg dabei erfolgte. 59 Bei einem Einbruch aber, oder einen dritten Diebstahl sollte eine Todesstrafe verhängt werden. 60 Auch Veruntreuung wurde als Diebstahl angesehen. 61 Die Strafe des Landesverweises kann nicht eindeutig der Hoch- oder der Niedergerichtsbarkeit zugewiesen werden. 62 Der ewige Landesverweis kann als eine Kriminalstrafe betrachtet werden, der zeitlich befristete dagegen als eine bürgerliche Strafe. 63 Es konnte zwar jedes Delikt mit dem Landesverweis bestraft werden, es standen aber Eigentums- und Sittenvergehen an der Spitze. Die Strafe wurde verhängt gegen Einheimische und gegen Fremde wie Bettler und Vaganten, gegen Frauen und gegen Männer. 64 Häufig wurde der Landesverweis mit Ehrenstrafen wie den Pranger und oder mit Prügelstrafen verbunden. 65 Im Habsburgerreich wurde die Strafe des Landesverweises oftmals zusammen mit einer Prügelstrafe, dem Pranger oder der Schandbühne verhängt. Die Ehren- oder Schandstrafen wurden öffentlich vollzogen, weil damit Abschreckungs- und Ausschließungseffekte erreicht werden sollten. Bei der Prangerstrafe wurde der Delinquent von einer halben bis zu mehreren Stunden vor der Gemeinde ausgestellt. In manchen Fällen wurden die Verurteilten sogar mehrere Tage dem Spott der Öffentlichkeit ausgesetzt. Dabei kamen manchmal auch Schandmasken zur Verwendung oder es wurden Zettel oder eine Tafel, mit Hinweis auf das Delikt, an der Kleidung befestigt. 66 Die Landesverweisung hatte gerade für sesshafte Personen gravierende soziale Folgen. Sie bedeutete den Ausschluss aus der gewohnten Umgebung, aus dem sozialen Netz der Nachbarschaft und Verwandtschaft. 67 Schwerhoff meint „wie tiefgreifend die Einschnitte durch den Verweis waren, hing von der bisherigen Lebenssituation und vom sozialen Status ab. Es machte einen fundamentalen Unterschied, ob 59 G USTAV R ADBRUCH (Hrsg.), Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina) (Reclams Universal-Bibliothek 2990), Stuttgart 1984, sechste Auflage, Art. 158, 161. 60 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art.159, 162. 61 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 170. 62 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 54. 63 S CHNABEL -S CHÜLE , Strafe des Landesverweises (wie Anm. 54), 73. 64 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 58. 65 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 59. 66 G ERHARD A MMERER , „durch Strafen […] zu neuen Lastern gereizt“. Schandstrafe, Brandmarkung und Landesverweisung - Überlegungen zur Korrelation und Kritik von kriminalisierenden Sanktionen und Armutskarrieren im späten 18. Jahrhundert, in: S EBASTIAN S CHMIDT (Hrsg,), Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit (Inklusion/ Exklusion, Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 10), Frankfurt a.M. u.a. 2008, 311-339, hier 316-318. 67 A MMERER , Schandstrafe, Brandmarkung und Landesverweisung (wie Anm. 66), 322, 325. Marina Heller 186 die Ausgewiesenen einheimisch, sich vorübergehend am Ort aufhaltende oder durchreisende fremde Personen waren.“ 68 Daher waren wohl Delinquenten aus der armen sesshaften Unterschicht am stärksten von dieser Bestrafung betroffen. 69 Viele kehrten rasch wieder in ihre Heimat zurück. 70 Nach Schwerhoff fand die Strafe des Landesverweises eine so große Bedeutung in der Strafpraxis, da sie „als kostengünstige, flexibel und fast universell einsetzbare, fein dosierbare Strafe das System dominierte.“ 71 Nach Schnabel-Schüle hing aber „die konkrete Ausgestaltung des Strafvollzugs […] von den Stadt bzw. Dorfobrigkeiten ab. Entscheidend war, ob deren Amtsführung mehr von der Loyalität gegenüber dem Landesherrn oder mehr von ihren sozialen Abhängigkeiten von den städtischen oder dörflichen Beziehungsgeflechten getragen waren.“ 72 Die Mägde Amalia und Elisabetha entgingen einer Bestrafung durch Halseisen und Landesverweisung, indem sie selbst die Flucht ergriffen. Sie konnten sich dadurch vor der entehrenden Schandstrafe retten, aber die Flucht glich praktisch einer selbsterwählten Verbannung aus dem Rittergut Mitwitz. Ohne Unterstützung muss es schwer gewesen sein, woanders Fuß zu fassen. Auch die Wirtstochter Maria Johanna Wilkusin sollte für immerhin ein Jahr aus ihrer Heimat verbannt werden, nachdem sie einen Tag Gefängnisstrafe hinter sich hatte. Der Müllerknecht Johann Stephan Schreck kam dagegen mit „nur“ drei Tagen Gefängnis davon. Damit bestätigt sich auch die Feststellung von Schwerhoff, dass die Gefängnishaft bereits seit dem Spätmittelalter eine größere Rolle spielte „und zwar nicht nur als Erzwingungsmittel und Untersuchungsgefängnis, sondern auch als Sanktionsmittel für kleinere Vergehen.“ 73 Es werden in den Akten mehrere Gefängnisse genannt. Das am meisten gefürchtete war wohl das Turmgefängnis. Das Turmverlies befand sich sehr wahrscheinlich im nördlichen Eckturm der Schlossanlage. Dort gab es keinen direkten Zugang in das Untergeschoss, sondern nur eine Klappe im Boden des darüberliegenden Geschosses. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde dieser Turm aus statistischen Gründen verfüllt. 74 Daneben werden aber noch die Frohnveste, das Gerichtshaus sowie das Kutschenhaus als Gefängnis genannt. Diese wurden genutzt als Untersuchungsgefängnisse, als Druckmittel und um die Delinquenten zu behindern sich abzusprechen, sich dem Gericht zu entziehen oder zu fliehen. Letzteres 68 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 61. 69 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 62. 70 A MMERER , Schandstrafe, Brandmarkung und Landesverweisung (wie Anm. 66), 328; S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 63. 71 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 69. 72 S CHNABEL -S CHÜLE , Strafe des Landesverweises (wie Anm. 54), 81 73 S CHWERHOFF , Vertreibung als Strafe (wie Anm. 55), 68. 74 M ARIE C HARLOTTE A U , Untersuchungen zur Baugeschichte des Unteren Schloßes in Mitwitz mit Schwerpunkt auf die Renaissanceausgestaltung von 1596,98 - 1609, Magisterarbeit 1999, 53. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 187 gelang aber beiden Delinquentinnen: Amalia flüchtete aus dem Kutschenhaus und Elisabetha aus der Frohnveste. Es ist denkbar, dass sie dabei auch Helfer hatten. Immerhin waren die Häftlinge nicht gänzlich isoliert. So ist in den Akten zu lesen, dass sie mit anderen Personen in Kontakt standen und aus dem Gefängnis heraus kommunizieren konnten. Zum einen ließ Elisabetha Nachrichten bzw. Anweisungen über zu machende Aussagen über eine dritte Person an die Catharina Puhlin in Küps bringen. Zum anderen versuchten Catharina Puhlin und Ursula Margaretha Dietlin, die inhaftierte Elisabetha anzuweisen, nichts über sie preiszugeben. 75 8. Die Verhörmethoden Die Verhöre sollten zur Wahrheitsfindung dienen, Verbrechen aufdecken und zu Geständnissen der Delinquenten führen. Dabei wurde auch in Mitwitz, wie oben beschrieben, Folter eingesetzt. Die Folter, welche auch scharfe oder peinliche Frage genannt wurde, diente als Bestandteil des Inquisitionsprozesses zur Wahrheitsfindung. 76 Es war also eine gerichtliche Handlung, um einen verhafteten, aber verstockten Straftäter zu einem Geständnis zu veranlassen. 77 Bei der Durchführung der Folter spielte die Peinliche Halsgerichtsordnung von Karl V. von 1532 78 , welche auch Carolina genannt wird, eine entscheidende und modellhafte Rolle. 79 In ihr stand fest, dass die peinliche Frage durchgeführt werden durfte, falls die Tat für bewisen angenommen oder bewisen erkannt würd. 80 Der Angeklagte sollte erst fleissiglich zu rede gehalten werden aber durchaus auch mit bedrohung der marter bespracht werden, ob er der beschultigten missethat bekentlich sei oder nit. 81 Erst wenn er seine Unschuld nicht beweisen kann, so soll er alßdann auff vorgemelt erfindung redlichs argkwons oder verdachts peinlich gefragt werden. Die Carolina schrieb vor, dass bei den Befragungen der Richter sowie mindestens zwei Gerichtspersonen und der Gerichtsschreiber anwesend sein sollten. 82 Wir wissen nicht, wie viele und welche Personen bei den Verhören und bei den Folteranwendungen der Delinquentinnen Amalia und Elisabetha dabei waren. Die Verhöre führte der Amtmann Reinelius 75 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 332, 356. 76 U WE D ANKER , Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1988, 137. 77 F RIEDRICH M ERZBACHER , Die Folter, in: C HRISTOPH H INCKELDEY (Hrsg.), Justiz in Alter Zeit (Schriftenreihe des Mittelalterlichen Kriminalmuseums Rothenburg ob der Tauber 6), Rothenburg ob der Tauber 1984, 241. 78 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59). 79 M ERZBACHER , Folter (wie Anm. 77), 244. 80 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 45. 81 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 46. 82 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 47. Marina Heller 188 aus, vielleicht hatte dieser einen Schreiber dabei. Die Auspeitschungen wurden durch den Gerichtsknecht Johann Georg Müller ausgeführt. Die mögliche Anwesenheit von Schöffen wurde nicht notiert. 83 Bei den Verhören sollte vermieden werden, in den Fragen die umbstende der missethat vor zusagen, sonder jn die gantz von jm selbst sagen lassen. 84 Geständnisse sollten überprüft werden, indem beispielsweise an den entsprechenden Orten Nachrichten darüber eingeholt wurden. 85 Falls sich allerdings herausstellte, dass die Geständnisse nicht der Wahrheit entsprachen, so sollte erneut eine peinliche Befragung vorgenommen werden. 86 Daher wurden die Inquisitinnen in Mitwitz immer wieder neu befragt, wenn andere Personen neue Aussagen machten. In diesem Licht müssen auch die vielen Konfrontationen gesehen werden, welche immer wieder konsequent durchgeführt wurden. Doch das Geständnis musste zum minsten über den andern, oder mer tag nach der marter [...] durch den gerichtschreiber fürgelesen, und alsdann anderwerd darauff gefragt, ob sein bekantnuß wahr sei, vnnd was er dazu sagt auch auffgeschriben werden. 87 Leugnete der Inquisit hier jedoch sein unter der Folter gestandenes Bekenntnis, so konnte er nochmals peinlich befragt werden. 88 Über die Foltermethoden lässt sich die Carolina nicht aus. So sollte das Maß der Tortur nach gelegenheyt des argkwons der person, vil, offt oder wenig, hart oder linder nach ermessung eyns guten vernünfftigen richters, fürgenommen werden. Allerdings wird betont, dass das Gesagte während der Folter nicht aufgeschrieben werden dürfe, sondern der Inquisit soll sein sag thun, so er von der marter gelassen ist. 89 Im Mitwitzer Fall wurden die Inquisitinnen zunächst gütlich befragt, dann aber scharf angeredet, was eine Bedrohung mit Folter einschließt. Eine weitere Drohung war die Aussicht, in das Turmverlies gesteckt zu werden. Die Inhaftierung im Turmgefängnis muss körperliche und seelische Qualen bedeutet haben. Man hoffte durch die Androhung und in der letzten Konsequenz in der Ausführung der Turmstrafe, die Delinquenten zum Reden zu bringen. Eine weitere Foltermethode in Mitwitz war das Auspeitschen beispielsweise mit Ruten. 90 83 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 332 und 356. 84 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 56. 85 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 54. 86 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 55. 87 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 56. 88 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 57. 89 R ADBRUCH , Carolina (wie Anm. 59), Art. 58. 90 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 332 und 356; StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 594. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 189 9. Wie sind die Diebstähle der Mägde einzuordnen? Mägde und Knechte schlossen mit ihren Dienstherren einen befristeten Vertrag ab und hatten sich der Macht und Gewalt der Dienstherrschaft unterzuordnen. Ihre Arbeit bestand aus hauswirtschaftlichen oder landwirtschaftlichen Diensten und war inhaltlich und zeitlich ungemessen. 91 Dabei bedeutete Unterordnung „Ehrerbietung, Gehorsam und Treue des Gesindes gegenüber seiner Herrschaft.“ 92 Vergehen wurden daher oft streng bestraft. Die Pflichten der Herrschaft bestanden darin, für Unterkunft und Nahrung zu sorgen, einen Lohn zu zahlen und das Gesinde gut zu behandeln. Zwischen Treue und Unzufriedenheit lag stets ein Spannungsverhältnis. 93 Die traditionellen Ein- und Austrittstermine waren an Maria Lichtmeß, Walburgis, Laurenzi oder Allerheiligen. 94 Der Dienstvertrag wurde durch die Annahme einer kleinen Geldsumme abgeschlossen. Der vereinbarte Diensteintritt, die Dienstdauer von in der Regel einem Jahr und die Entlohnung waren bindend. 95 Die meisten Mägde und Knechte stammten aus der klein- oder unterbäuerlichen Schicht, also der ländlichen Unterschicht. 96 Allgemein wurden mehr Mägde als Knechte eingestellt. 97 Nach Schubert gab es im Fränkischen Raum dreimal mehr Mägde als Knechte. 98 Dabei konnten sich nur größere Anwesen Knechte und Mägde überhaupt leisten, und dass obwohl im 18. Jahrhundert die Löhne der Dienstboten nicht mehr in Gesindeordnungen festgelegt wurden. 99 Der Dienst als Magd begann für die meisten im Jugend- oder sogar schon im Kindesalter. 100 Es handelte sich also um 91 H ERMAN H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter. Zur Geschichte einer schweigenden Klasse, in: H ERMANN H EIDRICH (Hrsg.), Mägde, Knechte, Landarbeiter. Arbeitskräfte in der Landwirtschaft in Süddeutschland (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums 27), Bad Windsheim 1997, 7-38, hier 7f. 92 H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter (wie Anm. 91), 10. 93 H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter (wie Anm. 91), 10-11. 94 K APPL , Die Not der kleinen Leute (wie Anm. 47), 137. 95 W INFRIED H ELM , „Zügellos, übermütig, eigenmächtig, arbeitsscheu.“ Gesinde im frühneuzeitlichen Bayern: Ein verkommener Stand? , in: H ERMANN H EIDRICH (Hrsg.), Mägde, Knechte, Landarbeiter. Arbeitskräfte in der Landwirtschaft in Süddeutschland (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums 27), Bad Windsheim 1997, 39-48, hier 41. 96 K APPL , Die Not der kleinen Leute (wie Anm. 47), 137; H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter (wie Anm. 91), 30-31; I LISCH , Zum Leben von Knechten und Mägden (wie Anm. 48), 257. 97 H ELM , Gesinde im frühneuzeitlichen Bayern (wie Anm. 95), 40; H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter (wie Anm. 91), 13. 98 S CHUBERT , Arme Leute, Bettler und Gauner (wie Anm. 14), 104. 99 S CHUBERT , Arme Leute, Bettler und Gauner (wie Anm. 14), 103f. 100 K APPL , Die Not der kleinen Leute (wie Anm. 47), 137; S CHUBERT , Arme Leute, Bettler und Gauner (wie Anm. 14), 104; K ARL S. K RAMER , Gutsherrschaft und Volksleben. Ein For- Marina Heller 190 eine Altersgruppe und nicht um eine soziale Schicht. Für die meisten Mägde wie auch für die Knechte war die Dienstzeit eine Übergangsphase bis sich eine Gelegenheit zum Heiraten bot. 101 Nach Herman Heidrich begann der Gesindedienst in der Regel „im Alter von 13 bis 14 Jahren und endete mit der Heirat oder einer beruflichen Perspektive.“ 102 Es ist zu beachten, dass in der vorindustriellen Zeit das Heiratsalter hoch war und zwischen 25 und 35 Jahren lag. 103 Dem entsprach das Alter der Mägde. Auf dem Hof Schulte im Kirchspiel Billerbeck waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 39 % der Mägde zwischen 18 und 22 Jahre alt, 21 % waren zwischen 14 und 17 und 19 % waren zwischen 23 und 30 Jahre alt. 17 % der Mägde waren jünger als 13 Jahre und 3 % über 31 Jahre alt. 104 Nur in wenigen Fällen blieb jemand sein Leben lang Magd oder Knecht. 105 Zudem war es üblich, dass Mägde ihre Stelle häufig wechselten. 106 Es wurde auch zwischen Jungmagd und erwachsener Magd unterschieden. Als Lohn erhielt eine Magd Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und ein wenig Geld. Eine Jungmagd erhielt 3 bis 5 Gulden und eine erwachsene Magd 8 bis 12 Gulden jährlich. 107 Das Entgelt wurde gespart, um damit nach dem Dienst eine eigene Existenz aufbauen zu können, oder um für das Alter oder einen Krankheitsfall vorgesorgt zu haben. 108 An größeren Höfen gab es eine hierarchische Gliederung zwischen der großen, der mittleren und der kleinen Magd. 109 Im Rittergut Ahorn bei Coburg unterstanden die Schweine und das Federvieh der Obhut der Hausmagd und der kleinen Magd. 110 Auch im Gut der Freiherren von Würtzburg unterschied man zwischen großer und kleiner Magd. Elisabetha Büttnerin als große Magd diente neun Jahre lang in Mitwitz und war zuvor auch schon woanders als Magd tätig gewesen. Amalia Wagnerin, die kleine Magd, war in Mitwitz beheimatet. Sie hatte ihre Stelle wohl schungsprojekt im SFB 17, dargestellt an einem Beispiel aus Ostholstein, in: Rheinisch- Westfälische Zeitschrift für Volkskunde XXII, 1976, 16-33, hier 29. 101 H ELM , Gesinde im frühneuzeitlichen Bayern (wie Anm. 95), 40. 102 H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter (wie Anm. 91), 30. 103 H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter (wie Anm. 91), 32. 104 I LISCH , Zum Leben von Knechten und Mägden (wie Anm. 48), 263. 105 H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter (wie Anm. 91), 30; M ARTIN O RTMEIER , Ein Lebtag Knecht. Ludwig Kainz, Baumann auf dem Petzi-Hof im Bayerischen Wald, in: H ERMANN H EIDRICH (Hrsg.), Mägde, Knechte, Landarbeiter. Arbeitskräfte in der Landwirtschaft in Süddeutschland (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums 27), Bad Windsheim 1997, 159-165. 106 K RAMER , Gutsherrschaft und Volksleben (wie Anm. 100), 28f. 107 K APPL , Die Not der kleinen Leute (wie Anm. 47), 138. 108 H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter (wie Anm. 91), 31; K APPL , Die Not der kleinen Leute (wie Anm. 47), 139. 109 I LISCH , Zum Leben von Knechten und Mägden (wie Anm. 48), 257. 110 M ÜLLER , Rittergutsgesinde im Herzogtum Coburg (wie Anm. 50), 72. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 191 tatsächlich als eine Übergangsarbeit angesehen und wollte heiraten. Sie erhielt einen Antrag des Müllerknechts Johann Stephan Schreck, mit welchem sie sich heimlich traf und welcher auch im Kriminalfall verwickelt gewesen ist. Vor Gericht bestritt sie die Heiratspläne. 111 Vielleicht hatte sie Angst vom Gericht wegen Leichtfertigkeit angeklagt zu werden. Denn vorehelicher Geschlechtsverkehr war ein großes Konfliktfeld zwischen Gesinde und Obrigkeit. Leichtfertigkeit war ein typisches Dienstbotenvergehen. 112 Man sollte dazu aber bedenken, „dass Teile der Gesindegesetzgebung ganz offensichtlich im Widerspruch standen zum gültigen zeitgenössischen Normsystem.“ 113 Nach Kappl waren Diebstähle im Haus des Dienstherrn, welche durch Mägde und Knechte ausgeführt wurden „Ausdruck unerfüllt gebliebener Wünsche, die sich weder Knecht noch Magd von ihrem Lohn erfüllen konnten.“ 114 Dabei wurden vor allem Lebensmittel, Wäsche und geringe Geldsummen gestohlen. Hausdiebstähle waren demnach Armutsdiebstähle. 115 Mundraub oder Diebstahl war gar nicht so selten und konnte auch eine Form des Aufbegehrens sein. 116 Doch auch „der Umgang mit Boden und Tieren, die Verflechtung in die Organisation des Betriebs scheint jene Identifikation mit dem Bauern, mit den Erträgnissen, mit den Tieren zu fördern, […].“ 117 Dies konnte zu kriminellen Verhalten führen, wie beispielsweise bei einem bayerischer Pferdeknecht, der gutes Getreide als Futter für die Pferde stahl, welche sich in seinem Verantwortungsbereich befanden. 118 Auch die Mitwitzer Mägde gaben zu Protokoll, dass sie zumindest ein Teil des Getreides als Futter für das Geziefer verwendeten, um welches sie sich schließlich zu kümmern hatten. Nach Aussage der Mägde war es zunächst das Motiv, genug Futter für das Geflügel zu besitzen, welches sie zu dem Diebstahl trieb. Gestohlen hatten sie weiterhin Nahrungsmittel, wie Geflügel, Milch und Bier. Vermutlich hatten die Mägde dabei kein Unrechtsempfinden, da es sich beispielsweise ja um „ihre“ Enten und Hühner handelte, oder um die Milch, welche sie gemolken hatten. Martin Scharfe nennt in seiner Untersuchung das „Recht des Knechts auf den eigenen Rausch“ und das „Recht aufs fette Satt-Essen“. 119 Ein Dienstherr wurde an erster Stelle danach beurteilt, wie die Verköstigung ist, erst 111 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 332 und 356. 112 H ELM , Gesinde im frühneuzeitlichen Bayern (wie Anm. 95), 45. 113 H ELM , Gesinde im frühneuzeitlichen Bayern (wie Anm. 95), 46. 114 K APPL , Die Not der kleinen Leute (wie Anm. 47), 140. 115 K APPL , Die Not der kleinen Leute (wie Anm. 47), 140. 116 H EIDRICH , Mägde, Knechte, Landarbeiter (wie Anm. 91), 27. 117 M ARTIN S CHARFE , „Gemüthliches Knechtschaftsverhältnis? “ Landarbeitserfahrungen 1750- 1900, in: K LAUS T ENFELDE (Hrsg.), Arbeit und Arbeitserfahrung in der Geschichte (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1514), Göttingen 1986, 32-50, hier 44. 118 S CHARFE , „Gemüthliches Knechtschaftsverhältnis? “ (wie Anm. 117), 44. 119 S CHARFE , „Gemüthliches Knechtschaftsverhältnis? “ (wie Anm. 117), 38. Marina Heller 192 dann waren die Behandlung und der Lohn wichtig für den Knecht oder die Magd. 120 Übertragen auf die Mitwitzer Mägde könnte dies bedeuten, dass sie sich aus dem selbst empfundenen Recht auf gutes Essen und auch Trinken einfach selbst aus den Vorratskammern bedienten. Allerdings stahlen sie nicht nur um den eigenen Hunger und Appetit zu stillen, sondern sie verkauften Lebensmittel und Getreide auch an andere Personen aus dem unmittelbaren Umfeld, Verwandten- und Bekanntenkreis sowie der Nachbarschaft, meist gegen Geld, aber auch zum Beispiel im Tausch gegen Semmeln. Dies ist eine Art von „Geschäftstüchtigkeit“, die sich auch bei dem - allerdings legalen - Geldverleih vor allem der großen Viehmagd Elisabetha Büttnerin an herrschaftliche Untertanen, also auch Personen aus dem unmittelbaren Umfeld, wie oben beschrieben, wiederfindet. 121 10. Zusammenfassung Am dargelegten Fall des Getreidediebstahls der Mägde konnte die Ausübung von Herrschaft durch das Gericht gezeigt werden, die Arbeitsweise des Gerichts, wie sie sich unter anderem in den Verhören, den Konfrontationen und der Folter gezeigt hat. Die Berichte des Amtmanns Reinelius, der die Ermittlungen durchführte, wurden an Domdechant Johann Veit Freiherr von Würtzburg geschickt, der dann entschied, wie weiter zu verfahren ist. Die Trennung des Ritterguts in Oberes und Unteres Schloss bewirkte, dass sich auch Johann Ludwig Freiherr von Würtzburg zu Wort meldete und ein rechtliches Gutachten verlangte. Dieses sollte vom Konsulenten Pfannenstiel ausgefertigt werden. Für die Mägde Elisabetha und Amalia war Johann Veit nicht nur Inhaber des Unteren Schlosses und damit oberster Gerichtsherr, sondern auch ihr Arbeitgeber. Eine der ersten Maßnahmen Johann Veits war die Entlassung der Mägde aus ihrem Dienst. In den Verhören gaben die Mägde zunächst nur so viel zu, wie sie mussten, spielten die Bedeutung des Diebstahls herunter und lenkten die Hauptschuld oder zumindest eine Teilschuld auf andere Personen, die ebenfalls in diesem Fall verwickelt waren. In den Befragungen konnten Absprachen zwischen den Delinquentinnen und anderen Personen über zu machende Aussagen vor Gericht aufgedeckt werden. Durch die vom Gericht durchgeführten Konfrontationen und der Androhung sowie Anwendung von Folter konnten die Mägde dazu gebracht werden, ihre Aussagen zu erweitern. Amalia bemühte sich zudem, durch den Pfarrer Fickweiler einen Fürsprecher für sich zu gewinnen. Sie hatte wohl auch mehr soziales Kapital aufzuweisen wie 120 S CHARFE , „Gemüthliches Knechtschaftsverhältnis? “ (wie Anm. 117), 38. 121 StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 332, 356; StA Bamberg, Schlossarchiv Mitwitz, G 58, Nr. G II 348. Zu Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ in der fränkischen Ritterschaft 193 Elisabetha, was sich darin zeigte, dass ihr Vater eine vorübergehende Entlassung aus der Frohnveste bewirken konnte. Die letzte Möglichkeit, sich der Strafe zu entziehen und sich aus der Gefängnissituation zu retten, stellte die Flucht dar, welche beiden zu unterschiedlichen Zeiten gelang. Andere Mittäter wurden mit einer Gefängnisstrafe oder einem zeitlich begrenzten Landesverweis bestraft. Doch für beide Mägde war der Fall nach ihrer Flucht noch nicht abgeschlossen. Es galt sich um die zurückgelassenen Habseligkeiten zu kümmern. So wandte sich Elisabetha mit einer Bittschrift an ihren ehemaligen Dienstherrn. Sie versuchte darin ihr Leid auszudrücken, Demut zu zeigen, sich zu verteidigen und Mitleid zu erregen. Allerdings waren die Kleidungsstücke der Mägde längst durch eine Versteigerung zu Bargeld gemacht worden, um die angefallenen Gerichtskosten finanzieren zu können. Außerdem zog die Herrschaft die Gelder ein, welche Elisabetha an verschiedene Personen im Rittergut Mitwitz verliehen hatte. Mit dem Blick auf die Kriminalitätsgeschichte im Kleinen konnten durch die Darstellung eines einzelnen Falles, neben der Gerichtsarbeit und der Ausübung von Herrschaft durch das Gericht, auch die Handlungsfähigkeit und Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Akteure aufgezeigt werden. Dabei sind verschiedene Verteidigungsstrategien und auch soziale Netzwerke erkennbar geworden. Gestaltung von Grundstücksübertragungen in der Reichsstadt Augsburg und in der Territorialstadt Neuss im Spiegel des gemeinen Rechts Nicola Birk In spätem Mittelalter und früher Neuzeit wandelte sich in einem langen Prozess die Rechtsvorstellung von der absoluten Bindung und Unveräußerlichkeit des Familiengutes hin zur freien Verfügbarkeit des Grundeigentums. 1 Die Untersuchung, wie Grundstücksübertragungen damals in formeller und materieller Hinsicht vor sich gegangen sind, ist Teil eines von mir bearbeiteten Forschungsvorhabens. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Reglementierung, dem Ablauf und den Bestandteilen von Liegenschaftsübereignungen in einer Reichsstadt im Vergleich zu einer Territorialstadt. In diesem Beitrag zur historischen Tagung „Kleine Strukturen“ anlässlich des 80. Geburtstags von Professor Dr. Pankraz Fried soll ein Exzerpt der im Rahmen der im Entstehen befindlichen Promotion sehr viel umfassender vorgenommenen Auswertung von Kaufbriefen über Liegenschaften aus der Reichsstadt Augsburg und der Territorialstadt Neuss dargestellt werden. Während die Reichsstadt Augsburg zu dieser Zeit einem dreischichtigen Rechtssystem unterlag, bestehend aus Stadtrecht, Reichsrecht und ius commune, eröffnet sich bei der Territorialstadt Neuss zusätzlich die Ebene des kurkölnischen Landrechts. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint es interessant zu erforschen, inwieweit bei Grundstücksübertragungen übergreifende Entwicklungen erkennbar sind und inwieweit sich „kleine Strukturen“ in Form von lokalen und regionalen Besonderheiten bei der Pflege örtlich festgelegten Vermögens erhalten und durchgesetzt haben. 1. Eigentumsübertragung an Grundstücken in der Reichsstadt Augsburg im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (1400-1600) Im Folgenden sollen nun exemplarisch Vorschriften zur Liegenschaftsübertragung aus dem Augsburger Stadtrecht aufgeführt werden. In Kenntnis einiger Rechts- 1 H ANS H ATTENHAUER , Die Entdeckung der Verfügungsmacht. Studien zur Geschichte der Grundstücksverfügung im deutschen Recht des Mittelalters (Kieler rechtswissenschaftliche Abhandlungen 9), Hamburg 1969, 44f. Nicola Birk 196 grundlagen werden dann ausgewählte Augsburger Kaufbriefe inhaltlich analysiert und rechtlich ausgewertet. 1.1. Vorschriften aus dem Augsburger Stadtrecht von 1276 2 zum Kauf und zur Eigentumsübertragung von Liegenschaften Eine ausdrückliche Regelung zu Abschluss oder Zeitpunkt des Wirksamwerdens von Kaufverträgen über Grundstücke enthält der Normenkatalog des Augsburger Stadtrechts von 1276 nicht. In Art. 113 § 2 Satz 1 ist jedoch folgende Vorschrift mit formellem Regelungsgehalt normiert: § 2. Swaer aber der stet insigel gert, ez si umbe aigen, umbe keuffe oder umbe swelher hande dink ez ist, daz ir beider wille ist, dem sol man daz gaeben. […] Die Formulierung daz ir beider wille ist in dem Kontext dieses Paragraphen, der für die Parteien die Möglichkeit der Beurkundung von Immobiliargeschäften, Käufen oder was es auch immer sei mit dem Siegel der Stadt vorsieht, legt die Deutung nahe, dass Grundstücke durch Abschluss von Konsensualverträgen, also ausschließlich durch korrespondierende Willenserklärungen veräußert wurden. Die Beurkundung war nach dem Wortlaut der Vorschrift keine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Grundstücksgeschäfts. Die Gewährleistung der Beweisbarkeit und der daraus resultierenden Durchsetzbarkeit eventueller Forderungen aus Kaufverträgen wurde folglich bei Konsensualverträgen durch die Formoption der Beurkundung sichergestellt. 3 Art. 74 § 1 des Augsburger Stadtrechts regelt die Verkäuferhaftung bei der Eigentumsübertragung von Liegenschaften. Es war gebräuchlich, dass der bisherige Besitzer dem neu eintretenden Besitzer Gewährschaft leistete gegen Vertreibung durch einen Dritten, was durch Bestellung von Bürgen geschah. 4 Bei Grundeigentum innerhalb der Stadt umfasste diese Gewährschaft einen Zeitraum von Jahr und Tag. § 1. Ist aber daz ein burger dem andern eigen git hie in der stat oder swaer ez dem andern git, der sol im daz staeten iar unde tak ane rehte widersprache, ez ensi danne als verre, ob iemen inan landes niht ensi, der mit rehte nah dem aigen gespraechen muge, da sol er im auch staetigunge fur tun, wan iener in dem lande niht gewaesen ist. […] Art. 74 § 1 Satz 1 ist so zu verstehen, dass der Veräußerer dem Erwerber hinsichtlich innerhalb der Stadt liegendem Grundeigentum für Jahr und Tag versichern sollte, dass niemand innerhalb des Landes Ansprüche auf das Eigentum geltend machen würde. 2 Inhaltlichen Bezugnahmen auf das Augsburger Stadtrecht von 1276 liegt jeweils folgende Ausgabe zugrunde: C HRISTIAN M EYER , Das Stadtbuch von Augsburg, insbesondere das Stadtrecht vom Jahre 1276, Augsburg 1872. 3 M ARKUS A NTONIUS M AYER , Der Kauf nach dem Augsburger Stadtrecht von 1276 im Vergleich zum gemeinen römischen Recht (Augsburger Schriften zur Rechtsgeschichte 20), Berlin 2009, 52-54. 4 M EYER , Das Stadtbuch von Augsburg (wie Anm. 2), 145, Anm. 2. Gestaltung von Grundstücksübertragungen im Spiegel des gemeinen Rechts 197 Art. 74 § 1 Zusatz 1 des Augsburger Stadtrechts demonstriert die Wirkung der Gewährleistung des bisherigen Eigentümers bei Anfechtung oder Klage gegen eben beschriebene Eigentumsübertragung: Und swa es im danne anspraeche wirt mit rehte, da sol er sinen gewaern stellen der ez im gap, und sol es im der entloesen: all die wile ez dem mit rehte niht ansprach ist worden dem man es da gab, so ist er im die wile niht schuldik cheinen schaden ab zu tunne, und sol geruet sitzen unz daz ez im mit rehte anbehabt werde. In diesem Fall soll der Gewährsmann in Person des Veräußerers dem Erwerber das Grundstück insofern entlösen, als dass letzterer für die Zeit vor Anfechtung nicht schadensersatzpflichtig ist und unangefochten in seinem Eigentumsrecht bleiben soll, dass es ihm mit Recht zugesprochen wird. Art. 74 § 1 Zusatz 3 Satz 1 des Augsburger Stadtrechts beinhaltet eine formelle Folge der nicht fristgerechten Geltendmachung eigener Rechte an dem zu Eigentum übertragenen Grundstück: Der stetigunge ist also: ist ieman auzzer landes, fur den sol man staeten zehen iar und ainen tak; und chumt er in den tagen und in den iaren niht als da vor geschriben stat, er si phaffe oder laie, so hat er sin reht verlorn, und sol man im der stet hantveste darüber geben. […] Demnach trat der Erwerber erst nach Ablauf von Jahr und Tag bzw. zehn Jahr und Tag wohl formell unter Verbriefung seiner Rechte durch die Stadt in die unanfechtbare Besitz- und Eigentumsposition hinsichtlich des Grundstücks ein. Der Ablauf der Frist bei Art. 74 § 1 (Zusatz 3 Satz 1) des Augsburger Stadtrechts schützt den Veräußerer, 5 dessen Gewährleistung erst zu diesem Zeitpunkt endet. 1.2. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kaufbriefe über Liegenschaften aus der Reichsstadt Augsburg 1.2.1. Herkunft, Inhalt und äußere Form der Kaufbriefe Als Primärquellen für diesen Abschnitt dient die bislang noch völlig unerschlossene Urkundensammlung „Reichsstadt, Haus- und Grundstücksurkunden“ 6 aus dem Stadtarchiv Augsburg. Vorliegend soll das Hauptaugenmerk auf Kaufbriefe zwischen Privatpersonen über Liegenschaften in der Reichsstadt Augsburg zwischen 1400 und 1600 gelegt werden. 7 Alle Kaufbriefe aus dem Selekt „Reichsstadt, Haus- und Grundstücksurkunden“ wurden mit einer Schreibfeder querformatig auf Pergament geschrieben. Die deutsche Schrift der Kaufbriefe des ausgewählten Betrachtungszeitraumes befindet sich im Übergang von den gotischen Kursiven zu den frühbarocken 5 M EYER , Das Stadtbuch von Augsburg (wie Anm. 2), 146, Anm. 2. 6 Es handelt sich dabei um eine Urkundensammlung in der Größenordnung von 0,6 Regalmetern. 7 Daneben finden sich in diesem Selekt Zins- und Zinslehenbriefe, Kaufbriefe über Zins und Leihebriefe. Nicola Birk 198 Schriftformen. Die Augsburger Kaufbriefe sind hauptsächlich in mittelhochdeutscher Sprache verfasst. 1.2.2. Inhaltliche Analyse und rechtliche Auswertung der Augsburger Kaufbriefe 1.2.2.1. Verkäufer, Kundgabe und Ernsthaftigkeit des Geschäfts Alle Kaufbriefe beginnen mit der Nennung des Verkäufers bzw. der Verkäufer in der 1. Person Singular bzw. Plural. Während die Berufsbezeichnung des Verkäufers nur teilweise auf den Namen folgt, ist seine Herkunft als Burger zu Augspurg oder einmal auch Innwoner zu Augspurg 8 immer verzeichnet. Dies dient im Zuge des Schutzes der Stadt vor Verfremdung als Bestätigung, dass das Grundstück nicht an einen Fremden veräußert wird. Daran schließt sich folgende bis auf geringfügige Abweichungen wortwörtlich in jedem Kaufbrief enthaltene Formulierung an: der Verkäufer oder die Verkäufer bekennen offenlich für vnns vnnser Erben, vnnd thun kunth menniglichem mit dem brieue das wir mit verainten wolbedachten muten vleißigen guten vorbetrachtungen von merers vnnsers nutz vnd fromben wegen den Verkauf getätigt haben. Auffallend ist sowohl auf Verkäuferals auch auf Käuferseite, dass grundsätzlich die Erben bzw. Nachkommen in die Grundstücksübertragung mit einbezogen werden. Hinter beiden Vertragsparteien steht demnach der ganze Familienverband. Auf Verkäuferseite ist seine Einbeziehung wegen des Beispruchs- und Retraktrechts der Erben notwendig. So müssen die nächsten Erben in bestimmte Verfügungsgeschäfte des künftigen Erblassers, insbesondere die Veräußerung von Liegenschaften, einwilligen. Fehlt diese Einwilligung der Erben, ist das Geschäft den Erben gegenüber unwirksam. 9 Sie können es anfechten und die Liegenschaft als besser Berechtigte an sich ziehen. An der Formulierung „für sich und ihre Erben“ wird der Zweck der Sicherung der Grundstücksübertragung vor einer Anfechtung durch die Nachkommen erkennbar. Nur Schritt für Schritt erfolgt die Loslösung von dem noch im Mittelalter vorherrschenden Grundsatz der dauernden Sachbindung des Grundvermögens an einen bestimmten Personenkreis hin zur uneingeschränkten Verkehrsfähigkeit des Grundeigentums. 10 1.2.2.2. Kaufgegenstand und Rechtszustand Der Kaufgegenstand der untersuchten Urkunden wird überwiegend mit haus oder behausung, hofsach vnnd geses umschrieben, was das Haus, den Hof mit baulichem 8 Stadtarchiv Augsburg (StadtAA), Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 22. März 1509. 9 W ERNER O GRIS / C HRISTIAN N ESCHWARA , Erbenlaub, in: A LBRECHT C ORDES / H EINER L ÜCK / D IETER W ERKMÜLLER (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, zweite Auflage, Aachen - Geistliche Bank, Berlin 2008, 1360f. 10 H ATTENHAUER , Die Entdeckung der Verfügungsmacht (wie Anm. 1), 44f. Gestaltung von Grundstücksübertragungen im Spiegel des gemeinen Rechts 199 Zubehör und das Anwesen umfasst. Wie nach römischem 11 wurde auch nach spätmittelalterlichem und frühneuzeitlichem Rechtsverständnis das Gebäude grundsätzlich als Akzession des Grundstücks und somit als Nebensache qualifiziert. Die Lage der kaufgegenständlichen Liegenschaft wird zunächst grob mit hie zu Augspurg unter Angabe der Gasse oder der Lage im Bezug auf ein markantes Bauwerk der Reichsstadt beschrieben. Darauf folgt eine sehr detaillierte Angabe, die auf allen Seiten des Kaufobjektes die angrenzenden Liegenschaften bzw. Gebäude samt ihren jeweiligen Eigentümern oder natürliche Grenzen wie z. B. Flüsse benennt. Darin kommt ein weiteres Mal die damals (noch) bestehende Vorstellung von der grundsätzlichen Unveräußerlichkeit von Familiengut zum Ausdruck. Die Grundstücke waren durch ihre Eigentümer personalisiert. Man ging von einer gewissen Dauerhaftigkeit solcher Eigentumszuordnungen aus. Grundstücksverfügungen wurden noch als einmalig und nicht beliebig oft wiederholbar empfunden. 12 Die Angabe der angrenzenden Nachbarn scheint aufgrund der zu erwartenden Dauerhaftigkeit ihrer Zuordnung als Eigentümer zu dem benachbarten Grundstück als gewissenhaftes und geeignetes Merkmal zur Erleichterung der Identifizierung des Kaufobjektes der Liegenschaft angesehen worden zu sein. Nach der Beschreibung der geographischen Lage des Kaufgegenstandes werden daraufhin seine Bestandteile festgesetzt. Mit geringfügigen Abwandlungen besagt die Formulierung mit aller ein vnnd zugehörung, ob vnnd vnder erden, an […] benannten vnnd unbenambtem nichts dauon ausgenommen noch hindan gesetzt 13 , dass das Grundstück bzw. Gebäude mit allem über und unter der Erde liegenden Inhalt und Zubehör usw. Gegenstand des Kaufbriefes sein soll. Diese generalklauselhafte Zubehörformel wurde nicht dem konkreten Einzelfall angepasst, sondern behielt die mit dem hohen Alter dieser Pertinenzformeln erklärbare starke Typisierung und Verfestigung bei. Sie entstand in einer Epoche, in der noch das Problem der Legitimierung der Grundstücksverfügung überhaupt bestand. Zweifel und Ungewissheit darüber, was alles zum Grundstück gehört und demzufolge von der Verfügung umfasst wird, waren die logische Konsequenz. 14 Außerdem wird der Rechtszustand der verkauften Liegenschaft bzw. des verkauften Gebäudes offengelegt. Handelt es sich beispielsweise um ein bislang im (unbelasteten) Eigentum des Verkäufers stehendes Kaufobjekt, wird es mit Ergän- 11 H ERBERT H AUSMANINGER / W ALTER S ELB , Römisches Privatrecht, neunte Auflage, Wien u.a. 2001, 161. 12 H ATTENHAUER , Die Entdeckung der Verfügungsmacht (wie Anm. 1), 45. 13 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 10. August 1553. 14 H ATTENHAUER , Die Entdeckung der Verfügungsmacht (wie Anm. 1), 97. Nicola Birk 200 zungen oder leichten Abweichungen in der Schreibweise als rechts freys ledigs aigen 15 angegeben. 1.2.2.3. Kauf als Rechtsgrund der Grundstücksübertragung, Käufer Der oder die Verkäufer haben das Kaufobjekt mit disem brieff yetzo recht vnd redlich verkauft vnd zu kauffen gegeben 16 bzw. mit disem brief yetzo ains stätten ewigen umerwerennden kaufs uff recht und redlich verkauft und zu kauffen gegeben 17 . Es finden sich Kaufbriefe, die anschließend an letztere Formulierung noch folgende Art von Bekräftigung enthalten: vnnd geben hiemit inn crafft dies brieffs wissenntlich zukhauffen 18 . Der Kauf als Rechtsgrund der Grundstücksübertragung wird in den Augsburger Kaufbriefen lediglich als ein in der Vergangenheit abgeschlossenes Rechtsgeschäft erwähnt, ohne dass dabei üblicher- oder sogar notwendigerweise einzuhaltende Förmlichkeiten näher beschrieben werden. Grundgeschäft und Erfüllungsgeschäft wurden in den Augsburger Kaufbriefen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit begrifflich, tatsächlich und zeitlich voneinander getrennt. 19 Der Gedanke der Selbstständigkeit des Erfüllungsgeschäftes im Verhältnis zum Grundgeschäft erscheint erstmals im Rahmen der dogmatischen Auseinandersetzung der Glossatoren mit dem Rechtsinstitut des Kaufs. 20 Die im Gegensatz zu der insbesondere formell strenger gehandhabten Grundstücksverfügung in der Bedeutung zurückgesetzten Verhandlungen über Kaufpreis und Gegenleistung machten den Kauf jedoch noch nicht zu einem selbstständigen, verpflich- 15 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 11. April 1528; Urkunde vom 19. August 1553; Urkunde vom 10. August 1553; Urkunde vom 1. Oktober 1559; Urkunde vom 24. April 1564; Urkunde vom 29. September 1565; Urkunde vom 28. März 1566; Urkunde vom 29. September 1573; Urkunde vom 13. März 1581; Urkunde vom 23. Dezember 1585. 16 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 30. April 1465; Urkunde vom 25. Mai 1467. 17 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 22. März 1509; Urkunde vom 11. April 1528; Urkunde vom 20. Dezember 1547; Urkunde vom 19. August 1553. 18 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 10. August 1553; Urkunde vom 1. Oktober 1559; Urkunde vom 24. April 1564; Urkunde vom 29. September 1565; Urkunde vom 28. März 1566; Urkunde vom 29. September 1573; Urkunde vom 13. März 1581; Urkunde vom 23. Dezember 1585; Urkunde vom 3. November 1590. 19 Ebenso war es in Basel und Meersburg, vgl. P AUL M EERWEIN , Die gerichtliche Fertigung im Basler Stadtrecht des dreizehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Stadtverfassung, Basel 1903, 39f.; W ALTHER M ERK , Die Grundstücksübertragung in Meersburg am Bodensee, Weimar 1936, 48. 20 G ERHART W ESENBERG / G UNTER W ESENER , Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, zweite Auflage, Lahr i. Schwarzwald 1969, 44. Gestaltung von Grundstücksübertragungen im Spiegel des gemeinen Rechts 201 tenden Vertrag, sondern vielmehr zu einem aus tatsächlichen Gründen verselbständigten Element der Übereignung. 21 Damit gehörte das grundsätzlich bereits begrifflich getrennte Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft in dieser Epoche noch als jeweils unselbstständiger Bestandteil zu dem großen Ganzen des Übertragungsaktes von Liegenschaften. In den Augsburger Kaufbriefen wird daraufhin der oder die Käufer genannt. Parallel zur Beschreibung der Verkäuferseite erfolgt die Nennung des Berufes und der Herkunft des Käufers sowie die Einbeziehung der Erben und Nachkommen in diese Grundstücksübertragung. Anschließend werden beispielhaft Befugnisse wie Innehaben, Nutzen, Nießbrauch und Gebrauch aufgezählt, die der Erwerber an der Liegenschaft bzw. den darauf befindlichen Gebäuden erwirbt. Sie werden mit Formulierungen wie innzehaben zenutzen zeniessen und zugebrawchen ewigelich vnd geruwigelich 22 beschrieben. 1.2.2.4. Kaufpreis, Bestätigung des Empfanges des Kaufpreises durch den Verkäufer Die Angabe des Kaufpreises der Liegenschaft erfolgt in der Währungseinheit Gulden und Kreuzer in reinischer gemainer landes werung 23 . Vom Verkäufer wird an dieser Stelle des Kaufbriefes bestätigt, dass er den Kaufpreis eingenommen, empfangen 24 und für seinen Nutz verwendet hat. 25 Die Quittungsklausel diente als Beweismittel der Erfüllung der Leistungspflicht durch den Käufer. Die Verwendungsklausel diente in der damaligen Rechtspraxis insofern dem Schutz des Erwerbers, als dass vermutet wurde, dass die verlorene Nutzung des Grundstückes durch die gewonnene Nutzungsmöglichkeit des Kaufpreises surrogiert wurde. Insoweit wurde am Bestand des Familienvermögens vom Wert her gesehen im Ergebnis nichts verändert. Der Erwerber konnte damit die 21 H ATTENHAUER , Die Entdeckung der Verfügungsmacht (wie Anm. 1), 166. 22 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 22. März 1509; Urkunde vom 11. April 1528; Urkunde vom 20. Dezember 1547. 23 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 22. März 1509; Urkunde vom 11. April 1528. 24 Trotz der ursprünglich bestehenden Vorleistungspflicht des Käufers liegt die Vermutung nahe, dass auch in der Reichsstadt Augsburg in der frühen Neuzeit Stundungs- und Kreditkäufe von Liegenschaften in den Vordergrund traten. Vgl. zu dieser oder einer ähnlichen Entwicklung in anderen Städten C ARL F RANZ W OLF J EROME H AEBERLIN , Systematische Verarbeitung der in Meichelbeck´s Historia Frisingensis enthaltenen Urkundensammlung, Erster Theil. Rechtsgeschichte, Berlin 1842, 95; T HEODOR M AYER -E DENHAUSER , Das Recht der Liegenschaftsübereignung in Freiburg im Breisgau bis zur Einführung des badischen Landrechts (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen VI), Freiburg i.Br. 1937, 114; M ERK , Die Grundstücksübertragung in Meersburg am Bodensee (wie Anm. 19), 56. 25 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 30. April 1465; Urkunde vom 11. April 1528; Urkunde vom 29. September 1573. Nicola Birk 202 eventuell später anfechtenden Erben auf den Kaufpreis, der als Wert noch vorhanden ist, verweisen. 26 1.2.2.5. Übergabe, Aufgabe und Verzicht der Liegenschaft Im Anschluss daran wird in den Kaufbriefen die im Gegenzug zur Kaufpreiszahlung durch den Käufer vom Verkäufer zu erbringende bzw. bereits erbrachte Leistung beschrieben. Das Kaufobjekt wurde mit seinen jeweiligen Zugehörungen und eventuellen Belastungen über vnd vffgegeben, vnd vnns des alles genntzlich vnd gar vertzigen, nach den Rechtsvorschriften über den jeweiligen Rechtszustand vnd der statt recht zu Augspurg vnd nach dem Rechten 27 . Ab den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts wird die vom Verkäufer zu erbringende bzw. bereits erbrachte Leistung in der Beschreibung der Kaufbriefe insofern erweitert, als das Kaufobjekt auf, vbergeben, vnnd eingeantwurt […], gar vnd gentzlich verzigen vnd begeben 28 wurde. Aufgabe und Verzicht sind die Hauptbestandteile des dinglichen Übertragungsgeschäftes. Ihrem Wesen nach ist die Aufgabe weder Besitzübertragung noch Besitzräumung oder Rechtsverzichtserklärung, sondern ein auf den unmittelbaren Übergang des Eigentums gerichteter dinglicher Vertrag. 29 Der Verzicht stellt ursprünglich keine Besitzverzichtserklärung, sondern eine Rechtsverzichtserklärung dar. 30 1.2.2.6. Ausschluss von Angriffen auf die kaufgegenständliche Liegenschaft Von Verkäuferseite wird weiter erklärt, dass keine Rechte der Veräußererseite oder Dritter an der kaufgegenständlichen Liegenschaft bzw. dem kaufgegenständlichen Gebäude bestehen oder geltend gemacht werden. In diesem Zusammenhang steht in den Kaufbriefen geschrieben: Und wir süllen vnnd wöllen in das also stätten vnd vertigen vnd ir recht geweren sein für alle allermänigelichs irrung vnd ansprach, die inn mit dem rechten daran beschächen, […] nach der statt recht zu Augspurg vnnd nach den rechten 31 . Ab den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts werden die Pflichten des 26 H ATTENHAUER , Die Entdeckung der Verfügungsmacht (wie Anm. 1), 99f. 27 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 30. April 1465; ähnlich die Urkunde vom 22. März 1509; Urkunde vom 29. September 1573. 28 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 11. April 1528; Urkunde vom 20. Dezember 1547; Urkunde vom 1. Oktober 1559; Urkunde vom 24. April 1564. 29 M ERK , Die Grundstücksübertragung in Meersburg am Bodensee (wie Anm.19), 68. 30 M ERK , Die Grundstücksübertragung in Meersburg am Bodensee (wie Anm. 19), 69. 31 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 30. April 1465; Urkunde von 1481; Urkunde vom 22. März 1509; Urkunde vom 20. Dezember 1547. Gestaltung von Grundstücksübertragungen im Spiegel des gemeinen Rechts 203 Verkäufers in den Formulierungen der Kaufbriefe zum Teil insofern ausgeweitet, als dass er neben gewern vnd vertiger zusätzlich vertretter vnd versprecher 32 sein soll. Über den Zeitpunkt der dinglichen Übertragung der kaufgegenständlichen Liegenschaft hinaus bestehen noch schuldrechtliche Verpflichtungen des Veräußerers gegenüber dem Erwerber. 33 Während der Verzicht vor Angriffen der Veräußerer schützt, soll die Währschaft den Erwerber vor gerichtlichen oder außergerichtlichen Angriffen Dritter auf seinen Rechts- und Besitzstand sichern. 34 Schon bei den Glossatoren und Kommentatoren war die Eviktion das auslösende Moment für die Rechtsmängelhaftung. 35 Der von der Währschaft verpflichtete Personenkreis erstreckt sich in den Augsburger Kaufbriefen auf den bzw. die Veräußerer und seine bzw. ihre Erben. Der Inhalt der geweren-Pflicht wird mithilfe des Wortes staeten in der Bedeutung von „gewährleisten“ umschrieben. Das entspricht auch dem Wortlaut der dieser Gewährschaft zugrunde liegenden Vorschrift des Art. 74 § 1 des Augsburger Stadtrechts. Mit den Verben vertigen, versprechen und vertreten werden Art und Weise des Währschaftsvollzuges und die dabei geschuldeten Leistungen des Gewähren angegeben. 36 Die Gewährschaftspflicht war eine Verteidigungs- und Schadensersatzpflicht. Sie bestand kraft Veräußerung, wenngleich sie durch besonderes Versprechen urkundlich zugesichert zu werden pflegte. 37 Die Käuferseite soll zudem von noch bzgl. des Grundstücks bestehenden Beeinträchtigungen oder Ansprüchen Dritter durch den Verkäufer befreit und schadlos gehalten werden. Dieses Ziel wird beispielsweise durch folgende Formulierung erreicht: die selben irrung vnd ansprach alle, vnd was si der schaden nement, süllen wir 32 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 11. April 1528; in der Urkunde vom 19. August 1553, Urkunde vom 10. August 1553, Urkunde vom 29. September 1573, Urkunde vom 13. März 1581, Urkunde vom 23. Dezember 1585, Urkunde vom 3. November 1590 wird diese erweiterte Formulierung bei der Passage der Befreiung bzw. Schadloshaltung des Käufers verwendet; Urkunde vom 19. August 1553; Urkunde vom 10. August 1553; Urkunde vom 13. März 1581; Urkunde vom 23. Dezember 1585; Urkunde vom 3. November 1590. 33 M AYER -E DENHAUSER , Das Recht der Liegenschaftsübereignung in Freiburg im Breisgau bis zur Einführung des badischen Landrechts (wie Anm. 24), 95; M ERK , Die Grundstücksübertragung in Meersburg am Bodensee (wie Anm. 19), 75; H AEBERLIN , Systematische Verarbeitung der in Meichelbeck´s Historia Frisingensis enthaltenen Urkundensammlung (wie Anm. 24), 95f. 34 H ATTENHAUER , Die Entdeckung der Verfügungsmacht (wie Anm. 1), 76; M ERK , Die Grundstücksübertragung in Meersburg am Bodensee (wie Anm. 19), 79. 35 G ERHARD D ILCHER , Die Theorie der Leistungsstörungen bei Glossatoren, Kommentatoren und Kanonisten (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge, rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Reihe 19), Frankfurt a.M. 1960, 247. 36 M ERK , Die Grundstücksübertragung in Meersburg am Bodensee (wie Anm. 19), 77f., kommt zu denselben Ergebnissen. 37 A DOLF W ACH , Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts, Bd. 1, Leipzig 1885, 657. Nicola Birk 204 vnd vnnser erben, den nachbenannten […] vnd allen iren erben, genntzlichen vnd gar abthün entlössen vnd vfrichten richtig vnd vnansprächig machen onn allen iren schaden 38 . Der währschaftspflichtige Veräußerer hatte im Rahmen des Zuges auf den Gewähren demnach die Kosten der Verteidigungsmaßnahmen zu tragen und den dem Erwerber durch die Angriffe entstandenen Schaden zu ersetzen. 39 Rechtsgrundlage dafür ist Art. 74 § 1 Zusatz 1 des Augsburger Stadtrechts. Die Währschaftspflicht des Veräußerers dauerte nicht unbegrenzt an. Gemäß Art. 74 § 1 des Augsburger Stadtrechts sollte der Veräußerer einer zu Eigen besessenen Liegenschaft innerhalb der Reichsstadt Augsburg dem Erwerber diese Jahr und Tag bestätigen. Die Währschaftspflicht erlosch regelmäßig mit dem Eintritt der rechten Gewere, die den Käufer zur Selbstverteidigung in Stand setzte. 1.2.2.7. Übergabe des Kaufbriefes, Angabe von Siegler, Zeugen, Datum Die letzte Passage der Kaufbriefe wird mit einer so oder zumindest ähnlich lautenden Wendung eingeleitet: Und das alles zu warem stättem vnd guttem vrkund. 40 Zunächst wird die Übergabe des Kaufbriefes vom Verkäufer an den Käufer aufgeführt. Auf Bitten des Verkäufers wird die Besiegelung des Kaufbriefes mithilfe eines Siegelberechtigten durchgeführt. Die angegebenen Zeugen bezeugen wohl nur die Siegelbitte als solche und nicht den ganzen Inhalt des Kaufbriefes samt darin enthaltenen Rechten und Pflichten der Vertragsparteien. Letzteres wird wohl ausschließlich durch die Besiegelung einer oder mehrerer siegelberechtigten Personen, oft des Burggrafen und bzw. oder des Stadtvogtes von Augsburg, begründet. Zuletzt folgt die Angabe des Datums der Kaufbriefausstellung. 1.2.2.8. Zeitpunkt des Eigentumsüberganges Für Grundstücksübertragungen in der Reichsstadt Augsburg des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit besteht zum jetzigen Zeitpunkt der Forschung die Vermutung, dass dem Erwerber mit der Übergabe des jeweiligen Kaufbriefes das Eigentum an dem Grundstück übertragen wurde. In Augsburg sind anders als in anderen Städten für diese Epoche keine Stadtbücher archiviert, in die die Auflassung eingetragen 38 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 30. April 1465. 39 M ERK , Die Grundstücksübertragung in Meersburg am Bodensee (wie Anm. 19), 80. 40 StadtAA, Reichsstadt Haus- und Grundstücksurkunden 1351-1599, Urkunde vom 30. April 1465; Urkunde vom 25. Mai 1467; Urkunde vom 22. März 1509; Urkunde vom 11. April 1528; Urkunde vom 20. Dezember 1547; Urkunde vom 19. August 1553; Urkunde vom 10. August 1553; Urkunde vom 1. Oktober 1559; Urkunde vom 24. April 1564; Urkunde vom 29. September 1565; Urkunde vom 28. März 1566; Urkunde vom 29. September 1573; Urkunde vom 13. März 1581; Urkunde vom 23. Dezember 1581; Urkunde vom 3. November 1590. Gestaltung von Grundstücksübertragungen im Spiegel des gemeinen Rechts 205 wurde, zum Teil als bloße Beurkundung, zum Teil aber auch als in zeitlicher und rechtlicher Hinsicht abschließender Bestandteil des Übertragungsaktes, der zur Wirksamkeit der Übereignung erforderlich war. Die Entwicklung des späteren Grundbuchwesens wurde durch die Rezeption des römischen Rechts gerade gehemmt. Aus der Abwesenheit von liegenschaftsrechtlichen Aufzeichnungen in Stadtbüchern lässt sich der Rückschluss ziehen, dass in der Reichsstadt Augsburg zwischen 1400 und 1600 das rezipierte römische Recht gerade auch im Bereich der Grundstücksgeschäfte deutliche Spuren hinterließ. 2. Eigentumsübertragung an Grundstücken in der Territorialstadt Neuss im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (1400-1600) Vor der inhaltlichen Analyse und rechtlichen Auswertung der Neusser Urkunden werden hier zunächst beispielhaft einige Rechtsgrundlagen der Liegenschaftsübereignung aufgeführt, die in der Territorialstadt Neuss in spätem Mittelalter und früher Neuzeit Geltung beanspruchten. 2.1. Vorschriften aus dem Neusser Stadtrecht und Territorialrecht zum Kauf und zur Eigentumsübertragung von Liegenschaften 2.1.1. Vorschriften aus dem Neusser Stadtrecht In den Neusser Ratsmemorialbüchern des 14. Jahrhunderts sind einige in lateinischer Sprache verfasste Ratsbeschlüsse überliefert, die Liegenschaften oder darauf befindliche Häuser zum Gegenstand haben. Zumeist wurden mithilfe dieser Ratsbeschlüsse Beschränkungen des Grundstücksverkehrs vorgenommen. So durften beispielsweise die Häuser an der Stadtmauer nicht an Fremde verkauft werden, 41 um die Stadt Neuss vor Verrat durch Einlassen von Feinden zu schützen. 42 In einer Urkunde aus dem Jahre 1475, in der Kaiser Friedrich III. die Ordnung und Rechte der Neusser Schöffen bestätigte, ist die Zuständigkeit der Schöffen für sämtliche (auch testamentarisch vorgenommene) Liegenschaftsübertragungen explizit geregelt: […] Es sol auch nyemands, wer der oder dieselben sein, so in der statt Newss burckbann erb und guter ligen haben, ausserhalb willen, consens oder beywessen der yetztgemelten schoffen solich guter nicht verkauffen, verschaffen, ubergeben, noch in 41 Ratsbeschluss vom 15. Februar 1346, in: F RIEDRICH L AU , Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen Städte. Kurkölnische Städte: Neuss (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde XXIX), Bd. 1, Bonn 1911, 72 Nr. 47. 42 E RICH W ISPLINGHOFF , Geschichte der Stadt Neuss. Von den mittelalterlichen Anfängen bis zum Jahre 1794, Neuss 1975, 494. Nicola Birk 206 testaments, instruments, noch ander weise verschreiben, verendern, noch verkumbern in deheiner weise. Ob aber das daruber beschehe, das dann solichs alles crafftlos, zu nicht und untuglich sey und den gemelten von Newsz deheinen schaden bringen sol ungeverlich. […] 43 Damit ist für die Wirksamkeit von Grundstücksveräußerungen mit ihren anhand der Neusser Urkunden noch aufzuzeigenden Bestandteilen Anwesenheit und Zustimmung der Schöffen erforderlich. 2.1.2. Vorschriften aus dem Territorialrecht Als Territorialrecht gelangten im frühneuzeitlichen Neuss die kurkölnische Rechtsreformation von 1537/ 1538 und die reformierte Polizeiordnung von 1590 ergänzend zur Anwendung. In der kurkölnischen Rechtsreformation finden sich u. a. formelle Vorschriften, die am Liegenschaftserwerb beteiligte Amtspersonen oder das Verfahren selber betreffen. Die reformierte Polizeiordnung enthält darüber hinaus unter der Überschrift Von des voigts amt und bevellich. die Regelung, dass der Vogt […] alle verschreibung, testamenta, briefliche urkund, gerichtliche transportationes, erb und enterbung, cessiones und was dergleichen actus mer sein und bei dem gericht vorlauften mogten, samt und mit unseren scheffen unseres hohen gerichts beratschlagen, beschliessen und versigelen helfen, auch alle andere, so ohn seinen vorwissen und consent gefertiget werden, in unserem namen zu rescindiren und zu cassiren hiemit macht und bevelch haben. 44 Damit ist für die Wirksamkeit von brieflichen Urkunden wie den Neusser Kaufbriefen Beratung, Beschluss und Versiegelung von Vogt und Schöffen erforderlich. 2.2. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kaufbriefe über Liegenschaften aus der Territorialstadt Neuss 2.2.1. Herkunft, Inhalt und äußere Form der Kaufbriefe Als Vergleichsquellen zu den im vorigen Kapitel ausgewerteten Augsburger Kaufbriefen dienen Urkunden aus dem Stadtarchiv Neuss. Im „Haupturkundenarchiv“ finden sich weit überwiegend Schriftstücke, die sich mit liegenschaftlichen Übertragungen und Belastungen befassen. 45 Die äußere Form der Neusser Kaufbriefe 43 Urkunde vom 9. Oktober 1475, in: L AU , Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen Städte (wie Anm. 41), 154f. Nr. 106. Vergleiche in diesem Zusammenhang die Urkunde vom 14. August 1473, in: L AU , Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen Städte (wie Anm. 41), 143-145 Nr. 98, in der im Gegenzug die Zuständigkeit der Notare in diesem Bereich verneint wird. 44 Reformierte Polizei-Ordnung. Bonn, 1590, Mai 8. in: L AU , Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen Städte (wie Anm. 41), 20-34, 30. 45 Für den vorliegend maßgeblichen Untersuchungszeitraum zwischen 1400 und 1600 weist dieser Bestand rund 250 Urkunden auf, die neben den hier maßgeblichen Verkäufen von Gestaltung von Grundstücksübertragungen im Spiegel des gemeinen Rechts 207 gleicht sehr stark der äußeren Form der Augsburger Kaufbriefe 46 . Sie sind hauptsächlich in mittelniederdeutscher Sprache verfasst. 2.2.2. Inhaltliche Analyse und rechtliche Auswertung der Neusser Kaufbriefe 2.2.2.1. Gerichtspersonen, Kundgabe und Verkäufer des Geschäfts Am Beginn der Neusser Kaufbriefe erfolgt die Nennung der an dem Geschäft beteiligten Gerichtspersonen in der 1. Person Plural. Bis in die achtziger Jahre des 16. Jahrhunderts werden jeweils zwei Scheffen zo Nuysse 47 aufgeführt. In den später datierten Urkunden wird vor den beiden jeweiligen Schöffen der Vogt genannt. 48 Das lässt sich mit dem Erlass der reformierten Polizeiordnung von 1590 für die Stadt Neuss begründen, die Beratung, Beschluss und Versiegelung der brieflichen Urkunden von Vogt und Schöffen verlangt. 49 Auf die Nennung der beteiligten Gerichtspersonen folgt die öffentliche Kundgabe des Vollzuges des Kaufgeschäftes. Sie doyn kont allen luden vnd zugen offenbahrlich overmidtz disem brieve 50 , dass die Verkäufer zu ihnen gekommen und vor ihnen erschienen sind. Daran schließt sich die Nennung des Verkäufers bzw. der Verkäufer an, der bzw. die vor den Schöffen erschienen sind. Die Herkunft der Verkäufer als Bürger von Neuss wird in ungefähr der Hälfte der untersuchten Kaufbriefe erwähnt. 51 Ihr Beruf ist grundsätzlich nicht in den Urkunden verzeichnet. Der bzw. die Verkäufer haben öffentlich den Vollzug des Kaufgeschäftes für sich und ihre Erben bekannt. Das wird in den Kaufbriefen mit folgender oder einer ähnlichlautenden Formulierung umschrieben: sie haynt Liegenschaften und Gebäuden, Erbpacht und Verpfändung von Grundstücken häufig die Begründung und Übertragung von Renten an einem Grundstück zum Gegenstand haben. 46 Vgl. Gliederungspunkt 1.2.1. 47 Stadtarchiv Neuss (StANeuss), Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 19. Juli 1452; Urkunde vom 7. September 1500; Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 12. Oktober 1565; Urkunde vom 20. September 1579. 48 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 31. Oktober 1594; Urkunde vom 2. April 1596; Urkunde vom 16. März 1596; Urkunde vom 23. Juni 1598; Urkunde vom 22. Dezember 1598; Urkunde vom 27. Mai 1599; Urkunde vom 4. Oktober 1599. 49 Vgl. Gliederungspunkt 2.1.2. 50 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 8. Januar 1487; Urkunde vom 7. September 1500; Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556. 51 Nicht erwähnt wird sie in folgenden Urkunden des Stadtarchivs Neuss, Haupturkundenarchiv: Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 12. Oktober 1565; Urkunde vom 7. März 1580; Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 31. Oktober 1594; Urkunde vom 2. April 1596; Urkunde vom 4. Oktober 1599. Dies lässt sich wohl am ehesten mit dem Selbstverständnis der Verfasser der Urkunden erklären, dass es sich bei den jeweiligen Personen um Neusser Bürger handelt. Nicola Birk 208 aldan offentlich vur sich vnd yre eruen bekant 52 . Die bereits in den Augsburger Kaufbriefen umschriebene Einbeziehung der Erben auf Verkäuferseite resultiert auch in den Neusser Urkunden aus der erforderlichen Einwilligung bzw. Verzichtsleistung der Verwandten des Veräußerers, die für die Wahrung des Beispruchs- und Wartrechts 53 der Erben erforderlich ist. 54 Im Erfordernis der Einwilligung und Verzichtserklärung sowohl vonseiten des Veräußerers als auch vonseiten der Erben zeigt sich die Gebundenheit des liegenden Gutes an die ganze Familie. 2.2.2.2. Kauf als Rechtsgrund der Grundstücksübertragung, Käufer Anschließend wird nun der Inhalt dieses Bekenntnisses der Verkäufer näher umschrieben, nämlich dat sy […] yn eyme rechten vasten steden erffkauff vercaufft hand vnd vercauffen mit disem brieff 55 . Ab den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts erscheint durchweg die Formulierung, dat sy recht vnd redelich in eynem steden gantze vasten erffkauff erfflich verkaufft haint vnd in crafft deß brieffs vollentkomentlich verkauffen 56 . Diese oder ähnlichlautende Formulierungen deuten auf einen ewigen, immerwährenden, unwiderruflichen Kauf unter Verzicht auf das Rückkaufsrecht 57 (Retraktrecht) hin. Bei der Umschreibung als „ewiger Kauf“ wird das noch vorherrschende Verständnis der Grundstücksveräußerung als einmaliger, besonders ein- 52 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 7. September 1500; Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 12. Oktober 1565; Urkunde vom 7. März 1580; Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 31. Oktober 1594; Urkunde vom 4. Oktober 1599. 53 Das Wartrecht ist ein dingliches Erwerbsrecht, nach dem die Erben des Veräußerers das ohne ihre Einwilligung und deswegen ihnen gegenüber unwirksam veräußerte und übereignete Gut binnen bestimmter Frist vom Erwerber ohne Gegenleistung herausverlangen können. Dieser hat dann lediglich einen Schadensersatzanspruch gegen den Veräußerer. Vgl. hierzu W ERNER O GRIS , Erbenwartrecht, in: A DALBERT E RLER / E KKEHARD K AUFMANN (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1: Aachen - Haussuchung, Berlin 1971, 958f., hier 958. 54 W OLFGANG S CHMIDT , Die Auflassung im Mittelalter nach niederrheinischen Rechtsquellen. Ein Beitrag zur Geschichte der Auflassung, München 1932, 46f. 55 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 19. Juli 1452; ähnlich die Formulierung in der Urkunde vom 7. September 1500. 56 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 12. Oktober 1565; Urkunde vom 7. März 1580; Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 31. Oktober 1594; Urkunde vom 2. April 1596; Urkunde vom 23. Juni 1598; Urkunde vom 22. Dezember 1598; Urkunde vom 27. Mai 1599; Urkunde vom 4. Oktober 1599. 57 E BERHARD VON K ÜNSSBERG , Deutsches Rechtswörterbuch (Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache), Bd. 3: Entschuldigen bis Geleitleute, Weimar 1935-1938, 89f., hier 89. Gestaltung von Grundstücksübertragungen im Spiegel des gemeinen Rechts 209 schneidender Vorgang deutlich, der nicht beliebig oft wiederholbar ist. 58 Die Bezeichnung „Erbkauf“ ist nicht im Wortsinne als Kauf einer Erbschaft zu verstehen, sondern betont die Verlagerung des Vermögens in Gestalt des Erbvermögens durch den Kauf. Die Beschreibung des Erbkaufes als recht und redlich könnte die Einhaltung eventueller Formerfordernisse beinhalten. 59 Zwar wird auch in den Neusser Urkunden die bewusste Trennung von Kausalgeschäft und dinglichem Geschäft vorgenommen, jedoch lebt in Mittelalter und früher Neuzeit auch in niederrheinischen Urkunden noch der Gedanke der Zugehörigkeit der obligatorischen Elemente zu den dinglichen Elementen fort. 60 Darauf folgt die Nennung des oder der Käufer, deren Herkunft in ebenfalls ungefähr der Hälfte der Urkunden 61 angegeben ist. 62 Der Beruf der Käufer ist aus keiner der untersuchten Urkunden ersichtlich. Sie handeln bei der Grundstücksübertragung ebenso wie die Verkäufer für sich und ihre Erben, die somit in die Wirkung des vollzogenen Kaufgeschäftes miteinbezogen werden. 2.2.2.3. Kaufgegenstand und Rechtszustand Bei dem Kaufgegenstand handelt es sich zumeist um ein huyss 63 , eine behaussungh 64 , eine Hälfte von einem huyse vnd erve 65 oder ein autlandt 66 . Die Beschreibung der geographischen Lage der Liegenschaft wird wie in den Augsburger Kaufbriefen von der Ortsangabe bynnen Nuysse über die Angabe der Straße oder Gasse bis hin zur Nennung der an jegliche Seiten des Kaufobjektes angrenzenden Liegenschaften bzw. Gebäude samt den jeweiligen Eigentümern immer detaillierter. Dies lässt auf eine starke, von Dauerhaftigkeit geprägte wechselseitige Bindung schließen. Kaufgegenstand ist das beschriebene Haus oder Grundstück in der Gestalt, die es zum Zeit- 58 Vgl. auch H ATTENHAUER , Die Entdeckung der Verfügungsmacht (wie Anm. 1), 44. 59 Vgl. auch S CHMIDT , Die Auflassung im Mittelalter nach niederrheinischen Rechtsquellen (wie Anm. 54), 28, der darauf hinweist, dass es eine allgemeine Erscheinung sei, dass althergebrachte, stets wiederkehrende Handlungen häufig keine Erwähnung in den Urkunden finden, da sie als selbstverständlich gelten. 60 S CHMIDT , Die Auflassung im Mittelalter nach niederrheinischen Rechtsquellen (wie Anm. 54), 32, 36. 61 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 7. September 1500; Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 7. März 1580. 62 Eine konsequente Angabe der Herkunft entweder auf Verkäufer- und Käuferseite oder gar nicht ist nicht ersichtlich. 63 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 19. Juli 1452; Urkunde vom 23. Januar 1594. 64 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 27. Mai 1599. 65 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 7. September 1500; ähnlich die Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556. 66 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 31. Oktober 1594; Urkunde vom 22. Dezember 1598. Nicola Birk 210 punkt des Kaufvertragsschlusses aufweist, und zwar vur hynden unden oven in lengden breiden hoechden vnd duypten myt […] in vnd zo gehoere nyet dar von vßgescheiden gelegen 67 . Nach dieser typisierten Pertinenzformel sind alle Ein- und Zugehörung von der Veräußerung umfasst und nichts davon ausgenommen. Seit den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts wird in diesem Zusammenhang teilweise der Rechtszustand des Hauses oder der Liegenschaft näher umschrieben. So wird ein von Belastungen freies Kaufobjekt als loß, frey vnd ohn […] beschwerniß oder unbeschwert) 68 bezeichnet. 2.2.2.4. Kaufpreis, Bestätigung des Empfanges des Kaufpreises durch den Verkäufer Die Angabe des konkreten Kaufpreises für die kaufgegenständliche Liegenschaft oder das kaufgegenständliche Gebäude sucht man in den Neusser Kaufbriefen vergebens. So erfährt man nur, dass der Kauf vur eyne bescheiden summa von gelde 69 vollzogen worden ist. Seit den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts wird das gelde durch die konkretere Währungseinheit der pfenningen 70 ersetzt. Darauf folgt durch die Verkäufer die Bestätigung der Bezahlung des Kaufpreises, den sie offentlich erkanten und […] [den Käufer] daran los ledich vnd quyt sachten vnd […] sich guder uffrichtig bezalonge heromb bedanckten 71 . Dem Käufer wird die Entrichtung des Kaufpreises an den Verkäufer quittiert (Quittungsformel). 72 Im Gegensatz zu den 67 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 12. Oktober 1565; Urkunde vom 7. März 1580; Urkunde vom 2. April 1596; die früher datierten Urkunden weisen zwar jeweils verschiedene Bestandteile dieser Formulierung, jedoch noch nicht diese konkrete Ausgestaltung auf. 68 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 2. April 1596; Urkunde vom 23. Juni 1598; Urkunde vom 22. Dezember 1598; Urkunde vom 27. Mai 1599; Urkunde vom 4. Oktober 1599. 69 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 19. Juli 1452; Urkunde vom 7. September 1500; Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 12. Oktober 1565. 70 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 7. März 1580; Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 31. Oktober 1594; Urkunde vom 2. April 1596; Urkunde vom 23. Juni 1598; Urkunde vom 22. Dezember 1598; Urkunde vom 27. Mai 1599; Urkunde vom 4. Oktober 1599. 71 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 7. September 1500; Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 12. Oktober 1565; Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 31. Oktober 1594; Urkunde vom 2. April 1596; Urkunde vom 23. Juni 1598. 72 Auch in den Neusser Kaufbriefen wird die Entrichtung des Kaufpreises in der Vergangenheitsform des Perfekts angegeben. Trotz der gleichbleibenden Formulierung, die der ursprünglichen Vorleistungspflicht des Käufers gerecht wird, haben wohl auch in der Territori- Gestaltung von Grundstücksübertragungen im Spiegel des gemeinen Rechts 211 Augsburger Kaufbriefen enthalten die Neusser Urkunden keine Verwendungsformel. 2.2.2.5. Übergabe, Übertragung und Verzicht der Liegenschaft Im Gegenzug dazu wird der Kaufgegenstand vom Verkäufer ouergegeuen vnd upgedragen vnd synt der viffgegangen darup verziegen vnd verschossen mit hande halme vnd gichtigem monde 73 . Übergabe, Übertragung und Verzicht der Liegenschaft oder des Gebäudes geschieht dabei in der Weise, als recht vnd gewoenlich ist. An dieser Stelle der Neusser Kaufbriefe folgt nun die Beschreibung der Bestandteile des dinglichen Übertragungsgeschäfts. Die Worte ouergegeuen vnd upgedragen deuten auf die Rechtsübertragung, das Wort verziegen auf den Rechtsverzicht hin. 74 Die die dinglichen Bestandteile begleitenden Zeichen sind nicht nur im Sinne der Rechtsübertragung, sondern als Zeichen der Haftung, der Bestärkung und Sicherung des erworbenen Rechtes 75 zu verstehen. Der Halm oder Halmwurf ist nicht nur als ein auf die Herrschaft verzichtendes Zeichen, sondern auch als Zeichen der Währschaftsleistung 76 als der Pflicht, den Erwerber nicht nur im ungestörten Besitz zu belassen, sondern ihn auch vor Rechtsansprüchen Dritter zu schützen, zu deuten. 77 Die in den Neusser Kaufbriefen beschriebenen Symbole verkörpern demnach sowohl schuldrechtliche als auch dingliche Elemente der Grundstücksübertragung. 78 alstadt Neuss in der frühen Neuzeit Stundungs- und Kreditkäufe von Liegenschaften stattgefunden. 73 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 7. September 1500; ähnlich auch die Urkunde vom 19. Juli 1452; Urkunde vom 23. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 12. Oktober 1565; Urkunde vom 7. März 1580; Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 31. Oktober 1594; Urkunde vom 2. April 1596; Urkunde vom 23. Juni 1598; Urkunde vom 22. Dezember 1598; Urkunde vom 27. Mai 1599; Urkunde vom 4. Oktober 1599. 74 Vgl. auch S CHMIDT , Die Auflassung im Mittelalter nach niederrheinischen Rechtsquellen (wie Anm. 54), 39f. 75 O TTO VON G IERKE , Schuld und Haftung im älteren deutschen Recht, insbesondere die Form der Schuld- und Haftungsgeschäfte (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 100), Neudruck der Ausgabe Breslau 1910, Aalen 1969, 239. 76 R ICHARD S CHRÖDER / E BERHARD VON K ÜNSSBERG , Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Berlin / Leipzig 1932, 321. 77 S CHMIDT , Die Auflassung im Mittelalter nach niederrheinischen Rechtsquellen (wie Anm. 54), 47f. 78 Auch K ONRAD B EYERLE , Die Anfänge des Kölner Schreinswesens, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Bd. 51 (1931), Germanistische Abteilung, 318-509, 463, stellt für Köln fest, dass die dort verwendeten Symbole Handreichung und Halmwurf auf der Grenze schuldrechtlicher und sachenrechtlicher Symbolik stehen. Nicola Birk 212 2.2.2.6. Rechtswirkung des Kaufgeschäftes Während die Verkäufer an der kaufgegenständlichen Liegenschaft enterfft vnd entguet worden sind, haben die Käufer durch das Kaufgeschäft die Befugnis erworben, die Liegenschaft van nun vort an in eyme erfflige rechten zo hanthauen zo besitzen zo genyessen zo gebruichen vnd vort alle yeren vryen willen dawmit zo doyn vnd zo laissen als mit anderen yeren eygen erffschafften vnd guederen 79 . Die unbeschränkte und volle Rechtsmacht zu jederlei Verfügung über das Grundstück ist damit vom Veräußerer auf den Erwerber übergegangen. 80 2.2.2.7. Ausschluss von Angriffen auf das Kaufobjekt Der Verkäufer und seine Erben sind verpflichtet, dem Käufer und seinen Erben zo doin gantze volkomen werschaft jayre vnd dach alle rechte ansprache vnd forderung aff zo legen vnd doin dan vp vertzyen alle die jhene die von rechtzwegen darump schuldich synt zo vertzyen sonder alle argelist vnd geuerde 81 . Das Versprechen der Währschaft ist das Endglied der durch den Kaufvertrag übernommenen Pflichten des Veräußerers. Das Währschaftsversprechen ist ein Teil des haftungsrechtlichen Gegenstückes zu dem schuldrechtlichen Moment der Veräußerung. 82 Die Währschaft wird für Jahr und Tag 83 (und zu den ewigen Tagen) versprochen. Innerhalb dieser Frist können Dritte der Veräußerung widersprechen und das Gut für sich in Anspruch nehmen. Mit dem Ablauf von Jahr und Tag ohne gerichtliche Anfechtung hat der Erwerber schließlich die rechte Gewere inne. Wie in den Augsburger Kaufbriefen wird auch in den Neusser Urkunden der Zug auf den Gewähren thematisiert. 79 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 7. September 1500; ähnlich die Urkunde vom 19. Juli 1452; Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 10. April 1565; Urkunde vom 12. Oktober 1565; Urkunde vom 7. März 1580; Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 31. Oktober 1594; Urkunde vom 2. April 1596; Urkunde vom 23. Juni 1598; Urkunde vom 22. Dezember 1598; Urkunde vom 27. Mai 1599; Urkunde vom 4. Oktober 1599. 80 H ATTENHAUER , Die Entdeckung der Verfügungsmacht (wie Anm. 1), 110f. 81 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 19. Juli 1452; Urkunde vom 7. September 1500; Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 22. September 1548. 82 S CHMIDT , Die Auflassung im Mittelalter nach niederrheinischen Rechtsquellen (wie Anm. 54), 34. 83 In Köln betrug die Dauer des Währschaftsversprechens mitunter nur wenige Tage; Gründe dafür liefert B EYERLE , Die Anfänge des Kölner Schreinswesens (wie Anm. 78), 318-509, 467. Gestaltung von Grundstücksübertragungen im Spiegel des gemeinen Rechts 213 2.2.2.8. Angabe von Siegler und Datum Die letzte Passage der Kaufbriefe beginnt mit der Wendung diß zo getzuge der warheit 84 vnd gantzer euffliger vaster stedicheit 85 . Seit den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts erscheint in den Urkunden die Formulierung in urkundt der warheitt 86 . Daraufhin folgt die Nennung der Schöffen 87 bzw. die Nennung des Vogtes und der Schöffen 88 in der 1. Person Plural bzw. in der 1. Person Singular und in der 1. Person Plural, die ihr siegele vmb beden wille [der Verkäufer] hyr unden an diesen brieff gehangen haben. Im Gegensatz zu den Augsburger Kaufbriefen werden in den Neusser Urkunden keine Zeugen aufgeführt. Alle Kaufbriefe schließen mit der Datumsangabe. 2.2.2.9. Zeitpunkt des Eigentumsüberganges Im Gegensatz zu den Augsburger Kaufbriefen wird in den Neusser Kaufbriefen ihre Übergabe vom Veräußerer an den Erwerber nicht erwähnt. Der Grund dafür ist wohl die Aufbewahrung der Neusser Kaufbriefe als schriftlicher Beweis für das Grundstücksgeschäft in Schreinen. 89 Die Frage nach dem Zeitpunkt des Eigentumsüberganges steht in direktem Zusammenhang mit der Frage der Qualifizierung der Schreinseintragung im Rahmen von Grundstücksübertragungen. Einen vielsagenden Anhaltspunkt hinsichtlich der Qualifizierung der Schreinseintragung als rein deklaratorischen oder konstitutiven Akt liefert die Entwicklung in der starken Einfluss auf Neuss ausübenden Stadt Köln, in der die Eintragung im 15. Jahrhundert konstitutiv wurde, also notwendig zum Eintritt des Rechtserwerbes. 90 Damit war der Zeitpunkt des Schreinseintrages oder der Schreinseinlegung auch der Zeitpunkt des Eigentumsüberganges. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Entwick- 84 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 19. Juli 1452; Urkunde vom 13. Februar 1561; Urkunde vom 10. April 1565. 85 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 7. September 1500; Urkunde vom 26. Januar 1543; Urkunde vom 14. Juli 1545; Urkunde vom 22. September 1548; Urkunde vom 1. Juli 1552; Urkunde vom 3. September 1556; Urkunde vom 12. Oktober 1565; Urkunde vom 7. März 1580. 86 StAN, Haupturkundenarchiv, Urkunde vom 23. Januar 1594; Urkunde vom 31. Oktober 1594; ähnlich in der Urkunde vom 2. April 1596; Urkunde vom 23. Juni 1598; Urkunde vom 22. Dezember 1598; Urkunde vom 27. Mai 1599; Urkunde vom 4. Oktober 1599. 87 Vgl. Gliederungspunkt 2.2.2.1. und die in diesem Zusammenhang in Fußnote 47 aufgeführten Urkunden. 88 Vgl. Gliederungspunkt 2.2.2.1. und die in diesem Zusammenhang in Fußnote 48 aufgeführten Urkunden. 89 Die Anlage von Schreinen in Neuss wurde von Köln aus beeinflusst, vgl. dazu T ONI D IEDE- RICH , Das Kölner Schreinswesen, in: T ONI D IEDERICH / A DOLF K LEIN / H ORST M ÜLLER / M AX T AUCH , Vom Recht im Rheinland, Köln 1969, 29-37, 29f. 90 D IEDERICH , Das Kölner Schreinswesen (wie Anm. 89), 29-37, 29f. Nicola Birk 214 lung in Neuss parallel verlief. Die Schreine können in diesem Zusammenhang als Vorgänger der Grundbücher qualifiziert werden. 3. Vergleich der Eigentumsübertragung an Grundstücken in der Reichsstadt Augsburg und der Territorialstadt Neuss Die Rechtsmaterie der Liegenschaftsübereignung wurde weder in der Reichsstadt Augsburg noch in der Territorialstadt Neuss in den jeweils einschlägigen Stadtrechten und Territorialrechten abschließend geregelt. Im Zuge der Auswertung der Kaufbriefe, die während des Untersuchungszeitraums von 200 Jahren eine bemerkenswerte Kontinuität in Aufbau und Formulierungen aufweisen, werden Bestandteile der Grundstücksübertragung und praktizierte Verfahrensweise deutlich. Der Einfluss des subsidiär zur Anwendung gelangenden, die Rechtslücken des lokalen Rechts schließenden gemeinen Rechts als übergreifende Struktur ist dabei unübersehbar. Unübersehbar sind auch die Gemeinsamkeiten der Kaufbriefe aus Augsburg und Neuss in formeller und materieller Hinsicht. Aufbau der Urkunden und Bestandteile des Übertragungsgeschäftes von Liegenschaften entsprechen sich weitestgehend, wenngleich natürlich zum Teil unterschiedliche Formulierungen dafür verwendet werden. Doch trotz der gemeinsamen Basis des gemeinen Rechts haben sich „kleine Strukturen“ in Form von juristisch sehr bedeutsamen lokalen und regionalen Besonderheiten aufrechterhalten und der Angleichung widersetzt. Eines der rechtlich folgenreichsten Beispiele hierfür ist der Zeitpunkt des Eigentumsüberganges einer Liegenschaft. Kleine Staaten - Große Architektur: Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert in Schwaben und Mittelfranken Markus Weis Kleine Strukturen: Ein Thema für die Landesgeschichte und die Denkmalpflege? Wann spielen Strukturen, besonders Mikrostrukturen, eine herausgehobene Rolle? Diesen zentralen Fragen geht der vorliegende Beitrag anhand regionalhistorischer Themen nach. Strukturanalyse war einmal die Methode einer formanalytisch ausgerichteten Kunstwissenschaft, 1 bevor Sozialgeschichte, 2 Funktion, 3 Bildwissenschaft und Iconic-turn 4 die Leitthemen setzten. In bestimmten anwendungsbezogenen Bereichen, wie sie die Denkmalpflege in der Denkmalforschung und in der Praxis interessieren, sind Strukturen immer ein wichtiges Thema geblieben. Man denke beispielsweise an die von Denkmalpflegern zusammen mit der Historischen Geographie in den letz- 1 Strukturanalytische Kunstgeschichte - den Begriff prägte Hans Sedlmayr schon in den frühen 1930er Jahren (H ANS S EDLMAYR , Zum Begriff der Strukturanalyse, in: Kritische Berichte zur kunstgeschichtlichen Literatur 32 [1931], 146-160) - hatte aus nachvollziehbaren Gründen ihre größte Bedeutung in der frühen Nachkriegszeit unter den Protagonisten Hans Jantzen und Hans Sedlmayr, paradigmatisch etwa bei H ANS J ANTZEN , Ottonische Kunst, München 1947, oder in Sedlmayrs Kathedralenbuch (H ANS S EDLMAYR , Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950); vgl. W ERNER H OFMANN , Fragen der Strukturanalyse, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 17 (1972), 143-169; N ORBERT S CHNEIDER , Hans Sedlmayr (1896-1984), in: H EINRICH D ILLY (Hrsg.), Altmeister moderner Kunstgeschichte, München 1999, 266-288; S ERGIUSZ M ICHALSKI , Strukturanalyse, Gestaltismus und die Kublersche Theorie: einige Bemerkungen zu ihrer Geschichte und Abgrenzung, in: L AJOS V AYER (Hrsg.), Problemi di metodo: condizioni di esistenza di una storia dell’arte, Bologna 1982, 69-77; W ILLIBALD S AUERLÄNDER , Die Raumanalyse in der wissenschaftlichen Arbeit Hans Jantzens, in: B ÄRBEL H AMACHER / C HRISTL K ARNAHM (Hrsg.), Pinxit, sculpsit, fecit, Festschrift für Bruno Bushart, München 1994, 361-369. 2 In der Nachfolge von A RNOLD H AUSER , Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1958 (engl.: The Social History of Art and Literature, 1951); vgl. E KKEHARD M AI , Kunst, Kunstwissenschaft und Soziologie. Zur Theorie und Methodendiskussion in Arnold Hausers „Soziologie der Kunst“, in: Das Kunstwerk 1 (1976), 3-10. 3 Etwa H ANS B ELTING , Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. 4 Die Diskussion zusammenfassend: C HRISTA M AAR / H UBERT B URDA (Hrsg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004; G OTTFRIED B OEHM , Was ist ein Bild? , München 1995. Markus Weis 216 ten Jahren entwickelten Instrumentarien 5 im Bereich der Dorferneuerung. 6 Aber auch in der Denkmalforschung gewinnen zunehmend andere Paradigmen die Oberhand. Ziel dieses Beitrags ist es, Strukturen aufzuzeigen, die manchmal versteckt, manchmal offensichtlich „Denkmalcharakter“ besitzen, ja gelegentlich erst die Denkmaleigenschaft konstituieren. Diesen Sachverhalt will ich am Beispiel des planmäßigen Bauens in kleinen Staaten des 18. Jahrhunderts thematisieren; als Denkmalpfleger sehe ich mich hier allüberall mit den Forschungsergebnissen der Historiker und Landeshistoriker konfrontiert. 7 5 Z. B. der Begriff des denkmalpflegerischen Erhebungsbogens: T HOMAS G UNZELMANN / M ANFRED M OSEL / G ERHARD O NGYERTH , Denkmalpflege und Dorferneuerung. Der Denkmalpflegerische Erhebungsbogen zur Dorferneuerung (Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege 93), München 1999; T HOMAS G UNZELMANN , Denkmalfachliches Anforderungsprofil: Denkmalpflegerischer Erhebungsbogen zur Dorferneuerung; http: / / thomas-gunzelmann.net/ wordpress/ wp-content/ uploads/ 2010/ 06/ denkmalfachliches- Anforderungsprofil-DEB.pdf (Zugriff am 28.2.2012); G ERHARD O NGYERTH , Der denkmalpflegerische Erhebungsbogen zur Dorferneuerungsplanung, Bearbeitungstechnik und methodische Anleitung, http: / / www.blfd.bayern.de/ medien/ bearbeitungstechnik.pdf (Zugriff am 28.2.2012). 6 T HOMAS G UNZELMANN , Inventarisation und räumliche Strukturen am Beispiel des Inventars Bamberg, in: B IRGIT F RANZ / G ABI D OLFF -B ONEKÄMPER (Hrsg.), Sozialer Raum und Denkmalinventar (Veröffentlichungen des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege 17), 36-44; DERS ., Stadtstruktur und Stadtbild in der Denkmalkunde: das Beispiel Bamberg, in: S IGRID B RANDT / H ANS -R UDOLF M EIER (Hrsg.), Stadtbild und Denkmalpflege, Berlin 2008, 218-231. 7 Zu nennen sind zuerst die zahlreichen einschlägigen Publikationen des Jubilars Pankraz Fried, insbesondere aber auch von Wolfgang Wüst; beide waren maßgeblich am erst kürzlich erschienenen Tagungsband: A NDREAS O TTO W EBER (Hrsg.), Städtische Normen - genormte Städte. Zur Planung und Regelhaftigkeit urbanen Lebens und regionaler Entwicklung zwischen Mittelalter und Neuzeit (Stadt in der Geschichte 34), Ostfildern 2009, beteiligt, etwa W OLFGANG W ÜST , Urbanes Planen in der Frühmoderne. Beispiele aus Süddeutschland, 97-130; DERS ., Fürstliche Stadtentwicklung in der frühen Neuzeit: Toleranz und Geometrie, in: W ERNER K. B LESSING / H EINRICH P EHLE (Hrsg.), Die Zukunftsfähigkeit der Stadt in Vergangenheit und Gegenwart. Ringvorlesung der Friedrich-Alexander-Universität zum eintausendjährigen Jubiläum Erlangens (Erlanger Forschungen, Sonderreihe, 10), Erlangen 2004, 35-72; DERS ., Fürstliche Stadtentwicklung in der Frühen Neuzeit: Toleranz und Geometrie. Das Beispiel Erlangen, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 82 (2002), 247-274. Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 217 1. Strukturen Beginnen wir mit einer kleinen Residenzstadt des 18. Jahrhunderts: Immenstadt im Allgäu. 8 Eine Ansicht aus dem Jahr 1800 (Abb. 1) zeigt das Ortsbild kurz vor der Säkularisation und vor den großen Stadtbränden des 19. Jahrhunderts, vor den Veränderungen der Industrialisierung und bevor die großen Verkehrsbauten der Eisenbahn errichtet wurden. 9 Das Stadtbild gibt nur mit Mühe zu erkennen, dass dieser Ort eine kleine Residenzstadt ist, das Zentrum der Grafschaft Königsegg-Rothenfels. Abb. 1: Immenstadt im Allgäu, Ansicht von Julius Müller aus dem Jahr 1800 (Immenstadt, Heimatmuseum Hofmühle Immenstadt, nach Rudolf Vogel (Hrsg.) Immenstadt im Allgäu, 1996, 273) 8 Die Darstellung folgt der grundlegenden Ortschronik von R UDOLF V OGEL (Hrsg.), Immenstadt im Allgäu. Landschaft, Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, kulturelles und religiöses Leben im Lauf der Jahrhunderte. Immenstadt im Allgäu 1996; M ICHAEL P ETZET , Landkreis Sonthofen (Die Kunstdenkmäler von Schwaben, VIII), München 1964, 407-473. 9 Ansicht von Julius Müller signiert und datiert 1800, Heimatmuseum Hofmühle Immenstadt, V OGEL , Immenstadt im Allgäu (wie Anm. 8), 213. Markus Weis 218 Abb. 2: Immenstadt im Allgäu, Katasterplan bearbeitet von Rudolf Vogel, herrschaftliche Bauten der Residenz rot gekennzeichnet (nach Rudolf Vogel (Hrsg.), Immenstadt im Allgäu, 1996, 213) Klarer erkennt man die Strukturen, wenn man einen Katasterplan (Abb. 2) 10 betrachtet, in dem die Bauten hervorgehoben sind, die unmittelbar zur Ortsherrschaft gehörten. Im Ortszentrum besetzen sie markante Punkte, zusammenhängende Be- 10 Der Katasterplan bearbeitet von Rudolf Vogel in V OGEL , Immenstadt im Allgäu (wie Anm 8), 213. Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 219 reiche der Kernstadt sind Herrschaftsbauten und erkennbar geordnete Strukturen im ortsnahen Umfeld sind der Hofgarten (im Osten) und das Kloster mit einem Klostergarten (ebenfalls im Osten). Der Gebäudebestand der allmählich gewachsenen kleinen Residenzstadt umfasst: 1. Das Stadtschloss am Marienplatz, um 1550 wohl als Amtshaus noch unter der Herrschaft der Linie von Montfort-Rothenfels erbaut und um 1600 durch Georg Freiherr zu Königsegg zum Schloss erweitert. Der Südflügel wurde Ende des 17. Jahrhunderts, der Westflügel 1746 errichtet. Von der Vierflügelanlage wurde 1973 der Westflügel abgebrochen. 2. Die gräfliche Kanzlei (Bahnhofstraße 11), nach Brand 1679 errichtet. Sie war Zollstätte und herrschaftliches Archiv sowie die Wohnung des Kanzleiverwalters. 1805 gelangte das Gebäude in bayerischen Staatsbesitz, ein Jahr später wurde es veräußert. Bis 1819 wohnte hier auch Maximilian Graf zu Königsegg-Rothenfels, ein Bruder des letzten regierenden Grafen Franz Fidelis. 3. Reitschule 4. Rentamt 5. Der ehemalige gräfliche Marstall, erbaut im 18. Jahrhundert. Es handelt sich um ein langgestrecktes Gebäude, das früher für die Schlossökonomie genutzt wurde. Später waren dort Stall- und Lagerräume privater Brauereien untergebracht, bis das Gebäude umgenutzt und 1996 als Wohn- und Geschäftshaus ausgebaut wurde. An der Südseite ist in die Wand ein Königsegger Wappenschild eingelassen. 6. Küferhaus 7. Brauerei (völlig verändert) 8. Zimmerstadel. Ein unscheinbares Gebäude in der Bräuhausgasse, die ehemalige Reitschule, verdient nähere Betrachtung. Bis vor kurzem war es ein heruntergekommenes, kaum genutztes Wirtschaftsgebäude, an dem man äußerlich nur noch am Fachwerkgiebel die Reste seiner historischen Substanz erkennen konnte. Die Reitschule errichtete 1774 Christian Moriz zu Königsegg-Rothenfels über vorhandenen Bierkellern. Mit dem Ende der Grafschaft Königsegg-Rothenfels gelangte das Gebäude zunächst in österreichischen, dann in bayerischen Staatsbesitz. 1807 wurde es an Franz Anton Höß verkauft, der es viele Jahre den Immenstädter Laienschauspielern als Theater überließ. Nach 1895 im Besitz der Familie Kaiser (Kaiserbräu) erwarb es 1990 die Stadt Immenstadt. In den Jahren 2006-2008 wurde das Gebäude aufwändig saniert; es beherbergt heute die Stadtbücherei und ist als Literaturhaus Allgäu zu einem überregionalen kulturellen Mittelpunkt geworden. 11 11 K LAUS D AHM , Literaturhaus Immenstadt, in: Bibliotheksforum Bayern, Heft 03 (2009), 53f. Markus Weis 220 Vor der Instandsetzung war die Denkmaleigenschaft der Reitschule nicht erkannt worden, weil bei der Erarbeitung der Denkmalliste die Struktur der herrschaftlichen Bauten nicht gesehen wurde. Nur die Substanz des Gebäudes, auch die historische Substanz (die allerdings auch nicht genügend in ihrer Bedeutung gewürdigt wurde), hätte eine Bewertung als Baudenkmal nicht rechtfertigen können. Es gibt nur wenige Denkmäler und Denkmalensembles, bei denen Strukturen die Dominante an sich sind. Sieht man die Struktur des Rodungsdorfs Rechbergreuthen aus der Luft, erkennt man: das Denkmal ist hier die Struktur und nicht das einzelne Objekt, auch nicht die Summe der Gebäude, die das Denkmalensemble umfasst (Abb. 3a, b). 12 Maßgebend für die Gründung von Rechbergreuthen 13 waren als Grundherren die Marschälle von Pappenheim. Bereits um 1250 wurden durch die Pappenheimer Rodungssiedlungen auf den Höhenrücken des fränkischen Jura bei Pappenheim (Altmühltal) in Auftrag gegeben, die der Anlage unserer Rodungssiedlungen entsprechen. Erstmals wurde Rechbergreuthen, damals Ruetin, am 22.2.1346 in einer Urkunde des Klosters Fultenbach erwähnt. Von Nord nach Süd wurde die ca. 60 m breite Hauptachse des neuen Ortes gerodet, hier wurde der Anger angelegt, dann wurden im Westen zehn und im Osten elf Höfe mit ungefähr 45 m Breite und 110 m Tiefe angelegt. Die weitere Rodung erfolgte nun in einer Länge bis über einen Kilometer. 12 In mehreren Aufsätzen hat Tilmann Breuer hier die maßgebliche theoretische Fundierung geschaffen. So führt er aus, dass Träger einer, die geschichtliche Bedeutung eines Ensembledenkmals konstituierenden Denkmaleigenschaft „nicht nur und nicht einmal in erster Linie die verschieden Facetten seines Bildes sind, sondern seine Struktur, d. h. die Zusammenordnung seiner Elemente …“ T ILMANN B REUER , Denkmal, Ensemble, Geschichtslandschaft. Gedanken zur Struktur des modernen Denkmalbegriffs, entwickelt am Beispiel Lindaus, in: Ars Bavarica, 23/ 24 (1981), München 1981, 1-12, hier 7; DERS ., Ensemble, ein Begriff gegenwärtiger Denkmalkunde und die Hypotheken seines Ursprungs, in: G EORG M ÖRSCH / R ICHARD S TROBEL (Hrsg.), Die Denkmalpflege als Plage und Frage (Festschrift August Gebeßler), München 1989, 38-52; ders., Denkmalkunde. Was ist schützenswert und warum? Vom Kunstdenkmal zum Kulturdenkmal, in: H ANS P ETER A UTENRIETH / V OLKER H OFF- MANN (Hrsg.), Denkmalpflege heute (Akten des Berner Denkmalpflegekongresses), Oktober 1993, Bern 1996, 13-37; vgl. T HOMAS G UNZELMANN , Denkmallandschaft und Kulturland- schaft - die Landschaft in der Denkmalpflege (2007) http: / / thomas-gunzelmann.net/ dateien/ Vilm.pdf (Zugriff am 28.2.2012). 13 Zur Thematik grundlegend: K LAUS F EHN , Siedlungsgeschichtliche Grundlagen der Herrschafts- und Gesellschaftsentwicklung in Mittelschwaben: aufgezeigt am Beispiel der spätmittelalterlichen Rodungssiedlungen (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte 1), Augsburg 1966; F RIEDRICH E IGLER , Die Entwicklung von Plansiedlungen auf der südlichen Frankenalb (Studien zur Bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 6), München 1975. Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 221 Abb. 3a: Rechbergreuthen, Gde. Winterbach, Lkr. Günzburg, Luftbild (Bayerische Vermessungsverwaltung 2011) Abb. 3b: Rechbergreuthen, Gde. Winterbach, Lkr. Günzburg, Luftbild mit Kartierung des Denkmalensembles (Bayerische Vermessungsverwaltung 2011) Markus Weis 222 Schon in der Geographische(n) und Topographische(n) Beschreibung der Reichs- Gefürsteten Markgrafschaft Burgau von Johann Lambert Kolleffel 14 aus der Mitte des 18. Jahrhunderts wird die Anlage des Rodungsdorfs als historische Besonderheit gewürdigt (Abb. 4). Das Dorf hat sein kennzeichnendes Ortsbild unverändert erhalten und ist noch heute ein herausragendes Geschichtszeugnis, wenngleich kaum Einzelbaudenkmäler zu verzeichnen sind. Neben dem Pfarrhaus und einem Gasthaus sind nur zwei weitere Bauernhäuser als Einzeldenkmäler in die Denkmalliste 15 eingetragen. Die Struktur ist hier das maßgebliche Kriterium für den Denkmalwert. 16 Mittelschwäbische Rodungssiedlung aus dem 14. Jh., planmäßig angelegt als Angerdorf. Der Name weist auf die Marschälle von Rechberg, in deren Auftrag hier um 1300 in einem großen Waldgebiet gerodet wurde. Streifenförmig zu Seiten des Angers sind die Flurstücke angeordnet, in denen die giebelseitig mit gleicher Firstrichtung dem Anger zugekehrten, oft noch eingeschossigen Bauernhäuser liegen. Die Kirche steht inmitten des Dorfs auf dem Anger. 17 (Abb. 3b) Innerhalb der Fachdiskussion der Denkmalpflege ist festzustellen, dass gegenwärtig die Position, historische Strukturen als konstituierende Elemente einer im Sinne Tilmann Breuers definierten Denkmaleigenschaft zu erkennen und zu werten, immer mehr in den Hintergrund gerät und von einer vorrangigen Bewertung historischer Substanz am einzelnen Objekt und im Denkmalensemble verdrängt wird. 18 So wird ernsthaft in Erwägung gezogen, einige der Pappenheimer „Verwandten“, die Ro- 14 R OBERT P FAUD (Hrsg.), J OHANN L AMBERT K OLLEFFEL , Schwäbische Städte und Dörfer um 1750, Geographische und Topographische Beschreibung der Markgrafschaft Burgau 1749- 1753, Weißenhorn 1974, 173. 15 http: / / geodaten.bayern.de/ denkmal_static_data/ externe_denkmalliste/ pdf/ denkmalliste_ merge_774196.pdf (Zugriff am 30.5.2012). 16 Im Sinne Breuers, vgl. oben Anm. 12. 17 Text des Eintrags als Ensemble in der bayerischen Denkmalliste, zitiert nach http: / / geoda ten.bayern.de/ denkmal_static_data/ externe_denkmalliste/ pdf/ denkmalliste_merge_774196. pdf (Zugriff am 30.5.2012). 18 I RMHILD H ECKMANN / M ARKUS U LLRICH , Projekt „Nachqualifizierung und Revision der Bayerischen Denkmalliste“. Ein Zwischenbericht, in: Denkmalpflege Informationen, Nr. 150 (2011), 26-30. Abb. 4: Joh. Lambert Kolleffel, Ansicht von Rechbergreuthen, um 1750 (Joh. Lambert Kolleffel, (hrsg. Robert Pfaud) Geographische und Topographische Beschreibung der Reichs-Gefürsteten Marggrafschaft Burgau, Weißenhorn 1974, S. 173) Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 223 dungsdörfer im mittelfränkischen Jura, als Ensemble aus der Denkmalliste zu streichen, weil in den letzten Jahren die Substanz der Gebäude häufig verändert und zum Teil ausgetauscht wurde. Hier stellt sich die Frage: Was ist wichtiger: Substanz oder Struktur? Möglicherweise wird der substanzgläubige, um nicht zu sagen „substanzfetischistische“ Denkmalpfleger 19 zu einem anderen Urteil gelangen als der Historiker! 2. Bautypen An einer speziellen Bauaufgabe möchte ich in einem kleinen Exkurs zeigen, wie es im 18. Jahrhundert zu einer Typenbildung und Vereinheitlichung von Bauformen kommt. Verwaltungsgebäude, Kanzleien, Amtshäuser, Kellereien, Zehntscheunen, meist aber auch Pfarrhöfe zu errichten, ist im 18. Jahrhundert eine der kennzeichnenden Bauaufgaben der jeweiligen Grundherrschaft. Häufig zeigt sich an diesen Bauten ein Anspruch, sie aus der Masse der übrigen Gebäude herauszuheben, sie durch Gestaltung und Architektursprache zu einem Bedeutungsträger, sie zu einem Identifikationsmerkmal für den Auftraggeber, für die jeweilige Herrschaft werden zu lassen. Solche Bauaufgaben können veranschaulichen, wie sich (Verwaltungs-)Strukturen abbilden, wie sich Herrschaftsverhältnisse in den Ortsbildern manifestieren. Ein Musterentwurf für Pfarrhöfe aus dem Baubüro von Balthasar Neumann für das Hochstift Würzburg beleuchtet einen weiteren Aspekt, nämlich wie sich Strukturen einer Bauverwaltung etablieren, die Typisierungen in der Architektursprache begünstigen (Abb. 5). 20 Beispiele derartiger Musterpfarrhöfe gibt es nicht nur im Würzburger Einflussbereich Balthasar Neumanns, sondern auch in allen anderen südwestdeutschen geistlichen Staaten, von Trier über Speyer, 21 Fulda, Bamberg, bis in die Kleinterritorien des schwäbischen Raums. 19 Substanz in der Fachterminologie der Denkmalpflege im Sinne von erhaltenem, materiell überliefertem (historischen) Bestand, etwa. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Bausubstanz (Zugriff 28.02.2012); M ARKUS W EIS , Substanz, in: V EREINIGUNG DER L ANDESDENKMALPFLE- GER (Hrsg.), Handbuch städtebauliche Denkmalpflege (Berichte zu Forschung und Praxis der Denkmalpflege in Deutschland 17) Petersberg 2013, 402f.; R OLAND S CHNEIDER , Substanzfetischismus oder Rekonstruktionslust, in: Brandenburgische Denkmalpflege 15 (2006), 52-63. 20 G OTTFRIED M ÄLZER , Balthasar Neumann und sein Kreis. Stiche, Pläne und Zeichnungen in der Universitätsbibliothek Würzburg, Würzburg 1987, 15; M AX VON F REEDEN , Balthasar Neumann als Stadtbaumeister (Kunstwissenschaftliche Studien 20), Berlin 1937, 41. 21 M ARKUS W EIS , Der Bruchsaler Hofarchitekt Johann Leonhard Stahl (1729-1774) und die Bautätigkeit im Fürstbistum Speyer unter Franz Christoph von Hutten (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 67), Mainz 1993, 236-238. Markus Weis 224 Abb. 5: Balthasar Neumann, Musterentwürfe für Pfarrhöfe (Universitätsbibliothek Würzburg, Archiv des Verfassers) Auffallend bleibt die Tatsache, dass der bevorzugte Typus des Pfarrhofs seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein frei stehender Walmdach- oder Mansarddach-Bau ist, fast immer von Lisenen gegliedert und mit bescheidenen, jedoch konsequent eingesetzten Mitteln der „klassischen“ Ordnungsarchitektur instrumentiert. Zwei benachbarte Pfarrhöfe, heute beide zur politischen Gemeinde Winterbach gehörig, der Pfarrhof von Waldkirch und der von Winterbach, wurden von unterschiedlichen Grundherrschaften errichtet. Der schlichte Pfarrhof des späten 17. Jahrhunderts von Waldkirch erhielt nachträglich im 18. Jahrhundert eine reiche Fassadendekoration, während der Winterbacher, stiftkemptische von Anfang an sparsam, aber qualitätvoll verziert und mit hochwertigen Ausbaudetails ausgestattet worden ist. Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 225 Anhand zahlreicher weiterer Beispiele ließe sich die These entwickeln, dass sich die offizielle Architektur der Grundherrschaften im 18. Jahrhundert durch Struktur und Regelhaftigkeit von der übrigen Masse des Gebauten abhebt und unterscheidet. 22 3. Idealplanungen Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts zählen die Erlanger Neustadt 23 zu den schönsten Städten in deutschen Landen. Erlangen wird nicht nur wegen 23 seiner regelmäßigen Stadtanlage, sondern auch auf Grund der Bauweise der Häuser gerühmt: Erlang ist ein schön gebautes Städtchen, das beim ersten Anblick wohl gefällt. … Die gewöhnlichen Häuser sind zwei, die Eckhäuser aber drey Stock hoch. Dies gibt der Stadt viele Vorteile. Außerdem schönen Anblick, den es gewährt, geben die niedern Gebäude und die ziemlich breiten Straßen der Luft freien Durchzug“. 24 22 Mehrere Erklärungsmodelle bieten sich an. Die Normierung von Bauten und einheitliche Typisierung von Bauaufgaben setzen die Existenz einer Bauorganisation voraus. Tatsächlich entstehen in vielen Kleinstaaten nach dem Vorbild großer Herrschaften in der Mitte des 18. Jahrhunderts mehr oder weniger straff organisierte Bauämter und Bauverwaltungen, die die Umsetzung von regelhaften Musterentwürfen für bestimmte Bauaufgaben begünstigen. Ein wesentlicher Grund könnte dabei der Versuch nach Steigerung der Effizienz im Bauen und Kostensenkung gewesen sein. Anderseits darf der Effekt einer erwünschten Harmonisierung des Erscheinungsbilds herrschaftlicher Bauten im Sinne einer ‚corporate identity‘ nicht zu gering bewertet werden. Soweit ich sehe, fehlen bisher zusammenhängende Darstellungen zu dieser Thematik. 23 Im Folgenden stütze ich mich vor allem auf die Arbeiten von Andreas Jakob, der seit 1986 immer wieder dazu publiziert und die Schriftquellen ausgewertet hat, sowie auf Wolfgang Wüst u. a. Zahlreiche Hinweise und wertvolles Bildmaterial verdanke ich der freundlichen Hilfe meines Kollegen Thomas Wenderoth. Grundlegend: A NDREAS J AKOB , Die Neustadt Erlangen. Planung und Entstehung (Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 33/ Sonderband), Erlangen 1986; DERS ., Planstadt Erlangen. Die Baugeschichte der Erlanger Neustadt, in: C HRISTOPH F RIEDERICH (Hrsg.), 300 Jahre Hugenottenstadt Erlangen. Vom Nutzen der Toleranz, Ausstellung im Stadtmuseum Erlangen 1. Juni bis 23. November 1986, Nürnberg 1986, 193-203; DERS ., Zur Planung und Entstehung der Neustadt Erlangen. Die Bedeutung von Hanau und Mannheim als Vorbilder, in: Erlanger Bausteine zur Fränkischen Heimatforschung 37 (1989), 185-205; DERS ., Die Legende von den Hugenottenstädten. Deutsche Planstädte im 16. und 17. Jahrhundert, in: M ICHAEL M AASS / K LAUS W. B ERGER (Hrsg.), „Klar und lichtvoll wie eine Regel“. Planstädte der Neuzeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Karlsruhe 1990, 181-198; DERS ., Erlangen im 18. Jahrhundert, München 2012; W OLFGANG W ÜST , Fürstliche Stadtentwicklung in der frühen Neuzeit: Toleranz und Geometrie; das Beispiel Erlangen, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 82 (2002), 247-274; aus der älteren Literatur: F RIEDRICH S CHMIDT , Die Entstehung der Neustadt Erlangen, Erlangen 1913. 24 G EORG F RIEDRICH R EBMANN , Briefe über Erlangen, Frankfurt / Leipzig 1792, 14f. (zitiert nach J AKOB , Neustadt Erlangen [wie Anm. 23], 2). Markus Weis 226 Die Stadtanlage Erlangens ist immer wieder von Architekten und Bauhistorikern als eines der Kardinalbeispiele des Städtebaus thematisiert worden, z. B. auch im Rahmen einer Ausstellung mit dem Titel „Klar und lichtvoll wie eine Regel. Planstädte der Neuzeit“ 25 , weswegen ich hier nicht das breit abgehandelte Thema der Stadtplanung an sich in den Vordergrund rücken möchte, sondern mich auf spezielle Aspekte der Gebäude als Bestandteil einer Struktur in den strengen Vorgaben der Stadtgestalt beschränke. Die Neustadt Christians Erlang(en) ist eine Gründung des Landesherrn, des Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 hugenottischen Flüchtlingen Zuflucht und das Recht auf Ansiedlung bieten sollte. Erlangen war aber auch, spätestens seit der Zeit um 1700, als eine neue Residenz konzipiert. Dies dokumentiert auch der 1701 von Christian Ernst signierte und approbierte Stadtplan. 26 Die regelmäßige Residenzstadt ist auch ein Ausdruck dessen, was im Sinne eines gut geleiteten Staatswesens als geordnet verstanden werden kann. Diese Leitidee kann die Gegenüberstellung von alten Teutschen und jetzige Teutsche, also von altem und neuem Adel und ihrem zugehörigen architektonischen „Background“ im Titelkupfer von Julius Bernhard von Rohrs „Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft“ von 1728 veranschaulichen. Auf der einen Seite erkennt man zwei steife Herren in der spanischen Hoftracht, dahinter ungeordnete spätmittelalterliche Häuser, daneben zwei nach der neuesten Mode gekleidete Höflinge, einander zugewandt, die Regeln des Zeremoniells beachtend, durch Gestus im Rangverhältnis eindeutig abgestuft: dahinter eine geregelte, planmäßige Stadtarchitektur (Abb. 6). 27 Der älteste erhaltene Entwurf der Erlanger Neustadt, eine zart rötlich lavierte Federzeichnung von 1686, wird dem markgräflichen Oberbaumeister Johann Moritz Richter (1647-1705) 28 zugeschrieben (Abb. 7). 29 Die Neustadt wurde unmit- 25 Ausstellungskatalog: Klar und lichtvoll wie eine Regel. Planstädte der Neuzeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Karlsruhe 1995. 26 Kolorierte Federzeichnung, Staatsarchiv Bamberg, Plan der Neustadt von Erlangen, signiert von Christian Ernst in Himmelkron am 30. Mai 1701. Der Autor des Plans ist unbekannt. J AKOB , Neustadt Erlangen (wie Anm. 23), 70f. 27 J ULIUS B ERNHARD VON R OHR , Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat- Personen. Berlin 1728; jetzt auch G OTTHARD F RÜHSORGE (Hrsg.), Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin 1728, Leipzig/ Weinheim 1990 (mit Kommentar). Zu dem Titelkupfer vgl. H UBERT C. E HALT , Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft: der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 14), München 1980, hier 85, 86. 28 H ANS H EINRICH H AUBACH , Die weimarische Künstlerfamilie Richter, in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 69 (1921), 112- 115. 29 Federzeichnung, schwach koloriert, undatiert, unsigniert, Staatsarchiv Bamberg. Auf Grund der Quellenlage dem aus Thüringen stammenden Architekten Johann Moritz Richter zuzu- Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 227 Abb. 6: Frontispiz aus Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft, Berlin 1728 telbar südlich des bisherigen Ortes Erlangen planmäßig angelegt. Johann Moritz Richter entwarf sie nach den Gesichtspunkten einer idealen barocken Planstadt 30 für etwa 7.500 Familien samt Manufakturen und einer eigenen Kirche. Der Entwurf sah einen rechteckigen Grundriss symmetrisch zur Hauptstraße sowie zwei große Plätze vor. Der Bau begann symbolträchtig am 14. Juli 1686 mit dem temple, der Kirche für die Hugenotten. Schon im ersten Jahr wurden etwa 50 der geplanten 200 Häuser fertiggestellt. Da der Zuzug der Hugenotten nicht den Erwartungen entsprach, stagnierte der weitere Ausbau jedoch und erhielt erst 1700 durch den Beschluss, ein markgräfliches Schloss mit zugehörigem Park und Nebengebäuden zu schreiben und auf das Jahr 1686 zu datieren, J AKOB , Neustadt Erlangen (wie Anm. 23), 24- 27. 30 Die Diskussion über den Charakter der „idealen“ Stadt, die möglichen utopischen Vorbilder und ihrer Ikonologie kann hier nicht verfolgt werden. Die christlich „zentrierte“ Utopie des württembergischen Theologen Johann Valentin Andreae zeigt schon 1629 eine zentralisierte Idealstadt. W ÜST , Planstädte der Neuzeit (wie Anm. 23); E VA -M ARIA S ENG , Stadt - Idee und Planung, München / Berlin 2003, 155-184. Markus Weis 228 Abb. 7: Johann Moritz Richter zugeschrieben, Planmäßige Anlage der Stadt Erlangen, 1686 (Staatsarchiv Bamberg) (Vorlage: http: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Schlossplatz_ Erlangen3.jpg? uselang=de) errichten, neue Impulse. 1706 vernichtete ein Großbrand fast das gesamte ursprüngliche Erlangen, nun Altstadt genannt. Damit ergab sich die Gelegenheit, den barocken Entwurf der Neustadt auf die Altstadt auszudehnen und somit ein einheitliches städtebauliches Gesamtkonzept 31 zu schaffen. Mitte des 18. Jahrhunderts war dieses im Wesentlichen abgeschlossen. Im Erlanger Stadtbild hat sich an einer Stelle die Struktur der auf Johann Moritz Richter zurückgehenden Anlage in reiner Form erhalten. Im Norden der jetzigen Goethestraße erkennt man im Blick zum sog. Richterschen Eck noch heute die modellhafte Lösung, die den Entwurf von 1686 kennzeichnet. Die Westseite der Straße wurde 1688 mit langgestreckten zweigeschossigen Mietshäusern zu je sieben Fensterachsen bebaut (Abb. 8). Die gleichmäßigen, langgestreckten Fassaden mit 31 Die elementaren strukturellen Prinzipien sind: Rechteckige Stadtform, rechtwinkliges, gleichmäßiges, rasterhaftes Straßensystem, zentrale, symmetrische Hauptachse. Vergleichbar mit Erlangen ist auch das nicht realisierte Konzept für eine Hugenottenstadt Ansbach Eigentlicher Grund-Riß und Abmessung der neuen Auslag an die Hoch =Fürstliche Residenz-Statt Onolzbach, Kupferstich Staatsarchiv Nürnberg von Georg Andreas Böckler 1886, ein Projekt, das im Auftrag des Ansbacher Markgrafen Johann Friedrich, einem Vetter des Markgrafen Christian Ernst, von dem Architekten Böckler (in einer Architektursprache, die sehr viel stärker an Vorbildern des 17. Jahrhunderts orientiert war) entwickelt, aber nicht realisiert wurde. Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 229 einer regelmäßigen Reihung gleichartiger Fensterachsen verleihen dem Straßenbild Weite und vermitteln einen Eindruck von Großzügigkeit. Das einzelne Haus tritt zugunsten der geschlossenen Gesamtansicht zurück und verliert seine Individualität. Die Gleichartigkeit der Häuserzeilen wird durch den Verzicht auf jegliche Schmuckformen und die Verwendung glattgeputzter Architekturoberflächen hervorgehoben. Aufwändiger war die Gestaltung entlang der Grande Rue geplant und ausgeführt. Der Bestand der Häuser geht auf das Stadtgründungsjahr 1686 zurück. Die Schriftquellen bestätigen, dass die Häuser an der Hauptstraße und auf der West- und Südseite des Hauptplatzes dreigeschossig gedacht waren. Von dieser Planung wurden jedoch nur die dreigeschossigen Eckhäuser verwirklicht. Die Eckhäuser und die jeweils betonten Mittelbauten sollten aufgrund größerer Geschosshöhen die übrigen Bauten um ca. einen Meter überragen. Die Eckbetonung bildet ein durchgängiges Grundprinzip der Stadtanlage, das noch dadurch gesteigert wird, dass die Eckhäuser mit ihren Fassaden um etwa einen halben Meter aus der Straßenflucht herausspringen. Der Stadtplan von Johann Baptist Hohmann aus dem Jahr 1721 (Abb. 9) dokumentiert die spätere Ausdehnung und Erweiterung der Stadt nach Osten und die barocke Überformung der nördlich angrenzenden Altstadt, die nach einem Brand 1706 den regelhaften Gestaltungsprinzipien der Neustadt unterworfen wurde. Die Randdarstellungen mit verschiedenen Stadtansichten, insbesondere aber die Hauptperspektive vor dem Schloss illustrieren die oben genannten Prinzipien der Stadtanlage. Vom Schloss ausgehend entstand in der Erweiterung der Stadt zusätzlich zur Nord-Südachse der Grande Rue eine neue Ost-Westachse, mit dem großen, seit 1713 angelegten Schlossgarten in der Mitte. Der Schlossbezirk erhält eine dominante Stellung im Stadtgefüge. Weil der Hauptplatz vor dem Schloss bereits festgelegt ist, wird nun die Gartenseite in repräsentativem Anspruch in Form eines Ehrenhofes gestaltet. Die Hauptansichten wurden dank des Stichwerks von Paul Decker, „Der fürstliche Baumeister“ 1712, 32 zu einem der bekanntesten und stark rezipierten 32 P AUL D ECKER , Fürstlicher Baumeister / oder Architectura Civilis, Augsburg 1711, 1713 (Anhang) 1716 (2. Teil), Nachdruck H ANS F ORAMITTI (Hrsg.), Paul Decker: Fürstlicher Baumeister. Faksimile der Ausgabe von 1711-1716, Hildesheim 1978; B ARBARA K UTSCHER , Abb. 8: Erlangen Richersches Eck, Goethestraße Blick nach Nordwesten (Photo Thomas Wenderoth) Markus Weis 230 Abb. 9: Erlangen Stadtplan von Johann Baptist Hohmann 1721 Vorbilder barocker Schlossarchitektur des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Der Ausbau zur (Neben-) Residenz ist damit vollendet; in Erlangen lassen sich Adel und Bürger nieder, es entstehen - zögerlicher als erwünscht - Stadtpalais und große Bürgerhäuser; gänzlich andere Bautypen folgen in den Randbereichen, in denen gleichwohl regelhaft gestaltete einfache Handwerkerhäuser und Kleinhäuser entstehen. 4. Idealstraßen süddeutscher Kleinresidenzen Kleine Häuser, die dennoch den Eindruck großer Architekturen erwecken wollen, findet man auffallend häufig in den kleineren Residenzen Süddeutschlands. Die regelmäßige Reihe niedriger, eingeschossiger Beamtenhäuser der Residenzstadt Wallerstein 33 kennzeichnet ihre klare Gliederung: fünf Fensterachsen, Mittelachse betont, mit großen Mansardwalmdächern, erbaut in den Jahren nach 1780. Paul Decker „Fürstlicher Baumeister“ (1711/ 1716): Untersuchungen zu Bedingungen und Quellen eines Stichwerks, Frankfurt a. M. 1995; B ERNHARD R UPPRECHT , Das Erlanger Schloß in den Darstellungen Paul Deckers d. Ä. im „Fürstlichen Baumeister“, in: K ARL M Ö- SENEDER / G OSBERT S CHÜSSLER (Hrsg.), Bedeutung in Bildern (Festschrift Jörg Traeger), Regensburg 2002, 255-271. 33 L UDWIG B RUTSCHER , Wallerstein. Markt und Residenz. Beiträge zur Orts- und Grafschaftsgeschichte, Markt Wallerstein 1996. Zitat aus der Denkmalliste: „Aus dem Ende des 18. Jh. stammen die regelmäßigen Straßenanlagen, in ihrer Bebauung zumeist darauf ausgerichtet, die Wohnungen der Beamten bereitzustellen, die bei Hofe dienten. Der vormals als Vorstadt Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 231 Oberdischingen im Alb-Donaukreis, Baden-Württemberg, ist das Muster einer noch bescheidener dimensionierten Kleinresidenz. An den gewachsenen Dorfkern schließt sich im Osten der Residenzbezirk an. Der kleine, aber idealtypische Zuschnitt der Residenz ist das Werk der Ortsherrschaft, des Grafen Franz Ludwig Schenk von Castell. 34 Die Herrengasse, ein sich verjüngender Straßenzug, der eine beinahe guckkasten-perspektivische Wirkung hervorruft, besteht aus beiderseits fünf zweigeschossigen Häusern mit Mansarddächern. Am Beginn des Straßenzugs befinden sich jeweils herausgehobene größere Kopfbauten, die zusätzlich durch Portale betont sind: Auf der einen Straßenseite das Gasthaus, auf der gegenüberliegenden die Apotheke. 35 bezeichnete östliche Teil der ehem. Marktgasse, jetzt Hauptstraße, ist beidseitig in gerader Reihung mit zweigeschossigen, fünf bis sieben Achsen breiten traufseitig stehenden Doppelhäusern bebaut, die zum steilen Walmdach oder Mansard-Walmdach auch das für den Ort typische Türgerüst aufweisen: den rund- oder korbbogigen Eingang mit Kämpfer- und Scheitelsteinen aus Stein. Die einfach verputzten Wohnhäuser besitzen fast ausnahmslos noch Fensterläden. Überleitend zum Ostanfang der Marktgasse an einer platzartigen Erweiterung und mit der Nordfront zur Straße der sog. Sechsherrenbau - der Name erklärt sich aus der aus sechs Personen bestehenden Baugenossenschaft -, ein repräsentativer zweigeschossiger Bau mit vier Fenstern in der Hauptfront und einem dreigeschossigen Mittelrisalit zu vier Achsen. Die südliche Seite der Weinstraße zeigt in ihrer Bebauung ebenso den Beamtenhaustyp, durchgängig mit Mansard-Walmdächern und z. T. noch mit Freitreppen. Der steil ansteigende Straßenzug wird im Nordwesten vom Diemantsteinschen Haus beherrscht, einem großzügigen und weitläufigen Wirtschaftshof einer Weinniederlassung mit repräsentativem hohen Mittelbau mit Mittelrisalit unter Dreiecksgiebel, erbaut 1788. Beamtenhäuser finden sich auch in der Oberen und Unteren Bergstraße. Den beschriebenen Haustyp in erdgeschossiger Ausprägung zeigt die beidseitig reihenhausartig bebaute Sperlingstraße. In der Herrenstraße treten repräsentative klassizistische Traufseitbauten gemischt auf mit mehr ländlichen giebelseitig stehenden Bauten. Charakteristisch für den Ort ist die dominierende gelbtonige Putzfarbgebung sämtlicher dem Schlosskomplex zugeordneter Architektur, ergänzt vom typischen Rot der Dachlandschaften und Grün der Fensterläden bei den Profanbauten. Als Prototyp einer ländlichen Residenz, geprägt von barocken, klassizistischen bis biedermeierlichen Stilelementen ist Wallerstein ein Ensemble von besonderer Rarität.“ http: / / geodaten.bayern.de/ denkmal_static_data/ externe_denkmalliste/ pdf/ denkmalliste_mer ge_779224.pdf (Zugriff am 30.05.2013). 34 Die Freiherren von Castell, nicht verwandt mit dem gleichnamigen fränkischen Fürstengeschlecht, stammen aus dem oberschwäbischen Bodenseeraum Gottlieben, erwarben 1661 den Ort Oberdischingen. Franz Ludwig Schenk von Castell wurde 1736 in Oberdischingen geboren und trat 1764 die Herrschaft in Oberdischingen an. 35 Am Ende der Herrengasse folgt der Schlossplatz, südlich der Hauptachse die katholische Pfarrkirche (klassizistischer Kuppelbau als kleine Pantheonkopie um 1800) und daneben stand das Schloss, das jedoch nach einem Brand 1807 aufgegeben wurde (ein prachtvoller dreigeschossiger Bau von 1773 durch einen Entwurf von Michel d’Ixnard dokumentiert, Stuttgart Hauptstaatsarchiv (HSTA), auf der nördlichen Seite als bis heute baulich erhaltene Dreiflügelanlage aus dem Jahr 1767 der Kanzleibau, durch Lisenen gegliederte Fassade, Markus Weis 232 Die Mansarddachhäuser der Herrengasse bestehen aus jeweils drei unter einem Dach zusammengefassten Einheiten, d. h. je neun (drei x drei) Fensterachsen. Die Regelmäßigkeit wird auch durch ihr einheitliches Erscheinungsbild betont. Nur die Bauten neben den Kopfbauten besaßen ursprünglich korbbogige Tore. Altenstadt blieb bis heute ein ländliches kleines Dorf abseits der Landstraße, nachdem um 1700 im Tal an der Hauptstraße von Ulm nach Memmingen ein neuer Ort Illereichen entstanden war, der schnell eine dynamische Aufwärtsentwicklung erfuhr und schon sehr bald Altenstadt bei Weitem übertraf. 36 Der Ortskern von Illereichen, an der heutigen Staatsstraße gelegen, entstand erst um 1700. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und verstärkt 1718/ 19 siedelten die Ortsherren, die Grafen von Limburg-Styrum, ins Illereicher Herrschaftsgebiet aufgenommene Juden an und errichteten dafür mehrere planmäßige Mietshäuser. Mit einem Schutzbrief vom 17. Oktober 1651 wurden schon unter dem vorherigen Ortsherrn Caspar Bernhard von Rechberg erstmals fünf jüdische Familien am Ort aufgenommen. 37 Die neue Ortsherrschaft, die Grafen Limburg-Styrum, betrieben dann im 18. Jahrhundert offenbar eine systematische Peuplierungspolitik und förderten die Ansiedlung von Juden, indem sie Wohnraum zur Verfügung stellten. Innerhalb des 18. Jahrhunderts wuchs die Zahl der jüdischen Einwohner am Ort von fünf auf über 50 Familien an und erreichte im Jahr 1807 einen Höchststand von insgesamt 56 Familien mit 360 Personen in über 30 Häusern. 38 korbbogige Tore, dahinter der Gutshof, mehrfach umgenutzt, im westlichen Teil später Klosteranlage, östlicher Teil heute Rathaus. Angrenzend das ebenfalls abgängige Zucht- und Arbeitshaus, die sog. Fronfeste, die dem Schenk von Castell den bis heute bekannten volkstümlichen Übernamen „Malefizschenk“ einbrachte. Seit den 1780er Jahren bis 1803 wurden dort „Sträflinge“ aus verschiedenen kleinen Herrschaften der Schwäbischen Reichsritterschaft verwahrt. „gute Policey“, vgl. E RNST A RNOLD , Oberdischingen der Malefizschenk und seine Jauner, Neudruck der Ausgabe von 1911, erweitert um die Oberdischinger Diebsliste von 1799, hrsg. von der Gemeinde Oberdischingen, bearb. von Werner Kreitmeier, Oberdischingen 1993, Abb. 33, 53f. 36 Der alte Ortsadel, die Herren von Rechberg, hatte 1677 die Herrschaft an die westfälischen Grafen von Limburg-Styrum veräußert, die bis 1772 Grundherren blieben. 1772 erwarb der spätere Fürst Karl von Palm die Herrschaft um 450.000 fl. Dieser verkaufte den Besitz um 1788 für 750.000 Gulden an die Fürsten Schwarzenberg, von denen die Herrschaft Illereichen 1800 unter die Landeshoheit Bayerns kam. 37 A NGELA H AGER / C ORNELIA B ERGER -D ITTSCHEID , Altenstadt, in: B ERNDT H AMM / W OLF- GANG K RAUS / M EIER S CHWARZ (Hrsg.), Mehr als Steine … Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. 1, Lindenberg im Allgäu 2007, 387-396, hier 387. 38 H AGER / B ERGER -D ITTSCHEID (wie Anm. 37), 387; (H ERMANN ) R OSE , Geschichtliches der Israelitischen Kultusgemeinde Altenstadt, Selbstverlag Altenstadt 1931, 2-17, hier besonders 5 und 17. Schutzbrief, zu den Judenhäusern ebd., 13. Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 233 Die Struktur dieser planmäßigen Ansiedlung zeigt sich in einem einheitlichen Straßenzug regelmäßiger Bebauung (Abb. 10). Diese ehemalige „Judengasse“ ist innerhalb der heutigen Memminger Straße noch deutlich nachvollziehbar. Zu den älteren, beiderseits der Straße errichteten Häuserreihen aus dicht nebeneinander stehenden zweigeschossigen Traufseitbauten kamen gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im frühen 19. Jahrhundert klassizistische Bauten mit Mansarddächern hinzu. Wenn man die Straßenflucht der Häuser betrachtet, erkennt man trotz der jüngeren Überformungen, dass hier einmal eine Reihe aus gleichartigen traufständigen Musterhäusern existierte (Abb. 11). 39 Die Deutschordenskommende Ellingen ist ein außerordentlich interessanter und lehrreicher Fall für den Ausbau einer Residenzstadt im 18. Jahrhundert. Außerdem ist die Bau- und Planungsgeschichte 40 39 Auf den teilweise weniger veränderten Rückseiten der Gebäude wird ihre historische Substanz deutlicher erkennbar. Es handelte sich um zweigeschossige Wohnbauten mit Fachwerkobergeschossen. Die Häuser wurden, obwohl sie bis 1789 im Besitz der Herrschaft blieben, von den jüdischen Mietern vielfach auf eigene Kosten erweitert und ausgebaut, dies - bemerkenswerterweise - nach an mehreren Häusern einheitlichen Mustern. Ihre Geschichte wurde noch 1931 vom jüdischen Hauptlehrer Rose (Geschichtliches der Israelitischen Kultusgemeinde Altenstadt, wie Anm. 38) dokumentiert. Noch 1835 wurde der Straßenzug ausschließlich von Juden bewohnt. Nach der Auflösung der israelitischen Kultusgemeinde wurde die im Zentrum der Judensiedlung errichtete Synagoge im Jahr 1955 abgebrochen. Ein Gedenkstein wurde später in den an dieser Stelle errichteten Ersatzbau, ein dreigeschossiges Wohn- und Geschäftshaus, eingelassen. Eine erste Synagoge konnte 1719 erbaut werden. Dazu hatte die jüdische Gemeinde Bauholz aus dem Wald der Ortsherrschaft bekommen. Im Synagogengebäude waren auch Wohnungen für den Rabbiner und den Schulmeister vorgesehen. Seit 1798 plante die jüdische Gemeinde den Neubau einer Synagoge, der 1802/ 03 auf dem heutigen Grundstück Memminger Straße 47 verwirklicht werden konnte. Architekt war der Baumeister Johann Nepomuk Salzgeber aus Buch. Er errichtete ein längsrechteckiges Gebäude nach dem Vorbild von Ichenhausen. Es handelte sich bei der Altenstädter Synagoge um eine der monumentalsten Dorfsynagogen, die überhaupt gebaut worden waren (H AROLD H AMMER -S CHENK , Synagogen in Deutschland: Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 1981, 27). Die einstmals auch auf Postkarten als Sehenswürdigkeit gepriesene Prachtstraße ist heute ein städtebaulicher Missstand. Die verkehrsreiche Straße, die heruntergenutzten, teilweise verwahrlosten Häuser und die daran geknüpfte geringe Wertschätzung erschweren es, Nutzungs- und Erhaltungsperspektiven zu entwickeln. Abb. 10: Altenstadt, historische Luftaufnahme Markus Weis 234 Abb. 11: Altenstadt, Gde Illereichen-Altenstadt. Lkr. Neu-Ulm, Ansicht der Memmingerstraße (Photo Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege) relativ gut bearbeitet, einzelne Aspekte der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und Bauikonographie 41 wurden in jüngster Zeit dargestellt. Das für unsere Fragestellung wichtige Material der barocken Planunterlagen wurde im Zusammenhang mit vorbereitenden Untersuchungen der Städtebauförderung vor mehr als 30 Jahren von den Architekten Harald Bodenschatz und Johannes 40 A RTHUR S CHLEGEL , Deutschordens-Residenz Ellingen und ihre Barockbaumeister, Marburg 1927; F ELIX M ADER / K ARL G RÖBER , Stadt und Bezirksamt Weißenburg i. B. (Die Kunstdenkmäler von Mittelfranken V), München 1932, 176-247, 258-265; B ÄRBEL S CHÄFER , Residenz und Markt Ellingen, Zur Konzeption eines Landkomtursitzes im 18. Jahrhundert (Mittelfränkische Studien 10), Ansbach 1994. 41 W OLFGANG W ÜST , Ellingen. Die Ballei Franken und der Deutsche Orden - Kulturelles und Politisches Modell einer verlorenen Lebenswelt in der Region, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, 69 (2009), 155-171; A NDREA K LUXEN , Ein Beitrag zur Bauikonographie des Deutschen Ordens in Franken, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 54 (1994), 387-410. Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 235 Abb. 12: Ellingen, Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen, Denkmalkartierung (Bayerische Vermessungsverwaltung 2011) Geisenhof 42 bearbeitet und in einer Ausstellung zum Deutschordensjubiläum 1990 in Ellingen gezeigt. 43 Auf eine differenzierte Darstellung der baugeschichtlichen Entwicklung kann in Anbetracht der guten Quellenlage verzichtet werden, stattdessen sollen ausschließlich die planmäßigen Bauprojekte im Umfeld des Residenzschlosses thematisiert werden. Anders als bei der neuangelegten Planstadt Erlangen, dringen hier die Ideale einer regelmäßigen Architektur in die bereits vorhandene, gewachsene Struktur einer Residenzstadt. Die Grundzüge erkennt man ebenso gut in der orthogonalen Luftaufnahme (Abb. 12) wie in den zahlreichen überlieferten Lageplänen des 18.-20. Jahrhun- 42 H ARALD B ODENSCHATZ / J OHANNES G EISENHOF , Ellinger Altstadtbuch. Die baulich-soziale Bedeutung der Ellinger Altstadt (Schriftenreihe Stadterneuerung der Stadt Ellingen 1), Ellingen / Berlin 1982; H ARALD B ODENSCHATZ / J OHANNES G EISENHOF , Altstadterneuerung Ellingen. Die Konsequenzen aus der Umgehungsstraße ziehen - die Qualitäten der historischen Stadt entwickeln! (Schriftenreihe Stadterneuerung der Stadt Ellingen 2), Ellingen / Berlin 1983. 43 H ARALD B ODENSCHATZ / J OHANNES G EISENHOF , Deutschordensresidenz Ellingen. Visionen, Pläne und Bauten einer barocken Schloßlandschaft (Schriftenreihe Stadterneuerung der Stadt Ellingen 3), Weißenburg / Ellingen 1990; außerdem die Ausstellung in Nürnberg: U DO A RNOLD / G ERHARD B OTT (Hrsg.), 800 Jahre Deutscher Orden, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Gütersloh / München 1990. Markus Weis 236 Abb. 13: Ellingen, Stadtplan von Andreas Binder 1762 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv Plansammlung, Repro nach Bodenschatz/ Geisenhof, Deutschordensresidenz Ellingen 1990, S. 105) derts, wie auch auf modernen Karten. Ellingen liegt an einem Straßenkreuz. Der Straßenverlauf innerhalb der städtischen Siedlung ist unregelmäßig, obwohl die Hauptachsen ziemlich genau von Nord nach Süd und von Ost nach West verlaufen und sich in der Mitte beinahe rechtwinklig treffen. Die Grundstrukturen von Stadt und Residenz Ellingen sind in den Kernbereichen der Bebauung seit langem stabil und kaum verändert. Die Urkatasteraufnahme Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 237 dokumentiert, wie konstant die Stadtgestalt in den letzten rund 200 Jahren geblieben ist, und dies trotz erheblicher Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. 44 Auf einem Lageplan (Abb. 13) zu einem städtebaulichen Entwicklungskonzept des 18. Jahrhunderts, dem Stadtplan 45 des Deutschordensbaumeisters Andreas Binder, erkennt man die Vierflügelanlage des barocken Schlosses, um 1720 unter dem Landkomtur Carl Heinrich Freiherr von Hornstein (1717-1743) mit der Schlosskirche als Nordflügel von dem Baumeister Franz Keller erbaut. Die südlich davon situierte regelmäßige, auf das Schloss hin geöffnete Dreiflügelanlage eines Wirtschaftshofs, der seit seiner Erbauung, ebenfalls um 1720, bis heute als Brauerei dient (! ), ist in dem Plan von 1762 getilgt, um eine Verbindung zwischen dem Schloss und dem südlich davon geplanten Gartenparterre herstellen zu können, eine Idee, die erstmals 1750 auftauchte, aber nie realisiert wurde. Im Plan rot angelegt ist die nordöstlich des Schlosses gelegene Reitschule, in den späten 60er Jahren des 18. Jahrhunderts vom zweiten bedeutenden Baumeister der Residenz, Franz Joseph Roth, unter dem Landkomtur Friedrich Carl von Eyb (1749-1764) realisiert. Westlich des Schlosses wurde der riesige Wirtschaftshof mit Pferde- und Rinderställen, Schweizerei und Scheunen nach Plänen des Baumeisters Matthias Binder in den 1750er Jahren errichtet. Der Straßenzug der „Neuen Gasse“, 46 an die Residenz im Südosten angrenzend, zwischen der neuen Gartenanlage und der Stadt in Nord-Süd-Richtung erscheint im Plan von Andreas Binder aus dem Jahr 1762 nur schwach in Umrisslinien, weil es sich zu diesem Zeitpunkt um eine noch nicht realisierte Planung handelte. Der Bau von Wohnhäusern in dieser Straßenzeile (Abb. 14) nach einheitlichem Muster musste von privaten Bauherrn, den Hofbediensteten selbst realisiert und finanziert werden. Sie erhielten die Grundstücke allerdings vom deutschen 44 Die Kontinuität konnte nicht zuletzt deshalb gewahrt werden, weil Ellingen seit 1815 wieder neue Residenzstadt geworden ist, nachdem Ellingen von der bayerischen Krone als bayerisches Thronlehen an den Feldmarschall Carl Philipp Fürst von Wrede verliehen wurde. Nicht zuletzt deshalb ist Ellingen auch ein Musterfall für heutige Stadtplaner. Die Begeisterung der Städteplaner, die seit den späten 1970er Jahren Ellingen untersuchten, ist nachvollziehbar. 45 Signiert Andreas Bindner mit der Berufsbezeichnung pallier und datiert 1762. Der Plan ist geostet. Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHaStA), Plansammlung 10453; B ODENSCHATZ / G EISENHOF , Deutschordensresidenz Ellingen (wie Anm. 43), 105. 46 B ODENSCHATZ / G EISENHOF , Altstadterneuerung Ellingen (wie Anm. 42), 196-215; G OTT- HARD K IESSLING , Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen (Denkmäler in Bayern V.70/ 1) München 2000, 104-106. Die Planstraße „Neue Gasse“ ist in der aktuellen Denkmalliste nicht gesondert als Ensemble ausgewiesen, sie ist jedoch Bestandteil des Denkmalensembles Altstadt Ellingen und die einzelnen Häuser des 18. Jahrhunderts sind jeweils als Einzeldenkmal erfasst. Markus Weis 238 Abb. 14: Ellingen, Neue Gasse, Ansicht nach Süden (Photo Autor) Orden gestellt und weitere Privilegien als Investitionsanreiz gewährt, z. B. zehnjährige Steuerbefreiung, kostenloses Bauholz, günstige Darlehen. 47 Bemerkenswert ist die bauliche Integration einer Synagoge 48 in die Neue Gasse, die in der Straßenflucht nicht hervorgehoben wurde und auf dem Baugrund des Ellinger „Schutzjuden“ Landauer errichtet wurde, der das Stadtpalais und spätere Gasthaus zum Römischen Kaiser errichtet hat. 49 Ein Plan für Musterhäuser der Neuen Gasse von Andreas Binder zeigt eine aus gleichartigen je fünf Fensterachsen breiten Häusern bestehende Zeilen-Bebauung. Diese für den südlichen Teil der Straße gedachte Bebauung wurde so nicht realisiert. Noch stärker von Idealvorstellungen bestimmt ist ein beinahe utopisch anmutendes Projekt für die städtebauliche Neuordnung der nördlich der Neuen Gasse situierten Hinteren Gasse. Tatsächlich handelt es sich hier um den wohl ältesten Siedlungskern der Stadt, der in einer barocken Idealplanung überplant werden sollte. 47 In der Terminologie des 18. Jahrhunderts nennt man das „Baugnade“, zitiert nach L. W EHN , Chronik von Ellingen 1866, § 22, B ODENSCHATZ / G EISENHOF , Altstadterneuerung Ellingen (wie Anm. 42), 199. 48 M ADER / G RÖBER (wie Anm. 40), 174. 49 W EHN (wie Anm. 47), 164f.; M ADER / G RÖBER (wie Anm. 40), 262-265; B ODENSCHATZ / G EISENHOF , Altstadterneuerung Ellingen (wie Anm. 42), 207. Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 239 Abb. 15: Ellingen Hintere Gasse Kupferstich um 1750 (Ausschnitt) (Repro nach Bodenschatz/ Geisenhof, Altstadterneuerung Ellingen 1983, S. 111) Ein Kupferstich aus der Mitte des 18. Jahrhunderts (Abb. 15) gibt die gewachsene historische Bebauung, wie sie auch heute noch teilweise besteht, wieder: Ein gebogener Straßenzug, der sich in der Mitte erweitert, unregelmäßig angeordnete Häuser, teils trauf-, teils giebelständig. 50 Nur an der von Ost nach West verlaufen- 50 Es handelt sich um die älteste Bausubstanz Ellingens, die erste Gasse, die neben der aus einem Wasserschloss hervorgegangenen Residenz schon im Salbuch 1536 erwähnt wird, neuerdings ist das hohe Baualter (16/ 17. Jahrhundert) einiger Bürgerhäuser durch dendrologische Befunde nachgewiesen worden. Markus Weis 240 den Hauptachse befinden sich vom Deutschen Orden errichtete Bauten, wie das barocke mit Dreiecksgiebel betonte Obergerichtshaus. An Stelle der unregelmäßigen Bürgerhäuser an der Hinteren Gasse sah die Idealplanung (Abb. 16) von Matthias Binder aus dem Jahr 1771 eine regelmäßige Reihe kerzengerader Mansarddachhäuser mit dreibzw. zwei Geschossen und hervorgehobenen Mittel- und Eckrisaliten vor. 51 Abb. 16: Ellingen Matthias Binder 1771, Grundriß und Prospekt von der Neuen Hinteren Gasse … (Repro nach Bodenschatz/ Geisenhof, Altstadterneuerung Ellingen 1983, S. 113) Das wäre eines der frühesten und radikalsten Beispiele einer frühneuzeitlichen Stadtsanierung, und damit das einzige, das nicht als Wiederaufbau nach einer Zerstörung 52 entstanden wäre, sondern durch „Flächensanierung“ im modernen Sinne, d. h. Abbruch von Bestandsbauten. Tatsächlich ist es aber wohl nicht gelungen, die privaten Grundstückseigentümer zur planmäßigen Neubebauung zu motivieren. Diese ideale, bereits die Grenzen des Machbaren übersteigende Wunschplanung markiert einen Endpunkt der Entwicklung barocker Idealplanungen. Dass Architektur, Staatsarchitektur zumal, eines der wichtigsten Mittel der Selbstdarstellung absolutistischer Herrschaftssysteme war, ist hinreichend bewusst und von der Kunst- und Architekturgeschichte vielfach und verstärkt in den letzten Jahrzehnten 51 Im Planarchiv des BayHaStA München sind die Entwürfe für beide Straßenfronten erhalten, signiert PauMeister Pindtner und bezeichnet Grund-Riß und Prospect von der Neuen Hinteren Gassen gegen das Schloß hinzu A.a. 1771, Plansammlung Nr. 8626 sowie Grund-Riß und Prospect von der Neuen Hinteren Gassen gegen den Flecken hinauß, A.a. 1771, Plansammlung Nr. 10454; B ODENSCHATZ / G EISENHOF , Deutschordensresidenz Ellingen (wie Anm. 43), 110f.; B ODENSCHATZ / G EISENHOF , Altstadterneuerung Ellingen (wie Anm. 42), 113. 52 Das Phänomen des städtebaulich geordneten Wiederaufbaus nach gewaltsamer Zerstörung, etwa durch Krieg, Stadtbrand, Erdbeben, wie z. B. der barocke Wiederaufbau Heidelbergs oder die Neuerrichtung Lissabons ist allgemein bekannt: C HRISTINE B LESSING , Philosophie und Utopie. Ideengeschichte des pombalinischen Wiederaufbaus von Lissabon nach dem Erdbeben von 1755, Diss. Jena 2006; M ICHAEL H ESSE , Stadtbrand und Stadtplanung in der Neuzeit, in: S USAN R ICHTER / H EIDRUN R OSENBERG (Hrsg.), Heidelberg nach 1693, Weimar 2010, 205-219. Zum Erscheinungsbild öffentlicher Bauten im 18. Jahrhundert 241 thematisiert worden. Gerade aber für den von mir angesprochenen Bereich zwischen profaner Architektur und staatsgelenkter Idealplanung tut sich noch ein weites Feld auf. Es scheint fast so, als ob gerade die Struktur der kleinen und kleinsten Staaten im deutschen Süden und Südwesten sich als ein paradigmatisches Untersuchungsgebiet anböte, an dem gezeigt werden könnte, wie architektonische Formensprache im Sinne einer ordnungsstiftenden, Staatsidentität vermittelnden Strategie eingesetzt werden konnte. Offenbar erkannten gerade die kleineren Herrschaften im 18. Jahrhundert ihre Chance darin, mittels großangelegter Architektur oder zumindest mit einer Architektur, die eine die Realität übertreffende und größer erscheinende Wirkung erheischt, ihre Defizite an Größe und Stellung zu kompensieren. Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten im Ordnungsschema des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Wolfgang Wüst 1. Dörfliche Erfahrungswelten Kleine Strukturen beginnen und enden vielfach ganz unspektakulär. Für die Geschichtsschreibung standen sie zu lange im Schatten der Suche nach neuen Erkenntnissen. Nach Heinrich von Treitschke (1834-1896) 1 - in Bayern trotz der Berufung von „Nordlichtern“ 2 nicht unbedingt ein Vorbild - konnte man „wirkliche Geschichte“ ohnehin nur im Großstaat erleben, keinesfalls aber in einem der klein geschnittenen katholischen „Duodezfürstentümer“ 3 des Südens oder gar in einem der überregional unbekannten schwäbischen, bayerischen oder fränkischen Dörfer. Die Mikrogeschichte, der sich Pankraz Fried 4 früh verpflichtet fühlte, kreist 1 H EINRICH VON T REITSCHKE , Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten, erste Auflage, Berlin 1866; DERS ., Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, erste Auflage, Leipzig 1879-1894, Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden, sechste Aufl., 1897; Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen, 1882; Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution, 1885: Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III., 1889. Die Forschung nahm darauf, um die Beschäftigung mit kleinen Staaten zu „rechtfertigen“, wiederholt Bezug. So auch bei T HOMAS N ICKLAS , Das Haus Sachsen-Coburg. Europas späte Dynastie (Kohlhammer Urban Taschenbücher 583), Stuttgart 2003, 214. 2 W OLFGANG A LTGELD , Akademische „Nordlichter“: Ein Streit um Aufklärung, Religion und Nation nach der Neueröffnung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1807, in: Archiv für Kulturgeschichte 67 (1985), 339-388; F RIEDRICH F REITAG , Wortgewaltiger Gegner der „Nordlichter“: Der Mediziner Johann Nepomuk von Ringseis (1785- 1880), in: U LRIKE L EUTHEUSSER / H EINRICH N ÖTZ (Hrsg.), Dem Geist alle Tore öffnen: König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft (Edition Monascensia), München 2009, 142-153. 3 Ein in der Tradition nationalstaatlicher Geschichtsschreibung stehender Begriff, der ironisch als Synonym für unbedeutende Zwerg- oder Kleinstaaten verwendet wurde und noch immer (! ) wird. Der Name verweist im übertragenen Sinne auf kleinste Formate, wie sie heute noch in Bibliotheksregistraturen Verwendung finden. 4 P ANKRAZ F RIED , Grundherrschaft und Dorfgericht im spätmittelalterlichen Herzogtum Bayern, in: H ANS P ATZE (Hrsg.), Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, Sigmaringen 1983, 277-312; DERS ., Die ländliche Gemeinde in Südbayern (Altbayern), in: A LOIS S TAD- LER (Hrsg.), Die ländliche Gemeinde = Il commune rurale. Historikertagung in Bad Ragaz 16.-18.X.1985, Bozen 1988, 15-30; DERS . (Hrsg.) / F RANZ G ENZINGER (Bearb.), Die ländlichen Rechtsquellen aus den pfalzneuburgischen Ämtern Höchstädt, Neuburg, Monheim Wolfgang Wüst 244 offenbar meist um Alltagsphänomene 5 , die einer gesonderten Rede und Aufmerksamkeit nicht wert waren und es bis heute nicht sind. Genau hier beginnen nun für den Historiker die Probleme, wenn er nach den geeigneten Quellen sucht. Der vielzitierte positivistische Grundsatz „non est in actis, non est in mundo“ klingt in diesem Zusammenhang wenig überzeugend, wenn wir uns der vorindustriellen dörflichen Gesellschaft heuristisch nähern. Die mündliche Traditionspflege bestimmte hier abseits der Fürsten-, Kloster-, Stifts- und Ratskanzleien über Jahrhunderte das regionale Geschehen. Die Erfahrungswelten der von den Natur- und Wettergewalten unmittelbar betroffenen Menschen bleiben uns deshalb vielfach verborgen. Die berechtigte Frage lautet, wie wir uns auch ohne Egodokumente 6 der Denk- und Handlungsweise ungezählter Leer- und Gnadenhäusler, der Klein- und Großbauern, der Handwerker, Huckler - sie sind als Kleinhändler 7 eine der Nahtstellen zwischen Markt und Dorf -, Hausierer 8 und Krämer, der Mägde und Knechte, der Kinder, der Alten, der Witwen und Waisen, aber vor allem auch der gewählten Dorfrepräsentanten - hier handelte es sich meist um die Dorfvierer - annähern können. Für eine positive Einschätzung dieses Vorhabens sprechen aber auch handfeste Gründe. Zu ihnen zählt die Überschaubarkeit demographischer Entwicklungen auf dem Land. Die Ortsstatistiken der Bände des Historischen Atlasunternehmens, dessen Genese durch Pankraz Fried über viele Jahrzehnte entscheidend gefördert wurde, geben hier präzisen Aufschluss. 9 In der vorderösterreichischen Markgrafschaft Burgau gab es nur ganz wenige Orte ohne zentralitätsfördernde Marktprivilegien, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Marke von 100 Anwesen rissen. Der für die Ausrichtung traditioneller Erfahrungswelten sensible „Störfaktor“ der Zuwanderung und des zu schnellen Wachstums blieb gering. Im Dorf Mittelneuf- und Reichertshofen vom Jahre 1585 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte 5b/ 1), Sigmaringen 1983. 5 W OLFGANG W ÜST , Alltag an einem süddeutschen Fürstenhof. Augsburger und Dillinger Hofleben im Spiegel der Rechnungsbücher, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 85 (1992), 101-132. 6 W INFRIED S CHULZE (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Quellen und Darstellungen zur Sozial- und Erfahrungsgeschichte 2), Berlin 1996. 7 So auch im bayerischen Unterfinning: R AINER B ECK , Unterfinning: Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 2004, 512. 8 Als Fallstudie für den Odenwald im 19. Jahrhundert beispielsweise: D ANIELA G ROßKOP , Krämer und Hausierer im Odenwald, in: C HRISTOF D IPPER (Hrsg.), Strukturwandel einer Region: Der Odenwald im Zeitalter der Industrialisierung, Darmstadt 2000, 53-70. 9 P ANKRAZ F RIED , Die Entstehung der Landesherrschaft in Altbayern, Franken und Schwaben im Lichte der Historischen Atlasforschung. Ein vorläufiger Überblick, in: A NDREAS K RAUS (Hrsg.), Land und Reich. Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, Bd. 1, München 1984, 1-13; W OLFGANG W ÜST , Geistliche und weltliche Staatlichkeit in Ostschwaben. Ergebnisse der Historischen Atlasforschung, in: K RAUS , Land und Reich (wie Anm. 9), 55-68. Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 245 nach, wo neben der Markgrafschaft das Spital der Reichsstadt Augsburg Grund- und Gerichtsbesitz hatte, zählte man 1492 bereits 56 Feuerstätten. Im Jahr 1560 waren es dann 58, 1621 70, 1721 erst 76 und schließlich um 1800 immerhin 91 Anwesen. 10 Am Ende des Mittelalters hatte der Ort trotz späterer Teilhabe an protoindustriell vermarkteter Textil- und Webproduktion bereits 61,5 Prozent seines Wachstums à la longue durée erreicht. Man könnte ungezählte andere Dörfer oder Weiler nennen, die ein noch geringeres Wachstum aufwiesen. Ein weiterer Punkt der Annäherung liegt in den auch für ländliche Gebiete ausreichend gesicherten Gerichts- und Amtsprotokollen der jeweiligen regionalen Herrschaft. Die jüngere Forschung hat bei der Quellensuche einen Schatz entdeckt, der aber - methodisch anspruchsvoll - mit Blick auf die Verhöre, die Befragungspraxis der Kläger, die keineswegs immer wahrheitsgemäßen Aussagen der Beklagten und Zeugen sowie auf die Perspektive der Richter und Gerichtsschreiber flächendeckend noch gehoben werden muss. Bereits abgeschlossene Fallstudien zu süddeutschen Regionen oder zu einzelnen Gerichten geben hier berechtigten Anlass zur Hoffnung. Ein weiterer Schritt in Richtung individueller oder dorfgemeinschaftlicher Erfahrungshorizonte könnte in den zahlreich überlieferten Weistümern und ländlichen Rechtsquellen liegen, um deren Edition sich Pankraz Fried und die Mitarbeiter am Augsburger Lehrstuhl für Bayerische und Schwäbische Geschichte 11 große Verdienste erwarben. Mit ihnen wollen wir bei der Spurensuche nach der verlorenen „kleinen“ Welt des vorindustriellen Agrar- und Dorflebens beginnen. Über sie werden kleine Strukturen manifest, wenn man auch im Umkreis ländlicher Siedlungen vor allem an Unspektakuläres dachte. So hielt beispielsweise 1757 eine merkantil orientierte Regierung in Ansbach die Bewohner des mittelfränkischen Pfarrdorfs Geilsheim zu vermehrter Imkerei an. Unter Punkt 67 der Dorfordnung lesen wir: Weilen das bienenhalten gleicher weiße eine nüzliche sache in eines jeden landmanns haußhaltung ist, so solle jeder jnnwohner dießes dorffs Geilßheim [...] dahin bedacht und geflißen seÿn, 2, 3 oder 4 und so viel er kan zu halten. 12 10 W ALTER P ÖTZL , Märkte, Dörfer, Weiler, Einöden in der Markgrafschaft Burgau (Beiträge zur Heimatkunde des Landkreises Augsburg 19), Augsburg 2004, 296f.; H ANS B AUER , Schwabmünchen (Historischer Atlas von Bayern I/ 15), München 1994, 431-433. 11 Vgl. hierzu auch die in der 1979 eröffneten Buchreihe „Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens“ (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte 7) publizierten „Berichte“ über die Studienjahre. 12 W OLFGANG W ÜST (Hrsg.), Die lokale Policey. Normensetzung und Ordnungspolitik auf dem Lande. Ein Quellenwerk (Die „gute“ Policey im Reichskreis IV), Berlin 2008, 501. Wolfgang Wüst 246 2. Ländliche Rechtsquellen Ländliche Rechtsquellen sind seit dem 19. Jahrhundert ein begehrtes Projekt für Editionen und Sammlungen. Seit der Göttinger Sprach- und Literaturwissenschaftler Jacob Ludwig Karl Grimm (1785-1863), dessen Lebenswerk 13 eng mit dem seines jüngeren Bruders Wilhelm (1786-1859) verknüpft war, in den Jahren 1840/ 41 die beiden ersten Bände seiner umfangreichen Weistümer-Sammlungen 14 vorlegte, keimte ein breites Wissenschaftsinteresse an dieser Quellengattung auf. Weistümer betrachtete man damals ganz generell als Zeugnisse 15 ländlichen Rechts und das positivistische Interesse passte in eine Zeit, die vor der beginnenden Industrialisierung in weiten Teilen noch von agrarischen Lebenszyklen bestimmt war. Universalgelehrte wie die Gebrüder Grimm, Historiker, Volkskundler, Archivare und Juristen gleichermaßen begaben sich auf Quellensuche. Dieter Werkmüller hat 1972 die regionalen Initiativen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa mit Berücksichtigung entsprechender Sammlungen in Österreich und in der Schweiz gewürdigt. 16 Peter Blickle verwies in seiner Darstellung zur Weistumsforschung im deutschsprachigen Raum von 1977 ebenfalls auf das reiche Angebot süddeutscher Rechtsquellen. 17 Pankraz Fried eröffnete schließlich 1982 für das östliche Schwaben mit der von der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft betreuten Editionsreihe „Rechtsquellen aus dem bayerischen Schwaben“ neue Perspektiven und Möglichkeiten, den ländlichen und dörflichen Raum in „dichter Beschreibung“ zu untersuchen. Diese neue Editionsreihe setzte mit den von Franz Genzinger bearbeiteten Rechtsquellen aus pfalz-neuburgischen Ämtern - konkret ging es um Höchstädt, Neuburg, Monheim und Reichertshofen - gleich zu Beginn hohe Standards, denen alle Folgebände verpflichtet waren. 18 Es folgten 2005, herausgegeben von Rolf Kießling und Thaddäus Steiner, ländliche Rechtsquellen zur Grafschaft Oettingen, die Bernhard Brenner nach Vorarbeiten von Gabriele von Trauchburg 13 L UDWIG D ENECKE , Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm, Stuttgart 1971; B ERND H EI- DENREICH / E WALD G ROTHE (Hrsg.), Kultur und Politik. Die Grimms, Frankfurt 2003. 14 J ACOB G RIMM , Deutsche Weisthümer, Bde. 1-7, Göttingen 1840-1878, zweite Auflage, Darmstadt 1957. Die Bände 5-7 wurden nach dem Tode Jacob Grimms von Richard Schröder bearbeitet. Vgl. auch J ACOB G RIMM , Deutsche Rechtsaltertümer, 2 Bde. 1828, vierte Auflage, Leipzig 1922. 15 H ANS S CHLOSSER , Die ländlichen Rechtsquellen im Blick der Rechtsgeschichte, in: F RIED / G ENZINGER , Die ländlichen Rechtsquellen aus den pfalz-neuburgischen Ämtern Höchstädt, Neuburg, Monheim und Reichertshofen (wie Anm. 4), 23-34, hier 23. 16 D IETER W ERKMÜLLER , Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer. Nach der Sammlung von Jacob Grimm, Berlin 1972. 17 P ETER B LICKLE (Hrsg.), Deutsche ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung, Stuttgart 1977. 18 F RIED / G ENZINGER , Die ländlichen Rechtsquellen aus den pfalz-neuburgischen Ämtern Höchstädt, Neuburg, Monheim und Reichertshofen (wie Anm. 4). Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 247 edierte. 19 2008 besorgten dann Bernhard Brenner und Thaddäus Steiner den Quellenband „Ländliche Rechtsquellen aus dem Allgäu - Klösterliche Herrschaften und hochstiftische Pflegämter“ 20 , dem in der Reihe die seit 1997 bereits in dritter Auflage vorliegende Edition des Schweizer Rechtshistorikers Clausdieter Schott zur „Lex Alamannorum: Das Gesetz der Alemannen“ vorausgegangen war. 21 In Franken wären für die regionale Weistumsforschung zunächst zwei von Hermann Knapp 22 herausgegebene Bände zu nennen, die Rechtsquellen zum Hochstift Würzburg 23 beschrieben und 1907 in Teilen edierten. Für Bayern erhielten ländliche Rechtsquellen-Sammlungen dann 1927 mit der Gründung der Kommission für Bayerische Landesgeschichte insgesamt eine neue wissenschaftliche Plattform. In ihrem Auftrag begannen in den meisten staatlichen Archiven der frühen 1930er Jahre systematische Recherchen, die im Ergebnis noch heute beeindrucken. Bis 1934 waren fast 800 Rechtsquellen erfasst, von denen allerdings fast 20% bereits in Druckform abrufbar gewesen waren. 24 Lag der damalige Erfassungsschwerpunkt deutlich in den Regierungsbezirken Ober- und Niederbayern und Schwaben - für Mittelfranken zählte man damals beispielsweise nur 29 Weistümer - so änderte sich dies grundlegend unter der Ägide des Nürnberger Kreisarchivdirektors Dr. Georg Schrötter (24.10.1870-30.12.1949). 25 Bis zum Jahr 1943 sind jedenfalls fast 400 Abschriften (385) fränkischer - meist mittelfränkischer - und oberpfälzischer Dorfordnungen wie Weistümer entstanden, die bis heute im Nürnberger Staatsarchiv in 19 R OLF K IEßLING / T HADDÄUS S TEINER (Hrsg.) / B ERNHARD B RENNER / G ABRIELE VON T RAUCHBURG (Bearb.), Die ländlichen Rechtsquellen aus der Grafschaft Oettingen (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte 5b/ 2), Augsburg 2005. 20 T HADDÄUS S TEINER (Hrsg.) / B ERNHARD B RENNER / T HADDÄUS S TEINER (Bearb.), Ländliche Rechtsquellen aus dem Allgäu - Klösterliche Herrschaften und hochstiftische Pflegämter (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte 5b/ 4), Augsburg 2008. 21 C LAUSDIETER S CHOTT , Lex Alamannorum. Das Gesetz der Alemannen. (I) Codex Sangallensis 731, Faksimile, (II) Text - Übersetzung - Kommentar zum Faksimile aus der Wandalgarius-Handschrift Codex Sangallensis 731 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte 5b/ 3), 2 Teilbände, erste Auflage, Augsburg 1993; zuletzt 2006 als Studienausgabe. 22 H ERMANN K NAPP , Die Zenten des Hochstifts Würzburg. Ein Beitrag zur Geschichte des süddeutschen Gerichtswesens und Strafrechts, 2 Bde., Berlin 1907. 23 W ALTER S CHERZER , Die Dorfverfassung der Gemeinden im Bereich des ehemaligen Hochstifts Würzburg. in: Jahrbuch für fränkische Landesgeschichte 36 (1976), 37-64. 24 Zahlen nach: P ANKRAZ F RIED , Einleitung. Probleme der Weistumsforschung und -edition in Bayern, in: DERS . / G ENZINGER , Die ländlichen Rechtsquellen aus den pfalz-neuburgischen Ämtern Höchstädt, Neuburg, Monheim und Reichertshofen (wie Anm. 4), 9-22, hier 10f. 25 Vgl. zum Folgenden: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHaStA), Generaldirektion (GD), Personalakt, Nr. 3137. Wolfgang Wüst 248 einem eigenen Nachlass 26 verwahrt werden. Sie reichen alphabetisch von Abenberg bis Zirndorf. Karl Dinklage 27 legte dann 1954 für Franken eine mittlerweile längst vergriffene, umfassende Textauswahl zu Bauernweistümern vor, die - so der Herausgeber - das gesamtfränkische Rechtsgebiet „möglichst gleichmäßig“ berücksichtigen sollte. Die Beispiele, die fast alle nordbayerischen Landkreise vor der Gebietsreform der 1970er Jahre berücksichtigten, konzentrierten sich aber auf die weniger umfangreichen, „echten“ Weistümer, die meist vor dem Bauernkrieg von 1525 entstanden waren. Dinklage schloss die Gruppe der Gemeinde-, Ehehafts- und Dorfordnungen aus, da sie herrschaftlich fundiert seien und „an die Stelle der von den Bauern gefundenen und gewiesenen althergebrachten Rechte und Freiheiten neu eingeführte herrschaftliche Verordnungen setzten“. Ziel war es, mit diesen unverfälschten Quellen Rückschlüsse auf die germanische Frühzeit und das alte Herzogtum Franken freizulegen. Ernüchtert musste Dinklage aber feststellen, dass die „starke einheitliche politische Gewalt“ doch weitgehend fehlte und dass sich das Gemeinschaftsbewusstsein der fränkischen Dorfgenossen meist nur bis zur nächsten Ortsetter erstreckte. 28 Diese Interpretation geht freilich von einem älteren, protostaatliche Strukturen und absolutistische Tendenzen 29 überschätzenden bzw. missdeutenden Gegensatz zwischen den Gemeinden und frühmoderner Herrschaft aus, der den agrarischen Alltagsbedingungen nicht immer gerecht wird. Auch können die an den Quellen vorgenommenen zeitgenössischen Trennungen zwischen Weistümern, Ehehaften, (Bann-, Bau- oder Ehafts-)Taidingen, Gemeinde- und Dorfordnungen nicht unbedingt nach genossenschaftlichen, bäuerlichen und herrschaftlichen Interessen getrennt werden. Vielfach griff die Herrschaft auch schützend in den Dorfverbund ein. In dieser Erkenntnis deckt sich die neuere Forschung zu ländlichen Rechtsquellen mit dem seit einigen Jahrzehnten intensivierten Diskurs zur „guten Policey“. Auf diese Verbindung wollen wir nun näher eingehen. 3. Themen lokaler „Policey“ Die am Erlanger Lehrstuhl für Landesgeschichte edierten Quellen zur „guten Policey“ veranschaulichten und interpretierten mit Beispielen aus süddeutschen Reichskreisen die Kennzeichen frühmoderner Ordnungspolitik. Diese wurde für eine Zeit 26 Staatsarchiv Nürnberg, Repertorium 499 (Nachlässe und Deposita), Schrötter-Nachlass. 27 K ARL D INKLAGE , Fränkische Bauernweistümer (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte 10/ Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte 4), Würzburg 1954. 28 D INKLAGE , Bauernweistümer (wie Anm. 27), 6. 29 R UDOLF E NDRES , Absolutistische Entwicklungen in fränkischen Territorien im Spiegel der Dorfordnungen, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 16/ 2 (1989), 81-93. Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 249 untersucht, der als Sattelzeit der Moderne eine kaum zu überschätzende Weichenstellung zufiel, nach der sich Rechte und Pflichten, öffentliche und kirchliche Ordnung, sozialer Friede, Ehre, Glückseligkeit, Gesundheit und Wohlstand zum Teil bis heute ableiten. Der zeitliche Rahmen bleibt auch in diesem Beitrag, doch die gesellschaftliche Perspektive verändert sich. Waren die Bände bisher auf die Rolle des Adels und der Höfe, der städtischen Ratsobrigkeiten, der reichskirchlichen Kanzleien oder der „ausschreibenden“ exekutiven Ämter in den Reichskreisen fixiert, so steht jetzt sozusagen ihr soziales Spiegelbild im Vordergrund. Die Perspektive von „unten“ und die kleinen Strukturen werden wirkmächtiger. Mikrogebilde überdecken Makrogerüste. Der ländliche Raum, dörfliche Genossenschaften, agrarische Lebens- und Gewerbeformen und zentralitätsfernes Dasein sind ein neuer, zweifelsohne nicht weniger interessanter Fokus. Die Policeyforschung 30 hat sich jüngst auch diesem lokalen Aspekt vermehrt gewidmet, der die Gemeinden als ein gleichberechtigtes Untersuchungsfeld an die Seite der Territorien stellte. Wir wollen dazu einige Themen aus dem mittelfränkischen Siedlungs- und Kulturraum vorstellen. 3.1. Gottesdienst und Sonntagsgebot Kleine wie große Konfessionsobrigkeiten gaben sich rigoros, wenn es um den Schutz der Gottesdienste, der Predigt, der Betstunden und der Kinderlehre, ja wie überhaupt der Sonn- und Feiertagsruhe ging. Dieser Punkt stand in territorialen Ordnungen immer an vorderer Stelle. In den Gemeinde- und Dorfordnungen wurde er aus naheliegenden Gründen stärker an die agrarischen Lebens- und Arbeitsbedürfnisse angepasst. Die ländlichen Ordnungen ergänzten somit entscheidend das punktuelle Überlieferungsbild süddeutscher Grundherrschaften um eine allgemeine zivili- 30 B ERND S CHILDT , Die frühneuzeitliche Policey- und Landesgesetzgebung am Beispiel von Dorf- und Landesordnungen der Grafschaft Schwarzburg aus dem 16. Jahrhundert, in: H EINER L ÜCK / B ERND S CHILDT (Hrsg.), Recht, Idee, Geschichte: Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 80. Geburtstages, Köln 2000, 229- 248; A NDRÉ H OLENSTEIN / F RANK K ONERSMANN / J OSEF P AUSER / G ERHARD S ÄLTER (Hrsg.), Policey in lokalen Räumen. Ordnungskräfte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spätmittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt/ Main 2002; A NDRÉ H OLENSTEIN , „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime: Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(- Durlach) (Frühneuzeit-Forschungen 9.1/ 2), 2 Bde., Epfendorf / Neckar 2003; W OLFGANG W ÜST / N ICOLA S CHÜMANN / U LLA S CHUH (Hrsg.), Policey im regionalen Kontext: Rechtssetzung im Alten Reich, im Reichskreis und im Territorium. Beispiele aus Franken, in: H ANS -J OACHIM H ECKER / R EINHARD H EYDENREUTER / H ANS S CHLOSSER (Hrsg.), Rechtssetzung und Rechtswirklichkeit in der bayerischen Geschichte (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 30), München 2006, 175-214; W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12). Wolfgang Wüst 250 satorische Herrschaftskomponente, die sich aus strenger wirtschafts- und sozialhistorisch ausgelegten Quellen wie Urbaren 31 , Zins-, Abgabe- und Gültregistern 32 nicht unmittelbar ergeben würde. Im mittelfränkischen Elgersdorf 33 , das seit 1361 landesherrlich mehrheitlich zum Ansbacher Markgraftum zählte, ermahnte deshalb die lutherische Dorfobrigkeit 1740 bei hoher Strafe alle, sich eines gottlosen lebens zu entsagen und der sabbaths feyer zu befleißigen. Im Detail führte die Gemeindeordnung aus, dass weder manns- oder weibsperson Gottes heiligsten namen verunehren, noch alles was Gott den herrn ein gräuel, zu begehen sich gelüsten lassen. Insonderheit soll ein jeder am heiligen sonntag und anderen gewöhnlichen festbuß- und feyertagen, dem lieben Gott mit fleissiger besuchung der predigt und anhörung seines worts, und anderen christlichen wercken, seinen schuldigen dienst leisten, und daran mit keiner feldarbeit, es seye mit getreydt abschneiden, aufsammeln, einführen, heuen und mähen, noch mit flachs gespinst und anderer arbeit umgehen. Und da es ja des gewitters halber die höchste noth erforderte, besonders in der heu- und getreydt ernd, nichts unter wehrendem gottesdienst und der predigt vernehmen. 34 Bilder wie diese und die Situation einer von Glaubensstrenge, Moral, kirchlicher und policeylicher Autorität tangierten dörflichen Welt sind uns über die viktorianische Schriftstellerin Mary Ann Evans (1819-1880) vertraut, die unter dem Pseudonym Georg Eliot Weltliteratur verfasste. 35 Im Roman „Adam Bede“ wurde noch Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Folgen der Missachtung von Sonntagsgeboten im agrarischen Milieu verwiesen. Gottesstrafen führten zur Vernichtung von Ernte und Existenz. Und auf entsprechende Normverstöße folgten selbstverständlich auch in fränkischen Ämtern Sanktionen. Im hohenzollerischen Rentamt Cadolzburg - und nicht nur dort - finden sich jedenfalls über die Strafrechnungen zahlreiche Belege. Im August des Jahres 1667 bezahlten vier örtliche Bauern außm ländl über drei Gulden Strafe dafür, daß sie sontags gemehet. Im März 1673 hinterlegten Hannß Zolles und Wilhlem Rüßbeck in Cadolzburg über einen Gulden Strafe, weil sie jhre knecht an sontag frü haben mehn laßen. Und noch im Winter des Jahres 1705 fahndete man nach Landarbeitern, die in den ortsnahen Tabakkulturen wegen besorgendem frost die toback blätter im feld ohne ansuchen und verlaub abbrachen, um so zuletzt auch den sonntag zu entheiligen. 31 Für Franken zuletzt E NNO B ÜNZ / D IETER R ÖDEL / P ETER R ÜCKERT / E KHARD S CHÖFFLER (Bearb.), Fränkische Urbare. Verzeichnis der mittelalterlichen urbariellen Quellen im Bereich des Hochstifts Würzburg (Schriften der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte Frankens X/ 13), Neustadt / Aisch 1998. 32 Beispielsweise: K ARL H. L AMPE , Das Zins- und Gültregister der Deutschordenskommende Prozelten von 1379 (Schriften der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte Frankens X/ 6), Würzburg 1966. 33 Elgersdorf zählt heute zum Markt Emskirchen, Landkreis Neustadt an der Aisch. 34 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 424f. 35 Vgl. hierzu Eliots Biografie und Werkanalyse bei E WALD S TANDOP / E DGAR M ERTNER , Englische Literaturgeschichte (Hochschulwissen in Einzeldarstellungen), fünfte Auflage, Heidelberg 1992. Rezipiert nach der dritten Auflage, 1976, 502-505. Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 251 36 Das Sonn- und Feiertagsgebot stand im ländlichen Raum zudem in einer besonderen, keineswegs konfliktfreien Beziehung zum meist kirchennahen Wirtshaus, wo man sich vor, während oder nach den Gottesdiensten nur zu gerne auch wider Herrschaft und Kirche versündigte. In der Dorf- und Gerichtsordnung der katholischen oberfränkischen Adelsherrschaft Mitwitz war es deshalb 1793 Hausvätern und -müttern aufgetragen, sowohl für sich die sonnfest- und feÿertäge genau [zu] halten, als auch ihre kinder und gesind fleisig zur kirche schicken, [damit] unter und wahrenden gottesdienst sich niemand auf dem felde, noch weniger aber in den wirthshaüsern beÿ karten und würfelspiel antreten lassen solle. Würde jemand hierin betretten, so solle nicht allein der übertretter, sondern auch der wirth, der solcherleÿ schwelger und leichtsinniges gesind aufnimmt, der herrschaft mit 1 reichsthaler unnachlässiger straf verfallen seÿn. 37 Die zu Mitwitz angesprochene Spielleidenschaft gab werkwie sonntags auch andern Orts Anlass zur Sorge. Das Cadolzburger Amt verurteilte beispielsweise 1688 in Unterfarnbach Landarbeiter zur Turmstrafe, die in tobackh arbeit stehen übern kartten strittig worden, einander zu 2en mahlen geschlagen und mit gläßern blutig geworffen. Und 1699 spielte man im Nürnberger Land wider ein dorfherrschaftliches Ruhegebot bis nach Mitternacht Karten, war darüber auch endlich uneins worden, und hatte einander herauß gefordert und geschlagen. 38 Auch in der überschaubaren Struktur vormoderner Dorfsiedlungen und ländlicher Lebensräume gab es also Handlungsbedarf im Sinne „guter Policey“. 3.2. Feuerbeschau und Grenzbeschreibung Die Feuerbeschau zählte zu den Kernaufgaben policeylicher Fürsorge. 39 Ungenügender Brandschutz unter strohbedeckten Häusern, defekte Kamine, Feuerquellen am Arbeitsplatz und das weitverbreitete Dörren von Flachs, Hanf und Obst waren ständige Gefahrenquellen. Wenn einzelne Dorfordnungen, wie zu Elgersdorf, das Dauerthema aussparten, kann dies mit dem Erlass eigener Feuerordnungen erklärt werden. Parallel zur Elgersdorfer Gemeindeordnung ist für das nahe gelegene Emskirchen 1744 eine „gemeindliche feyer-ordnung“ nachgewiesen. Meist agierten Ge- 36 Zitate nach U WE H ITZ , Schlagkräftige Vorfahren. Ausführliche Beschreibungen von Straftaten in den Cadolzburger Amtsrechnungen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Blätter für fränkische Familienkunde 30 (2007), 201-207, hier 202f., 205. 37 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 557. 38 H ITZ , Schlagkräftige Vorfahren (wie Anm. 36), 204. 39 M ATHIAS U EBLACKER , Die fürstbischöflichen Feuerordnungen für Passau: Brandschutzauflagen ändern die Stadtansicht, in: S USANNE B ÖNING -W EIS (Hrsg.), Monumental: Festschrift für Michael Petzet. Zum 65. Geburtstag am 12. April 1998, München 1998, 495-505; W OLFGANG W ÜST , Bamberg als Hochstift. Zur Typologie geistlicher Staaten in der Frühmoderne, in: L UITGAR G ÖLLER / W OLFGANG F. R EDDIG (Hrsg.), 1000 Jahre Bistum Bamberg 1007-2007 - Unterm Sternenmantel. Ausstellungskatalog, Petersberg 2007, 236-246, mit Verweisen auf Bamberger Feuerordnungen. Wolfgang Wüst 252 meindebevollmächtigte als Feuer- und Hausbeschauer, um Brandkatastrophen in den vorindustriellen Arbeits- und Lebenswelten zu verhindern. Auch im Rodungsort Kunreuth, wo die Herren von Egloffstein im Spätmittelalter ihre Wasserburg ausbauten, war gleichermaßen für Haus und Arbeitsstube „fleißig“ zu beobachten, das gespinst nicht auff dem ofen (wovon offt ein unwiederbringlicher schaden verursachet worden) gedörret werden, wie dann zwey gewießte fuerschauer bestellet, und jejenigen so durch derer fleißige absicht und herumbgehen in excessu und übertrettung begriffen, mit hartter geld oder leibs-straf beleget werden sollen. 40 In Burggrub, wo das Flachsdörren für Spinn- und Webarbeiten ebenfalls verbreitet war, verfügte man 1733 in einer neuen Dorfordnung variantenreich: Hinführo soll auch kein holtz, futter oder stroh, beÿ straff eines halben guldens der gemeind uf die böden und kein gewürk oder gespinst, dadurch feuer zubefahren, beÿ straf 5 fl. der herrschafft in die stuben und in um und uf die kachelöfen geleget, und derowegen alle monath zur brechzeit aber alle wochen durch den schultheiß und dorffmeistern von hauß zu hauß, besichtigung eingenommen werden. 41 Die Feuerbeschauer, die mit den Vierern identisch sein konnten, sahen sich zu allerlei Vorsorge verpflichtet. Dazu zählten die obligatorischen Feuerkübel und Wasserbehälter im Hof oder in den Häusern. In Pommelsbrunn, östlich von Nürnberg gelegen, bedeutete dies 1653: Item, so die verordneten feuerschauer, einem, wasser für die thür bieten, und als dann wieder herumgehen, und keines erfunden wird, soll derselbig verbrecher verfallen seyn 15 dl. 42 Neben der Feuerbeschau lag die Grenz- und Flurkontrolle ebenfalls im kommunalen Aufgabenspektrum. Ihre Aufgaben wurden meist von den gewählten Gemeindegremien wahrgenommen. Und doch sicherte die Herrschaft der Hohenzollern, wie 1757 in Geilsheim, durch allgemeine Vorgaben die örtlichen Standards. Die steiner und achter sollen ein ordentliches untergangs- und steinsezungs-buch halten und führen, darein sie alle ihre verrichtung aufzeichnen. Darneben meÿnen und achten wir für gut, wollen auch und ordnen hiermit, daß vielbesagtes steinergericht in zukunfft jedesmahl ihre gehaltene ordinarj und extra vorgekommene untergänge, erkanntnuß und steinsezungen in ein besonders von weißen pappier eingebundenes buch mit beÿsezung des tags und jahrs, dann benennung derer persohnen, nur kürzlich einschreiben sollen, damit hierauß, so offt noth thut, dienliche nachricht ersehen werden möge. 43 Die Steinsetzungen für Weide- und Ackerflächen bedeuteten im lokalen Geschehen das, was aufwendige Grenz- und Gerichtsvisitationen für die Territorialmächte ausmachten. Sie brachten Rechtssicherheit und Konfliktlösungen. In der Weingartner Dorfordnung von 1610 wurde deshalb auch detailliert die Allmende 44 als gemeinsamer Viehtrieb 40 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 313. 41 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 414. 42 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 301. 43 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 506. 44 H ARTMUT Z ÜCKERT , Allmende und Allmendaufhebung: Vergleichende Studien zum Spätmittelalter bis zu den Agrarreformen des 18./ 19. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 253 ausgemessen und „versteint“. Sie steht pars pro toto für ähnliche Vorgänge in anderen Ortschaften. Die Viehweide der Gemeinde auf dem Michaelsberg, südlich von Spalt gelegen, wurde von 24 Flursteinen umgrenzt, die man jährlich kontrollierte. Zeitliche Veränderungen fanden dann auch Aufnahme in Ergänzungen zur Ordnung von 1610. Die ersten vier Steine waren nach diesen Beschreibungen wie folgt platziert: So dann der erste triebstein so in voriger beschreibung der 7. ist, stehet zwischen Hannßen Haußmann den alten Hemmerlein zu Weingarten und Conrad Ermern zu Höffen ackhern, oberhalb deß Höffer wegs. 2.) Der ander stein zwischen Martin Hoffmann und Georg Linßenmairn von Höffen ackhern oberhalb deß Höffer wegs. 3.) Der dritte stein zwischen Conrad Ermers zu Höffen und Reinhard Haussmanns zu Weingarten ackher, biß dahero sie Weingartner auff der untern seithen, unterhalb deß wegs zu hüten macht haben. 4.) Der vierte Stein zwischen Reinhard Haussmanns zu Weingarten und Conrad Ermern zu Höffen ackhern auff den rein. 45 Wechseln wir das Thema, um zu prüfen wie kleine Strukturen die Feld-, Weide- und Waldaufsicht bestimmten. 3.3. Hirtendienst und Waldaufsicht Das Hirtenamt 46 blieb in der Regel den Gemeinden und nicht der Herrschaft zugeordnet. Die Gemeinde stellte oft auch ein eigenes Hirtenhaus. 47 In Raitenbuch, wo sich im Spätmittelalter das Hochstift Eichstätt als Landesherr festsetzen konnte, lag noch im Jahr 1597 alles beim Alten. Item der fleckh Raittenbuech hat ein freÿ ledige vichhuett, die mügen sÿ verleihen nach irem nutz, willen, vnnd notturfft, daran sÿ niemandt irren soll noch mag. Nicht nur die Bestellung des Hirten, sondern auch die Festlegung der Hütezeiten war kommunal zu regeln. Item sÿ sollen vnnd mögen treiben, vnnd ist von alter allso herkhommen in all huett, wo sÿ die haben oder erlangen khümmen, vor Sannt Walburgen tag vnnd nach Sannt Walburgen tag, so die meder gemeet vnnd lehr sindt. 48 In Ehaftsordnungen standen deshalb entsprechende Abschnitte von dem hürtten in der Reihenfolge der Gliederung ganz vorne, während sie in herrschaftsbezogenen Dorfordnungen eher gegen Ende abgehandelt wurden. Auch in Elgersdorf waren es 1740 die gewählten Gremien, die im Konsens mit der zur Agrargeschichte 47), Stuttgart 2003; W ERNER R ÖSENER , Zur Erforschung der Marken und Allmenden, in: U WE M EINERS (Hrsg.), Allmenden und Marken vom Mittelalter bis zur Neuzeit: Beiträge des Kolloquiums vom 18. bis 20. September im Museumsdorf Cloppenburg, Cloppenburg 2004, 9-16. 45 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 293. 46 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Alois Schmid in diesem Band. 47 H ARALD S TARK , Elf Höfe und ein Hirtenhaus bildeten ein Dorf: Aus der Geschichte von Braunersgrün im Landkreis Wunsiedel, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 72 (1992), 217-256. 48 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 63. Wolfgang Wüst 254 ganzen Gemeinde die Hirtenaufsicht führten. Dort sollten die Dorfmeister den gemainen viehehirten mit wissen einer gantzen gemain zu gewöhnlicher zeit, nemlich um Jacobi, aufnehmen und dingen, und dass derselbe einen gebührlichen guten abschied habe, auch mit selbigen vor die gemain herrschafft sich stelle, seine treue gebe und angelobe, dass er mit seinen diensten der gemain treulich hüten vorseyn, allen schaden warnen und verhüten, auch dem armen als dem reichen darinnen gleich halten. 49 In Obermässing begegnen uns aber Herrschaft und Gemeinde, wenn es in der Ehaft von 1471 um die Hirten im Dorf ging. Aber auch hier betraf die Mehrzahl der Bestimmungen innergemeindliche Angelegenheiten. Der Eichstätter Pfleger verlieh zwar den Hirtenstab gegen Gebühr, doch bestritten die Hirten ausschließlich aus den Hüteabgaben der Bauern ihren Unterhalt. Item ob einer oder mer pitten vmb dy hirtschafft die gemain im dorff, vnd wem die merer menig der gemain zusagt, dem sol der pfleger sein handt dar inn recken vnd domit leihem. Douon hat ein pfleger von demselben hirten dreissigk haller oder dreissigk kes, vnd hat ein pfleger die wal, ob er die dreissig haller oder die dreissig keß nemen wölle von einem hirten. Item es ist auch nemlich recht eines iglichen hirten lon, den er nemen sol von der gemain im dorff. Des ersten von einem rinde, oder von einer nüzen kue ein uirling korns, vnd uon einer kalben ein achtal korns, vnd von einem kalb, das für Sandt Walpurgen tag auf die waid geet, auch ein achtal korns. Get es aber noch Sandt Walpurgen tag auf die waid, so gibt es einen pfennig vnd ein wemiet. 50 Der Regelungsbedarf seitens der Gemeinde war also in Sachen Weide- und Hüteflächen enorm. Dorfordnungen enthielten Forderungen zum Schutz der Wälder 51 , Felder und Gewässer. Im Zielkonflikt zwischen Gemeinde und Herrschaft um die natürlichen Energieressourcen sprachen zahlreiche ländliche Rechtsquellen, wie 1653 zu Pommelsbrunn geschehen, vor allem Verbote unkontrollierter Waldnutzung 52 aus. Erstlich, sollen verboten seyn, alle grüne bäum und stämm holz, als eichen, fichten, föhren, birnbäum, äpffel- und kirschbäum, oder wie sie namen haben, als jemand erfahren wird, derselben einen ab, oder umhaut, weil sie grün seyn, der oder dieselben sollen der gemein zur straff verfallen seyn 2 fl. 53 Dort übte seit dem Landshuter Erbfolgekrieg auch die Reichsstadt Nürnberg die Herrschaft aus, in deren Landterritorium man sich früher als andernorts zu einer Nachhaltigkeit im Waldbau bekannte. In Vogts- 49 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 425. 50 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 50. 51 Als Fallstudie: P ETER -M ICHAEL S TEINSIEK , Nachhaltigkeit auf Zeit: Waldschutz im Westharz vor 1800, Münster 1999. 52 Für Kurbayern umfangreich und problemorientiert: E LISABETH W EINBERGER , Waldnutzung und Waldgewerbe in Altbayern im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 157), Stuttgart 2001. Vgl. auch W OLFGANG W ÜST , Nachhaltige Landespolitik? Fürstenherrschaft und Umwelt in der Vormoderne. Eine süddeutsche Fallstudie, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 70 (2007), 85-108. 53 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 301. Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 255 reichenbach verfügte man 1525 selbst im Jahr des süddeutschen Bauernkriegs einschränkend: Item es soll an der gemeinholz zu Vogts Reichenbach niemand darinnen hauen noch holtzen ohne wissen und willen der dorfsmeister und der gemein daselbst, ausgeschlossen ein raif oder zween, da nit schaden darbey sey. Und im Detail legte man zu den Nutzungszeiten nach: Item welcher aus der gemein theil im gemeinholtz hat, soll sein holtz ungefährlichen inn 8 tagen vor oder nach pfingsten herausführen, bey pöen 60 pfening einer gemein anfallen. 54 Der zur Existenzsicherung unvermeidliche Holzverbrauch 55 erforderte aber zunehmend ausdifferenzierte Regelungen, um die Kernbestände mittel- und langfristig nicht zu gefährden. Hier hatten die Landesherrschaften vor allem gegenüber privilegierten Waldnutzern in Gemeinden und Genossenschaften Nachhaltigkeit anzumahnen, die in den Augen der Forstinspektoren allzu sorglos zu Werke gingen. Für das Hochstift Eichstätt ließ deshalb Bischof Marquard 1666 auch den privaten Holzschlag maßregeln. Und sonderlich befehlen wir, weil unsere underthanen und dorff-gemeindten in ihren höltzern bißhero kein ordnung gehalten, sondern jährlich ein große weite abhauen und gebrauchen, darauß dann erfolgt, daß sie zu ihrem gebrauch nicht allein die nothdurfft nicht mehr haben, sondern zu keinem brennholtz, so gewachsen, mehr kommen mögen. Darumben befehlen wir unsern obristen forstmaister, daß die underthanen in ihren gemain- und aigen höltzern, auch obgehörter maßen ein abthailung machen und darob halten, daß jährlich über die abgegebene und außgezeichnete lörer oder schachen [für Forstrechtler ausgewiesene Waldpartien], weder bau- oder ander holtz, groß oder klein nicht gehauen. Und es bedurfte langer Schonzeiten von 20 bis 30 Jahren für die so ausgewiesenen Waldzonen in Gemeinde- und Bauernhand. Nur nach und nach sollte dort wieder Holzschlag möglich sein. So dann solche abtheilung wenigist auf zwaintzig oder maist auf dreyßig theilhäw geordnet und jährlich nicht mehr dann derselben einer abgehauen werden solle. 56 54 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 185. 55 N ILS F REYTAG , Städtische Holzversorgung und staatliche Forstpolitik im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Städte München und Nürnberg, in: H ANS B LEYMÜLLER (Hrsg.), 250 Jahre Bayerische Staatsforstverwaltung: Rückblicke, Einblicke, Ausblicke, München 2002, 103-110. Für ein vergleichbares Hochstift: B ERNHARD L ÖFFLER , Waldnutzung, Holzversorgung und Parkbau im Passau des 18. Jahrhunderts, in: W OLFRAM S IEMANN / N ILS F REYTAG / W OLFGANG P IERETH (Hrsg.), Städtische Holzversorgung: Machtpolitik, Armenfürsorge und Umweltkonflikte in Bayern und Österreich (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 22), München 2002, 9-38. 56 Zitate nach: „Hoch-Fürstliche Aychstättische Holtz- und Forst-Ordnung“, Eichstätt 1666, 7f. Wolfgang Wüst 256 4. Selbstverwaltung oder Fremdbestimmung? Die Wahl der Gemeindemänner Während sich die landeshistorische Forschung früh der - modern gesprochen - regionalen Mitbestimmungsmodelle durch territorial agierende Landstände annahm, spielte das alltägliche Mit- und Gegeneinander in den Gemeinden zwischen Obrigkeit und gewählten Dorfrepräsentanten zunächst keine große Rolle. Der Befund überrascht, denn immerhin ging es dabei um Eigen-, Selbst oder Fremdbestimmung 57 in den einzelnen Siedlungsgenossenschaften, in Weilern, Dörfern oder Märkten. Den Durchbruch schafften hier, nicht nur in Süddeutschland, die Überlegungen von Peter Blickle und seiner historischen Schule. Sie führten Kommunalismus als Wissenschaftsbegriff ein, und sie belegten und konkretisierten das Phänomen über zahlreiche Einzel- und Fallstudien. 58 Die kleinen Strukturen der Land- und Bauerngemeinden, die seit dem Hoch- und Spätmittelalter in Gemeindewahlen und Versammlungen allmählich eigene politische Organisationsformen entwickelten, wurden anschlussfähig an besser untersuchte städtische Makrophänomene. Dazu zählten entstehende Urbanität, kommunale Reichsfreiheit und bürgerliche Emanzipationsprozesse, die althergebrachte Obrigkeiten an den Rand drängten. Wir wollen deshalb Kommunalismus am Beispiel ländlicher Gemeindewahlen aufzeigen. Die Beispiele sind überwiegend fränkischer Herkunft. Die Interessensteilung zwischen Herrschaft und Dorf musste vor allem vor Wahlen der Gemeinde- und Gerichtsvertreter bedacht werden. Die Gemeinden wählten als ihre „politischen“ Vertreter Ratsgremien, die je nach Herrschaft, Kleinregion und Zeit auch unterschiedliche Namen trugen. Je nach der Größe des Orts agierten die gewählten Vertreter dann mindestens ein Jahr, meist zwei Jahre als bevollmächtigte Zweier, Vierer, Sechser, Achter oder Zwölfer. Letztere agierten 1580 in Eltersdorf, wo eine neue Dorfordnung auf die Initiative der Gemeinde und ihrer zwölf Mandatsträger zurückging. In welche Ordnung ein ganze gemain bewil- 57 Zu diesem Themenkomplex aus landeshistorischer Perspektive: W OLFGANG W ÜST , Gemeindeverband und Territorialstaat in Ostschwaben: Landständischer Partikularismus oder administrative Doppelverantwortung? , in: P ETER F ASSL / W ILHELM L IEBHART / W OLFGANG W ÜST (Hrsg.), Aus Schwaben und Altbayern. Festschrift für Pankraz Fried zum 60. Geburtstag, Sigmaringen 1991, 293-306; F RANZ M ACHILEK , Dorfgemeinden und Selbstverwaltung, in: G ÜNTHER D IPPOLD / J OSEF U RBAN (Hrsg.), Im Oberen Maintal auf dem Jura an Rodach und Itz. Landschaft - Geschichte - Kultur, Lichtenfels 1990, 135-141. 58 In Auswahl: P ETER B LICKLE , Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, Bd. 1: Oberdeutschland, Bd. 2: Europa, München 2000; DERS ., Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985; DERS ., Landschaften im Alten Reich, Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, München 1973; DERS . (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich, München 1991. Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 257 ligt unnd durch 12 bidermenner darzu geben. 59 Diese Dorfgremien konnten nun auch von der Herrschaft in unterschiedlichen Größen zusammengesetzt und kombiniert werden. Für das eichstättische Amt Raitenbuch bedeutete dies 1597 konkret: Item do waß fürbaß von einer gemain vnnd anndern sachen wegen in gemein antreffendt verzert oder sonnst vfferlegt würdt, so sollen die vierer zu Raittenbuech, zwen zu Gerßdorff vnnd zwen zu Hohenberg, zu inen nemmen. Vnd diße acht zu einannder nidersetzen, in beÿweßen vnnßers richters vnnd einen ieden nach seinen statten anlegen [...]. 60 „Ältere“ und „neuere“ Räte ergänzten über Zuwahlen einander und tauschten ihre Erfahrungen im Amt kontinuierlich aus. Das Wahlrecht in der Gemeinde konnte aber auch, wie in den oberfränkischen Orten Kirch- und Oberrüsselbach geschehen, stellvertretend nur dem Dorfvorsteher zustehen. Erstl[ich] solle der dorfs hauptmann nebst der gemeinde jährlich zu Walburgis zweÿ mann, neml[ich] einen von Kirchrüßelbach, und einem von Göppmannsbühl [Oberrüsselbach], zu gemeins vierern erwählen, und solche alljährl[ich] zu Rüßelbach beÿ der amts herrschaftt um Jacobi, die sich wegen des zehendens daselbst befindet, zur verpflichtung vorstellig machen, auch damit hernach alle jahr zu gedachter zeit dergestallt widerhohlet werden, und keiner von demselben ausgeschlossen werden solle. Üblich war dieser vereinfachte, von „oben“ sehr gut zu steuernde Wahlvorgang nicht, auch wenn man dort festgelegt hatte, nach und nach alle in der Gemeinde aufzurufen. Es sei denn, dass mancher gebrechlich- und untüchtigkeit wegen, nothwendig davon ausgeschlossen werden müste. 61 In Ober- und Unterferrieden im Nürnberger Land war es die Gemeinde selbst, die sich die jährliche Ämterwahl vorbehielt. Dort galt es 1681 zwei bzw. vier Dorfvorsteher zu bestimmen. Sollen jährlichen aus einhelliger wahl einer ganczen gemeind, am montag nach Quasimodogeniti, neüe führer, als einer zu Oberunnd zwey zu Unterferrieden gesetzt werden, von denen alten führern aber alleczeit einer zu Oberunnd zwey zu Unterferrieden, die neüen desto beßer zu unterrichten, bleiben. Daß also jährlich zu berührtem Oberzwey, unnd zu Unterferrieden vier führer sein, welche der ganczen gemeind ihre treü, an eines geschwornen aydes statt, geben. 62 Und in Elgersdorf ließ das Nürnberger Klarenamt noch 1740 die Wahl der Dorfführer nach altem Recht und Herkommen geschehen. Soziale Veränderungen und Hofteilungen führten dort nur zu geringfügigen Reformen im Wahlmodus. Das Amt ging unter den ortsansässigen Voll- und Halbbauern einfach reihum. Dieweilen mit alters furkommen, dass allezeit mit dem neuen jahr ein neuer dorffmaister, der ordnung nach, wie die jnnwohner alljährlich bey 59 Zitate nach: W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 238, 241. Die Kompetenzen der Zwölfer wurden dort wiederholt angesprochen. So auch: Zum fuenfftzehenden, es ist auch von den 12 beschlossen, das ein jeder baur, innwohner oder wittwe, der ein hauß oder zins zuuerlassen hatt, keinen bestendtner der aus einem fremdn ortt oder dorff hierein begertt, sol auffnemen oder sein zins verlasen [...]. 60 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 67. 61 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 530. 62 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 345. Wolfgang Wüst 258 abhör der gemain rechnung verlesen werden, antritt, und der gemain herrschafft zu pflichten genommen wird, und dann in Algersdorff sieben höfe sich befinden, deren jedoch einige zerthailet wurden. So solle es der bißherigen observanz und gewohnheit nach noch ferners sein unverändertes verbleiben dergestalt haben, dass die jedesmaligen posesores eines gantzen hofs allein, die beede besitzer eines solchen zerthailten hoffs aber, wann die reyhe an sie kommet, dasselbigen jahr die dorffmeister stelln, und zwar jeder ein halbes jahr, vertretten, und allezeit mit dem neuen jahr, der alte dorffsmeister abtretten, und dem oder denen neuen dorffmeistern, die gemainordnung und rechnung, nebst der büchsen und gemain schachtel, übergeben. 63 Bürger- und Dorfmeister, die Gemeindevierer, aber auch örtliche Ob- und Hauptmänner sowie die Schultheißen, sofern letztere nicht ausschließlich als Fürstendiener agierten, standen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit bereits meist in einer oft nicht näher umschriebenen kommunalen wie landesherrlichen Verpflichtung. Das galt auch für die hier nicht näher untersuchten fränkischen Reichsdörfer 64 , wo kommunales Geschehen wie zu Gochsheim oder Senndorf reichsrechtlich große Aufmerksamkeit erregte. Besonders deutlich markierte man die herrschaftliche Zuordnung der Gemeindeorgane unmittelbar nach ihrer Wahl für Kirchrüsselbach im 18. Jahrhundert: Die nun erwehlten vierer sollen verbunden und schuldig seÿn, dem dorfs hauptmann in sachen, so zu den gemeind bestes gereichet, schuldige folge zu leisten, und sämtl[ich] mit einander in der gemeinde allen schaden wenden. 65 Kennzeichnend war aber, dass sie alle gegenüber Gemeinde und Herrschaft in einer doppelten Verantwortung standen. In Vogtsreichenbach, wo das Nürnberger Landalmosenamt die Dorfherrschaft nicht unumstritten ausübte, definierte man im Bauernkriegsjahr 1525 die Rolle der Gemeindeherren so: Item zu dem ersten ist durch die gemein mit verwilligung ihrer herrschafft beschlossen, daß alle jahr zween dorffsmaistern ein gemein erwöhlen sollen aus der gemein, und die also zu dorfsmeistern erwöhlt und gesetzt werden sollen. 66 Hier gab es zahlreiche Nuancierungen, wie sie eine auf Konsens setzende Herrschaftsform bedingte. In Prühl, wo sich im 16. Jahrhundert zwei fränkische Grafengeschlechter - die Castell und die Schwarzenberg 67 - die Dorfherrschaft teilten und 63 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 421. 64 F RITZ Z EILEIN , Das freie Reichsdorf Gochsheim, in: R AINER A. M ÜLLER (Hrsg.), Reichsstädte in Franken. Aufsätze 1 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 15,1/ 1987), München 1987, 379-387; DERS ., Gochsheim: ehemaliges Freies Reichsdorf; Chronik, historische Gebäude, Erläuterungen, Gochsheim 1991; F RIEDRICH W EBER , Geschichte der fränkischen Reichsdörfer Gochsheim und Sennfeld, Schweinfurt 1913. 65 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 530. 66 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 183. 67 Den Reichsgrafenstand erwarb das Haus getrennt nach konfessionell geschiedenen Linien 1566 und 1599, den Reichsfürstenstand für den Erstgeborenen schließlich im Jahr 1670. Vgl. W OLFGANG W ÜST , Die Akte Seinsheim-Schwarzenberg: eine fränkische Adelsherrschaft Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 259 sich 1572 in einem Einigungsvertrag zu einer „verbesserten“ Ordnung verpflichteten, band man schon zuvor die gewählten Bürgermeister mit einem Treueschwur gegenüber den Schultheißen. Letztere verstanden sich als Vertreter der Herrschaft, doch die Gemeinde war eidlich nur den Bürgermeistern verpflichtet. 1566 hatte man beschlossen, dass man jerlichen zween burgermaister wehlen solt, vnnd welche gewelt werden, das dieselben gemelte burgermaister der dorffsherrn schulthessen an aines geschwornen aÿdts statt geloben müssen, der gemein gantz treulich vorzustehen vnd zu sein. Widerumb ain jeder in der gemain den burgermeistern mit handgeben den treuen an geschwornen aÿdts stath geloben müssen. 68 Es gab aber auch Orte, an denen noch Ende des 16. Jahrhunderts die Herrschaft in der Dorfordnung kaum in Erscheinung trat. Eltersdorf war so ein Fall, wo man in einer Dorfordnung erstmals 1580 bisher nur mündlich verkündete und tradierte Gesetze schriftlich fixierte. Die Ordnung unterschied sich von ihren Nachfolgern nicht nur durch ein reduziertes Protokoll und eine einfache Sprache, sondern auch durch das Auftreten der Gemeinde als Exekutivorgan. Der Eltersdorfer Zwölfer trat hier in eine genuin herrschaftliche Funktion ein: Zum fuenfftzehenden, es ist auch von den 12 beschlossen, das ein jeder baur, innwohner oder wittwe, der ein hauß oder zins zuuerlassen hatt, keinen bestendtner der aus einem fremdn ortt oder dorff hierein begertt, sol auffnemen oder sein zins verlasen, ohn vorwissen der hauptleutt unnd burgermaister, bey straff unnd peen 1 gulden. 69 5. Supplizieren - Meinungsbilder von „Unten“ Als letzten Punkt für die Bestimmung kleiner Strukturen betrachten wir Bittschriften oder Suppliken, über die soziale, wirtschaftliche, persönliche oder politische Botschaften kleiner Leute an die jeweiligen Orts- oder Landesherrschaften und, in Einzelfällen, auch an das Reichsoberhaupt gelangten. Über das Medium der Suppliken können bisweilen Mikro- und Makrogeschichte zur Deckung gebracht werden. Wenden wir uns den Bittschriften an die zentralen Institutionen des Alten Reiches zu. Das Alte Reich war im Süden keineswegs nur ein Denkmodell, mit dem sich Juristen oder Ratskonsulenten beschäftigten. Vielmehr wissen wir aus dem Verlauf von Konflikten, dass die Untertanen in ihrer Not auch an Reichsinstitutionen appellierten. Hier nahmen Reichsgerichte eine wichtige Scharnierstelle ein. Es war kein Zufall, dass sich das auch in Bayern im 15. Jahrhundert verbreitende „Supplizieren“ vor dem Reichskammergericht, in: Jahrbuch für fränkische Landesgeschichte 62 (2002), 203-230. 68 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 225. 69 W ÜST , Die lokale Policey (wie Anm. 12), 241. Wolfgang Wüst 260 an die Obrigkeit mit der Institutionalisierung der Reichsgerichte einherging. Zudem begannen die Reichstage förmliche Ausschüsse für Eingaben, Bittschriften oder Suppliken einzurichten. Helmut Neuhaus untersuchte dieses Phänomen für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts eingehend. 70 In alphabetischen Listen wurden Fürbitten an das Reich, wenngleich nicht gewichtet, so doch nach den Namen der Bittsteller sorgsam registriert. Dabei handelte es sich keineswegs immer um reichsständische, institutionelle oder abstrakte politische Angelegenheiten. Mit den „Gnaden-Suppliken“ eröffnete sich vielmehr ein Weg, private Anliegen, Wünsche und Sorgen vorzubringen. Der Kaiser trat zusammen mit dem Reichstag unfreiwillig in die Rolle des Arbiters 71 , dessen Wirkung aus der Distanz oft nicht genau zu bestimmen war. Zudem war „Privates“ und „Öffentliches“, „Kleines“ und „Großes“ oft kaum zu trennen. So richtete der Freisinger Kanoniker Christoff von Pohlain an den Kaiser die prekäre Bitte, seine unehelichen Kinder - eine Tochter und fünf Söhne - zu legitimieren. Prompt kamen von den Vettern des betroffenen Domherrn Gegenargumente, da deren Nachkommen bei der Legitimierung von Klerikerkindern erbrechtlich benachteiligt wurden. 72 Ungezählte Bittschriften von Bauern und Bürgern aus der Region wurden so an Ausschüssen vorbei direkt an die Könige und Kaiser gerichtet. Untertanen scheuten nicht den weiten Weg zu den Residenzen in Innsbruck oder Wien, um ihre Anliegen vor dem Reichsoberhaupt persönlich vorzubringen. Zumeist waren es diese ersten Kontakte, die zur Bildung hochrangiger Kommissionen führten. So geschah es am 21. Februar 1692, als drei Weißenburger Bürger - Quellen bezeichneten sie als „Impetranten“ - vor Kaiser Leopold I. und dem Reichshofrat eine Beschwerde über die Missstände in ihrer Stadt vortrugen. Wir wählen dieses Beispiel, um an dieser Stelle den dörflichen Mikrokosmos durch die Einbeziehung städtischer Erfahrungswelten zu erweitern. In der Weißenburger Verwaltung, im Finanz- und Justizwesen waren Fehler vorausgegangen, ohne dass man wegen der Machtfülle des Rats auf rasche Abhilfe hoffen konnte. Eine kaiserliche Untersuchungskommission unter Vorsitz des Deutschmeisters Pfalzgraf Ludwig Anton - er regierte in Mergentheim - folgte auf dem Fuß. Der Weißenburger Reformprozess war jetzt dank der Autorität einer kaiserlichen Kommission in Gang gekommen. Bald zählten 143 Bürger zur Klagepartei, während die Sache des Magistrats nur noch 109 Wahlberechtigte unter- 70 H ELMUT N EUHAUS , Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte 24), Berlin 1977, 148-293. 71 C HRISTOPH K AMPMANN , Arbiter und Friedensstiftung: Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, NF, 21), Paderborn 2001. 72 N EUHAUS , Reichstag und Supplikationsausschuß (wie Anm. 70), 114-118. Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 261 stützten. 73 Die kleinen „Impetranten“ erhielten jetzt ausgiebig Gelegenheit, ihr Anliegen vorzubringen. Aus ihm ging jahrelanger Amtsmissbrauch hervor, der die Enge politischen Handelns im Alltag deutlich belegte. Im Oktober 1693 beendete dann ein Rezess diesen Weißenburger „Familienkrach“, zumindest vorläufig. Im Gutachten der kaiserlichen Kommission finden sich einige neuralgische Punkte, die wir als Folge fehlender Verbindungen zwischen „Klein“ und „Groß“ interpretieren können. Dies waren im Einzelnen: 1. Amtshandlungen sollten künftig nicht mehr in den Privatwohnungen der Bürgermeister stattfinden. Streitwerte über fünf Gulden mussten im Rathaus und zwar vor dem einberufenen Rat aufgerufen werden. 2. Ferner war künftig zur Vermeidung unauflösbarer Beziehungsnetze und Verwandtschaftsverhältnisse im Rat weniger privilegierten Bürgern ein Vorzug einzuräumen. Sie durften noch keine „Freunde“ im Rat haben und mussten ausreichend qualifiziert sein. Gedacht war vor allem an Bürger, die studiert hatten. Wahlkandidaten und Wahlherren, die bestochen wurden, mussten ihre Ämter niederlegen. 3. Ratsherren durften bei Gerichtsverfahren von den streitenden Parteien keinerlei Geld annehmen. Die Gerichtsgebühren waren ausschließlich nach der Taxordnung zu bezahlen. 4. Vor Ratswahlen mussten die Wahlmänner alle Kandidaten auf Eignung überprüfen. Fehlbesetzungen gaben hier Anlass zum Handeln. 5. Syndikus und Stadtschreiber durften ohne Ratsmandat eigenmächtig keine Gutachten erstellen und Weisungen erteilen. 74 Bittfahrten, Unterstützungsschreiben und Untersuchungskommissionen korrigierten nicht nur in Weißenburg fehlende Transparenz und gesellschaftliche Ungleichheit. In Bayern hatte das „Laufen gen Hof“, wie Renate Blickle zeigte, überregionale Verbreitung erfahren. Dies galt im Herzogtum grundsätzlich seit dem 15. Jahrhundert, speziell aber in den Landgerichten der Klöster Rottenbuch, Steingaden und Ettal. Für flächendeckende Einschätzungen fehlen aber bisher noch Untersuchungen. Mit der Aufnahme von Supplikationen bei der Umsetzung landesweiter Gerichts- und Policeyordnungen verstärkten sich kleine Strukturen. Es handelte sich ja meist um bescheidene Anliegen oder um geringfügige Klagen. Diese wurden in der Regel territorial ausgehandelt. Um das Jahr 1500 ließ beispielsweise ein Heinz Schmid aus Oberammergau eine Bittschrift abfassen. Er ging damit bis nach München, um gegen einen seiner Nachbarn zu klagen. Er hielt ihn für ehrlos. Die Klage 73 G USTAV M ÖDL , „Weissenburg contra Weissenburg“ - ein Beitrag zum Verhältnis zwischen Rat und Bürgerschaft, in: Uuizzinburg: Weißenburg 867-1967. Beiträge zur Stadtgeschichte, Weißenburg i. Bayern 1967, 105-110, hier 106f.; DERS ., Impetranten-Impetraten - Streit in Weißenburg / Bayern 1692-1699, Zulassungsarbeit Lehramt an Gymnasien, Universität München 1963. 74 Mödl, „Weissenburg contra Weissenburg“ (wie Anm. 73), 107f. Wolfgang Wüst 262 wurde zwar an das örtliche Gericht in Ettal zurückgewiesen, doch supplizierte man aus dem Ammertal weiterhin nach München. Das Rechtsmittel des Rekurses und der Gnadenbitte nutzten viele soziale Schichten, angefangen vom Ettaler Abt bis hin zu einfachen Bürgern und Bauern. Laien wie Kleriker fanden sich auf dem Petitionsweg zum Landesfürsten. 75 Untertanenprozesse kennen wir aus schwäbischen Herrschaften. Im 18. Jahrhundert beschritten Bauern aus der gefürsteten Grafschaft Hohenzollern-Hechingen, ganz direkt und zu Fuß, diese Wege nach „Oben“. 76 Einige der Untertanen hatten dank ihrer Mobilität einen weiten Gesichtskreis. Da die agrarische Subsistenz nicht reichte, um ihre Familien zu ernähren, übten die Hechinger vielfach das Krämer- und Hausierergewerbe im Zuerwerb aus. Ihre Geschäfte führten sie hierbei über viele Grenzen; Wege bis nach Wien oder Wetzlar erschienen so durchaus realisierbar. 1767/ 68 kam es nicht zum ersten Mal zu einer Vermittlung durch Reichsinstitutionen. Konflikte waren um das freie Jagdrecht 77 der Hechinger Bauern entstanden, das durch die Jagdleidenschaft der Landesfürsten Friedrich Wilhelm, Friedrich Ludwig und Josef Wilhelm zunehmend gefährdet schien. Der mit der Jagd verbundene Waffenbesitz spielte eine zusätzliche Rolle. Bereits früher war es zu Waffengängen zwischen der bäuerlichen Genossenschaft und der Herrschaft gekommen. Vor Kaiser Josef II. konnten 1767 die Hechinger Deputierten endlich ihre Begehren vorbringen. Sie bestanden auf freier Pirsch, Abschaffung der Leibherrschaft, freies Versammlungsrecht und Steuermitsprache. Josef II. gab das Begehren auch an das Reichskammergericht weiter. 78 Der Konflikt war jetzt zwar noch nicht gelöst, doch begehrten als Folge gemeine Leute im betroffenen Fürstentum wiederholt gegen die Obrigkeit auf. Dabei verhielten sie sich rechtskonform, obwohl sich dabei kleine und große Strukturen ständig begegneten. Am Ende schlug man nach langen Beratungen im Gericht zu Wetzlar der Hechinger Regierung einen Kompromiss vor: Man missbilligte [in Wetzlar] nätürlicherweise, daß die Untertanen damals [1767] in Tätlichkeit und Selbsthilfe verfallen sind. Man bemerkt aber auch darbey, daß damals nur auf diese Ungebühr gesehen und solche zwar, wie recht, reprimiert worden; daß aber dagegen die sehr gegründeten Beschwerden der Untertanen ganz über- 75 R ENATE B LICKLE , Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: P ETER B LICKLE (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa (Historische Zeitschrift, Beiheft NF 25), München 1998, 241-266. 76 V OLKER P RESS , Der hohenzollern-hechingische Landesvergleich von 1798. Reichsrecht und Untertanenvertretung im Zeichen der französischen Revolution, in: Zeitschrift für hohenzollerische Geschichte 14 (1978), 77-108, hier 80. 77 Vgl. dazu auch: W OLFGANG W ÜST , Jagen unter den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach: Höfisches Spektakel, ökonomischer Vorteil oder herrschaftliches Kalkül? , in: Jahrbuch für fränkische Landesgeschichte 68 (2008), 2009, 93-113. 78 P RESS , Der hohenzollern-hechingische Landesvergleich (wie Anm. 73), 80f. Mikrokosmos - Süddeutsche Erfahrungswelten 263 sehen und dagegen keine Remedur erteilt worden wäre. In vorigen Zeiten wäre der Zuschnitt so gemacht worden, daß die Untertanen vor und nach [dem Urteil] um alles Eigentum gebracht werden sollten. Die Zeit der überspannten Forderungen wäre vorbey und es müsste gleiches Recht für den Landesfürsten und die Untertanen geben. 79 In einem versöhnlichen Ende einigten sich hier und andernorts „Klein“ und „Groß“ in politischer, rechtlicher wie sozialer Hinsicht. Mikrogeschichte traf und trifft so immer wieder auf Makrogeschichte. Dies galt es zu zeigen. In der Konsequenz heißt das: Wir brauchen auch künftig eine überregional verankerte Landesgeschichte, um aus „kleinen“ Strukturen Großes entstehen zu lassen. 79 Zitiert nach P RESS , Der hohenzollern-hechingische Landesvergleich (wie Anm. 76), 90. Amts- und Staatskalender - staatliches Medieninstrument in Absolutismus und Aufklärung 1 Regina Hindelang 1. Amts-, Staats- und Hofkalender in ihrer Verwendung im Absolutismus und der Aufklärung Die Amts-, Hof- und Staatskalender waren ein viel genutztes Kalenderwerk und Medieninstrument des frühmodernen Staates im 18. Jahrhundert, in welchem alle Staatsdiener aufgeführt wurden. Die Fürsten begünstigten die Amtskalender als ihre Spielwiese 2 und verstärkten dadurch das Lieblingvorurtheil, dass von ihnen alle Ehre ausgehe, und stimmten allmählig ihre Untertanen dahin hinab, dass jeder seine Ehre im Dienst suchte. 3 Was heißt diese Feststellung für die einzelnen Beamten oder auch für diejenigen, die diese Spielwiese herstellten und verkauften in einer Zeit, in der Absolutismus und Aufklärung als entgegengesetzte Geisteshaltungen vorherrschten und der Streit um Privilegien sowie täglicher Mangel durch militärische Auseinandersetzungen das Leben erschwerten? Dies kann am einfachsten anhand eines Beispiels der Drucker und Sortimenterverleger in Ansbach und Bayreuth betrachtet werden. Zunächst ist es aber ratsam, die Amtskalender zu analysieren und in ihrer Funktion als Beschreibung des Staates genauer zu betrachten. Als Quellenmaterial standen die Amts- und Staatskalender der zollerischen Fürstentümer Ansbach und Bayreuth 4 und die Abhandlung von Joachim von Schwarzkopf (1766-1806), der 1 Der Aufsatz entstand in Anlehnung an die Magisterarbeit der Verfasserin unter dem Titel „Die Amts- und Hofkalender von Ansbach und Bayreuth - Mediale Staatsbeschreibung von 1737 bis 1791“, die im Sommersemester 2010 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg bei Prof. Wüst eingereicht wurde. Der Schwerpunkt der Arbeit lag auf den Ausgestaltungsmöglichkeiten der Staatskalender durch die Drucker und Verleger und dem Vertrieb der Buchhändler. Dazu fungierte der Amtskalender als alleiniges Medium und nicht nur als Hilfsmittel. Er wurde mit Inhalt, Gestaltung und Aufbau quantitativ und qualitativ ausgewertet und in den zeitlichen Kontext eingearbeitet. 2 Vgl. J OACHIM VON S CHWARZKOPF , Über Staats- und Adress-Calender. Ein Beytrag zur Staatenkunde, Berlin 1792, 14f. und 27f. 3 S CHWARZKOPF , Staats- und Adress-Calender (wie Anm. 2), 13. 4 Vgl. UB Erlangen, Ansbach (Hist 611k): Jahrgang 1738-1757, 1760-1768, 1770-1772, 1777, 1779, 1781, 1782, 1784-1786, 1788, 1790; Bayreuth (Hist. 615 ez): 1739, 1743, 1745, 1747-1750, 1752, 1753, 1755, 1756, 1758, 1761, 1763, 1766; StA Nürnberg: Ansbach (Rep. 129): 1737 (Nr. 114), 1769 (Nr. 150), 1773-1776 (Nr. 181-184), 1778 (Nr. 186), 1780 (Nr. 188), 1787 (Nr. 196), 1789 (Nr. 198); Bayreuth (Rep. 129): 1738 Regina Hindelang 266 sich als erster um eine detaillierte Aufstellung und Auswertung der Amtskalender des Alten Reiches bemühte, zur Verfügung. Es gibt viele Gemeinsamkeiten unter den Amtskalendern des Alten Reiches. Der Erscheinungsverlauf jedoch, die Hintergründe für die Einführung, die wechselnden Gestaltungsmerkmale und die Privilegienvergabe an bestimmte Drucker sind jeweils landes- und ortspezifisch beizubringen. Diese Vorgehensweise dient zugleich der Aufarbeitung und Zusammenfassung der punktuellen Landesgeschichte. 5 Sehr verdienstvoll ist die dreibändige Zusammenstellung der Repertorien der territorialen Staats-, Amts- und Hofkalender des Alten Reiches durch Volker Bauer, der systematisch alle Archive, Bibliotheken und Sammlungen aufnahm und eine detaillierte Erschließung der Bestände erst ermöglichte. 6 Zur begrifflichen Aufarbeitung dienten die einschlägigen Lexika, wie das Lexikon des gesamten Buchwesens 7 und der Zedler 8 als zeitgenössisches Nachschlagewerk. Der Begriff Landesbeschreibung, der sich aus dem Amtskalenderinhalt nicht ableiten lässt, aber trotzdem in diesem Fall angewendet werden kann, bedarf hier einer eigenen Diskussion. Die zeitgenössische Landesbeschreibung von Johann Bernhard Fischer, 9 die eine genaue (Nr. 151), 1740- 1742 (Nr. 153-155), 1744 (Nr. 157), 1746 (Nr. 160), 1751 (Nr. 165), 1754 (Nr. 168), 1757 (Nr. 171), 1759 (Nr. 173), 1760 (Nr. 174), 1764 (Nr. 176), 1765 (Nr. 177). Die Jahrgänge 1758 und 1759 für Ansbach fehlen in der periodischen Zählung. Aus Bayreuth wurden die Jahrgänge 1767 (Bayreuth, Signatur: Kanzlei B. H. Hist. 2716), 1768 (Bayreuth, Signatur: Kanzlei B. H. Hist. 2717) und 1783 (Ansbach und Bayreuth, Signatur: Bayreuth UB 45-NS 5913A 242-1783) hinzugezogen. Jahrgang 1791 Teilbibliothek Geschichte der UB Erlangen unter der Signatur 06LG09 390b. 5 Vergleichend dazu die Ausführungen zu Hof- Staats- und Stiftskalendern des Hochstifts Augsburg in W OLFGANG W ÜST , Geistlicher Staat und Altes Reich: Frühneuzeitliche Herrschaftsformen, Administration und Hofhaltung im Augsburger Fürstbistum (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte XIX/ 1), München 2001, 472-476. 6 Hier besonders zu dieser Arbeit Band 2: V OLKER B AUER , Repertorium territorialer Amtskalender und Amtshandbücher im Alten Reich. Adreß-, Hof-, Staatskalender und Staatshandbücher des 18. Jahrhunderts. Heutiges Bayern, Österreich, Liechtenstein (Ius Commune. Sonderhefte. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 123), Bd 2, Frankfurt a.M. 1999, 177-232. 7 Vgl. hier die Lemmata Hofkalender, Amtliche Drucksachen, Staatshandbücher, Adreßbuch: W. L EESCH / A. L UDEWIG / S. W OLF , Staatshandbücher, in: Lexikon des gesamten Buchwesens, zweite, neu bearbeitete Auflage, Bd. VII, Stuttgart 2007, 194f.; R. F ELDMANN , Hofkalender, in: ebd., Bd. III, Stuttgart 1991, 506; R. J UNG , Amtliche Drucksachen, in: ebd., Bd. I, Stuttgart 1987, 82; H ARTMUT Z WAHR , Adreßbuch, in: ebd., Bd. I, Stuttgart 1987, 24f. 8 Vgl. A NONYMUS , Land, in: J OHANN H EINRICH Z EDLER , Großes vollständiges Universal- Lexikon, 68 Bde., Halle / Leipzig 1737, zweiter. vollst. photomechanische Nachdruck, hier Bd. 16, Sp. 376-379. 9 Vgl. J OHANN B ERNHARD F ISCHER , Statistische und topographische Beschreibung des Burggrafthums Nürnberg unterhalb des Gebürgs, 2 Bde., Ansbach 2008, (Nachdruck mit Einführung 2008). Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 267 Aufstellung der Rechts- und Herrschaftsverhältnisse enthält, muss in jedem Fall konsultiert werden. 2. Der Amtskalender als Staatsbeschreibung - seine Entstehung, sein Aufbau und die Datensammlung Die rationelle Erfassung eines Staates setzte das Vorhandensein eines Hilfsmittels voraus, aus dem die Zugehörigkeit des Beamten und der Aufbau des Staates selbst erschlossen werden können. Gerade zur Entstehungszeit 10 der Amtskalender stellt die Aufklärung die Geisteshaltung des Absolutismus in Frage und schafft mit den Kalendern für das Individuum einen guten Nährboden für die Umsetzung neuer Ideen. 2.1. Entstehung der Amtskalender Bei der Begrifflichkeit Amtskalender oder Staatskalender muss eine Vielzahl von verschiedenen Komponenten berücksichtigt werden. In der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zum frühmodernen Staat, der sich in einen neuzeitlichen Beamtenstaat wandelte, war es notwendig geworden, die Beamten aufzulisten. Durch die immer stärker zunehmende Strukturierung in einzelne Behörden und die Trennung von Staats- und Hofbediensteten, führte der Weg von der Kollegialverfassung zwischen Fürst und persönlichen Räten zur Errichtung der absoluten Monarchie und dem damit verbundenen zentral organisierten Staatswesen „durch die Schaffung eines zentral vom Monarchen aus geleiteten Behörden- und Beamtenapparates bis in die untersten Verästelungen von Verwaltung und Gerichtsbarkeit“. 11 Durch diese Schaffung der Unabhängigkeit vom Kaiser entwickelten sich fast souveräne Kleinstaaten mit einem unabhängigen Beamtenapparat. Die Beamtenliste, die wegen dieser Verästelungen aufgestellt wurde, war der Ursprung der Hof- und Staatskalender. 12 Die Amts- und Staatskalender entwickelten sich in einer Zeit, in der das Bürgertum einen immer stärkeren Einfluss gewann und der Hof sich nur mit Hartnäckigkeit halten konnte und um seine Glaubwürdigkeit kämpfen musste. 13 Schon aus diesem Grund mussten sich die Amtskalender 10 Die Zeit des Absolutismus und dann der Aufklärung stellten viele traditionelle und neue Auffassungen auf die Zerreißprobe. 11 N ICKLAS F REIHERR VON S CHRENCK UND N OTZING , Die Hof- und Staatskalender als Geschichtsquelle, in: D IE M APPE (Hrsg.), Sammeln und Bewahren. Beiträge zur Kunst, Literatur und Buchgeschichte, München 1973, 142-149, hier 145. 12 Vgl. S CHRENCK UND N OTZING , Hof- und Staatskalender (wie Anm. 11), 145. 13 Vgl. A RTHUR R ÜMANN , Historisch-genealogische Kalender, in: Philobiblon 11 (1939), 7- 24, hier 7. Regina Hindelang 268 von den normalen Volkskalendern abgrenzen und erschienen zum Ende des Alten Reiches hin in der Form der Handbücher. Um sich einen Überblick über die verschiedenen Einflüsse auf die Amtskalender zu verschaffen, sei auf die vielfältigen Methoden hingewiesen, die angewandt wurden, um deren spezifischen Charakter aufzubauen. Ein typisches Merkmal der Amts- oder Staatskalender ist die Auflistung der herrschenden Familie, der Staatsminister und der wichtigsten Beamten. Schon der Name Amts-, Hof- oder Staatskalender weist darauf hin, dass die gesamte Belegschaft der Höfe auf dem Papier präsentiert wurde. Dieses Mittel der unmittelbaren Repräsentation wurde vor allem in der Zeit des „Absolutismus“ genutzt. Die ersten Exemplare erschienen in Frankreich im Jahre 1684 und breiteten sich dann über ganz Europa aus. 14 Auch die deutschen Klein- und Kleinststaaten (Duodezfürsten 15 ) wollten auf diese Art der Repräsentation nicht verzichten und gaben ebenfalls solche Verzeichnisse heraus. Deren Verzeichnisse waren oft noch detaillierter und genauer untergliedert, als die ihrer größeren Nachbarn, um den Umfang ihrer Vorbilder zu erreichen. 16 In ihrer inhaltlichen Zusammenstellung wiesen die Staatskalender in Deutschland und im Ausland (Frankreich, England, Russland) eine frappierende Ähnlichkeit auf. 17 Ein weiteres Merkmal der Staatskalender ist die periodische Erscheinungsweise, die eine verbesserte und schnelle Bekanntmachung von wichtigen Terminen in der Öffentlichkeit gewährleistete. Die Sitte, solche periodischen Verzeichnisse herauszugeben, ist noch relativ jung und setzt erst mit der Entstehung des modernen Großstaats ein. Die grundlegende Gemeinsamkeit mit den schon lange vorher existierenden Volkskalendern, lag in der Aufnahme des absatzfördernden Kalendariums und der wichtigen astronomischen Ereignisse, wie Sonnen- und Mondfinsternissen und Mondphasen, der medizinischen Praktiken und der Fest- und Feiertage. Diese 14 Vgl. L EESCH / L UDEWIG / W OLF , Staatshandbücher (wie Anm. 7), 194; M ARTIN H Aß , Die preußischen Adreßkalender und Staatshandbücher als historisch-statistische Quellen, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 1 und 2, Leipzig (1907), 133-193 und 1-40, hier 1, 136. 15 Der Begriff Duodezkalender leitet sich aus dem Format der Kalender ab. Dieser Begriff gibt dann auch den Fürsten, die nur imstande sind dieses Buchformat des Kalenders mit ihrem Hofstaat zu füllen, ihren Namen. 16 Vgl. V OLKER B AUER , Repertorium territorialer Amtskalender und Amtshandbücher im Alten Reich. Adreß-, Hof- und Staatskalender und Staatshandbücher des 18. Jahrhunderts. Nord- und Mitteldeutschland, (Ius Commune. Sonderhefte. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 103), Bd 1, Frankfurt a.M. 1997, 1; F ELDMANN , Hofkalender (wie Anm. 7), 506; S CHRENCK UND N OTZING , Hof- und Staatskalender (wie Anm. 11), 146; A DALBERT B RAUER , Das Adreßbuch und seine Bedeutung (Rezension von H ARTMUT Z WAHR , Das deutsche Stadtadreßbuch als orts- und sozialgeschichtliche Quelle), in: Aus dem Antiquariat. Beilage zum Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 26 (1970), A225-A227, hier A226; H Aß , Preußische Adreßkalender (wie Anm. 14), 139. 17 Vgl. H Aß , Adreßkalender (wie Anm. 14), 140. Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 269 Merkmale sind auch während der Aufklärungszeit in den Volkskalendern präsent geblieben. Die zusätzlichen Beigaben von Geschichten und belehrenden Texten wurden jedoch in die Hofkalender der Fürstentümer Ansbach und Bayreuth nicht aufgenommen. Diese Beigaben verfolgten die Absicht, zur Volksaufklärung beizutragen. Sie richteten sich auch konsequent gegen den Aberglauben. Die aufklärerischen Texte hatten aber nur einen zweitrangigen Stellenwert. Prognostiken und Aussaatkalender wurden von den gemeinen Leuten sehr viel häufiger genutzt. 18 Man darf die „Hof- und Staatskalenderaddresse“, die in den Amts- und Staatskalendern den Hauptteil ausmacht, allerdings nicht mit den Adressbüchern verwechseln, die sich für einzelne Städte in Europa herausbildeten. Es gab zwar Staatskalender, die noch zusätzlich einen extra Adressteil für die Stadt, die Branche oder das Gewerbe angefügt hatten, für die Kleinstaaten trifft dies jedoch nicht zu. Staatskalender gelten aber dennoch als Vorläufer der Adressbücher. Dieses Phänomen „Adreßbuch“ beschränkt sich auf die großen Städte, wie unter anderem Dresden und Königsberg. 19 Die ersten umfassenden Verzeichnisse der Adressbücher erschienen seit dem 16. Jahrhundert als städtische Druckwerke, die von den Bürgern selbst herausgegeben wurden und ihre Entsprechung in den Amtskalendern der feudalaristokratischen Herrschaft fanden. Erste Vorläufer findet man in den Buchmesskatalogen, die bei Georg Willer in Augsburg 1564 und bei Henning Große 1594 in Leipzig erschienen sind. 20 Die Amtsbzw. Staatskalender zählen auch zu den amtlichen Drucksachen, die von der tragenden Staatsgewalt herausgegeben wurden, um sich Gehör zu verschaffen. Sie wurden unmittelbar von ihr herausgegeben oder unterstützt. Die amtlichen Drucksachen umfassten ein großes Spektrum von Veröffentlichungen wie Erlasse, Gesetze, Verträge, Haushaltspläne, aber auch populär gehaltene Informationen für den Staatsbürger. 21 Wegen der periodischen Erscheinungsweise der Staatskalender war eine verbesserte und schnelle Bekanntmachung von wichtigen Terminen, wie der Ferien- oder Sessionstermine, der Kanzlei in der Öffentlichkeit gewährleistet. 18 Vgl. G EORG S EIDERER , Formen der Aufklärung in fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich, München 1997, 373-375 und 377; M ANFRED H ANISCH , Politik in und mit Kalendern (1500-1800). Eine Studie zur Endterschen Kalendersammlung in Nürnberg, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 49 (1989), 59-76, 59; F ELDMANN , Hofkalender (wie Anm. 7), 506; H Aß , Adreßkalender (wie Anm. 14), 135; S CHWARZKOPF , Staats- und Adress-Calender (wie Anm. 2), 49. 19 Vgl. B AUER , Repertorium, Bd 1 (wie Anm. 16), 42; Z WAHR , Adreßbuch (wie Anm. 7), 24. 20 Vgl. B AUER , Repertorium, Bd 1 (wie Anm. 16), 43f.; Zwahr, Adreßbuch (wie Anm. 7), 24; B RAUER , Adreßbuch (wie Anm. 16), A226. 21 Vgl. B AUER , Repertorium, Bd 1 (wie Anm. 16), 23-31; J UNG , Amtliche Druckschriften (wie Anm. 7), 82. Regina Hindelang 270 „Zugleich bestätigt sie [die Verschränkung der verschiedenen Textsorten, Anm. Autorin], daß eine Gattungsgeschichte der Amtskalender nicht unter Absehen von anderen Textsorten geschrieben werden kann. Zwar stellten die Staatskalender ein distinktes Genre mit spezifischen Merkmalen dar, doch bildeten sie diese Charakteristika erst im Austausch mit anderen Gattungen aus. Sie stillten das Bedürfnis nach der Inventarisierung des Herrschafts- und Verwaltungsapparates, das zum einen auf konkrete administrative Erfordernisse und zum anderen auf ein staatenkundliches Erkenntnisinteresse zurückging, und koppelten Personalinformationen an einen aufnahmebereiten und populären Träger, eben den Kalender.“ 22 2.2. Der Aufbau des Amtskalenders und die Funktion als Staatsbeschreibung Der Aufbau des Mediums Staatskalender folgt einem immer gleichförmigen und sich jährlich wiederholenden Schema, das sich von der Wichtigkeit der staatstragenden Person oder Institution von oben nach unten vorarbeitet. Die Funktion als Staatsbeschreibung ist nur ein Teil einer Landesbeschreibung, wie sie Zedlers Universallexikon versteht. 23 Zur Landesbeschreibung 24 gehört demnach die Auflistung der Ressourcen, der Bodengüter oder -schätze, der Einwohner, der Wirtschaftssektoren, des Klimas, des Territoriums, der Erzeugnisse, der Lebensverhältnisse, der Religion, der Breitenbeschreibung, der Regierung und Politik, der Bildung und des Militärs. In den Amts- und Hofkalendern findet man nur eine Beschreibung der fürstlichen Familie und ihres Hofstaates, der Regierung, der Oberämter und Ämter, des Militärs, der Geistlichkeit, der Wissenschaft, des kommunikativen und medizinischen Bereichs. Eine Staatsbeschreibung stellt also nur einen Teil einer ganzen Landesbeschreibung dar, da die Lebensverhältnisse und die geographische Beschreibung ausgespart werden. Die wirtschaftlichen Grundlagen werden nur indirekt durch die einzelnen Regierungsdeputationen angeschnitten. Es kommen keine Zahlen und Materialien zum Einsatz, sondern man beschränkt sich auf die bloße Nennung der Namen der Beamten, der Fürsten und anderer wichtiger Daten. Dafür ist der Amtskalender des Markgraftums Ansbach ein gutes Beispiel. 25 Angeführt werden in diesem Beispiel der Geheime Rat als oberste Behörde, die Hof-, Regierungs- und Justizratskollegien und die einzelnen Departements, die 22 B AUER , Repertorium, Bd 1 (wie Anm. 16), 45; vgl. auch S CHWARZKOPF , Staats- und Adress- Calender (wie Anm. 2), 48. 23 A NONYMUS , Land (wie Anm. 8), Sp. 376-379. 24 Vgl. dazu die Landesbeschreibungen von F ISCHER , Beschreibung des Burggrafthums Nürnberg (wie Anm. 9), beide Teile. 25 Vgl. dazu Tabelle 1 im Anhang der Fürstentümer Ansbach und Bayreuth in den Jahren 1737 bzw. 1738 bis 1791. Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 271 dieser Behörde unterstehen. 26 Die Aufteilung der wichtigen Ämter und Geldquellen unter den Regierungsbehörden und den Landschaftsbehörden weist hin auf die Eigenständigkeit dieser Gremien. Diese „waren 1737 völlig aus dem Hofverband herausgetreten. Allerdings blieben die Nachwirkungen der ursprünglichen Einheit von Hof- und Landesverwaltung noch während des ganzen Jahrhunderts spürbar“. 27 Besetzt wurden diese obersten Regierungsbehörden mit den obersten Hofchargen. Auch die leitenden Ämter bekleidete der Hofadel, wobei es zum Teil zu beträchtlichen Ämterkumulationen kam. 28 Das alte Amt des Burggrafen, das von den fränkischen Hohenzollern seit Graf Friedrich von Hohenzollern (1139- um 1200) 1191/ 92 eingenommen wurde, 29 findet ebenfalls Erwähnung. Das folgende „‚Kammer- und Landschafts-Ratskollegium‘ war 1752 aus der Zusammenfassung von Hofkammer und Landschaft entstanden, wobei man jedoch die Separierung beider Kassen beibehielt. [... Sie waren fortan] unter das gemeinsame Präsidium eines ‚Geheimen Minister als Kammer- und Landschaftspräsidenten‘ gestellt“ 30 worden. Es folgt dieser Aufzählung die Nennung über die Einrichtung des Lehenhofes, des Konsistoriums und Ehegerichtes. Das Collegium Medicum war zuständig für die Überwachung des Gesundheitswesens. Die Eintragung der Niederösterreichischen Lehenskanzlei 31 und der Hoferbämter geht auf die lange geschichtliche Tradition und die Gebietserweiterungen der Hohenzollern zurück. Den Mittelpunkt bildeten der Hofstaat des Markgrafen, der sekundäre Hofstaat der Markgräfin, der Kinder und auch verwitweter Amtsvorgängerinnen der Markgräfin. Zum Hofstaat selbst wird die Stallmeisterei, die Jägermeisterei, Bediente für die Parforcejagd oder auch die Falknerei gerechnet. Dieses Sammelsurium an Divertissements konnte noch durch die Oper, das Theater und sonstige weitere 26 Vgl. auch F ISCHER , Beschreibung des Burggrafthums Nürnberg (wie Anm. 9), 253-267. 27 K ARIN P LODECK , Hofstruktur und Hofzeremoniell in Brandenburg-Ansbach. Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Zur Rolle des Herrschaftskultes im absolutistischen Gesellschafts- und Herrschaftssystem, in: Jahrbuch des historischen Vereins für Mittelfranken 86 (1971/ 72), 1-260, hier 78. 28 Vgl. H ARMS B AHL , Ansbach - Strukturanalyse einer Residenz vom Ende des dreissigjährigen Krieges bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Verfassung, Verwaltung, Bevölkerung und Wirtschaft (Mittelfränkische Studien 1), Ansbach 1974, 68; P LODECK , Hofstruktur (wie Anm. 27), 78. 29 Vgl. R EINHARD S EYBOTH , Hohenzollern. Fränkische Linie, in: W ERNER P ARAVICINI (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch (Residenzenforschung 15.1), Ostfildern 2003, Teilbd. 1: Dynastien und Höfe, 112- 116, hier 112. 30 D IETER R. W ERZINGER , Die zollerischen Markgrafen von Ansbach. Ihr Staat, ihre Finanzen und ihre Politik zur Zeit des Absolutismus (Schriften des Zentralinstituts für fränkische Landeskunde und allgemeine Regionalforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg 31), Neustadt a.d. Aisch 1993, 47. 31 Vgl. S EYBOTH , Hohenzollern (wie Anm. 29), 113. Regina Hindelang 272 Vergnügungen erweitert werden und unterliegt dem modischen Zeitgeschmack und den Vorlieben der Fürsten. 32 Schwierigkeiten bietet die zahlenmäßige Festlegung des Hofstaates ab dem Jahr 1769, als die Höfe von Ansbach und Bayreuth nach dem Tod des letzten bayreuthischen Markgrafen Friedrich Christian (1708-1769) zusammengelegt wurden. Es erfolgte keine exakte Trennung der beiden Hofstaaten, sondern beide wurden in einem Amtskalender unter dem Teil Ansbach veröffentlicht. 33 Neben dem Regierungsapparat wurden aber auch die Landesverteidigung, die Geistlichkeit in den Städten und auf dem Land und die niederen Regierungsämter beschrieben. Nicht nur die Regierungszentren und großen Städte, sondern auch die Landstädte und Dörfer mit ihren Selbstverwaltungen fanden Eingang in den Kalender. Das „Sonstige“ gibt einen guten Einblick in die Außenwahrnehmung und die Kontakte zu anderen Höfen und Personen. Die Verbindung und Vernetzung der Städte und Regierungszentren durch Boten und Postverbindungen lassen sich aus der strategischen Anlage der Stationen ermitteln. Der erste Amtskalender des Markgraftums Ansbach stellt zwar auf den ersten Blick eine detaillierte Sammlung des staatlichen Inventars dar, kann aber nicht verleugnen, dass es sich noch um ein Projekt in den Kinderschuhen handelt. In Anlehnung an die Volkskalender wird noch jede Seite, sei es im Kalenderteil des Amtskalenders oder bei der Prognostik oder auch in der eigentlichen Adresse, mit einer Leerseite kombiniert. 34 Dies geschieht wohl nicht zuletzt deswegen, damit auch Verbesserungen durch und für den Beamtenapparat auf diesen Seiten vorgenommen werden können. Genutzt wurde dieses Angebot aber nur im Kalenderteil, wie es aus zahlreichen Beispielen ersichtlich ist. 35 Die Amtskalender der späteren Jahre nehmen eine Reduktion dieser Leerseiten vor und beschränken diese nur mehr auf den Kalenderteil. Die Dicke des Buchrückens für den ersten Kalender von 1737 von 2,1 cm wird im zweiten Kalender auf 1,5 cm reduziert. Trotz der Reduktion der Leerseiten kann eine stetige Zunahme der Dicke des Buchrückens festgestellt werden. Bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes hat die Dicke wieder 2,1 cm erreicht und das Format 32 Vgl. B AUER , Repertorium, Bd 1 (wie Anm. 16), 64f.; P LODECK , Hofstruktur (wie Anm. 27), 80; S CHWARZKOPF , Staats- und Adress-Calender (wie Anm. 2), 55f.. 33 Vgl. P LODECK , Hofstruktur (wie Anm. 27), 85 und Tabelle 1 im Anhang. In der Tabelle wird die getreue Auflistung der Amtskalender wiedergegeben, die auch die Hofstaaten in ihrer Ordnungsfolge zeigt. 34 Vgl. dazu den Hoch-Fürstlich-Brandenburg-Onoltzbachischer Address- und Schreib-Calender, Ansbach / Roth 1737. Im Gegensatz dazu werden im Kalender von 1738 keine Leerseiten verwendet. 35 Vgl. dazu unter anderem Hoch-Fürstlich-Brandenburg-Onoltzbachischer Address- und Schreib-Calender, Ansbach / Roth 1744 im Kalenderteil. Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 273 sich von Duodez auf Oktav vergrößert. Analoge Beobachtungen können auch für das Fürstentum Bayreuth bis 1769 gemacht werden. 36 2.3. Die Sammlung der Daten und die inhaltliche Funktion Die Sammlung der Daten zur Zusammenstellung der Amtskalender oblag in erster Linie den Beamten vor Ort, 37 musste dann aber von den Druckern in das Werk übertragen werden. Nachdem sich aber häufig Mängel zeigten, taucht am Anfang der Addresse 38 ein Vermerk auf, der um Verbesserungsvorschläge für den nächsten Druck aufruft, um korrekte Anmerkungen zu erreichen. Der Appell Gleichwie dieser Addresscalender blos alleine zum Dienst und Bequemlichkeit des Publici ungeachtet aller Beschwerlichkeiten zusammengetragen wird: also werden alle diejenigen, so etwas finden solten, das zur Verbesserung, Zierde und Aufnahme des Calenders dienen möchte, hiermit dienstfreundlich ersuchet, solches bey dem hiesigen Waysenhause zu melden, wo es mit vieler Erkäntlichkeit und Dankbarkeit aufgenommen werden wird, 39 macht deutlich, wie viel Wert man auf korrekte Angaben legte. Die richtige Platzverteilung und Titulatur war ein Muss, denn jedem sollten auch im Amtskalender die Rolle und der Platz zukommen, die ihm vom Fürsten übertragen worden waren. Hat noch in den Amtskalendern der frühen Jahre der Titel Herr oder Rath die Funktion der Auszeichnung der höheren Chargen, dehnt man den Begriff nunmehr auch auf die unteren Ränge aus. So war es kein Wunder, wenn im Journal von und für Franken der übermäßige Gebrauch der Titelvergabe auch in anderen Kalendern angeprangert wurde. Der anonyme Schreiber bringt eine Reihe von Argumenten vor, um diese Ehrenbezeichnungen als solche zu erhalten, sie aber unabhängig von Geburt und Geschlecht, nämlich nach Leistung zu vergeben. 40 36 Vgl. dazu Tabelle 2 im Anhang. 37 V OLKER B AUER , Zur Bibliographie und Entwicklung deutscher Amtskalender des 18. Jahrhunderts. Skizze eines Forschungsprojektes, in: A STRID B LOME (Hrsg.), Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt und Kalender. Beitrag zur historischen Presseforschung (Presse und Geschichte. Neue Beiträge 1), Bremen 2000, 245-262, hier 250; B AUER , Repertorium, Bd 1 (wie Anm. 16), 23. 38 Zeitgenössischer Begriff für die Beamtenlisten. Nach dieser Aufstellung konnten alle Beamten angeschrieben werden, um Anliegen vorzubringen. Die Addresse fungierte in ihrer Funktion wie heute ein Adressbuch. 39 Hoch-Fürstlich-Brandenburg-Onolzbachischer Address- und Schreib-Calender, Ansbach / Roth 1743, 73. 40 Vgl. A NONYMUS , Gedanken über einige Staatskalender im Fränkischen Kreise, in: Journal von und für Franken 5 (1792), 158-164; Vgl. dazu auch: P LODECK , Hofstruktur (wie Anm. 27), 79. Auch Plodeck fallen der Missbrauch und die Ausdehnung der Titulatur in den Amtskalendern des Fürstentum Ansbach auf. S CHWARZKOPF , Staats- und Adress- Calender (wie Anm. 2), 74-76: Schwarzkopf pocht darauf, dass die Pyramide des Staates aufrecht erhalten bleibt und somit ein Ansporn auch für die niederen Chargen gegeben ist. Regina Hindelang 274 Ein Beispiel für die Kritik an ungenauer Umsetzung der Daten findet sich bei Philipp Friedrich Zabitzer (*† unbekannt). Dieser hatte das Privileg für die Erstellung des bayreuthischen Amtskalenders zuerkannt bekommen 41 und die Druckarbeit an Friedrich Elias Dietzel (1691-1761) delegiert. Dietzel arbeitete zuerst als Faktor bei der Witwe seines verstorbenen Arbeitgebers und übernahm nach deren Tod 1742 die Druckerei. 42 Dietzel wurde vom Markgrafen Friedrich von Bayreuth (1711-1763) protegiert, war aber wegen seiner fahrigen Arbeitsweise schon mehrmals von diesem ermahnt worden. Zabitzer nun beschwerte sich in einem Brief vom 13. Januar 1739 an das Waisenhaus in Bayreuth, also schon ziemlich am Anfang der Tätigkeit Dietzels beim Kalenderdruck, über die ungenaue Arbeitsweise folgendermaßen: „Es ist nicht genug, daß er mehr annimbt, als er fertig machen kann, es wird hernach alles übereylt und besonders die Zahlen falsch gedruckt.“ 43 Ob sich Dietzel gebessert hat, sei dahingestellt. Er erwarb sich ohngeachtet aller Rügen das Druckmonopol für Bayreuth und setzte seine eigenen Standards. 44 Alles was Schwarzkopf in seiner Abhandlung über Staats- und Adresscalender 45 als essentiell ansieht, um die Verpflichtung gegenüber dem Staat im gedruckten Wort aufrechtzuerhalten, wird hier von Dietzel als nebensächlich erachtet. Die Korrektheit war das wichtigste Instrument, um die volle Aufmerksamkeit beim Leser zu erlangen, die Repräsentation des Fürsten darzustellen und eine genaue Staatsbeschreibung zu ermöglichen. Durch die genaue Aufnahme der einzelnen Personen festigte sich auch die fortwährende Verpflichtung gegenüber dem Staat, die auch bei einem Dienst außerhalb des Landes nicht aufhört. Durch eine Aufnahme in einen Amtskalender, auch in einem anderen Staat, verfällt die Pflicht gegenüber dem vorhergehenden Dienst nicht, sondern gegenüber beiden Territorien und Landesherrschaften wird Loyalität eingefordert. 46 41 Vgl. dazu auch den Abdruck des Privilegs am Anfang der bayreuthischen Amtskalender: Hoch-Fürstlich-Brandenburg-Culmbachischer Address- und Schreib-Calender, Bayreuth / Erlangen 1739; weiterführend vgl. B AUER , Bibliographie (wie Anm. 32), 250. Entweder wurden die Privilegien einem einzelnen monopolisiert zuerkannt oder an eine staatliche Institution übergeben, was die Fürsorgepflicht des Fürsten signalisieren sollte. 42 Vgl. W ILFRIED E NGELBRECHT , „Künstliches Schreiben“. Kurzer Abriß der Geschichte des Buchdrucks in Bayreuth (1659-1810), in: R ÜDIGER H ARNISCH / D ORIS W AGNER (Hrsg.), 800 Jahre Sprache in Bayreuth (Bayreuther Arbeiten zur Landesgeschichte und Heimatkunde 11), Bayreuth 1994, 140-182, hier 154f. 43 E NGELBRECHT , Buchdruck (wie Anm. 42), 157; W ILFRIED E NGELBRECHT , Das Neuste aus Bayreuth. Die Presse im markgräflichen, preußischen und französischen Bayreuth (1736- 1810), Bayreuth 1993, 36; Vgl. auch DERS ., Die Waisenhausdruckerei - Bayreuths legendäre Druckwerkstatt, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 68 (1988), 229-234, hier 233. 44 Vgl. E NGELBRECHT , Bayreuth (wie Anm. 43), 36. 45 Vgl. S CHWARZKOPF , Staats- und Adress-Calender (wie Anm. 2), 25-27. Hierzu zählen Vollständigkeit der Titel, Rangabstufung und Auszeichnung mit Titel. 46 Vgl. S CHWARZKOPF , Staats- und Adresskalender (wie Anm. 2), 27f. Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 275 Durch die obrigkeitliche Überwachung der inhaltlichen Zusammenstellung und oft auch der Produktion äußert sich der amtliche Charakter. Der Amtskalender wurde das offiziell genehmigte Publikationsorgan und erhielt somit rechtliche Verbindlichkeit. 47 3. Mediale Staatsbeschreibung im Absolutismus - funktioneller Datenspeicher Die Intention der Amtskalender wird durch die Periodizität und den stereotypen Aufbau als Beschreibung von Staat und Gesellschaft des Absolutismus und der Aufklärung oder besser dem aufgeklärten Staatsabsolutismus deutlich. Die Amtskalender der beiden Markgraftümer müssen sowohl zeitlich als auch in ihrer Funktion beiden Epochen zugeordnet werden. Die Staatskalender sind in Frankreich ebenso wie in den deutschen Kleinstaaten in einer Zeit erschienen, in der sich die Aufklärung gegen den „Staatsabsolutismus“ langsam durchsetzte. 48 Die Einführung der Amtskalender setzte in den deutschen Staaten in einem Zeitraum zwischen zehn bis 50 Jahre später ein als in Frankreich. 49 Im Jahre 1736 beantragt zum Beispiel in Ansbach Johann Christoph Hirsch (1698-1780) 50 das Privileg 51 für den Amtskalender. In diesem Privileg wird ihm die Herausgabe für das Fürstentum Ansbach von höchster Stelle auf zehn Jahre gewährt. Hirsch hat auf diese Weise seine rationa- 47 Vgl. B AUER , Bibliographie, in: B LOME , Zeitung (wie Anm. 37), 245, 251; B AUER , Repertorium, Band 1 (wie Anm. 16), 31. 48 Nach den acht Entwicklungsstufen nach Press: V OLKER P RESS , Der Typ des absolutistischen Fürsten in Süddeutschland, in: G ÜNTER V OGLER (Hrsg.), Europäische Herrscher. Ihre Rolle bei der Gestaltung von Politik und Gesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1988, 123-141, hier 124. Press setzt für die relevante Zeit die Krise des höfischen Absolutismus zwischen 1720 und 1750 und den aufgeklärten Absolutismus zwischen 1750 und 1790 an. 49 Die Einführung des Wiener Hof- und Ehrenkalenders war 1692, 1702 in Kursachsen, 1704 Preußen. B AUER , Repertorium, Band 2 (wie Anm. 6), 3. 50 Eine genaue Lebensbeschreibung Hirschs findet sich in den einschlägigen zeitgenössischen Lexika: Vgl. dazu C LEMENS A LOIS B AADER , Lexikon verstorbener baierischer Schriftsteller des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde, hier Bd. 1, Augsburg 1824, 239- 241; J OHANN G EORG M EUSEL , Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Leipzig 1805, 525-528; F RIEDRICH C ARL G OTTLOB H IRSCHING , Historischliterarisches Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche in den 18. Jahrhundert gestorben sind, 17 Bde, hier Bd. 3, Leipzig 1797, 171-173; J OHANN A UGUST V OCKE , Geburts- und Todten-Almanach ansbachischer Gelehrten, Schriftsteller und Künstler, 2 Teile, hier Teil 1, Augsburg 1796, 37-39. Vgl. in den Artikeln auch die Titelliste Hirschs. 51 Vgl. Privileg für Johann Christoph Hirsch auf das Jahr 1736, in: Hoch-Fürstlich-Brandenburg-Onoltzbachischer Adress- und Schreib-Calender, Ansbach / Roth 1737, 2f. Regina Hindelang 276 le Geisteshaltung bewiesen, die auch in seinen Werken zur Landwirtschaft, zur Ökonomie und vor allem zum Münzwesen deutlich wird. Die Funktion und Bedeutung als Datenspeicher lässt sich auch daran ablesen, dass 73 von den über 300 Territorien des Alten Reiches einen Staatskalender besaßen, die in 90 Serien erschienen. Das heißt, dass manche Territorien auch zwei bis drei Serien führten. 52 3.1. Der „Absolutismus“ im und um den Amtskalender Entscheidend für die Führung eines Amtskalenders ist auch die Überzeugung des Individuums, die Befähigung zu haben, über andere herrschen zu dürfen. 53 Dies wird durch die Aufnahme in den Hof- und Staatskalender verstärkt. Nach dem absolutistischen Verständnis einer Staatsbeschreibung steht natürlich die Repräsentation im Zentrum, in dessen Mittelpunkt „das subjektive private Recht des Fürsten auf Verkörperung der Gesamtgesellschaft“ 54 steht. Diese erfolgt bei einer medialen Staatsbeschreibung ausschließlich durch den visuellen Transport der Botschaft vom Initiator über das Gedruckte zum Leser, das heißt im konkreten Fall über das Titelblatt des Amtskalenders, auf dem das Wappen der herrschenden Familie dargestellt wird. Somit wird der Anspruch auf Gefolgschaft und Loyalität an alle gestellt, die sich mit dem Medium beschäftigen und natürlich besonders an die, die sich zwischen den Buchdeckeln in einer Position befinden, sei es im Inland oder Ausland. 55 Das Wappen gibt die Gebietsansprüche und Herrschaftsbefugnisse an. Diese immanente Anwesenheit des Fürsten und seiner Familie erweist sich auch in den Segenswünschen zu einer Thronfolgergeburt, wie das folgende Beispiel zeigt: Welchen GOtt bey allem Wohlseyn erhalten und diese Hochfürstliche Ehe noch weiter seegnen [sic! ] wolle. 56 Der Monarch muss sich auch innerhalb eines großen Herrschaftsgeflechts seiner genealogischen und historischen Autorität versichern. Dies geschieht weniger nur für den einzelnen und eigenen Territorialstaat, als vielmehr mit Blick auf das gesamte Alte Reich. In den weitläufigen Herrschaftsgeflechten des Alten Reiches brauchte jeder seinen eigenen Nachweis, der in der Genealogie beigebracht werden musste. 57 Dies geschah auch durch die Aufzählung und Einreihung in eine heilsgeschichtliche Beschreibung, wie sie seit der Antike üblich war. Die Aufzählung der 52 Vgl. B AUER , Bibliographie, in: B LOME , Zeitung (wie Anm. 37), 247f. 53 Vgl. S CHRENCK UND N OTZING , Hof- und Staatskalender (wie Anm. 11), 143. 54 Vgl. H ASSO H OFMANN , Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (Studien zur Verfassungsgeschichte 22), Berlin 1974, 394. 55 Vgl. S CHWARZKOPF , Staats- und Adress-Calender (wie Anm. 2), 27-31. 56 Hoch-Fürstlich Brandenburg-Onoltzbachischer Address- und Schreib-Calender, Bayreuth / Erlangen 1739, 15. 57 S CHRENCK UND N OTZING , Hof- und Staatskalender (wie Anm. 11), 148. Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 277 wichtigsten Daten des christlichen Abendlandes wird dabei, wie es das folgende Beispiel darstellt, mit den Daten der jüngeren Geschichte der bayreuthischen Linie fortgeführt. So heißt es zum Jahr 1761: Von Christi unsers Heilandes Geburt 1761 [Jahre,] Von Jesu Christi Leiden, Sterben, Auferstehung und Himmelfahrt 1728 [Jahre,] Von Erschaffung der Welt 5710 [Jahre,] Von der Sündfluth zu Noä Zeiten 4074 [Jahre,] Von Ubergebung der Augspurg[ischen] Confeßion 231 [Jahre,] Vom Westphälischen Religionsfrieden 111 [Jahre,] Von Erwählung und Crönung des Römischen Kayser Francisci I 16 [Jahre,] Von der Geburt unsers gnädigsten Fürsten und Herrns, Herrn Friederich, Maggrafens zu Brandenburgculmbach [sic! ] etc. 50 [Jahre,] Von Antrit Dero hohen Regierung 25 [Jahre,] Nach Erbauung der Hochfürstlichen Residenzstadt Bayreuth 510 [Jahre,] Von Erbauung sanct Georgen am Se 52 [Jahre]. 58 Der Zweck, den die Genealogie verfolgte, war das Aufzeigen der dynastischen Verflechtungen und die Beschreibung der eigenen Linien. Dies nahm ungefähr ein Drittel des gesamten Kalenderinhalts in Anspruch. 59 Es zeigt die Wichtigkeit des Herrschaftsanspruchs vor den eigenen Untertanen und legt die Position gegenüber den anderen Territorialfürsten fest. Diese Legitimation war für Ansbach und Bayreuth besonders wichtig, da diese sich gegenüber dem großen Bruder Preußen behaupten mussten. Mehr als einmal hatte Preußen seinen Gebietsanspruch angemeldet, nachdem die Erbfolge in den fränkischen Territorien unsicher wurde. 60 Die Omnipräsenz des Staates, die im Allgemeinen, bei der Verleihung der Privilegien und der Sammlung der Namen, Daten und Beiträge eine Rolle spielte, griff auch in den Vertrieb der Kalender ein. 61 Die Herstellung und der Vertrieb der Amtskalender unterlagen einer restriktiven Kontrolle, die einen freien Handel mit diesen staatlichen Objekten verhinderte. Es gibt nur wenige Ausnahmen, bei denen von fürstlicher Seite verordnet wurde, dass jeder Haushalt ein Exemplar haben 58 Vgl. dazu den Heilskalender in Hoch-Fürstlich Brandenburg-Culmbachischer Adress- und Schreib-Calender 1761, 2; vgl. dazu auch J AN K NOPF , Kalender, in: E RNST F ISCHER / W IL- HELM H AEFS / Y ORK -G OTHART M IX (Hrsg.), Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700-1800, München 1999, 121-136, hier 123f. Knopf erklärt die Zählung der Welt nach Carion an denen sich diese heilsgeschichtlichen Kalender orientieren. 59 Vgl. Anhang Tabelle 2: Die Tabelle gibt Auskunft zur quantitativen Belegung der Seiten. 60 Vgl. A RNO S TÖRKEL , Markgraf Alexander von Ansbach und die „Pragmatische Sanktion“ Friedrichs des Großen. Ein Erbfolgeprojekt aus den Jahren 1767/ 1769, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 60 (1997), H. 2, 737-762; R UDOLF E NDRES , Die Erbabreden zwischen Preußen und den fränkischen Markgrafen im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 25 (1965), 43-67; H ERMANN S CHULZE , Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstentümer, 3 Bde, hier Bd. 3, Jena 1883, 562-605, 708-723, 740-750. 61 Vgl. B AUER , Bibliographie (wie Anm. 37), 251; B AUER , Repertorium, Bd. 1 (wie Anm. 16), 30f. Regina Hindelang 278 musste. 62 Auch die Vergabe der Privilegien lief nicht immer reibungslos ab. Der Buchdrucker Johann Valentin Lüders (†1737) in Ansbach musste sich in den ersten Jahren gegen mindestens zwei andere Konkurrenten durchsetzen, die ihm das Kalendergeschäft generell streitig machten. Erst nach 1724 erhielt er das allgemeine Kalenderprivileg zugesprochen, das er dann gegen alle Widerstände durchsetzte, auch gegen unrechtmäßig ins Land gebrachte Kalender. 63 Auch der Nachfolger des Buchhändlers Jacob Christoph Posch (†1760), Benedict Friedrich Haueisen (†1803), musste um die Verlängerung des Privilegs ersuchen. Er erhielt wie sein Vorgänger Posch für die ersten Jahre Steuervergünstigungen, musste aber mit einem ansprechenden Sortiment an weiterer Literatur zur allgemeinen Bildung beitragen. 64 Der Buchdrucker Johann David Messerer († nach 1791), litt nach dem Abgang der ansbachischen Markgrafen und dem Übergang der Verwaltung an Preußen besonders unter dem Verlust der Privilegien und musste seinen Lebensabend sehr kärglich verbringen. Der Wandel der Gesellschaft vergrößerte die Kluft zwischen der Bürgerschaft und der fürstlichen Familie. Damit gingen den Druckern Aufträge, die sich am Modegeschmack des Hofes orientierten, verloren. 65 So wird sowohl der Vorteil als auch der Nachteil einer absoluten Privilegienvergabe sichtbar. Durch den Schutz von oben ist man nicht bewahrt vor dem Wandel der Gesellschaft und den Launen der Obrigkeit. 3.2. Die kommunale Verwaltung im Amtskalender als rationale Komponente Die Beamtenlisten der Adresse stellen die restlichen zwei Drittel der eigentlichen Staatsbeschreibung dar. Dies erfolgt nach dem oben vorgestellten System und deren Reihenfolge. Doch wie weit durchdringt der absolute Fürst wirklich sein Territorium mit seiner Beamtenschaft? Dazu soll das Beispiel der Provinzialregierung dienen, die schon früh neben dem absoluten Staat existierte. Die Reihenfolge im Amtskalender gibt Auskunft über den Aufbau der Provinzialregierung über die Zusammensetzung der Ämter, Oberämter, Landshauptmann- 62 Vgl. B AUER , Bibliographie (wie Anm. 37), 252: Der staatliche Amtskalender war gleichzeitig der Volkskalender der Reichsgrafschaft Schaumburg-Lippe und hatte eine nachgewiesene Auflage von 3.000 Exemplaren gegenüber den sonst üblichen 250 bis 1.000 Exemplaren pro jährlicher Auflage. 63 Vgl. Staatsarchiv Nürnberg (StA Nürnberg), Fst. Brandenburg Ansbachische Ausschreiben Tit. XXIII B fasc. 34 Nr. 8/ 7; A DOLF M ERKEL , Buchdruck und Buchhandel in Ansbach. Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 5 (1964), Sp. 957-1188, hier Sp. 1071. 64 Vgl. StA Nürnberg, Regierung von Mittelfranken, KdI. Abgabe 1900, Nr. 562; Merkel, Buchdruck (wie Anm. 55), Sp. 1167f. 65 Vgl. A DOLF B AYER / R UDOLF M ERKEL , Ansbacher Buchdruck in 350 Jahren. 1604 bis zur Gegenwart (Neujahrsblätter 23), Würzburg 1952, 50-53. Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 279 schaften und Amtshauptmannschaften, die das Land bis in den letzten Winkel bürokratisch durchdrungen haben. Die Aufteilung der Amtsbezirke zum Beispiel folgt in Bayreuth einem einleuchtenden Schema. Hier teilt sich das Gebiet nach dem Stand von 1791 66 in das Oberland und das Unterland. Im Oberland gibt es die drei Amtshauptmannschaften Bayreuth, Kulmbach und Wunsiedel, daneben die Landshauptmannschaft Hof. Es folgen die Oberämter Creußen, Pegnitz, Gefrees, Lichtenberg und Münchberg. Im Unterland ist nur Erlangen als Amtshauptmannschaft ausgewiesen und Neustadt an der Aisch als Landshauptmannschaft. Daneben folgen Baiersdorf, Hoheneck und Neuhof als Oberämter. Jedes dieser Oberämter vereinte unter sich noch weitere Ämter, die wiederum mit Amtleute[n], Castner[n], Richter[n], Vögte[n], und andere[n] weltliche[n] Bediente[n] 67 besetzt waren. Auffällig ist, dass besonders im Oberland auch eine große Anzahl von kleineren Städten eine eigene Selbstverwaltung aufweist. Hierzu zählen die Städte Lichtenberg, Naila, Schauenstein, Münchberg, Helmbrechts, Wirsberg, Gefrees, St. Johannis, Neustadt/ Kulm, Creußen und Schnabelwaid. Sie haben eine bestimmte Anzahl von Bürgermeistern (meist fünf). Die Städte Bayreuth, Hof, Kulmbach und Wunsiedel haben einen eigenen Rat in der Stadt. Für das Unterland können nur Erlangen und Neustadt/ Aisch einen Rat aufweisen. Eine Selbstverwaltung mit Bürgermeistern ist nur in Baiersdorf zu ermitteln. Bei den Herrn Oberamtleuten, dann Verwälter[n], Cästner[n], Richter[n], Vögte[n] 68 folgt der onolzbachische Kalender einem weniger ausgeklügelten System. Hier werden die Haupt- und Legstädte 69 mit den Amtsbesetzungen nur alphabetisch aufgereiht und mit dem jeweiligen Namen des Amtsinhabers und dessen Titel gelistet. Dies erschwert eine optimale Einteilung in Oberämter, Ämter und Städte. Der einzige Anhaltspunkt für die herausragende Stellung der Stadt ist der Verweis, dass die Position des obersten Stadtverordneten von einem Adeligen besetzt war. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass ein Adeliger an der Spitze der Verwaltung stand und als Amtmann fungierte. 70 Oberämter des Fürstentums waren Ansbach und Schwabach. Danach folgen in der Anzahl der Verwaltungsmitglieder in der Zeit von 1770 bis 1791 die Orte Crailsheim (8), Feuchtwangen (8), Roth (8), Gunzenhausen (7), Wassertrüdingen (7), Cadolzburg (6), Hohentrüdingen (5), Uffenheim (5), Burgthann (4), Stauf (4), 66 Vgl. Hoch-Fürstlich Onoltzbachischer und Culmbachischer Address- und Schreib-Calender, Ansbach 1791. 67 Hoch-Fürstlich Onoltzbachischer und Culmbachischer Address- und Schreib-Calender, Ansbach 1770, 159. 68 Hoch-Fürstlich Onoltzbachischer Address- und Schreib-Calender, Ansbach / Roth 1737, 44. 69 Vgl. H ANNS H UBERT H OFMANN , Gunzenhausen-Weißenburg (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken Reihe I. Heft 8), München 1960, 56. 70 Vgl. M ANFRED J EHLE , Ansbach. Teil II (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken Reihe I. Heft 35/ II), München 2009, 648. Regina Hindelang 280 Windsbach (1716 eingerichtet) (4), Creglingen (3) und Colmberg (1716 eingerichtet? ) (3). 71 „In dieser Zentralisation aller Kameralverwaltung in wenige große Ämter bei Aufteilung der Jurisdiktion in kleinere Bereiche glich das Markgraftum unterhalb des Gebirgs der obergebirgischen. In einer klugen weitschauenden Kameralwirtschaft waren die Zollern ja aufgestiegen, Sonst jedoch erscheint das Fürstentum Bayreuth in seiner staatlichen Organisation viel geschlossener, während in Ansbach das Nebeneinander von Funktionen, das Nachwirken alter Ämterverbände, das Fehlen gleich wirksamer Mittelinstanzen und die starke Stellung der Beamtenschaft in der Unterbehörde weit mehr mittelalterliche Züge trägt. Die historische Herkunft vorwiegend aus rechtlich so vielschichtigen Gebieten hier, rodungsfreien Herrschaft in der Weite der Waldgebirge dort, mag dabei entscheidend nachgewirkt haben. Dieser Strukturunterschied blieb auch nach der Vereinigung von 1769 erhalten, da die beiden Fürstentümer verwaltungspolitisch völlig getrennt blieben. Gerade in Ansbach war dabei die Stellung des reichsritterlichen Adels im Staatsdienst weit stärker als im Oberland mit seiner landsässigen Ritterschaft.“ 72 Die kommunale Verwaltung differenzierte sich in den fränkischen Territorien sehr unterschiedlich. Gerade die Oberämter des ansbachischen Territoriums entbehrten den peuplierten Metropolen, die auch wirtschaftlich einen Sog gebildet hätten, sondern mussten sich mit der Kleinräumigkeit abfinden. 73 Die bayreuthischen Städte, die in einem geschlossenen Territorium lagen, konnten sich untereinander austauschen und auch die Gewerbe so anordnen, dass über weitere Strecken eine Grundversorgung ermöglicht wurde. So konnten die Städte auch ungefähr gleich wachsen und wiesen eine gleiche Anzahl an Ratsmitgliedern auf. Im ansbachischen „territorium non clausum“ musste jede Stadt auf ihre eigene Versorgung bedacht sein und war durch die Enklavierung auf sich selbst gestellt wie dies am Beispiel von Mainbernheim ersichtlich ist, das eine eigene Grundversorgung selbst aufbringen musste. 74 Die Zahl der städtischen Beamten richtete sich somit nach der Größe der Städte und der Gewerbeführung. Somit war die kommunale Verwaltung immer abhängig vom traditionellen Vorhandensein der ursprünglichen Rechtssysteme und der territorialen Wirtschafts- 71 Vgl. J EHLE , Ansbach (wie Anm. 70), 648, 657- 660; H OFMANN , Gunzenhausen-Weißenburg (wie Anm. 69), 56, 60, 63f.; vgl. auch F RIEDRICH E IGLER , Schwabach (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken Reihe I. Heft 28), München 1990; G ERHARD H IRSCHMANN , Eichstätt (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken Reihe I. Heft 6), München 1959. 72 H ANNS H UBERT H OFMANN , Nürnberg-Fürth (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken Reihe I. Heft 4), München 1954, 47f. 73 H OFMANN , Gunzenhausen-Weißenburg (wie Anm. 69), 60f. 74 W ERNER K. B LESSING , Ständische Lebenswelten. Frankens Gesellschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: H ELMUT N EUHAUS (Hrsg.), Aufbruch aus dem Ancien Régime. Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts, Köln / Wien / Weimar 1993, 21-56, hier 43. Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 281 kraft. Das Territorium in seiner Geschlossenheit oder auch Zersplitterung prägte diese unterschiedlichen Systeme und erleichterte oder erschwerte die Selbstverwaltung oder auch dem Fürsten und seiner Beamtenschaft die Durchdringung des Territoriums. 4. Zusammenfassung Als eine Mischung aus Repräsentation des Absolutismus und rationaler Erfassung der Umwelt im Sinne der Aufklärung, stellen die Amts- oder Staatskalender eine Beschreibung des Staates mit beiden Komponenten in den Raum. Ihre Periodizität ist ein gutes Mittel, um Termine ordnungsgemäß zu veröffentlichen und die Repräsentation durch die visuellen Mittel zu verdeutlichen. Die jährliche Erscheinungsweise erleichtert die Vorstellung des Staatsapparates bis in seine kleinsten und verwinkelsten Tiefen. Gleichzeitig können jährlich Verbesserungen aufgenommen werden, was eine ungewohnte Genauigkeit ermöglicht. Der stets gleiche Aufbau des Amts- oder Staatskalenders erleichtert das Zurechtfinden in einem Dschungel von Beamtenlisten. Trotz der kontinuierlichen Erweiterung oder Schmälerung bleibt das Grundgerüst erhalten. Die Inhalte selbst orientieren sich am Geschmack der Zeit oder an der Laune des regierenden Fürsten. Um eine korrekte Wiedergabe des Staatsapparates zu erzielen, ist die Sammlung und Weitergabe der Daten durch die Behörden das oberste Gebot. Die obrigkeitliche Überwachung bei der Zusammenstellung der Daten macht den Amtskalender zum amtlich genehmigten Publikationsorgan und gibt ihm rechtliche Verbindlichkeit. Gibt es schlampige Meldungen oder Umsetzungen, folgen für den Schuldigen Rügen. Schließlich wird durch dieses Druckwerk die Präsenz des Staates vermittelt und Loyalität diesem gegenüber eingefordert. Natürlich bleibt auch Kritik nicht aus. Sie prangert den Titelmissbrauch an, durch den alle gleich weit im hierarchischen System nach oben gehoben werden. Die Amtskalender erfüllen aber nicht nur den Transport von Informationen und Repräsentationszwecke, sondern auch - was viel bedeutender und wichtiger ist - die Staatsbeschreibung. Eine Auflistung der staatlichen Organe, die eine quantitative Auszählung möglich macht, Feststellungen zu Landesausbau, Verbesserungen im Straßenbau, der Landesversorgung, der Bildung und Wissenschaft, dem Medizinalwesen und eine Straffung der Verwaltung stellen wichtige Schritte auf dem Weg zum modernen Staat dar. Diese werden aber nur indirekt durch die Einrichtung und Aufnahme neuer Verwaltungseinheiten in den Amtskalender erkennbar. Die Durchdringung des Territoriums durch Fürst und Beamte wird sichtbar, wenn man sich die Ordnungssysteme ansieht, die einen ungefähren Schluss auf die Intensität der kommunalen Mitverwaltung zulassen. Regina Hindelang 282 Dies alles muss nüchtern betrachtet werden, denn der Amtskalender zählte wie alle anderen Kalenderwerke zur „Verbrauchsliteratur“, die nach Jahr und Tag entsorgt wurde. Durch die geringen Auflagenzahlen, die oft nur schwer zu ermitteln sind, 75 war auch nicht viel Resonanz zu erwarten, außer von den Amtsstuben und von den korrespondierenden Gesandten und Territorien. 76 Auch die willkürliche Privilegienvergabe und die Abhängigkeit dieser Privilegierten verminderte die Intention der Aufklärung wieder, auch wenn dieses Privileg oft an soziale Einrichtungen wie Invaliden- oder Waisenhäuser ging. Der Amtskalender diente also wirklich als Prestigeobjekt, das sich nicht jedes der über 300 Territorien des Alten Reiches leisten konnte. Der Wert für die Nachwelt bleibt in der Staatsbeschreibung erhalten, die heute noch in den kirchlichen Schematismen und den behördlichen Verzeichnissen fortlebt. Trotz aller Mängel bleibt der Amts- und Staatskalender das mitunter wichtigste Nachschlagewerk der Zeit zwischen 1680 und 1806, wenn es um die Verwaltung auf regionaler Ebene geht und ein Medium, das von ganz oben und ganz unten rezipiert gleichermaßen verstanden wird. Anhang: Tabelle 1 Erster Teil Ansbach Hofstaat Kollegien Gerichte Geheimer Rat Hof-, Regierungs- und Justizratskollegium Departements Judenreceptionsachen Heiligen Münz Policey und Allmosen Zucht- und Arbeitshaus Steffter Landesökonomie Jagd- und Forst (ab 1786) Vormundschaftlich (ab 1786) Landesgetreide (ab 1775) Leihhaus (ab 1778) Chausée (ab 1781 bis 1789) Zur nächtlichen Beleuchtung (ab 1790) Brandsocietät (ab 1786) Medicinalwesen (ab 1791) Kayserliches Landgericht Burggrafthums Nürn- 75 B AUER , Repertorium, Bd. 1 (wie Anm. 16), 48f. 76 B AUER , Repertorium, Bd. 1 (wie Anm. 16), 56f. Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 283 Militär berg Termine (ab 1744) Burggräfliches Ratskollegium Cammer- und Landschaftsratskollegium Cammerdepartements Bau Salz Porzellan Chausée (ab 1789) Lotto (bis 1787) Besorgung der Hofökonomie (1787) Trießdorfer Meyerei Witwen- und Waisenkasse Gerabronner Saline (ab 1785) Schul (ab 1790) Lehenhof Konsistorium und Ehegericht Collegium Medicum Stadt Land Niederösterreichische Lehenskanzlei Hoferbämter des Burggrafthums Nürnberg Hofstaat Oberhofmarschallstab Obercammerherrenstab Sonstige Chargen Kapelle Hofstaat Markgräfin Hofstaat verwitwete Markgräfin Hofstaat der Kulmbachischen Markgräfin Oberstallmeisteramt Oberjägermeisteramt Parforcejagdmeisteramt Falkenmeisteramt Kriegsstaat Leibgarde Husaren Infanterie Plassenburg Wülzburg Regina Hindelang 284 Weltliche Regierung Geistlicher Stand Städte Sonstige Provinzialregierungen (Kastner, Vögte, etc.) Schlösser und Güter (bis 1771) Geistlichkeit Stadt Land Bauamt Ober- und Marchekommissar Bürgermeister der Stadt Onolzbach Stadtmilitär Abgesandte andere Höfe Residenten und Agenten Postämter Ordinariboten Hofbanco (ab 1780) Zweiter Teil Bayreuth Hofstaat Kollegien Gerichte Ritterorden Geheimer Rat Geheimes Archiv Regierungskollegium Ferien Zuchthausdeputation Policey (ab 1771) Landesökonomie Vormundschaftliche Jagd- und Forst (bis 1780, wieder ab 1785) Brandschutz Waisenhaus (ab 1773) Hofbau (ab 1782) Münz (ab 1780) Hofgericht Ritterlehengericht Termine Kammerkollegium Oberbergdepartement Salz (ab 1771) Lehenhof Landschaftskollegium Landschaftliches Kriegskommissariat Konsistorium und Ehegericht Collegium medicum Stadt Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 285 Weltliche Regierung Wissenschaft Geistlicher Stand Militär Sonstige Land Oberjägermeisteramt Lands- und Amtshauptmannschaften Oberämter jeweils Ober- und Unterland Universität und Gymnasien Geistlicher Stand Stadt Land Hofbauamt Provinzialregierungen (Bürgermeister und Rat) Militär der Städte Postämter Tabelle 1: Tatsächliche Aufstellung der Hofkalenderaddresse für 1770 bis 1791 für Ansbach, erstellt aus: Hochfürstlicher Brandenburg-Onolzbach- und Culmbachischer Genealogischer Calender und Addresse-Buch 1770 bis 1791, Ansbach 1770 bis 1791. Tabelle 2 Umfang der Einzelbände 1737: 160 S. Genealogie, Addresse und Resolvierungen, 24 S. Kalender und Praktik, zwischen jeder bedruckten Seite des Kalender eine Leerseite bis auf den Resolvierungsteil 1738: 26 S. Kalender, Praktik, Genealogie (fremd), 166 S. Genealogie (eigen) und Addresse, 8 S. Anhang, bei 1738 keine Leerseiten um Notizen zu ergänzen 1739: 144 S., 26 S. Kalender, 6 S. Anhang 1740: 136 S., 48 S. Genealogie, Praktik und Kalender, leere Seiten 1741: 136 S., 48 S. Genealogie, Praktik und Kalender, leere Seiten 1742: 144 S., 48 S. Genealogie, Praktik und Kalender, leere Seiten 1743: 144 S., 48 S. Kalender mit leeren Seiten 1744: 144 S., 50 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1745: 144 S., 24 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1746: 144 S., 24 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1747: 144 S., 24 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine Regina Hindelang 286 leeren Seiten 1748: 144 S., 48 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1749: 144 S., 48 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1750: 144 S., 48 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1751: 144 S., 26 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1752: 144 S., 48 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1753: 144 S., 24 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1754: 144 S., 48 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1755: 144 S., 48 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1756: 144 S., 24 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1757: 144 S., 24 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1760: 144 S., 52 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1761: 144 S., 50 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1762: 144 S., 26 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1763: 144 S., 48 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1764: 150 S., 48 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1765: 150 S., 48 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1766: 154 S., 26 S. für Kalender, Genealogie und Praktik 1767: 144 S., 22 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1768: 144 S., 26 S. für Kalender, Genealogie und Praktik, keine leeren Seiten 1769: 144 S., 26 S. für Kalender, Praktik und Genealogie, 12 Leerseiten 1770: 304 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 6 leere Seiten, 2 Register 1771: 268 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 8 leere Seiten, 2 Register 1772: 208 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 68 S. Anhänge 1773: 208 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 68 S. Anhänge 1774: 208 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 64 S. Anhang, 4 S. Register Amts- und Staatskalender in Absolutismus und Aufklärung 287 1775: 208 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 64 S. Anhang, 4 S. Register 1776: 208 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 64 S. Anhang, 4 S. Register 1777: 208 S. Kalender, Genealogie und Praktik und Addresse; 74 S. für Anhänge 1778: 200 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse; 66 S. Anhang, 4 S. Register 1779: 198 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 64 S. Anhänge 1780: 198 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhänge 1781: 198 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhänge 1782: 198 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhänge 1783: 198 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 7 Leerseiten, 70 S. Anhang 1784: 206 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhänge 1785: 212 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhänge 1786: 214 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhänge 1787: 214 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhänge 1788: 214 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhänge 1789: 222 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 72 S. Anhänge 1790: 222 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhänge 1791: 222 S. Kalender, Genealogie, Praktik und Addresse, 70 S. Anhang Tabelle 2: Angaben zum Umfang der Bände und zur Aufteilung des Inhalts, erstellt aus: Hochfürstlicher Brandenburg-Onolzbach- und Culmbachischer Genealogischer Calender und Addresse-Buch 1770 bis 1791, Ansbach 1770 bis 1791. III. 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert „Idylle“ im Moloch der Industrialisierung - Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert Andrea Groß 1. Die Gründe für die Entstehung von Arbeitersiedlungen Wenn man heute in einer der Nürnberger Siedlungen steht, kommt einem sofort das Wort idyllisch in den Sinn. Diese kleinen Siedlungen wirken wie ein Dorf, das mitten in der Großstadt gewachsen ist. Doch bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass ein exakter Bebauungsplan für diese Wirkung verantwortlich ist. Keine Straße, die so gekrümmt und gewunden erscheint, ist natürlich, sondern wurde genau angelegt. Sitte nannte dies eine gezwungene Ungezwungenheit. 1 Die kleinen Häuser, die niedriger waren als in der Stadt und die Gärten, sowie die ländlich anmutende Architektur mit Fensterläden und Fachwerkelementen machten die malerische Wirkung perfekt. Diese Siedlungen standen im starken Kontrast zu den Arbeiterhäusern in der Innenstadt. In diesen Häusern wohnte das Gros an Arbeitern, die in den Wohnungen oft mit mehreren, auch familienfremden Menschen zusammenlebten. Doch nicht nur in der Stadt sah man die Auswirkungen der Industrialisierung, auch auf dem Land gab es große Veränderungen. Die Folgen spürte vor allem das Kleingewerbe, das durch die maschinelle Konkurrenz ihren Absatzmarkt verlor. Um Arbeit zu finden, gingen gerade die jungen Leute in die Stadt. „Gravierend für die zurückgebliebene Landbevölkerung ist, - so geht einstimmig aus ihren Klagen hervor -, daß gerade die besseren, intelligenteren und vitaleren Leute in die Stadt oder in die Fabrik ziehen, während als minderwertig eingeschätzte Arbeitskräfte zurückblieben.“ 2 Die Zugezogenen fanden in der Stadt vor allem Unterschlupf in den minderwertigen Vierteln. Neben der nicht vorhandenen sanitären Ausstattung fehlte es auch an einer freundlichen Gestaltung der Viertel. Unmittelbar an die unsaubere Gasse treten die Häuserreihen heran, hinter deren Fenstern keine Gardine, kein Blumentopf auch nur den Versuch ankündet, dem Leben hinter diesen Mauern einen Schmuck 1 C AMILLO S ITTE , Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen .Ein Beitrag zur Lösung moderner Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien, Wien 1909 , vierte Auflage, Nachdruck 1983, 123. 2 P ANKRAZ F RIED , Die Situation auf dem Lande, in: C LAUS G RIMM / R AINER A. M ÜLLER . (Hrsg.), Aufbruch ins Industriezeitalter. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns 1750 - 1850, ,Bd. 2., München 1985, 412-442, hier: 429. Andrea Groß 292 zu verleihen. 3 So entstehen dann auf Riesen-Grundstücken Massen-Miethhäuser, hinter grossartigen Palastfronten eng gedrängte Wohnungen, neben einem Vorderhause an öffentlicher Strasse eine Reihe von elenden, dürftigen Hinterhäusern an geschlossenen engen Höfen. 4 Wohnungsreformer versuchten durch verschiedene Schriften auf diese Situation aufmerksam zu machen. Die Verbesserungen kamen erst, als verschiedene Vereinigungen und Unternehmen in den Arbeiterwohnungsbau eingriffen. Im Folgenden soll nun anhand des städtebaulichen Rahmens die vier großen Nürnberger Siedlungen betrachtet werden. 5 2. Vorlagen durch die Stadterweiterungstheorien Die Ideen für eine Stadterweiterung waren für den Arbeiterwohnungsbau von großem Interesse, da eine Siedlung immer auch eine Art Erweiterung des Stadtgebietes darstellte. Im Nachfolgenden sollen nun die drei Richtungen, die moderne Stadtplanung, die Stadtbaukunst und der Siedlungsbau, näher betrachtet werden. Diese Ideen, die für große Gebiete gedacht waren, wurden im Arbeiterwohnungsbau auf das Kleine projiziert. Die Intention der verschiedenen Vertreter war die gleiche. Zum einen die Kritik an den bestehenden Stadterweiterungsplänen, zum anderen hatte das Bürgertum große Angst vor einem Klassenkampf durch das Proletariat und sahen ihre Werte bedroht. 2.1. Die moderne Stadtplanung Diese Richtung vertraten vor allem die Techniker und Ingenieure, die weniger auf eine künstlerische Ausgestaltung Wert legten. Zu den wichtigsten Persönlichkeiten zählten Reinhard Baumeister, Franz Adickes und Joseph Hermann Stübben. Die Stadtplaner sahen vor allem die Bedrohung des Bürgertums durch die katastrophalen hygienischen und sittlichen Missstände, und hier vor allem in der Wohnungsfrage, „d.h. der Frage der Versorgung der arbeitenden Klassen mit gesundem und ihrem Einkommen entsprechendem Wohnraum.“ 6 Jeder Mensch soll anständig wohnen, d. h. entsprechend seiner gesellschaftlichen Stellung mit einem gewissen, 3 D R . H. A LBRECHT / A LFRED M ESSEL , Das Arbeiterwohnhaus .gesammelte Pläne von Arbeiterwohnhäusern und Ratschläge zum Entwerfen solcher auf Grund praktischer Erfahrungen, Berlin 1896, 30. 4 T HEODOR G OECKE , Wohnungsfrage und Bebauungsplan, in: Deutsche Bauzeitung (1893), 539-542; 545-546 hier: 542. 5 Zu den vier großen Siedlungen zählen das Schuckertviertel, die Wohnkolonie Rangierbahnhof, die Werkssiedlung Werder und die Gartenstadt Nürnberg. 6 G ERHARD F EHL , Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft-Zum ‚reaktionären Modernismus‘ in Bau- und Stadtbaukunst, Braunschweig/ Wiesbaden 1995, 31. Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert 293 wenn auch bescheidenen Ueberschuß über die baare Nothdurft, welche nur ein Loch zum Schutz gegen die Witterung erfordert. 7 Eine kontrollierte Stadterweiterung sollte dies bewerkstelligen. Das vorrangige Ziel der modernen Stadtplanung war die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und die Bewältigung des Verkehrs. Zudem sollte eine Erweiterung des Gebietes immer möglich sein. Für eine Stadterweiterung war ein zweistufiger Plan von Nöten. Der Rahmenplan erfolgte zunächst nur in Grundzügen, dazu gehörten die Hauptverkehrswege und die Einteilung der Flächennutzung in Großindustrie, Geschäfte und Wohnviertel. 8 In den jeweiligen Bereichen befanden sich auch die Wohnungen der dort Beschäftigten. Der Geschäftsbereich war das Kerngebiet, die Wohnviertel umschlossen den Kern. Für reiche Villenbesitzer sind wo möglich ansteigendes Terrain, schöne Aussichten, Nähe von Wald und Wasser zu wählen; bei mittleren Wohnungen kommt es auf nicht allzu große Entfernungen von der Geschäftsstadt und der Nähe der dorthin gerichteten Verkehrsmitteln an; den Arbeiterwohnungen würde die gleichen Rücksichten in Bezug auf die Industriebezirke zu widmen sein. 9 Die Ausgestaltung eines Viertels sollte immer zweckentsprechend sein. Ein Arbeiterviertel erfordert kleine Blöcke, bescheidene Straßen. besondere Pflege aller gesundheitlichen Anlagen, namentlich freie Spielplätze und Baumpflanzungen. 10 Die Industriegebiete siedelten sich in der Regel dort an, wo die Standortbedingungen passten, vorzugsweise aber am Rand eines Stadtteils, damit Rauch und Lärm die Anwohner nicht belästigten. Die Planung der Wohnbebauung erfolgte nach gewissen Standards. Gesundes Wohnen beinhaltete viel Licht, Luft, eine weiträumige Bebauung, geringe Stockwerkszahlen und große Höfe bzw. Innenhöfe. Dies sollte für alle Schichten gelten. Ein zweiter Plan, der Generalplan, beschäftigte sich anschließend mit dem Ausbau, der den Bedürfnissen der zukünftigen Bewohner angepasst wird. Hier wurden vor allem die Gemeinschaftseinrichtungen geplant, dazu gehörten unter anderem die Wasch- und Badeanstalten, Kirchen und Schulen. Der zweite Plan war der sogenannte Generalplan. Der Bebauungsplan ist aber kein starres, unveränderbares System, sondern soll immer den Erfordernissen angepasst werden. 11 Die moderne Stadtplanung erstellte vor allem Pläne, die das Rechteck-, Dreieck- und Radialsys- 7 REINHARD B AUMEISTER , Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaft licher Beziehung, http: / / www.tu-cottbus.de/ theoriederarchitektur/ D_A_T_A/ Architektur/ 20.Jhdt/ Baumeister/ Baumeister.htm, (Zugriff: 25. September 2011). 8 Vgl. K ARL -H EINZ H ÖFFLER , Reinhard Baumeister (1833-1917). Begründer der Wissenschaft vom Städtebau, Karlsruhe 1975, 27. 9 B AUMEISTER , Stadterweiterung (wie Anm. 7). 10 J OSEPH H ERMANN S TÜBBEN , Der Städtebau. Handbuch der Architektur, Vierter Teil: Entwerfen, Anlage und Einrichten der Gebäude, 9. Halbbd., Darmstadt 1890, 53. 11 M ARTINA S UTTER -K RESS , Die Nürnberger Gartenstadt. Die Entstehung einer Siedlung im Kontext der Deutschen Gartenstadtbewegung, der Bebauungsplan und die Bauten der Architekten Richard Riemerschmid und Heinrich Lotz (Magisterarbeit), Bd. 1, Erlangen 1999, 56. Andrea Groß 294 tem beinhalteten. Im Rechtecksystem beispielsweise waren die Straßen gerade, die Baublocks quadratisch oder rechteckig und die Kreuzung rechtwinklig angelegt. 12 Vor allem Baumeister verfolgte mit seiner Theorie keinen ästhetischen Anspruch. Denn was heißt Schönheit im vulgären Sinne? Sie heißt: das Bauen kostet mehr Geld. Kann man Aesthetik in gleiche Linie setzen mit Feuersicherheit, Gesundheit und freiem Verkehr? 13 Stübben wiederum berücksichtigte den künstlerischen Gedanken. Sitte klagt mit Recht darüber, dass unsere öffentlichen Plätze an Werken der Bildhauerkunst arm seien […] 14 Die Schönheit sollte laut Stübben keinen Selbstzweck verfolgen, sondern vielmehr bringt die Zweckmäßigkeit die Schönheit zustande. Wie die wirkliche Schönheit sich an die Zweckmässigkeit unmittelbar anlehnt, so ist auch beim Entwurfe des Stadtplanes die Grundforderung des Schönen durch aufmerksame Befolgung des Verkehrs-, Bebauungs- und Gesundheitsbedürfnisses erfüllt. 15 Die Stadtplaner lehnten eine Nachahmung des Alten von vornherein ab, […] denn Gewordenes kann man, wie Baumeister sagt, nicht nachmachen. 16 Die Tradition war wichtig, um aus ihr zu lernen, aber das zu Schaffende muss den zeitgenössischen Anforderungen entsprechen. Die moderne Stadtplanung setzte sich am Ende im Bereich der Stadterweiterung durch. Bei kleineren Gebilden, wie Siedlungen legte man vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr Wert auf eine künstlerische Gestaltung. 2.2. Die Stadtbaukunst Besonders das Bildungsbürgertum hatte große Furcht vor einem Klassenkampf, da es durch das Proletariat ihre Werte bedroht sah. Die zweite Richtung der Stadterweiterung, die Stadtbaukunst sollte durch ihre Vorgaben dem entgegenwirken. Später zeigte sich bei den Vertretern der Städtebaukunst eine starke vaterländische Gesinnung wieder, weshalb auch im Dritten Reich immer wieder gerne auf deren Ideen zurückgegriffen wurde. Als wichtigste Akteure sind Camillo Sitte, Karl Henrici und Cornelius Gurlitt zu nennen. Das oberste Ziel war nicht, wie bei den Stadtplanern, eine Verbesserung der Wohn- und Verkehrssituation zu erzielen, sondern vielmehr der Volkserziehungsgedanke. Durch das fehlende Heimatgefühl sah vor allem Sitte die große Gefahr, dass es zu einem Umsturz kommen könne, da man sich nicht mehr mit dem Bürgertum identifizieren konnte. 17 Um dem entgegen wirken zu können, musste der Städtebau wieder künstlerischer werden und damit ein heimatliches Gefühl ermöglichen. Wo die Menschen im Streben nach Ausbreitung alleine aufgehen, nur leben, um Geld zu 12 Als herausragendes Beispiel dieser Art von Stadterweiterung ist Mannheim zu nennen. 13 B AUMEISTER , Stadterweiterung (wie Anm. 7) 14 S TÜBBEN " Städtebau, 407 (wie Anm. 10) 15 S TÜBBEN , Städtebau, 50 (wie Anm. 10) 16 S TÜBBEN , , Städtebau, 51 (wie Anm. 10) 17 Vgl. F EHL , Kleinstadt, 42 (wie Anm. 1) Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert 295 verdienen, und nur Geld verdienen, um zu leben, da mag es ja hinreichen, sie in ihre Baublöcke zu verpacken, wie die Heringe in eine Tonne. 18 Im Gegensatz zu den Stadtplanern, die ein vollständiges Konzept ausarbeiteten, beschränkten sich die Stadtbaukünstler auf die Gestaltung weniger Räume und Plätze. Für sie war der Städtebau keine technische Frage, sondern eine künstlerische. Die Autoren studierten historische Plätze, die sie als Ideal ansahen und verglichen sie mit dem modernen System, das im 19. Jahrhundert dominierte. Den Prototyp für ein gelungenes System fanden sie in der mittelalterlichen Stadt, aber auch die Renaissance und der Barock hatten Vorbildfunktion. Während Sitte Vorbilder vor allem im alten Griechenland und in Italien fand. lehnte Henrici alle ausländischen Vorbilder ab. Ist es wirklich nöthig, daß diese auf das malerische, gerichteten, urdeutschem Wesen entspringenden Bestrebungen den Platz räumen müssen für undeutsche, italienische und französische Art, weil diese besser paßt zu dem ebenfalls undeutschen modernen Städtebausystem? 19 Hauptkritikpunkt war, dass es in den modernen Städten keinen öffentlichen Platzraum mehr gab, der nach außen hin streng geschlossen war. Der Platz verlor somit auch seine Funktion als Stadtmittelpunkt, wo das gesellschaftliche Leben stattfand und Informationen ausgetauscht wurden. In der modernen Stadt beherrschten die Symmetrie und Geradlinigkeit das Stadtbild. Moderne Systeme! - Jawohl! Streng symmetrisch alles anzufassen und nicht um Haaresbreite von der einmal aufgestellten Schablone abzuweichen, bis der Genius totgequält und alle lebensfreudigen Empfindungen im System erstickt ist, das ist das Zeichen unserer Zeit. 20 Eine richtige Stadterweiterung im künstlerischen Sinne erforderte einen Plan, der zunächst die Anzahl und die Größe der öffentlichen Gebäude berücksichtigte. Danach wurden die Lage und die Form der öffentlichen Plätze festgelegt. Das Blocksystem wurde vermieden, vielmehr wurde Wert auf eine gewisse Unregelmäßigkeit gelegt. In weitesten Kreisen aus der eigenen Erfahrung her bekannt ist es, daß diese Unregelmäßigkeiten durchaus nicht unangenehm wirken, sondern im Gegenteile die Natürlichkeit steigern, unser Interesse anregen und vor allem das Malerische des Bildes verstärken. 21 Die Wohnungsfrage wurde von den Stadtbaukünstlern dagegen ignoriert, ihrer Ansicht nach genügte es, sich auf wenige öffentliche Plätze und Straßen zu beschränken. Die breite Masse der Wohnstätten sei der Arbeit gewidmet und hier mag die Stadt im Werktagskleid erscheinen; die wenigen Hauptplätze und Hauptstraßen sollten aber im Sonntagskleid erscheinen können, zum Stolz und zur Freude der 18 C AMILLO S ITTE , Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1901, dritte Auflage (Nachdruck 1965), 137. 19 K ARL H ENRICI , Gedanken über das moderne Städte-Bausystem (1891), in: G ERHARD C UR- DES / R ENATE O EHMICHEN (Hrsg.), Künstlerischer Städtebau um die Jahrhundertwende. Der Beitrag von Karl Henrici, Köln u.a. 1981, 56-58, hier 56. 20 S ITTE , Städtebau, 101 (wie Anm. 1); Sittes Hauptkritik richtete sich auf das Rechteck-, Dreieck- und Radialsystem, welches die Stadtplaner verwendeten 21 S ITTE , Städtebau, 58 (wie Anm. 1) Andrea Groß 296 Bewohner, zur Erweckung des Heimathgefühls, zur Heranbildung großer edler Empfindungen bei der heranwachsenden Jugend. 22 In dem Punkt der Ablehnung von der Nachbildung historischer Gebäude stimmten die Stadtplaner und die Stadtbaukünstler überein. Im Gegensatz zu Baumeister & Co, die eine Nachbildung ausschlossen, orientierten sich die Künstler jedoch am Vorhandenen. Eine neue Stadt nach meinem Sinn wird nicht aussehen wie eine mittelalterliche Stadt, denn ich will nicht verzichten auf Eisenbahnen und Pferdebahnen, auf Gaslicht […]. Aber in meiner Stadt soll sich wieder Bild an Bild reihen, geeignet, um vom Maler gemalt und vom Dichter besungen zu werden. 23 Der gravierendste Unterschied zu dem modernen System war jedoch die Straßenführung. Die moderne Straßenführung fügte sich nicht in das künstlerische Konzept ein, da[ss] sie nun fast ausnahmslos gerade angelegt werden - das ist ein Hauptgrund der Langweiligkeit unserer modernen Stadtviertel. Viele werden gekrümmte und gebrochene Linien gehen müssen, will man dem Strassennetze eine brauchbare Gestalt geben. 24 Das Element der gekrümmten Straße findet sich nach 1900 in vielen der Arbeitersiedlungen gleich welchem Typ wieder. Für große Stadterweiterungen wurde dieses Konzept, das gerade die Wohnbebauung ausschloss nicht genutzt. 2.3. Der Siedlungsbau Ein weiteres Konzept soll noch kurz vorgestellt werden, auch wenn dieses nur in Verbindung mit der Stadtplanung und der Stadtbaukunst verwirklicht worden ist. Die Siedlungsbauer waren keine Theoretiker wie man sie bei den bereits vorgestellten Richtungen fand, vielmehr versuchten sie eine Verbesserung der bestehenden Situation zu erzielen, in dem sie genaue Standards festlegten. Hier fand man vor allem die Sozialwissenschaftler. Zu den wichtigsten Vertretern gehörten neben Theodor Goecke auch Rudolf Eberstadt und Adolf Messel. Gerade die Siedlungsbauer waren häufig in gemeinnützigen Vereinen vertreten, wie dem Verein für Socialpolitik, „[…] der mehrfach umfassende Untersuchungen zur Wohnungsfrage vorlegte und mit wissenschaftlich fundierten ‚Anklagen gegen das Bestehende‘ die Spekulanten und Grundbesitzer zur Mitwirkung an der Wohnungsreform wachrütteln wollte.“ 25 Sie machten ebenso wie die Stadtplaner die ungelöste Wohnungsfrage für die Krise verantwortlich. Sie sahen allerdings nicht nur die wirtschaftlichen Ursachen, sondern auch die sozialen Probleme der Arbeiter. Es wurde die dicht gedrängte Wohnweise in den Mietskasernen als Übel ausgemacht, dass es zu beseitigen galt. Die Mietskaserne bietet überhaupt keine ‚Wohnungen‘, die diesen Namen verdienen. Die Räume bilden keine Wohnung. In dem Kasernengebäude ist jedes 22 S ITTE , Städtebau, 98 (wie Anm. 17) 23 K ARL H ENRICI , Die künstlerischen Aufgaben im Städtebau (wie Anm. 19), 65-74, hier 74f. 24 C ORNELIUS G URLITT , Über Baukunst (Die Kunst 26), Berlin 1904, 34; DERS . 29 25 F EHL , Kleinstadt, 35 (wie Anm. 6) Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert 297 Heimgefühlt aufgehoben. Auf Schritt und Tritt, bei jedem Blick aus dem Fenster besteht der Zwang der Berührung mit der Nachbarschaft. 26 Daneben war vor allem die Untervermietung bzw. das Schlafgängerwesen eine große sittliche Bedrohung, da es keine Privatsphäre für die Familie gab. Die Aftermiethe, welche dem Hauptmiether zur Bestreitung seines Miethszinses unentbehrlich ist, bildet den Hauptkrebsschaden unserer Arbeiterwohnungsfrage, sie lässt sich aber nicht durch ein Verbot beseitigen; denn die Ledigen wollen auch wohnen. 27 Die Lösung des Problems war nach Ansicht der Wohnungsreformer einfach, denn für die Arbeiter wurde nicht entsprechend gebaut. Daher gelte es, die Wohnreform auf eine Weise anzufassen, die das Angebot ergänzt und der Nachfrage vollständig und zwar wohlfeilst bis zum Selbstkostenpreis hinab entgegenkommt, weil man hier nur imgrossen und mit Ausschluss jeder Gewinnabsicht, geschwiege wucherischer Ausbeutung zu genügen vermag. 28 Arbeiter brauchten gesunde Kleinwohnungen, um sie zum Bürgertum hin zu erziehen. Ähnlich wie die Stadtbaukünstler verfolgten die Siedlungsbauer auch eine Art Volkerziehungsgedanken, der aber auf der Wohnung basierte. Eine gesunde Baukunst wurzelt einerseits in der Bautradition des Landes, andererseits in der Individualität des Baumeisters. […] Stets muss die Einfachheit der Gestaltungsmittel, die Wohlfeilheit der Gesammt-Anlage im Auge behalten werden 29 Sie plädierten dafür, dass den Bedürfnissen der Arbeiter ähnlich wie bei anderen Schichten Rechnung getragen wird. Wie auch die Fabrikherren argumentierte diese Gruppe, dass nur eine gute Wohnung auch leistungsfähige Arbeiter hervorbrachte. Das Konzept der Bebauung bestand aus einer Mischbebauung aus Ein- und Mehrfamilienhäuser, wenn möglich in geringer Höhe. Das Wohnhaus sollte nicht mehr als zehn Wohnungen haben. Die Blockbebauung wurde allerdings nicht vollständig abgelöst. Darin sowohl als auch in der ausschliesslichen Beschaffung von Wohnungen, die an der Strasse und nicht angeschlossenen Höfen liegen, würde schon ein bedeutsamer Fortschritt nach sozialer Richtung zu erblicken sein. 30 Die Kritik richtete sich vor allem gegen den spekulativen Wohnungsbau, wo selten Kleinwohnungen für Arbeiter errichtet wurden, die finanziell bezahlbar waren. Zudem forderten die Reformer auch den Eingriff der Stadt oder Kommunen in die Arbeiterwohnungsfrage. 26 R UDOLF E BERSTADT , Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage, Jena 1910, zweite erweiterte Auflage, 234f. 27 E MI , H ECHT , Die bauliche Entwicklung Nürnbergs unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiterwohnungsfrage, Nürnberg 1898, 7. 28 G OECKE , Wohnungsfrage, 540 (wie Anm. 4) 29 G OECKE , Wohnungsfrage, 541f (wie Anm. 4) 30 G OECKE , Wohnungsfrage, 546 (wie Anm. 4) Andrea Groß 298 2.4. Fazit Obwohl diese Theorien, wie schon erwähnt wurde, vor allem den Bereich der Stadterweiterung thematisieren, sind sie für den Aufbau von Arbeitersiedlungen von großem Interesse. Hier wurde das Große auf den Bereich des Kleinen übertragen und so der typische Aufbau einer Siedlung geschaffen. Zusammenfassend muss gesagt werden, dass in den seltensten Fällen bei den Siedlungen eine Idee alleine umgesetzt wurde, vielmehr gab es hier Mischformen. Sehr häufig findet man die Mischung Stadtbaukunst und Siedlungsbau, aber auch Stadtplanung und Siedlungsbau. Die Vertreter der Stadtbaukunst und der Stadtplanung blieben untereinander so unstimmig, so dass kein Kompromiss zwischen beiden gefunden werden konnte. 3. Das Anwendungsgebiet: Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert Im Folgenden sollen nun die bereits vorgestellten städtebaulichen Theorien auf die vier großen Nürnberger Siedlungen übertragen werden. Dabei werden auch die Entstehungsgeschichte und die Besonderheiten der jeweiligen Siedlungen dargelegt. Hier soll gezeigt werden, dass die Siedlungen großteils wie kleine Städte in der Großstadt wirkten und funktionierten. 3.1. Die Siemens-Schuckert-Siedlung als Beispiel für die Stadtplanung Die Siemens-Schuckert-Siedlung, im Volksmund auch unter Schuckertviertel bekannt, war die erste große Arbeitersiedlung in Nürnberg. Sie folgte den Richtlinien der Stadtplanung ziemlich genau. Das Schuckertviertel lag im Süden der Stadt, genauer gesagt in Steinbühl an der Gugelstraße in der Nähe der Schuckertwerke. Interessant ist auch die Gründungsgeschichte dieser Siedlung. Der Name symbolisiert ja bereits die Zugehörigkeit zu einem Unternehmen, auch wenn die Schuckertsiedlung keine reine Werkssiedlung ist. 1896 gründeten Mitarbeiter den Bauverein Schuckert’scher Arbeiter. 31 Wichtigstes Kriterium für den Beitritt war natürlich die Zugehörigkeit zu der Elekrizitäts-Aktiengesellschaft vormals Schuckert & Co. Die 283 Gründungsmitglieder ersuchten das Unternehmen zunächst werkseigene Wohnungen zu bauen und Arbeitern Darlehen für den Bau eines Eigenheims zu gewähren. 32 Besondere Unterstützung erhielten die Arbeiter durch den kaufmän- 31 1903 wurde der Verein nach der Fusionierung mit Siemens in Bauverein Siemens- Schuckert’scher Arbeiter umbenannt. 32 Wohnungsgenossenschaft Sigmund Schuckert: 100 Jahre Wohnungsgenossenschaft Sigmund Schuckert 1896-1996, Nürnberg 1996, 11. Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert 299 nischen Direktor Dr. h.c. Alexander Wacker, der den Bauverein in verschiedenen Bereichen unterstützte. Zum einen verkaufte er an die Genossenschaft ein Grundstück zu einem verbilligten Kaufpreis, zum anderen gewährte er ein günstiges Darlehen. Zudem wollte er nicht nur den besser gestellten Mitarbeitern helfen, sondern auch den wirklich bedürftigen Arbeitern. 33 Werkswohnungen an sich erstellten die Schuckertwerke nicht. Auch die Planung und Bauausführung für den ersten Teilabschnitt oblag dem Unternehmen. Hierfür war Schmitz von der Bauabteilung der Schuckertwerke verantwortlich. Abb. 1: Im Gegensatz zu den anderen Siedlungen ist im Schuckertviertel die Mietshausbebauung mit Mehrfamilienhäusern, die zu große Blöcken mit begrünten Innenhöfen zusammengefasst waren, Foto: Andrea Groß Die Schuckertsiedlung ist bautechnisch in zwei Abschnitte gegliedert. Obwohl sich beide Teile hinsichtlich der Bebauung stark unterscheiden, sind sie doch beide von den stadtplanerischen Ideen durchzogen. 33 Wohnungsgenossenschaft Sigmund Schuckert (wie Anm. 32), 11-13. Andrea Groß 300 Von 1898 bis 1908 wurde das Grundstück an der Gugelstraße vollständig bebaut. Es entstanden hier 100 Häuser mit 772 Wohnungen. Die Anlage der Häuser erfolgte im Viereck, in der Mitte lag eine Gartenanlage. „Platz war dort auch für ein Häuschen, das als Verkaufsstelle von Brot, Milch und Bier fungierte sowie eine Wäschemangel und Schleudermaschine für die Mieter beherbergte.“ 34 Die Siedlung war im Rechtecksystem erbaut, alle Straßen verliefen im Schachbrett. Die Straßenkreuzungen waren rechtwinklig angelegt. Die Häuser lagen geradlinig direkt an der Straße. Um Monotonie zu vermeiden, wurden die Fassaden durch Erker und Ornamente abwechslungsreich gestaltet. Auch die Baumreihen, die den Gehweg säumten, durchbrachen die eher nüchterne Planung. Nachdem das Grundstück vollständig bebaut wurde, beschloss der Bauverein 1909 eine weitere Siedlung für die Schuckertschen Arbeiter zu errichten. Dazu kaufte man das sogenannte ‚Birkenwäldchen‘ an der Frankenstraße. Da mittlerweile auch in Deutschland die Gartenstadtidee in den Siedlungsbau Eingang gefunden hatte, wurde die Erweiterung nach diesem Prinzip geplant. Das Grundstück wurde, wie schon in der ersten Siedlung, rasterartig überzogen, auch hier herrschten die geraden, rechtwinkligen Straßen vor. Nur sehr wenige Straßen erhielten Krümmungen. Hier entstanden im Gegensatz zur ersten Siedlung fast ausschließlich Einfamilienhäuser. Nur an der Frankenstraße und an den Einmündungen in die Sperberstraße wurden Mehrfamilienhäuser errichtet. 35 Der hohe Lebensstandard entsprach ganz der Idee der Stadtplanung nach einer hygienischen Verbesserung. Alle Häuser waren unterkellert. Zudem besaßen sie ein Bad, das entweder im Keller in der Waschküche oder neben der Küche lag. Der Abort war im Haus untergebracht. Daneben gab es elektrisches Licht und Spülklosetts. Gerade diese Häuschen waren bei der Arbeiterschaft beliebt. „Dies wird z.B. daran deutlich, daß einige Wohnungsberechtigte sogar freiwillig zurücktraten, um abzuwarten, bis sie ein Häuschen beziehen konnten.“ 36 Als Architekt fungierte hier Wilhelm Heinz, der versuchte die langen Straßenzüge durch variierende Bauelemente zu beleben. Bis 1915 entstanden hier 151 Einfamilienhäuser, drei Zweifamilienhäuser und elf Vierfamilienhäuser. Jedes dieser Häuser besaß einen eigenen Garten, der hinter dem Haus lag. Wie Annette Beyer in ihrer Magisterarbeit schon bemerkte, fehlte hier die malerische Wirkung, die sonst die gartenstädtischen und gartenstadtähnlichen Siedlungen erzielten. „Aufgrund der engen Bebauung, des Fehlens von Vorgärten und der regelmäßigen Straßenführung gelang es dem Architekten nicht, eine Gartenstadt-Atmosphäre zu vermitteln, zumal 34 Wohnungsgenossenschaft Sigmund Schuckert (wie Anm. 32), 15. 35 A NNETTE B EYER , Die Werderau. Sozialer Siedlungsbau des Architekten Ludwig Ruff (Magisterarbeit), Erlangen 1990, 26. 36 Wohnungsgenossenschaft Sigmund Schuckert (wie Anm. 32), 20. Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert 301 die Siedlung nicht in sich abgeschlossen ist, sondern sich in den Generalbebauungsplan einfügt.“ 37 Die Siedlung fügte sich durch ihre hohen Standards und die geradlinige Bebauung in die Theorie der Stadtplanung ein. Durch den Bebauungsplan waren Erweiterungen immer möglich, da es keine abgeschlossene Siedlung war. 3.2. Die Wohnkolonie Rangierbahnhof Im Gegensatz zum Schuckertviertel wurde hier auf die Ideen der Stadtbaukunst zurückgegriffen, die aber im Zusammenhang mit dem Siedlungsbau entstand. In Nürnberg war es die erste Siedlung, die nach diesem Prinzip gebaut wurde. Die Siedlung lag in der Nähe der ‚Harfe‘ zwischen den Gleisen des Einfahrbahnhofs inmitten der Verbindungsgleise zu den Bahnlinien im Osten und den Bahnhöfen Dutzendteich und Fischbach. 38 Heute gehört die Siedlung zum Stadtteil Zollhaus. Die Siedlung wurde notwendig, nachdem der neue Rangierbahnhof, der 1903 seinen Betrieb aufnahm, eine Stunde vom früheren Güterbahnhof am Kohlenhof entfernt lag. Eine Genossenschaft und die Bayerische Staatsbahn errichteten gemeinsam die Wohnkolonie, die Planungen stammten von der Eisenbahnverwaltung. Die erste Bauphase wurde alleine von der Staatsbahn getragen, die neugegründete ‚Baugenossenschaft der Eisenbahner Nürnberg-Rangierbahnhof‘ beteiligte sich ab 1907 aktiv am Bau der Kolonie. Als Architekt wurde vor allem von Jürgen Storbeck 39 German Bestelmeyer genannt, in der neueren Forschung gibt es jedoch Zweifel daran, denn es finden sich weder in den Werksverzeichnissen der Bestelmeyerschen Arbeiten noch in der zeitgenössischen Literatur Hinweise, es wird vielmehr Gröschel, der Regierungsdirektor der Generaldirektion der Bayerischen Staatsbahn als Verantwortlicher bezeichnet. 40 Mitglieder der Genossenschaft waren unter anderem Gehilfen, Stationsmeister und -diener, Weichensteller, Werkführer und -aufseher, Wagenwärter und Wagenmeister. 41 Die Siedlung zeichnete sich vor allem durch die gekrümmte Straßenführung aus, die in dieser Art in Nürnberg zum ersten Mal verwendet wurde. Hier wurde die Idee einer Gartenstadt mit dem künstlerischen Konzept Sittes verbunden, der ein malerisches Dorf mitten in der Stadt propagierte. 42 Die Siedlung wurde durch zwei 37 B EYER , Werderau (wie Anm. 35), 26. 38 B ERND W INDSHEIMER , 100 Jahre Baugenossenschaft des Eisenbahnpersonals Nürnberg und Umgebung, Nürnberg 2007, 14. 39 J ÜRGEN S TORBECK , Die Wohnkolonie Nürnberg-Rangierbahnhof (Magisterarbeit), Erlangen 1975, 8. 40 W INDSHEIMER , Eisenbahnpersonal (wie Anm. 38), 14. 41 W INDSHEIMER , Eisenbahnpersonal (wie Anm. 38), 19. 42 A NDREA G ROß , Arbeitersiedlungen in Nürnberg. Betrachtung der Siedlungen nach kunsthistorischen, sozialpolitischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten), Erlangen 2009, 101. Andrea Groß 302 Abb. 2: Die Burg in der Wohnkolonie Rangierbahnhof zeigt eindeutig die Anlehnung an die heimische Bauweise und war das Verbindungselement zwischen der Stadt und der außerhalb gelegenen Wohnsiedlung, Foto: Andrea Groß Haupteingänge betreten, die nordöstlich und südöstlich lagen. Der nordöstliche Eingang mit zwei Flankentürmen versehen, wurde allerdings in diesem Maße nicht realisiert. Vom Südosten her gelangte man über eine Eisenbahnbrücke in das Innere der Siedlung. Mittelpunkt war die sogenannte Burg, die eine Art Verbindungselement zur Stadt Nürnberg war. Sie lag erhöht und von ihr ging die Entwicklung der Siedlung aus. In den Anfangsjahren wurden vor allem Einfamilienhäuser und kleine Mehrfamilienhäuser errichtet. Später verlegte man sich nur noch auf den Bau von Mehrfamilienhäusern, da diese in der Errichtung günstiger waren. Diese wurden in geschlossener, später auch in offener Bauweise errichtet. Von großem Interesse sind die Gemeinschaftseinrichtungen, die in der Siedlung geplant waren, allerdings wurden sie nur zum Teil verwirklicht. Bereits 1912/ 13 wurde nach den Plänen von Georg Kuch ein Schulhaus errichtet, damit die Kinder nicht mehr den weiten Weg in die Stadt zu Fuß gehen mussten. Für eine bürgerliche Erziehung waren auch die Kirchen ein wichtiger Aspekt. Die evangelisch-lutherische Jugendstilkirche 43 und die sachlich anmutende katholische Kirche 43 Dies ist die einzige Kirche in Nürnberg, die vollständig im Jugendstil errichtet wurde. Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert 303 lagen sich auf einer Anhöhe gegenüber. Daneben standen den Bewohner anfangs zwei Kramläden und eine Gastwirtschaft zur Verfügung, die gegenüber der Burg angelegt war. Neben den bereits erwähnten Einrichtungen gehörten zum Gesamtplan noch ein Ärztehaus, zwei Wirtschaften, ein Bad mit Friseur- und Schuhmacherladen, eine Kinderschule, eine Postagentur, eine Metzgerei und Bäckerei, zwei Spezereiläden und ein Milchladen. 44 Nie realisiert wurden dagegen die Polizei- und Feuerwache, die in der 1913 fertig gestellten Toranlage in der William-Wilson- Straße geplant waren. Viele dieser Einrichtungen wurden allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg verwirklicht. „Gerade eine Badeanstalt wäre aber dringend nötig gewesen, denn die Wohnungen verfügten in ihrer großen Mehrzahl über keine Bäder, so dass lange Zeit die Wagenreinigungsanlage im Rangierbahnhof die einzige Badegelegenheit bot.“ 45 Die Ausstattung der Wohnungen war hier nicht so hochwertig, wie in der zur gleichen Zeit erweiterten Schuckert-Siedlung. Hier wurde vielmehr Wert auf ein malerisches Aussehen gelegt, dass wiederum das Heimatgefühl anregen und ein Wohlgefühl bei den Bewohnern auslösen sollte. Die Bewohner zeigten mit der Gründung einer Kelteranlage zur Weiterverarbeitung des Obstes und einer Molkerei zudem Eigeninitiative. Wir hatten eine kleine, aber rentable Molkerei errichtet. Die Milch wurde am Produktionsort gereinigt und tiefgekühlt. Wohl zahlten wir den Bauern 1 Pf. pro Liter mehr als die anderen, hatten dafür aber 3,7 % Mindest-Fettgehalt. Die Milch der großen Molkereien wurde um 24 Pf. pro Liter verkauft, wir gaben das Quantum um 20 Pf. Das Glas Joghurt kostete dort 18 Pf., bei uns 12 Pf. Dabei hatten wir einen Reingewinn von 10 000 Mark bis 16 000 Mark im Jahr. 46 Im Gegensatz zum Schuckertviertel wirkt diese Siedlung in sich abgeschlossen, wie ein kleines Dorf in einer großen Stadt. Auch die besondere Planung der öffentlichen Einrichtungen zeigte das künstlerische Konzept wieder. Die Gestaltung der Häuser ist dem Siedlungsbau zuzurechnen. Für eine schnelle Verbindung in die Stadt sorgte zudem die Rutsch’n 47 . Ein Zitat des Fränkischen Kuriers vom 28. September 1916 zeigt deutlich die Wirkung der Siedlung auf die Zeitgenossen auf: […] Die Anlage der Siedlung selbst ist nicht allein nach den Erwägungen der Nützlichkeit geschehen, sondern trägt auch dem Schönheitsbedürfnis Rechnung. Nicht in eintönig gerader Linie, sondern in wohltuender Abwechslung und doch vollendetem, gegenseiti- 44 J UTTA T SCHOEKE , Gartenstädte in Nürnberg, In: P ETER -K LAUS S CHUSTER (Hrsg), Peter Behrens und Nürnberg, München 1980, 238-247, hier: 242. 45 M ARTIN , S CHIEBER / B ERND , W INDSHEIMER , 100 Jahre Rangierbahnhof Nürnberg, Nürnberg 2003, 24f.. 46 B AUGENOSSENSCHAFT DES E ISENBAHNPERSONALS N ÜRNBERG UND U MGEBUNG , Festschrift herausgegeben anläßlich des 50-jährigen Bestehens der Baugenossenschaft des Eisenbahnpersonals Nürnberg und Umgebung e.G.m.b.H. 1907-1957, Nürnberg 1957, 9. 47 Die Rutsch’n war bis 1938 die schnellste Verbindung in die Stadt. Die Vermittlungszüge fuhren vor der Toranlage in der William-Wilson-Straße ab. Andrea Groß 304 gem Einklang verlaufen die Straßenzüge, die zum Teil mit gut gedeihenden Alleebäumen ausgestattet sind […]. 48 3.3. Die Werkssiedlung Werderau Wie keine andere Nürnberger Siedlung zeigte die Werderau das Konzept Sittes verwirklicht. Auch hier war die Stadtbaukunst wieder mit dem Siedlungsbau verbunden, wenn auch der künstlerische Aspekt mehr durchschlägt. Die Werderau galt als reine Werkssiedlung, was im Folgenden noch dargelegt wird. Auch wenn rein äußerlich viele Werkssiedlungen wie Gartenstadtsiedlungen 49 aussahen, waren sie es rein formal nicht. Vielmehr bedienten sie sich ihrer Ideen, unterschieden sich aber hinsichtlich ihrer Gründungsgeschichte. Auch die Werderau war ein solcher Fall. Gegründet wurde die Siedlung auf Initiative von Anton von Rieppel, dem Direktor der Klett’schen Maschinenfabrik. Die Werderau stand in der Tradition der betrieblichen Wohnungspolitik. Dazu zählten zum einen der Bau von Wohnungen durch das Unternehmen, die Hilfe des Wohnungsbaus der Werksangehörigen durch Kapital- oder Naturalleistungen, sowie die finanzielle Beteiligung an Wohnungsunternehmen, wie Baugenossenschaften. 50 Nachdem sich die MAN schon an anderen Wohnungsunternehmen beteiligte und selbst Wohnungen errichtete, gründete Rieppel 1910 die Baugesellschaft Werderau, die die Planung und Errichtung der Siedlung organisierte. Formal gab von Rieppel den Bau und Organisation der Siedlung in die Hände der Gesellschaft, doch die MAN blieb weiterhin der größte Teilhaber. 51 Die Baugesellschaft war somit eigenständig, aber blieb nach wie vor eng mit dem Unternehmen verbunden. Die Einnahmen aus Mieten flossen in den weiteren Ausbau, der auch von der MAN weiter finanziell unterstützt wurde. Die ursprüngliche Idee der Werderau war, den Angehörigen der M.A.N. Einfamilienhäuser im Grünen zu bauen. Man wollte durch das Einfamilienhaus den Eigentumsinn der Bewohner, die Liebe zum Eigenheim, den Stolz auf ein Häuschen und ein Stück Erde, das der Familie allein überantwortet war, erwecken. 52 Sowohl Gelände als auch ein Name für die Siedlung waren schnell gefunden. Das Gebiet lag im sogenannten Schweinauer Espan im Stadtteil Gibitzenhof. Als 48 Vgl. B AUGENOSSENSCHAFT DES E ISENBAHNPERSONALS N ÜRNBERG UND U MGEBUNG , 75 Jahre Baugenossenschaft des Eisenbahnpersonals Nürnberg und Umgebung 1907-1982, Nürnberg 1982, 16. 49 Auf Gartenstädte wird in Kapitel 3.4. genauer eingegangen. 50 G ÜNTHER S CHULZ , Der Wohnungsbau industrieller Arbeitgeber in Deutschland bis 1945, in: H ANS J ÜRGEN T EUTEBERG , Homo Habitans. zur Sozialgeschichte des ländlichen und städtischen Wohnens in der Neuzeit, Münster 1985, 373-389, hier: 373. 51 MAN: 25 Jahre Gartenstadt Werderau (1911-1936). Für Angehörige der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg A-G, Nürnberg 1936 (nicht paginiert), 7. 52 MAN (wie Anm. 51), 9. Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert 305 Namensgeber fungierte Ludwig Werder, ein Mitarbeiter, der sich bei Cramer-Klett schon früh mit der Wohnungsproblematik beschäftigte. 53 Als Architekt wurde zudem Ludwig Ruff gewonnen. 54 Ruff stand in der Tradition Henricis und Sittes, was besonders deutlich an der Straßenführung zu erkennen war. Er unterschied zwischen Haupt- und Nebenstraßen hinsichtlich der Breite, zudem gab es keine geraden Straßen, sondern Krümmungen und Kurven bestimmten das Bild, auch wenn stark gebogene Straßen eine Ausnahme blieben. Die Hausgruppen waren nicht, wie bei dem Schuckertviertel quadratisch bzw. rechteckig angelegt, sondern in Trapezform angelegt. Bei ihm stand eindeutig der ästhetische Moment im Vordergrund, durch die Staffelung der Anlage sollte die Idee eines gewachsenen Dorfes dargestellt werden. 55 Abb. 3: Die Platzanlage mit den Versorgungseinrichtungen am Volckamerplatz trennt die Arbeitersiedlung von der Siedlung für die Angestellten der MAN und schafft somit zwei, auch architektonisch unterschiedliche Teile, Foto: Andrea Groß Besonders deutlich wird die Nähe zu Sitte anhand von zwei Elementen dargestellt. Zum einen die Platzanlage, der Volckamer-Platz, zum anderen in der Geschlossen- 53 G ROß , Arbeitersiedlungen, 109. 54 Ruff gehörte in den 1930er Jahren zu den erfolgreichsten Architekten. Er zeichnete sich unter anderem für die Architektur des Phoebus-Palastes und der Kongresshalle am Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg verantwortlich. 55 T SCHOEKE , Gartenstädte (wie Anm. 44), 244. Andrea Groß 306 heit der Siedlung in sich. Ruff nutzte die Platzanlage als architektonische Dominante in der Siedlung. „Dieses Zentrum wirkt, durch seine symmetrisch ausgestaltete, barocke Platzanlage, wie ein Marktplatz einer vorindustriellen Stadt.“ 56 Durch die Geschlossenheit nach außen zeigte sich Sittes Tradition deutlich. Ebenso wie er es in seiner Schrift beschrieb, fanden sich hier wichtige Einrichtungen. Ein weiteres charakteristisches Element der Stadtbaukunst war die Geschlossenheit der ganzen Siedlung, nicht nur des Marktplatzes. Die einzelnen Häusergruppen sind untereinander durch einen Torbogen miteinander verbunden, ein Einblick in das Innere war unmöglich. Zwischen den einzelnen Gruppen lagen Grundstücke, die als Plätze für das Gemeinschaftsleben dienten. Zudem befanden sich hier die Wäschetrockenplätze und Spielplätze. Neben dem Vorgarten besaßen alle Häuser einen größeren Garten dahinter. Die Häuser bzw. Wohnungen besaßen einen hohen Standard mit Bad und Toilette. Auch die verschiedenen Versorgungseinrichtungen zeigten eine gewisse Unabhängigkeit von der Stadt, da man nicht mehr nach Nürnberg fahren musste, um einzukaufen. In der Werderau gab es eine Gärtnerei, einen Milchladen, einen Schreibwarenladen, eine Kohlenhandlung, eine Drogerie, einen Biervertrieb, Uhrmacher und Schuhmacher, sowie Metzgerei, Schnittwaren und Spezereiläden. 57 1912 kam das Gasthaus hinzu. Schulen und Kirchen wurden in der Werderau nicht verwirklicht, da bereits beide Institutionen in den Vororten Maiach und Gibitzenhof vorhanden waren. In diesem Bereich bestand eine enge Verbindung zur Stadt, im Gegensatz zur Rangierbahnhofsiedlung und der Gartenstadt, die auch in diesem Bereich eigenständig blieben. Im Gegensatz zu anderen Kolonien wurde der Bebauungsplan fast vollständig in der Form realisiert, wie Ruff ihn geplant hatte. 3.4. Die Gartenstadt Nürnberg Die Gartenstädte folgten in gewisser Weise einem eigenen Konzept und zwar dem des Engländers Ebenezer Howard, der in seinem Buch Garden-Cities of To- Morrow 58 die Idee einer neuen Siedlung niederschrieb. In Deutschland entfernte sich die Deutsche Gartenstadtgesellschaft (DGG) von dem Aufbau, da er hier nicht in die Realität umsetzbar war und kreierte ein eigenes Konzept, das gerade in der Planung doch der Stadtbaukunst zuzurechnen war. Da die DGG keine wirklichen Bestimmungen zum Aufbau einer Siedlung veröffentlichte, lag es an den Architekten dies nachzuholen. Einzige Vorgabe war der Bau von Einfamilienhäusern. Bevor 56 B EYER , Werderau (wie Anm. 34), 52. 57 R EINHARD E HRBAR , Die Werderau. eine Wohnsiedlung der Maschinenfabrik Augsburg- Nürnberg (Zulassungsarbeit), Erlangen 1985, 113. 58 E BENEZER H OWARD , Gartenstädte in Sicht, Jena 1907; bereits 1898 erschien das Buch in England unter dem Titel „To-Morrow: A Peaceful Path to Real Reform”. Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert 307 nun auf die Gartenstadt Nürnberg eingegangen wird, soll ein kleiner Exkurs zur Thematik einer Gartenstadt gemacht werden. Während das ursprüngliche Konzept Howards auf eine Verbindung von Stadt und Land 59 zielte, wurde in Deutschland schon bald klar, dass eine Gartenstadt, die Wohnung, Industrie und Landwirtschaft verband nicht möglich war. Zum einen wurden die hier entstandenen Gartenvorstädten meist durch die Stadt infrastrukturell versorgt. Zum anderen gab es in der Nähe, wie in Nürnberg durch die MAN und Schuckert, genügend Arbeitsplätze und da das Gelände in der Regel an die bestehenden Städte grenzte, wurden die Industrie und die Landwirtschaft unnötig. Hauptaspekt einer Gartenstadt ist nicht, wie oft vermutete wird eine Siedlung im Grünen mit vielen Gärten, sondern es steckte ein anderer Aspekt dahinter. In den Statuten wurden das Ziel folgendermaßen formuliert: Eine Gartenstadt ist eine planmäßig gestaltete Siedelung auf wohlfeilem Gelände, das dauernd im Obereigentum der Gemeinschaft erhalten wird, derart, daß jede Spekulation mit dem Grund und Boden dauernd unmöglich ist. Sie ist eine neuer Stadtthypus, der eine durchgreifende Wohnungsreform ermöglicht, für Industrie und Handwerk vorteilhafte Produktionsbedingungen gewährleistet und einen großen Teil seines Gebietes dauernd dem Garten- und Ackerbau sichert. 60 Die Adressaten der Gartenstadtbewegung waren vor allem die Arbeiter, die in die neuen Städte drängten, um dort Arbeit zu finden. In ihren Ausgangspunkten ist die Gartenstadtbewegung ein Versuch, die Wohnungsfrage speziell für die Industriearbeiter zu lösen. 61 Deswegen trugen auch Beamtensiedlungen, Villenkolonien, Werkssiedlungen oder Selbsthilfesiedlungen, deren Gebäude in das Eigentum der Bewohner übergehen, den Namen Gartenstadt, sind es aber nicht, da die bereits genannten Voraussetzungen fehlten. 62 Den Anstoß zur Gartenstadt Nürnberg gab der Redakteur Schlegel von der Fränkischen Tagespost, der 1908 einen Artikel über die Hellerau abdruckte. 63 In Nürnberg stieß die Idee für eine ähnliche Siedlung auf großes Interesse. Über 900 Menschen aus allen Schichten kamen zusammen, einen großen Anteil bildeten die Arbeiter der naheliegenden Unternehmen MAN und Siemens-Schuckert. 64 Am 01. 59 In Howards Konzept sollten die Gartenstädte kleine eigenständige Gebilde sein, in denen neben den Wohngebieten auch Arbeitsplätze in den Fabriken und die Versorgung durch die angrenzende Landwirtschaft ermöglicht wird. 60 H ANS K AMPFFMEYER , Die Gartenstadtbewegung, Leipzig 1913 (2. Auflage), 7/ 8; auch wenn die DGG sich vom Konzept Howards entfernte, blieben die Aspekte Landwirtschaft und Industrie weiter in der Satzung bestehen. 61 K AMPFFMEYER , Gartenstadtbewegung (wie Anm. 58), 89. 62 S UTTER -K RESS , Nürnberg (wie Anm. 11), 7. 63 A XEL S CHOLLMEIER , Gartenstädte in Deutschland. ihre Geschichte, städtebauliche Entwicklung und Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin / Münster / Wien 1990, 144. 64 S TADT N ÜRNBERG / K ULTURLADEN G ARTENSTADT / G ESCHICHTSWERKSTATT (Hrsg.), Die Gartenstadt Nürnberg. Geschichte und Geschichten. von der Gründung bis zur NS-Zeit 1908-1933 (Teil 1), Nürnberg 1996, 15. Andrea Groß 308 September 1908 wurde die Gartenstadt e.G.m.b.H. ins Leben gerufen. Die Firmen MAN und Siemens-Schuckert beteiligten sich finanziell an dem Vorhaben, was dazu führte, dass sie Belegungsrechte für ihre Mitarbeiter bekamen. In diesem Fall gab es allerdings keine Verbindung zwischen Miet- und Arbeitsvertrag. Die Häuser wurden in Erbmiete vergeben. Ein geeignetes Grundstück fand man im Reichswald gelegen. Das Gelände war im Südosten durch den ehemaligen Ludwigskanal begrenzt, im Nordwesten lag der Südfriedhof und die Ausfahrt des Rangierbahnhofes. Für den Bebauungsplan zeichnete sich Richard Riemerschmid verantwortlich, der schon die Gartenstadt Hellerau plante. Albert Lehr lobte in einem Vortrag, den er am 31. Januar 1910 vor der Baugenossenschaft Nürnberg-Rangierbahnhof gehalten hatte, die Riemerschmidsche Art zu bauen. Riemerschmied hatte nur drei oder vier Häusertypen verwendet, aber die Häuser waren nicht wie ein Regiment Soldaten nebeneinander hingestellt, sondern mit großer Liebe und seinem Kunstverständnis gruppiert und jedes an den richtigen Ort gestellt. Die Straßen waren nicht gradlinig gezogen, sondern so angelegt, daß trotz der immer wiederkehrenden vielfachen Gebäudetypen doch abwechslungsreiche Bilder entstanden. 65 Auch bei Riemerschmid fand man im Bebauungsplan vom 12. August 1909 66 die gekrümmte Straßenführung wieder, er orientierte sich hier vor allem an den alten Waldwegen. Zudem unterschied er zwischen Haupt- und Nebenverkehrsstraßen hinsichtlich der Breite. Auch das Motiv eines Platzes, das besonders von Sitte propagiert wurde, fand seinen Niederschlag. Das nach dem traditionellen Piazza-Piazetta-Motiv modellierte Platzpaar teilte die Siedlung in einen nördlichen und einen südlichen Bereich. 67 In den beiden Hälften gab es jeweils einen weiteren Platz. Ein letzter Platz wurde im Nordosten der Gartenstadt geplant. Die wichtigsten Gemeinschaftseinrichtungen fand man am Platzpaar. Hier sind vor allem das Verwaltungsgebäude, ein Volkshaus, ein Schulhaus, ein Restaurant, eine Apotheke, ein Feuerwehrhaus, eine Kinderbewahranstalt und ein Luft- und Sonnenbad zu nennen. 68 Dadurch wird deutlich, wie die Genossenschaft versuchte von der naheliegenden Stadt unabhängig zu sein. Dennoch ist die Gartenstadt Nürnberg eher eine Gartenvorstadt, da sie infrastrukturell von Nürnberg versorgt wurde. 69 Hinsichtlich der Bebauung unterschied sich die Gartenstadt von den 65 A LBERT L EHR , Das Arbeiterwohnhaus.Vortrag von Direktionsassessor Lehr, gehalten in Nürnberg am 28. Januar 1910 in einer Versammlung des Architekten- und Ingenieurvereins und am 31. Januar 1910 in einer Versammlung der Baugenossenschaft Nürnberg- Rangierbahrhof, Nürnberg 1910, 14. 66 Der Bebauungsplan wurde in dieser Form nicht realisiert. Ein zweiter Plan vom 21. Oktober sah eine verstärkte Wohnbebauung vor, was zu Lasten der gedachten Einrichtungen ging. 67 S UTTER -K RESS , Nürnberg (wie Anm. 11), 70. 68 vgl. S UTTER -K RESS , Nürnberg (wie Anm. 11), 71; es werden noch weitere aufgezählt: Poststelle, Werksäle, Bedürfnisanstalten, Bibliothek, zahlreiche Spielplätze, verschiedene Läden und eine Arztpraxis. 69 S UTTER -K RESS , Nürnberg (wie Anm. 11), 3. Arbeitersiedlungen in Nürnberg im langen 19. Jahrhundert 309 anderen Siedlungen. Neben den langen Reihen gab es hier auch immer wieder freistehende Gebäude, Wohnhöfe oder kleine Mehrfamilienhäuser. Auch wenn die Gartenstadt Nürnberg nicht optimal den Vorstellungen der DGG entsprach, zählt sie auch heute noch zu den bedeutendsten Siedlungen ihrer Art in Deutschland. Abb. 4: Typisch für Gartenstadtsiedlungen sind, wie hier in der Gartenstadt Nürnberg, die gekrümmten Straßen und die Reihenhäuser mit ihren Vorgärten. Als Anlehnung an die heimische Bautradition sind die Fensterläden zu erwähnen, Foto: Andrea Groß 4. Fazit Auch wenn gerade viele der Gartenstädte und gartenstadtähnlichen Kolonien einen bürgerlichen Eindruck hinterlassen und als eine Art Wochendsiedlung wirken, lebten hier die Arbeiter in geordneten Verhältnissen. In diesen Siedlungen veränderte sich auch der Alltag der Arbeiterschaft. Alkoholismus gehörte der Vergangenheit an, vielmehr wurde nach dem Feierabend im Garten gearbeitet. Die Wohnung ist nicht bloss eine Schlafstelle für ihn, die er morgens verlässt, wenn die Kinder noch schlafen, und in die er abends zurückkehrt, wenn es wieder Zeit ist, zur Ruhe zu gehen. 70 In die- 70 A LBRECHT / M ESSEL , Arbeiterwohnhaus (wie Anm. 3), 7. Andrea Groß 310 sen Siedlungen entstand die Kultur des kleinen Mannes, die sich zwar an den Idealen des Bürgertums 71 orientierte, aber doch etwas Eigenes geschaffen hat. 71 Dies ist besonders in der Wohnungseinrichtung, der Kleidung oder den Freizeitbeschäftigung zu erkennen, die dem Bürgertum nachempfunden waren. Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 Peter Fassl Im Zuge der Neuordnung der Staatsverwaltung wurde im Königreich Bayern durch das Edikt vom 8. September 1809 das Medizinalwesen als ein zentral geleitetes dreistufiges System mit Amtsärzten an den Stadt- und Landgerichten, den Regierungen als der Mittelinstanz und dem Innenministerium als der Leitungsbehörde eingerichtet. Die Amtsärzte hatten Jahresberichte zu verfassen, deren Frageschema im Jahre 1858 in neuer und umfassender Weise durch das Innenministerium vorgegeben wurde, um durch eine „medizinisch-topographische und ethnographische Beschreibung“ die „Darstellung eines getreuen Gesamtbildes der Thätigkeit im Sanitäts- Dienste und des Zustandes des Sanitätswesens für das ganze Königreich“ zu erhalten. 1 Die bayerischen Physikatsberichte bilden mit 284 Einzelberichten die umfassendste und sich auf ganz Bayern erstreckende volkskundliche Quelle, die seit etwa 30 Jahren wissenschaftlich erforscht 2 und teilweise ediert wird. 1 Aerztliches Intelligenz-Blatt 5 (1858) Nr. 18, 209-213. 2 Der Aufsatz von W OLFGANG Z ORN , Medizinische Volkskunde als sozialgeschichtliche Quelle. Die bayerischen Bezirksärzte - Landesbeschreibungen von 1860/ 62, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG) 69 (1982), 219-231, machte allgemein auf die Bedeutung der Physikatsberichte aufmerksam, die bis dahin vorwiegend in der örtlichen Heimat- und Kulturgeschichte rezipiert wurden. Grundlegend für die Forschung sind: W ALTER P ÖTZL (Hrsg.), So lebten unsere Urgroßeltern. Die Berichte der Amtsärzte der Landgerichte Göggingen, Schwabmünchen, Zusmarshausen und Wertingen (Beiträge zur Heimatkunde des Landkreises Augsburg 10), Augsburg 1988; K LAUS R EDER , Die bayerischen Physikatsberichte 1858-1861 als ethnographische Quelle am Beispiel Unterfranken (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 57), Würzburg 1995; E DEL- TRAUD L OOS , „Behufs der Bestimmung des im Bezirke herrschenden Kulturgrades...“. Die Physikatsberichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Beitrag zur Sozial- und Kulturgeschichte Mittelfrankens (Mittelfränkische Studien 13), Ansbach 1999; M ONIKA B ERGMEIER , Wirtschaftsleben und Mentalität. Modernisierung im Spiegel der bayerischen Physikatsberichte 1858-1862: Mittelfranken, Unterfranken, Schwaben, Pfalz, Oberpfalz (Tuduv-Studien, Reihe Sozialwissenschaften 49), München 1990; W ERNER S CHARRER , Topographie und Ethnographie des Landgerichts Kempten um 1860, in: Allgäuer Geschichtsfreund 90 (1990), 41-104 und 91 (1991), 43-109; B EATE S PIEGEL , Physikatsberichte als Spiegel des Alltagslebens in Niederbayern um 1860, Magisterarbeit Universität München 1986; J AN B RÜGELMANN , Der Blick des Arztes auf die Krankheit im Alltag 1779-1850. Medizinische Topographien als Quelle für die Sozialgeschichte des Gesundheitswesens, Diss. Freie Universität Berlin 1982; B RIGITTE N EUBAUER , Die Physikatsberichte der Landgerichte Weilheim (1860/ 61) und Schongau (1858), in: Oberbayerisches Archiv 119 (1995), 7- 96; R UTH K I- Peter Fassl 312 Die Berichte für Unterfranken 3 und Oberbayern 4 liegen in wissenschaftlichen Editionen vor, die Edition der schwäbischen Berichte ist weit gediehen; sie werden seit 2002 von Gerhard Willi im Auftrag des Bezirks Schwaben bearbeitet. 5 LIAN , Blicke auf das Ries. Land und Leute in der verwalteten Region, Nördlingen 2000; W OLFGANG Z ORN , „Wir haben Katholiken, Lutheraner, Reformierte“. Konfessionelle Prägungen der protestantischen Landgemeinden um Memmingen um 1860, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte (JVAB) 36 (2002), 209-222. Zur allgemeinen bibliographischen Orientierung siehe A XEL H OF , Der soziale Ort der Gesundheit. Topographische Bibliographie zur Sozialgeschichte des Fürsorge-, Hospital-, Medizinal- und Wohlfahrtswesens, Regensburg 2000 (Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesens 4); P ETER F ASSL / R OLF K IEßLING (Hrsg.), Volksleben im 19. Jahrhundert. Studien zu den bayerischen Physikatsberichten und verwandten Quellen. Wolfgang Zorn zum 80. Geburtstag. Wissenschaftliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben und der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee vom 16./ 17. März 2001, Redaktion: Doris Pfister (Veröffentlichungen der SFG, Reihe 10, Quellen zur historischen Volks- und Landeskunde 2), Augsburg 2003. Einschlägig sind hier besonders die Aufsätze von W OLFGANG Z ORN , Zur Forschungsgeschichte der Physikatsberichte, 13-21; G ERHARD W ILLI , Die bayerischen Physikatsberichte von 1858/ 61. Bemerkungen zur Entstehung und Bedeutung der Quelle unter besonderer Berücksichtigung von Bayerisch-Schwaben, 23-62; K LAUS R EDER , Die Physikatsberichte als Versuch einer Landesaufnahme in der Mitte des 19. Jahrhunderts, 63-73; E DELTRAUD L OOS , Quellenkritische Anmerkungen zu den mittelfränkischen Physikatsberichten, 75-92; B RIGITTE N EU- BAUER , „Land und Leute“ in Oberbayern um 1860 aus der Sicht der Gerichtsärzte, 93-121; G ERHARD W ILLI , Chronologische Bibliographie zu den Physikatsberichten in Bayern, 213- 226; H ORST G EHRINGER , Der Blick auf das Leben der Bevölkerung in den Berichten der bayerischen Gerichtsärzte (1858 - 1861), in: Oberbayerisches Archiv 130 (2006), 347-383. 3 Nachgewiesen bei G EHRINGER , Leben der Bevölkerung, 353-354. 4 Die oberbayerischen Berichte wurden von 1995 bis 2006 im Oberbayerischen Archiv veröffentlicht. 5 Gerhard Willi erstellte 2001 eine chronologische Bibliographie zu den Physikatsberichten in Bayern. Siehe P ETER F ASSL / R OLF K IEßLING , Volksleben im 19. Jahrhundert, 213-226. Für den Regierungsbezirk Schwaben haben sich 42 Berichte erhalten. Der Umfang der schwäbischen Berichte reicht von 16 bis 366 Manuskriptseiten. Veröffentlicht wurden bisher folgende Berichte: P ÖTZL , Urgroßeltern (Göggingen, Schwabmünchen, Zusmarshausen, Wertingen); S CHARRER , Topographie und Ethnographie des Landgerichts Kempten; DERS ., Topographie und Ethnographie der Stadt Kempten nach dem Physikatsbericht von Dr. Karl Hartmann, in: Allgäuer Geschichtsfreund 93 (1993), 15-53; A NNELIESE T ILL , Alltagsleben in Donauwörth und Umgebung um 1860 nach den Physikatsberichten des Donauwörther Bezirksgerichtsarztes Dr. Thomas Lauber, in: Mitteilungen des Historischen Vereins für Donauwörth und Umgebung 1994, Donauwörth 1995, 23-93; W OLFGANG Z ORN , Augsburg um 1860. Ein unveröffentlichter Amtsarztbericht als sozialgeschichtliche Quelle, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben (ZHVS) 76 (1982), 92-137; R EINHOLD B ÖHM , Die Beschreibung des Landgerichtsbezirks Füssen und ihr Verfasser Dr. Koepf, in: Alt Füssen 1979, 34-43; L ORENZ W EISSFLOCH , Das Leben in Kaufbeuren und seiner Umgebung in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ein Bericht aus dem Jahre 1858, in: Kaufbeurer Geschichtsblätter 11 (1989), 415-421, 466-471; J OSEF S TAMMEL , Kaufbeuren und sein Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 313 Die Berichte wurden nach folgendem Gliederungsschema bearbeitet: Topographie - Lage des Bezirkes nach den geographischen Länge- und Breite-Graden, dann nach der Höhe über der Meeresfläche - natürliche und politische Gränzen - Klima des Bezirkes nach der herrschenden Temperatur, nach herrschenden Winden, Regen, Nebeln, Schnee und Hagel; Wechsel der Jahreszeiten und das Klima in denselben - Zeit der Saat und Aerndte ehemaliger Landgerichtsbezirk um 1860. Geographisch betrachtet im „Bericht des Jahres 1861 des Physikatsbezirks Kaufbeuren“ mit einer Interpretation, in: Kaufbeurer Geschichtsblätter 11 (1989), 506-518; G ERHARD W ILLI , Die Physikatsberichte als wiederentdeckte volkskundliche Quelle - der Physikatsbericht von Obergünzburg, in: A LEXANDRA K OHL- BERGER (Hrsg.), KulturGeschichteN. Festschrift für Walter Pötzl zum 60. Geburtstag, 2 Teilbde (26. Jahresbericht des Heimatvereins für den Landkreis Augsburg 1997, 1998, 1999), Augsburg 1999, 635-663; A NTON L ÖFFELMEIER , Die Physikatsberichte für das Landgericht Aichach für die Jahre 1857-1861, in: Oberbayerisches Archiv 120 (1996), 7- 70; DERS ., Die Physikatsberichte für das Landgericht Rain für die Jahre 1857-1861, in: OA 119 (1995), 97-146; J OHANNES F UCHS , Die Physikatsberichte für das Landgericht Friedberg für die Jahre 1857-1861, in: OA 122 (1998), 267-291; H EINRICH Z IRKEL , Der Landkreis Sonthofen vor hundert Jahren, in: Schwäbische Blätter 19 (1968), 43-52; G ERHARD W ILLI , Volks- und landeskundliche Beschreibungen aus dem Landkreis Dillingen. Die Physikatsberichte der Landgerichte Bissingen, Lauingen, Dillingen und Wertingen (1858-1861). Georg Simnacher zum 70. Geburtstag (Veröffentlichungen der SFG, Reihe 10: Quellen zur historischen Volks- und Landeskunde 3), Augsburg 2002. DERS ., Volks- und landeskundliche Beschreibungen aus dem Landkreis Günzburg. Die Physikatsberichte der Landgerichte Günzburg, Burgau und Krumbach (1858-1861). Mit einem Beitrag von P ETER F ASSL (Veröffentlichungen der SFG, Reihe 10: Quellen zur historischen Volks- und Landeskunde 4), Augsburg 2007; J ÜRGEN F IEDLER / G ERHARD W ILLI , Volks- und landeskundliche Beschreibungen aus dem Landkreis Dillingen. Ergänzungsband. Der Physikatsbericht des Landgerichts Höchstädt (1861). Mit einem Beitrag von P ETER F ASSL (Veröffentlichungen der SFG, Reihe 10: Quellen zur historischen Volks- und Landeskunde 3.1), Augsburg 2010; G ER- HARD W ILLI , Volks- und landeskundliche Beschreibungen aus den Landkreisen Unterallgäu und Ostallgäu mit Kaufbeuren. Die Physikatsberichte der Stadtbzw. Landgerichte Mindelheim, Türkheim, Buchloe, Kaufbeuren, Obergünzburg, [Markt-]Oberdorf und Füssen (1858-1861). Mit einem Beitrag von P ETER F ASSL , Augsburg 2011 (Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur 1); G ERHARD W ILLI , unter Mitarbeit von Georg Abröll und Christine Böhm, Volks- und landeskundliche Beschreibungen „Entlang der Iller“. Die Physikatsberichte der Stadtbzw. Landgerichte Neu-Ulm, Roggenburg, Illertissen, Babenhausen, Memmingen, Ottobeuren und Grönenbach (1858-1861). Mit einem Beitrag von P ETER F ASSL (Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur 4) (im Druck). Peter Fassl 314 - geognostische Beschaffenheit des Bodens im Allgemeinen; Gebirgs-Bildung; Bodengattung nach Ober- und Unterlage; Quellen, Bäche, Flüsse, Teiche, Sümpfe und Moore; Ueberschwemmungen - Bodencultur; Vertheilung des Landes in Oedung, Wald, Wiesen, Feld und Gärten; Fruchtbarkeit des Bodens - Natur-Erzeugnisse von medicinischer Bedeutung wie Mineralwässer, officinelle Pflanzen, Mineralien etc. Ethnographie - Charakteristisches in der physischen und intellectuellen Constitution der Bezirks- Bevölkerung; Vertheilung der Bevölkerung im Bezirke; Verhältniss der Zahlen der Geschlechter, der Altersklassen, der Verehelichten, Verwittibten und Unverheiratheten - Wohnungs-Verhältnisse im Allgemeinen und insbesondere bezüglich auf Vereinödung oder Zusammensiedelung, auf Zudichtwohnen, auf Bau-Anlage und Bau- Material, auf Heiz-Material und Feuerungsweise; auf Höhe der Fenster, Beschaffenheit der Fussböden, Lage der Aborte und Dungstätten an den Wohnhäusern - Kleidungsweise nach Verschiedenheit von Geschlecht, Stand, Alter und Jahreszeit; Stoff und Mode in Kleidung - Nahrungsweise, ob vorherrschend vom Pflanzen- oder Thier-Reiche, reichlich oder ärmlich; Bereitungs-Weise von Speisen; Getränke, natürliche und künstlicherzeugte; Ernährung der Kinder im ersten Lebensjahre - Beschäftigung der Bewohner; Verwendung der Jugend zu schwerer oder sonst ungeeigneter Arbeit; Fabrik- und ähnliche Arbeit; Zeit-Eintheilung für Ruhe und Arbeit - Lagerstätten, deren Beschaffenheit und locale Unterbringung - Wohlstand; Verhältniss der Wohlhabenden, Reichen und Armen - Reinlichkeit in und ausser den Häusern; an Wäsche und Kleidung; Neigung zum Baden - Vergnügungen, Feste, besondere Gewohnheiten - eheliches Leben, gewöhnliche Zeit der Eingehung desselben; Hang zur Ehelosigkeit; Fruchtbarkeit; Geschlechts-Ausschweifung; Achtsamkeit bei Schwangeren und Wöchnerinnen - geistige Constitution der Bevölkerung; Neigung zu höherer Ausbildung; Verharren an der Heimath und ihrem Leben; religiöse Haltung des Volkes; Hang zu Mysticismus, Schwärmerei, Aberglauben 6 Innerhalb des volkskundlichen Teils eröffneten die Fragepunkte „Charakteristisches in der physischen und intellectuellen Constitution“ sowie „geistige Constitution der 6 Vgl. Anm. 1. Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 315 Bevölkerung“ einen Freiraum, den die Ärzte in ganz unterschiedlicher Weise ausfüllten. Das Spektrum reicht von allgemeinen und nichts-sagenden Bemerkungen, statistischen Angaben zu geistigen Krankheiten bis zu allgemeiner Charakterisierung der Bevölkerung, wobei hierzu keine ärztliche Expertise die Vorlage oder Grundlage bildete. Überraschend häufig werden in diesem Zusammenhang die Gerichtsbewohner als Schwaben, Franken und Bayern bezeichnet, als solche charakterisiert und mit „typischen“ Stammesbzw. Volkseigenschaften beschrieben. Es ist hier nicht möglich, die Geschichte und Entwicklung von Bildern und Beschreibungen von Volkseigenschaften darzustellen 7 , ein Thema, mit dem sich die Geschichtswissen- 7 Für Schwaben vgl. P ETER F ASSL / R AINER J EHL (Hrsg.), Schwaben im Hl. Römischen Reich und das Reich in Schwaben. Studien zur geistigen Landkarte Schwabens, Augsburg 2009; H ELMUT B INDER , Descriptio Sueviae. Die ältesten Landesbeschreibungen Schwabens, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte (ZWLG) 45 (1986), 179-196; F RANZ B RENDLE / D IETER M ERTENS / A NTON S CHINDLING (Hrsg.), Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus, Stuttgart 2001 (Contubernium 56), darin vor allem folgende Aufsätze: F RANZ B RENDLE , Martin Crusius. Humanistische Bildung, schwäbisches Luthertum und Griechenlandbegeisterung, 145-163, K LAUS G RAF , Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1800, 201-211, D IETER M ERTENS , Landeschronistik im Zeitalter des Humanismus und ihre spätmittelalterlichen Wurzeln, 19-31 und U LRICH M UHLACK , Die humanistische Historiographie. Umfang, Bedeutung, Probleme, 3- 18; H ERMANN F ISCHER , Die schwäbische Literatur im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Ein historischer Rückblick, Tübingen 1911; P ANKRAZ F RIED / W OLF -D IETER S ICK (Hrsg.), Die historische Landschaft zwischen Lech und Vogesen. Forschungen und Fragen zur gesamtalemannischen Geschichte, Augsburg 1988 (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 59 / Veröffentlichungen der SFG 1,17); U LRICH G AIER / M O- NIKA K ÜBLER / W OLFGANG S CHÜRLE (Hrsg.), Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1000 - 1800, 2 Bde., Ulm 2003; F RANK G ÖTTMANN , Die Bünde und ihre Räume. Über die regionale Komponente politischer Einungen im 16. Jahrhundert, in: C HRISTINE R OLL / B ETTINA B RAU / H EIDE S TRATENWERTH (Hrsg.), Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe, Frankfurt am Main / Berlin / Bern u. a. 1996, 441-469; K LAUS G RAF , Aspekte zum Regionalismus in Schwaben und am Oberrhein im Spätmittelalter, in: K URT A NDERMANN (Hrsg.), Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1988 (Oberrheinische Studien 7), 165-192; DERS ., Das „Land“ Schwaben im späten Mittelalter, in: P ETER M ORAW (Hrsg.), Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter, Berlin 1992 (ZHF, Beiheft 14), 127-164; DERS ., Die „Schwäbische Nation“ in der frühen Neuzeit, in: ZWLG 59 (2000), 57-69; DERS ., Heinrich Bebel, in: S TEPHAN F ÜSSEL (Hrsg.), Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450 - 1600). Ihr Leben und Werk, Berlin 1993, 281-295; DERS ., Regionale Identität im südbadischen Raum um 1800, in: A CHIM A URNHAMMER / W ILHELM K ÜHLMANN (Hrsg.), Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800, Freiburg im Breisgau 2002, 35-47; H ANS -G EORG H OFACKER , Die schwäbische Herzogswürde. Untersuchungen zur landesfürstlichen und kaiserlichen Politik im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: ZWLG 47 (1988), 71-148; E LMAR L. K UHN , Oberschwaben. Eine Region als politische Peter Fassl 316 schaft eher schwer tut, da es kaum fassbar ist, leicht ins Absurde abgleitet und es ja gerade das Bemühen der Wissenschaft ist, Phantasien, Trugbilder und Stereotype zu hinterfragen, zu dekonstruieren. Ein beliebiger Blick in die gegenwärtige Europa- Diskussion zeigt dagegen die Lebendigkeit und die Wirkmächtigkeit solcher Landesbilder. Stereotypen 8 sind geistige Konstrukte, die als Selbstbestimmungsmerkmal die Landschaft, Bewusstseinslandschaft, Geschichtslandschaft, in: Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 55 (2007), 51-113; L UDWIG -U HLAND -I NSTITUT FÜR E MPIRISCHE K ULTURWISSENSCHAFT DER U NIVERSITÄT T ÜBINGEN , P ROJEKTGRUPPE „S CHWABENBILDER “ (Hrsg.), Schwabenbilder. Zur Konstruktion eines Regionalcharakters. Begleitband zur Ausstellung „Schwabenbilder“ im Haspelturm des Tübinger Schlosses 18.04. - 01.06.1997, Tübingen 1997; H ELMUT M AURER , Schweizer und Schwaben. Ihre Begegnung und ihr Auseinanderleben am Bodensee im Spätmittelalter, 2. Aufl. Konstanz 1991; D IETER M ERTENS , „Bebelius … patriam Sueviam … restituit“. Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium, in: ZWLG 42 (1983), 145-173; H ANS P ÖRNBACHER , Schwaben - Wie ein Phoenix aus der Asche. Gedanken zur „Aufnahme“ Schwabens in das Kurfürstentum und Königreich Bayern und zum Prozeß seiner Integration, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte (ZBLG) 69 (2006), 923-943; V OLKER P RESS , Schwaben zwischen Bayern, Österreich und dem Reich 1486 - 1805, in: P ANKRAZ F RIED (Hrsg.), Probleme der Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat. Bayern und Wittelsbach in Ostschwaben. Referate und Beiträge der Tagung auf der Reisensburg am 21./ 22. März 1980, Sigmaringen 1982 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 2), 17-78; F RANZ Q UARTHAL , Historisches Bewusstsein und politische Identität. Mittelalterliche Komponenten im Selbstverständnis Oberschwabens, in: P ETER E ITEL / E LMAR L. K UHN , Oberschwaben. Beiträge zu Geschichte und Kultur, Konstanz 1995, 15-99; D IET- MAR S CHIERSNER , Das Land der Schwaben auf der Karte suchend. Historische Zugänge zu einer Region, in: Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 55 (2007), 11-26; K LAUS S CHREINER , Alamannen und Schwaben - erinnerte Stammesgeschichte. Zur historisch-politischen Bewusstseinsbildung im Mittelalter und in der Neuzeit, in: Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg 3 (1998), 1-9; DERS ., Alemannisch-schwäbische Stammesgeschichte als Faktor regionaler Traditionsbildung, in: F RIED / S ICK , Historische Landschaft, 15-37. 8 Die Literatur zum Thema Stereotypen ist in den letzten 20 Jahren angewachsen. Der Begriff besitzt offene Bezüge zu den Themen Erinnerungskultur, Nationalitäten- und Regionalismusforschung, zur Sozialpsychologie, den Kommunikationswissenschaften und dem kulturwissenschaftlichen Diskurs der geistigen Prägungen. Vgl. H ELGE G ERNDT (Hrsg.), Stereotypvorstellungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder - Selbstbilder - Identität. Festschrift für Georg R. Schroubek zum 65. Geburtstag, München 1988 (Münchner Beiträge zur Volkskunde, herausgegeben vom Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde der Universität München, Bd. 8); H ERMANN B AUSINGER , Name und Stereotyp (ebd., 13-19); W OLFGANG B RÜCKNER , Stereotype Anschauungen über Alltag und Volksleben in der Aufklärungsliteratur. Neue Wahrnehmungsparadigmen, ethnozentrische Vorurteile und merkantile Argumentationsmuster (ebd., 121-131); G EORG R. S CHROUBEK , Prag und die Tschechen in der deutschschwäbischen Literatur. Volkskundliche Überlegungen zum nationalen Stereotyp, in: Zeitschrift für Volkskunde 75 (1979), 201-210; F RANZ K. S TANZEL , Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völ- Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 317 Gruppenidentität stärken und als Fremdbestimmung von anderen Gruppen abgrenzen. Sie werden kulturgeschichtlich überliefert, besitzen eine hohe Beständigkeit und lassen sich empirisch nicht widerlegen. Sie wurden zunächst als Bilder im Kopf (Walter Lippmann, 1922) beschrieben, welche der Orientierung und leichteren Begreifbarkeit dienen und die Wahrnehmung steuern. Im 19. Jahrhundert erfuhren die Auto- und Heterostereotypen durch die Massenmedien und Nationalitätendiskussionen eine weite Verbreitung. Die Lebendigkeit von Nationalitätenstereotypen wird durch die heutige Europadiskussion belegt, aus der z.B. das Bild der „schwäbischen Hausfrau“ gleichsam als wirtschaftspolitische Maxime deutscher Staatsraison herausragt. In unserem Zusammenhang ist nach dem Bild der Schwaben, Franken und Bayern durch die Ärzte zu fragen und zwar unter folgenden Gesichtspunkten: 1. Haben die Stereotypen eine Bedeutung für die Physikatsberichte? 2. Gibt es übereinstimmende Volksbilder? 3. Sind diese Bilder dominant oder eher marginal? 4. Gibt es Unterschiede zwischen Auto- und Heterostereotypen? kertafeln des frühen 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1999; H ANS H ENNING H AHN (Hrsg.), Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, Oldenburg 1995 (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft, Heft 2); G ERD H ENT- SCHEL , Stereotyp und Prototyp: Überlegungen zur begrifflichen Abgrenzung vom linguistischen Standpunkt, ebd., 14-40; H ANS H ENNING H AHN , Stereotypen in der Geschichte und Geschichte im Stereotyp, ebd., 190-204; J OCHEN K ONRAD , Stereotype in Dynamik. Zur kulturwissenschaftlichen Verortung eines theoretischen Konzepts, Lübeck / Marburg 2006; V ALERIA H EUBERGER / A RNOLD S UPPAN / E LISABETH V YSLONZIL (Hrsg.), Das Bild vom Anderen. Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in multiethnischen europäischen Regionen, Frankfurt am Main u.a., 2., durchgesehene Auflage 1999; A RNOLD S UPPAN , Identitäten und Stereotypen in multiethnischen europäischen Regionen, ebd., 9-20; K LAUS R OTH , „Bilder in den Köpfen“. Stereotypen, Mythen und Identitäten aus ethnologischer Sicht, ebd., 21-43; R EINHARD L AUER , Das Bild vom Anderen aus literaturwissenschaftlicher Sicht, ebd., 45-54; H ANS H ENNING H AHN (Hrsg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt am Main 2002 (Mitteleuropa - Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, Bd. 5); H ANS H ENNING H AHN / E VA H AHN , Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung, ebd., 17-56; M ICHAEL I MHOF , Stereotypen und Diskursanalyse. Anregungen zu einem Forschungskonzept kulturwissenschaftlicher Stereotypenforschung, ebd., 57-71; H EIKE M ÜNS , Arbeitsfelder und Methoden volkskundlicher Stereotypenforschung, ebd., 125-154; H EIDI H EIN -K IRCHER / J AROSLAW S UCHOPLES / H ANS H ENNING H AHN (Hrsg.), Erinnerungsorte, Mythen und Stereotypen in Europa, Wroclaw 2008; H ANS H ENNING H AHN , Stereotyp - Geschichte - Mythos. Überlegungen zur historischen Stereotypenforschung, ebd., 237-255; J ENS W ERNECKEN , Wir und die anderen … Nationale Stereotypen im Kontext des Mediensports, Berlin 2000 (Beiträge des Instituts für Sportpublizistik, herausgegeben von Josef Hackforth, Bd. 6); M ARTINA S TEBER , Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime, Göttingen 2010, bes. 11-31, 483-492. Peter Fassl 318 5. Gibt es eine funktionale Intension, welche die Ärzte mit diesen Bildern anstreben? 6. Lassen sich Rückschlüsse von den Bildern auf die Berichterstatter ziehen? 1. Die Häufigkeit von Stammesbezeichnungen in den Physikatsberichten Durch Säkularisation und Mediatisierung waren schwäbische und fränkische Gebietsteile an das neue Königreich Bayern gelangt, deren Integration in das Staatsgebiet einen vielschichtigen politischen, staatsrechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Prozess darstellte. Besonders König Ludwig I. war es ein Anliegen, durch eine positive Würdigung der Traditionen der neuen Staatsteile diese Integration zu befördern und auch neu zu fundieren 9 . Durch das Landrätegesetz vom 15.8.1828 erhielt jeder Regierungsbezirk eine regionale Vertretung, die Bildung der Historischen Vereine in den Bezirken sollte die regionale Kultur- und Denkmalpflege stärken. Bei der Neubenennung der Kreise 1837 wies König Ludwig explizit auf die Stämme als Grundlage des Staates hin: Die göttliche Vorsehung hat unter Unserem Scepter mehrere der edelsten teutschen Volksstämme vereinigt, deren Vergangenheit reich an den erhabensten Vorbildern jeder Tugend und jeglichen Ruhmes ist. Die „Geschichte“ spiegelt einerseits die Königstitulatur „König von Bayern, Pfalzgraf bey Rhein, Herzog von Bayern, Franken und in Schwaben“ wieder, andererseits sollte die „Anhänglichkeit“ an die Krone, die „Volksthümlichkeit und das Nationalgefühl“ durch die Neubenennung der Kreise erhalten und befestigt werden. 10 Seit diesem Zeitpunkt begegnet der Name „Schwaben“ für eine politische und administrative Einheit, als einer der sieben bayerischen Regierungsbezirke (ohne Pfalz). In den Revolutionsjahren von 1848/ 49 zeigte sich die Zweiteilung Bayerns in die altbayerisch-wittelsbachischen Gebiete und die neubayerisch schwäbischen und fränkischen Gebiete deutlich 11 . Während die altbayerischen Abgeordneten die 9 Vgl. J ÖRG W ESTERBURG , Integration trotz Reform. Die Eingliederung der ostschwäbischen Territorien und ihrer Bevölkerung in den bayerischen Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Thalhofen 2001; M ARTINA S TEBER , Ethnische Gewissheiten: Die Ordnung des Regionalen im Bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime (Bürgertum Neue Folge), Göttingen 2010, 33-107; P ANKRAZ F RIED (Hrsg.), Probleme der Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat. Bayern und Wittelsbach in Ostschwaben, Sigmaringen 1982 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 2). 10 RBl. f. d. Kgr. Bayern, Nr. 58 v. 29.11.1837. 11 P ETER F ASSL , Die Revolution von 1848/ 49 in Bayerisch-Schwaben, Augsburg 1998; G ÜN- TER D IPPOLD / U LRICH W IRZ (Hrsg.), Die Revolution von 1848/ 49 in Franken, Bayreuth 1998; M ANFRED H ANISCH , Für Fürst und Vaterland. Legitimitätsstiftung in Bayern zwi- Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 319 Frankfurter Verfassung und eine kleindeutsche Lösung ablehnten, besaßen beide in Franken und Schwaben eine deutliche Mehrheit. Das Ende der revolutionären Bewegungen in den neubayerischen Landesteilen wurde durch militärische Präsenz und Waffengewalt erzwungen. Schwaben und Franken bildeten politisch, administrativ und kulturell um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus wahrnehmbare Größen, auch wenn diese selbst nach Stadt-Land, Konfession und Geschichte in weitere regionale „Einheiten“ sich aufgliederten. Nach der Durchsicht von 31 schwäbischen 12 , 32 oberbayerischen 13 und 42 un- schen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991; K ARL -J OSEPH H UMMEL , München in der Revolution von 1848/ 49, Göttingen 1987 (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften 30); M ARITA K RAUSS , Herrschaftspraxis in Bayern und Preußen im 19. Jahrhundert. Ein historischer Vergleich, Frankfurt / New York 1997 (Historische Studien 21). 12 Stadt Augsburg, Babenhausen, Bissingen, Buchloe, Burgau, Dillingen, Donauwörth, Füssen, Göggingen, Grönenbach, Günzburg, Höchstädt, Illertissen, Kaufbeuren, Kempten, Stadt Kempten, Krumbach, Lauingen, [Markt]Oberdorf, Marktoberdorf, Memmingen, Mindelheim, Monheim, Obergünzburg, Ottobeuren, Roggenburg, Schwabmünchen, Türkheim, Wemding, Wertingen, Zusmarshausen. Vgl. Anm. 5. 13 Aibling, Aichach, Dachau, Ebersberg, Erding, Freising, Friedberg, [Fürstenfeld]Bruck, Stadt- und Landgericht Ingolstadt, Landsberg, Laufen, Miesbach, Moosburg, Mühldorf, Stadt- und Landgerichte München, Neuburg/ Do., Neumarkt, Prien, Rain, Rosenheim, Schongau, Starnberg, Tegernsee, Tittmoning, Traunstein, Trostberg, Wasserburg, Weilheim, Werdenfels; K LAUS M ÜNZER / G EORG M. E BERLE , Edition des Landsberger Physikatsberichts von 1861. Topographischer & Ethnographischer Bericht über das k. Landgericht Landsberg vom k. Gerichtsarzt Dr. Sensburg, in: Landsberger Geschichtsblätter 91/ 92 (1992/ 93), 86-100; M ICHAEL S TEPHAN , Edition des Physikatsberichts über das Landgericht Dachau aus dem Jahr 1861, in: Amperland 29 (1993), 184-204; W OLFGANG G RAMMEL , Edition des Physikatsberichts für das Landgericht Freising aus den Jahren 1858 - 1861, in: Amperland 31 (1995), 205-230; A NTON L ÖFFELMEIER , Die Physikatsberichte für das Landgericht Rain für die Jahre 1857-1861, in: Oberbayerisches Archiv 119 (1995) 97-146; B RIGITTE N EUBAUER , Die Physikatsberichte der Landgerichte Weilheim (1860/ 61) und Schongau (1858), in: OA 119 (1995) 7-96; A NNELIESE T ILL , Alltagsleben in Donauwörth und Umgebung um 1860 nach den Physikatsberichten des Donauwörther Bezirksgerichtsarztes Dr. Thomas Lauber, in: Mitteilungen des Historischen Vereins für Donauwörth und Umgebung 1994, Donauwörth 1995, 23-93; R EINHARD W EBER , Der Verfasser des Freisinger Physikatsberichts: Dr. Aurelius Hug, in: Amperland 31 (1995), 197-204; J OHANNES F UCHS , Der Physikatsbericht für das Landgericht Wasserburg für die Jahre 1857-1861, in: OA 120 (1996), 109-190; H ORST G EHRINGER , Der Physikatsbericht für das Landgericht Tegernsee aus dem Jahr 1861, in: OA 120 (1996), 71-108; A NTON L ÖFFELMEIER , Die Physikatsberichte für das Landgericht Aichach für die Jahre 1857-1861, in: OA 120 (1996), 7-70; M ANFRED V EIT , Die gute alte Zeit …(? ). Der Physikatsbericht des Neuburger Bezirksarztes Dr. August Höger aus dem Jahr 1861, in: Neuburger Kollektaneenblatt 144 (1996), 169-217; B RIGITTE N EUBAUER / W OLFGANG P USCH , Der Physikatsbericht für das Landgericht Starnberg (1861) mit Beilagen und ergänzenden Berichten, in: OA 121 (1997), 7-222; J OHANNES F UCHS , Peter Fassl 320 terfränkischen 14 Physikatsberichten lässt sich bezüglich der Verwendung des Begriffs Die Physikatsberichte für das Landgericht Friedberg für die Jahre 1857-1861, in: OA 122 (1998), 267-291; H ORST G EHRINGER , Der Physikatsbericht für das Landgericht Werdenfels (1857/ 58), in: OA 122 (1998), 293-334; B ERNHARD S CHÄFER , Der Physikatsbericht für das Landgericht Ebersberg aus dem Jahre 1861, in: OA 122 (1998), 335-438; J OHANNES F UCHS , Der Physikatsbericht für das Landgericht Prien von 1861, in: OA 123 (1999), 315- 377; B RIGITTE N EUBAUER / W OLFGANG P USCH , Der Physikatsbericht für das Landgericht Bruck aus den Jahren 1857-1860, in: OA 123 (1999), 265-313; B ARBARA W ANK , Die Physikatsberichte für das Landgericht Miesbach für die Jahre 1857/ 58-1859/ 60, in: OA 123 (1999), 235-264; P AUL A DELSBERGER , Der Physikatsbericht für das Landgericht Erding von 1861, in: OA 124 (2000), 283-372; H ORST G EHRINGER , Die Physikatsberichte für das Landgericht Tittmoning für die Jahre 1859 und 1864, in: OA 124 (2000), 219-282; M AN- FRED P ETER H EIMERS , Der Physikatsbericht für das Landgericht Rosenheim aus dem Jahre 1861, in: OA 124 (2000), 373-416; H ORST G EHRINGER , Der Physikatsbericht für das Landgericht Mühldorf (1862), in: OA 125/ 2 (2001), 315-365; R UDOLF G OERGE , Der Physikatsbericht für das Landgericht Moosburg (1861), in: OA 125/ 2 (2001), 159-224; M AN- FRED P ETER H EIMERS , Der Physikatsbericht für das Landgericht Aibling aus dem Jahr 1860, in: OA 125/ 2 (2001), 289-314; A NTON L ÖFFELMEIER , Die Physikatsberichte für das Stadt- und Landgericht Ingolstadt für die Jahre 1857-1861, in: OA 125/ 2 (2001), 225-287; B RI- GITTE N EUBAUER , Die Physikatsberichte des Bezirks der Stadt München und der Landgerichte München links der Isar und München rechts der Isar (1861/ 62), in: OA 125/ 2 (2001), 7-158; H ORST G EHRINGER , Der Physikatsbericht für das Landgericht Reichenhall aus dem Jahr 1861. Zum 100. Todestag von Dr. Georg von Liebig, in: Oberbayerisches Archiv 127 (2003), 353-393; H ANS R OTH , Der Physikatsbericht für das Landgericht Laufen aus dem Jahr 1861, in: OA 127 (2002), 191-282; C HRISTIAN S ACHSE , Der Physikatsbericht für das Landgericht Traunstein aus dem Jahr 1861, in: OA 127 (2003), 283-351; B RIGITTE N EUBAUER , Der Physikatsbericht für das Landgericht Trostberg aus dem Jahre 1861 (1. Teil), in: Oberbayerisches Archiv 129 (2005), 67-152; B RIGITTE N EUBAUER , Der Physikatsbericht für das Landgericht Trostberg aus dem Jahre 1861 (2. Teil), in: Oberbayerisches Archiv 130 (2006), 207-346. 14 Alzenau, Amorbach, Arnstein, Aschaffenburg, Aub, Baunach, Bischofsheim, Brückenau, Dettelbach, Ebern, Eltmann, Euerdorf, Gemünden, Gerolzhofen, Hammelburg, Haßfurt, Hilder, Hofheim, Karlstadt, Kissingen, Kitzingen, Klingenberg, Königshofen, Lohr, Marktbreit, Marktheidenfeld, Marktsteft, Mellrichstadt, Miltenberg, Münnerstadt, Neustadt, Obernburg, Ochsenfurt, Rothenbuch, Rothenfels, Schöllkrippen, Stadtprozelten, Volkach, Werneck, Weyhers, Wiesentheid, Würzburg; B ARBARA W EBER / R EINHARD W EBER , Landes- und Volksbeschreibung des Landgerichtsbezirks Werneck von 1861. Zur ländlichen Kultur Unterfrankens um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 51), Würzburg 1994; K LAUS R EDER / R EINHOLD A LBERT , Rhön und Grabfeld im Spiegel der Beschreibungen der Bezirksärzte Mitte des 19. Jahrhunderts (Schriftenreihe des Vereins für Heimatgeschichte im Grabfeld e.V. 8, Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 58), Würzburg 1995; W ERNER E BERTH (Hrsg.), Land und Leute im Landkreis Bad Kissingen 1861. Bd. 1: Physikatsbericht für den Landgerichtsbezirk Brückenau von Dr. Johann Michael Riegel, Bad Kissingen 1997; W ERNER E BERTH (Hrsg.), Land und Leute im Landkreis Bad Kissingen 1861. Bd. 2: Physikatsbericht für den Landgerichtsbezirk Hammelburg von Dr. Johann Adam Kamm, Bad Kissingen 1997; DERS . (Hrsg.), Land und Leute im Landkreis Bad Kissingen 1861, Bd. 3: Physikatsbericht für den Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 321 Altbayern/ Bayern, Schwaben, Franken Folgendes feststellen: Während in Unterfranken sechs Mal fränkische „Stammeseigenschaften“ beschrieben werden, begegnen in Oberbayern 10 und in Schwaben 18 entsprechende Beschreibungen (s. Anhang). Auffallend ist, dass in Unterfranken häufig regionale Bezeichnungen wie Rhöner, Odenwälder, Spessarter, Mainbewohner, Tal- und Bergbewohner genannt werden. Die meisten Berichte aus Oberbayern und Unterfranken sprechen von Bewohnern/ Einwohnern des Landgerichts oder der Stadt, ohne zu verallgemeinern. Besonders deutlich wird dies etwa bei Augsburg, Memmingen oder in Mittelfranken bei Nürnberg und Fürth 15 . Landgerichtsbezirk Euerdorf, Bad Kissingen 1998; DERS . (Hrsg.), Land und Leute im Landkreis Bad Kissingen 1861, Bd. 4: Physikatsbericht für den Landgerichtsbezirk Kissingen, Bad Kissingen 1999; K LAUS R EDER / C LAUDIA S ELHEIM / J OSEF W EIß , Der Landkreis Miltenberg um 1860. Amtsärzte berichten aus den Landgerichten Stadtprozelten, Miltenberg, Amorbach, Klingenberg und Obernburg (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 69), Würzburg 1999; J OSEF B RAUN / M ICHAEL D EUBERT / J ULIA H ECHT / K LAUS R EDER , Der Landkreis Main-Spessart um 1860. Amtsärzte berichten aus den Landgerichten Arnstein, Gemünden, Karlstadt, Lohr, Marktheidenfeld, Rothenfels und Stadtprozelten (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 75), Würzburg 2000; W ERNER E BERTH (Hrsg.), Land und Leute im Landkreis Bad Kissingen 1861, Bd. 5: Physikatsbericht für den Landgerichtsbezirk Münnerstadt, Bad Kissingen 2000; H ANS B AUER / G ERHARD E GERT / J ULIA H ECHT / C HRISTIAN W OLFSBERGER , Der Landkreis Kitzingen um 1860 (Teil 1), Amtsärzte berichten aus den Landgerichten Dettelbach, Kitzingen, Volkach und Wiesentheid. Mit einem Beitrag von Klaus Reder (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 89), Würzburg 2001; A NNE S ÖLLNER , Der Landkreis Kitzingen um 1860 (Teil 2), Amtsärzte berichten aus den Landgerichten Marktbreit und Marktsteft. Mit einem Beitrag von Klaus Reder (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 90), Würzburg 2001; I NGE W EID , Der Landkreis Würzburg um 1860, Amtsärzte berichten aus den Landgerichten Aub, Ochsenfurt und Würzburg (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 91), Würzburg 2001; J ULIA H ECHT (Bearb.), Die Landgerichte Aschaffenburg und Rothenbuch um 1860, Amtsärzte berichten. Mit einem Beitrag von K LAUS R EDER (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 93), Würzburg 2002; D IES . (Bearb.), Das Landgericht Gerolzhofen um 1860, Ein Amtsarzt berichtet. Mit einem Beitrag von K LAUS R EDER (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 92), Würzburg 2002; S TEPHAN D ILLER , Die Physikatsberichte der Landgerichte Eltmann, Hassfurt und Hofheim von 1861, mit zwei Beiträgen von C HRISTA J ÄGER und K LAUS R EDER , Hassfurt 2004 (Schriftenreihe des Historischen Vereins Landkreis Hassberge 1); B EATE UND G ÜNTHER L IPP / S USI -K. R EIMANN , Der Landkreis Haßberge um 1860. Amtsärzte berichten aus den Landgerichten Baunach und Ebern, mit einem Beitrag von K LAUS R EDER , Würzburg 2004 (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 98); T HOMAS H EI- LER , Die Landgerichte Holders und Weyhers um 1860, mit einem Beitrag von K LAUS R E- DER und W ILLY K IEFER , Würzburg 2005 (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 98). 15 J UTTA S EITZ , Nürnberg vor 125 Jahren. Die Medizinal-Topographie von 1862 (Nürnberger Forschungen 24), Nürnberg 1987; H ERMANN O TT , Fürth zu Beginn des Industriezeitalters. Geschichte, Lebensumstände und Bevölkerungsentwicklung. Verfaßt von Adolf Mair 1861 Peter Fassl 322 Vergleicht man die Stammesstereotype mit den diesbezüglichen Beschreibungen, die sich nur auf die entsprechenden Einwohner des Landgerichts beziehen, so zeigen sich keine signifikanten Unterschiede. Der Tendenz nach werden die Eigenschaften der Bezirksbewohner nicht so markant bezeichnet. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Stammesbegriffe von den Ärzten im dienstlichen Schrifttum angewandt wurden, verweist auf eine allgemeine Geläufigkeit dieser Denk- und Sprachfiguren. Sie konnten davon ausgehen, dass die Beschreibung und Argumentation jeder verstehen konnte. Die Stammeseigenschaften wurden aus der Geschichte und der Kultur des Volkes (Anhang Nr. 8, 12), aus früheren Volksbeschreibungen (Anhang Nr. 36) und bei einigen Autoren aus den physischen Merkmalen abgeleitet, denen ein anthropologisch-biologisch-rassekundliches Denken in Verbindung mit Physiognomik und Phrenologie zu Grunde lag, das sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelte. Die physischen Merkmale wurden teilweise in einer Form beschrieben, die an ein Viehzuchtprogramm denken lassen (Anhang Nr. 3, 17). Warum wurden am häufigsten schwäbische Stammeseigenschaften beschrieben? Es sei hier eine Vermutung geäußert. Während die fränkischen und bayerischen Stereotype meist mit oder sogar überwiegend mit negativen Bewertungen begegnen, ist das Bild der Schwaben eher positiv, auch wenn sie mit den anderen Stämmen verglichen werden. Einem Staatsbeamten dürfte es schwer gefallen sein, Franken und Altbayern generalisierend abzuwerten, was bei den Bewohnern des Gerichtsbezirks, also im Einzelfall, noch eher möglich war. 2. Die Frage der Homogenität der Stammesstereotype Generell zeigen die meisten schwäbischen, fränkischen und oberbayerischen Berichte eine fast nahtlose Übereinstimmung der Stammesstereotype. Weder zeigt sich ein gravierender Unterschied nach der Region, noch nach der Herkunft und Konfession der Verfasser. Das heißt, das Bild der Schwaben, Franken und Altbayern war in ganz Bayern verhältnismäßig konsistent. In Schwaben stimmen die Autostereotype von gebürtigen schwäbischen Ärzten und die Heterostereotype von fränkischen, altbayerischen und ausländischen Ärzten fast völlig überein. Dasselbe gilt für die Situation in Unterfranken und Oberbayern. Folgende Beschreibung geben die Ärzte: Die Schwaben zeichnet ein klarer Verstand, geistiges Interesse, wirtschaftliche Regsamkeit, Arbeitsfreude, wirtschaftlich-gewinnorientiertes Handeln, Sparsamkeit, Reinlichkeit und Aufgeschlossenheit für Neues aus, einschließlich der Bereitschaft aus- als Bericht über die „Geschichte, Topo- und Ethnographie des Physikatsbezirks Fürth“ (Fürther Beiträge zur Geschichts- und Heimatkunde 6), Fürth 1989; E DELTRAUD L OOS , „Behufs der Bestimmung des im Bezirke herrschenden Kulturgrades (wie Anm. 2). Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 323 zuwandern. Die Franken sind bezüglich der intellektuellen Fähigkeiten ebenfalls ausgezeichnet und werden beim Vergleich mit den Schwaben über diese gestellt. Sie sind redselig. Die Reinlichkeit ist schlecht, Haus und Hausrat sind schmutzig. Die Oberbayern sind rückständig, haben keine Energie, lassen sich Zeit, raufen und saufen gern, sind unsauber und stehen den Schwaben geistig nach. Neuerungen lehnen sie ab, die Heimat verlassen sie nie. Die Übereinstimmung der Beschreibungen bis in die Formulierungen hinein ist auch unter Berücksichtigung des vorgegebenen Fragebogens bemerkenswert hoch. Dennoch gibt es immer wieder auch gegenläufige Aussagen (Anhang Nr. 14, 21), welche der Gesamttendenz widersprechen. 3. Das inhaltliche Gewicht der Stammesstereotype Manchen Ärzten war sehr wohl bewusst, dass sie mit dem Gebrauch von Stammesstereotypen auf unsicherem Boden stehen (Anhang Nr. 38). Sie sprechen von der Durchmischung der Bevölkerung, der Tradition volkskundlicher Beschreibungen, die bis ins Mittelalter zurückreiche (Anhang Nr. 36), oder sie relativieren das Bild der Stereotypen durch die Beschreibung der Unterschiede von Ort zu Ort (Anhang Nr. 10). Die Mehrheit versucht daher, neben den allgemeinen Aussagen konkrete Daten etwa zur Schulsituation, zu kulturellen Aktivitäten, Badeanstalten, geistigen Krankheiten u.a. zu geben bzw. die Fragen nach sozialem Stand, Beruf, wirtschaftlicher Tätigkeit, Stadt- oder Dorfbewohner zu differenzieren. Dies kann dazu führen, dass im Bericht Widersprüche begegnen: Obwohl die Schwaben reinlich und putzsüchtig sind, begegnen doch zahlreiche Hinweise auf die Seltenheit des Badens und der körperlichen Reinigung, die sich nicht wesentlich von oberbayerischen und fränkischen Beschreibungen unterscheiden. Ebenso steht der Wanderlust der Schwaben ihre Heimatverbundenheit gegenüber (Anhang Nr. 14). Die Franken übertreffen zwar die Münchner in der Intelligenz bei weitem (Anhang Nr. 38), streben aber dennoch in die Hauptstadt „wie nach einem gelobten Lande“ (Anhang Nr. 38). Die Frage nach dem inhaltlichen Gewicht der Stereotype ist schwer zu beantworten. Einerseits setzen sie alte Erzählungen und Beschreibungen fort, bilden eine Art Grundstimmung in der Wahrnehmung und in der Konstruktion der Realität, andererseits werden sie durch konkrete dichte Beschreibungen überholt, ohne dass sie aufgegeben werden. Für die Ärzte bilden sie ein Hilfsmittel zur Volksbeschreibung, dessen Reichweite offen bleibt. Die Berichte von Roggenburg, Fürth und Nürnberg zeigen Völkerbilder (Anhang Nr. 19, 45, 46), welche die Schwaben, Fürther und Nürnberger in der Wirtschaftsgesinnung mit den Schotten und Yankees vergleichen. Die Ärzte konnten also davon ausgehen, dass Völkervergleiche zur Peter Fassl 324 Selbst- und Fremdbeschreibung gerade auch bei Gebildeten auf einen Resonanzboden stießen, verstanden wurden und variabel eingesetzt werden konnten. Allerdings kann man sich nicht vorstellen, dass die Ärzte über sich selbst bzw. ihre Kollegen aus Schwaben, Franken und Altbayern in der selben Weise geschrieben hätten wie sie über die übrige Bevölkerung schrieben, so dass man bei den Stereotypen von einem begrenzten Erklärungsmodell für die Wahrnehmung sprechen muss. 4. Von den Stereotypen zu den Ärzten Die Bilder im Kopf offenbaren mehr von dem Arzt und seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit, als dass sie diese beschreiben könnten. Fragen wir daher nach den Bewertungen, welche die Ärzte geben, nach Einstellungen, die aus ihrer Sicht gut oder gar vorbildlich sind. Ihr berufliches Aufgabenfeld war der Gesundheitszustand der Gerichtsbevölkerung, die Umsetzung der gesundheitspolitischen Verordnungen und Gesetze und die Aufsicht über die im Gesundheitswesen Tätigen. Zwei Themen standen im Mittelpunkt des ärztlichen Interesses. Erstens die hohe Säuglingssterblichkeit, die auf die künstliche Ernährung und mangelnde Fürsorge zurückgeführt wurde. Die Ärzte sahen hier eine Erziehungs- und Bildungsaufgabe. Zweitens die Frage der Reinlichkeit, die verbunden war mit der Ausbildung des bürgerlichen Wertesystems, in welchem Reinlichkeit, Ordnung, Fleiß, Disziplin und ein geregeltes Arbeitsleben eine Einheit bildeten 16 . Alle positiven Bewertungen lassen sich diesem bürgerlichen Tugendkanon zuschreiben, als deren Exponenten sich die Ärzte selbst sahen. Geistige Beweglichkeit war durchaus zu vereinbaren mit materiellem Streben - dies zeigten ihre eigenen Biographien -, sollte aber nicht in Geiz umschlagen. Ohne Strebsamkeit und Arbeitskraft war ein Fortschritt nicht möglich, das galt für die Medizin wie für Industrie, Gewerbe, Landwirtschaft. Die Aufgeschlossenheit für Bildung und Künste veredelte, erste weibliche Emanzipationsbestrebungen führten zur Wertschätzung der Frauenbildung. Aus diesen Gründen begegnet in den schwäbischen Berichten auch eine Hochschätzung der Juden, weil sie gewissermaßen an der Spitze des Fortschritts in der Fürsorge für Schwangere, Säuglinge und in der Reinlichkeit standen 17 . Normabweichungen vom Leitbild des aufgeklärten, vernunftgesteuerten und fortschrittlichen Bürgers etwa in traditionsbewusster Heimatliebe (Verharren), Religiosität, des her- 16 M ANUEL F REY , Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland 1760-1860 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 119), Göttingen 1997. 17 G ERHARD W ILLI , Die schwäbischen Juden in den volkskundlichen Berichten des 19. Jahrhunderts, in: P ETER F ASSL (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Bd. 2 Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte, (Irseer Schriften 5) Stuttgart 2000, 243-256. Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 325 gebrachten Wirtschaftens und Wohnens und der Bildung wurden eher negativ beurteilt bzw. verurteilt und zwar auch ohne die Stereotypisierung als Stammeseigenschaft. Je nach individueller Einstellung der Ärzte konnten die Eigenschaften unterschiedlich beurteilt werden: sparsam - geizig, bieder/ gemütlich - phlegmatisch/ träge, tüchtig/ fleißig - materialistisch, klug/ vernünftig - berechnend/ verschlagen, ehrlich/ direkt - grob/ derb, ruhig/ nachdenklich - falsch/ unehrlich, religiös/ fromm - bigott/ abergläubisch, Lebensfreude/ Feiern - sinnliche Ausgelassenheit. Fragen wir zuletzt, warum gerade die Schwaben am meisten den bürgerlichen Standards zu entsprechen schienen. Die Schwabenbilder reichen zurück bis ins Spätmittelalter, haben sich mit einem gewissen festen Kern (sparsam, fleißig, klug) weiterentwickelt, um dem gewünschten Selbstbild der jeweiligen Zeit zu entsprechen. Die geistigen und wirtschaftlichen Tugenden hier auszuarbeiten war angesichts der politischen Machtlosigkeit Schwabens im Alten Reich 18 , ohne einen eigenen Staat, die einzige Möglichkeit der Selbstbehauptung, ja Selbstwertgefühl gegenüber politischen Mittelmächten zu entwickeln. Im 19. Jahrhundert verstärkte sich dieses Selbstkonstruktionsbedürfnis der Schwaben, die im Königreich Bayern nur mehr einen Regierungsbezirk bildeten und in Württemberg und Baden sich in einer besonderen Gemengelage von weiteren Selbstkonstruktionen (Badener, Alemannen, Württemberger) befanden. Auch die Konstruktion des Frankenbildes erhielt im 19. Jahrhundert seine eigentliche Schubkraft 19 . Wenige Jahre nach der Revolution von 1848/ 49 waren die unterschiedlichen politischen Orientierungen der neubayerischen Franken und Schwaben gegenüber den Altbayern noch nahe, das Bild des Königreichs aus drei bzw. mit den Pfälzern aus vier Stämmen gegenwärtig. Die Stammesstereotypen führten ältere Bilder weiter, justierten sie am Maßstab aufgeklärter, fortschrittlicher Bürgerlichkeit und konstruierten das Bild der Schwaben, Franken und Altbayern neu. Wer einen Blick in die heutige bayerische Kultur- und Medienlandschaft, in die Agenda des innerbayerischen Föderalismus wirft, wird eher ein Anwachsen der Franken-, Schwaben- und Bayernbilder feststellen als eine Art Folie für Wunsch- und Abgrenzungsbilder, die eine erhebliche Variationsbreite besitzen. Für die Physikatsberichte kann man festhalten, dass sie einen historischkulturell überlieferten Bestandteil besitzen, sich an der Realität messen lassen müssen, ohne durch sie aber grundsätzlich widerlegt werden zu können, dass sie eine Folie für die Wahrnehmung und eigene Idealvorstellungen bilden und dass sie wie 18 P ETER F ASSL , Die Erfahrung des Ausgeliefertseins. Die Wahrnehmung des Krieges in Schwaben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: F ASSL / J EHL , Schwaben im Hl. Römischen Reich (wie Anm. 7), 31-72. 19 W ERNER K. B LESSING / C HRISTOPH D AXELMÜLLER / J OSEF K IRMEIER / E VAMARIA B ROCK- HOFF , 200 Jahre Franken in Bayern. 1806 bis 2006, Aufsätze, Augsburg 2006; J OSEF K IR- MEIER / J UTTA S CHUMANN / P ETER L ENGLE (Hrsg.), 200 Jahre Franken in Bayern. 1806 bis 2006, Katalog, Augsburg 2006. Peter Fassl 326 eine Hohlform vielfältig gefüllt werden können. Die gelegentliche Ironie der Berichte verleiht den Stereotypen eine gewisse spielerische Leichtigkeit, die man bei ihrer innerbayerischen Anwendung im Sinne des Neckens wohl mitdenken muss. Die Leitfrage nach der Bedeutung kleiner Strukturen beantworten die Physikatsberichte anschaulich. Die Verwendung von Schwaben, Franken, [Alt-]Bayern geschieht durch staatsbayerische Beamte und stellt damit einen innerbayerischen Dialog dar, gekennzeichnet durch Nähe, Vertrautheit und Verbundenheit, der so nur vor Ort geführt werden konnte. Das Bild der Schweizer 20 , der Polen 21 und der Bayern 22 im Alten Reich über die Schwaben ist ein anderes. Aber selbst innerhalb Bayerns sind gewisse Bemerkungen nur vor dem Hintergrund örtlicher und regionaler Traditionen verständlich. Die innerfränkischen Differenzierungen (Anhang Nr. 24, 31, 33, 34), die Unterschiede zwischen Schwaben, Oberschwaben und Altwürttembergern (Anhang Nr. 3, 13) oder die Beschreibung der Allgäuer (Anhang Nr. 8, 12) 23 setzen schriftliche oder mündliche regionale Erzählungen voraus, spielen mit diesen und dienen der gruppenspezifischen Identifikation. Die Herkunft und Dauer des Allgäuer Judenbildes etwa ist noch nicht untersucht. Es begegnet erstmals im Zusammenhang der Berichterstattung der Landrichter über die Volksstimmung in der Revolutionszeit, speziell bei der Frage der Emanzipation der Juden, die mit diesem Hinweis abgelehnt wurde: Juden kommen mit den Allgäuern in keine Berührung, denn der Allgäuer überragt den Juden an schlauen Handelsgeist“ 24 . Heute bildet sie eine Autostereotype zur Heraushebung der Allgäuer Tüchtigkeit, die aber wegen des Holocausts nicht 20 H ELMUT M AURER , Schweizer und Schwaben. Ihre Begegnungen und ihr Auseinanderleben am Bodensee im Spätmittelalter, Konstanz 1991. Die damaligen Begriffe (Kuhschweizer- Sauschwaben) begegneten in den letzten Jahren wieder in der Auseinandersetzung um unversteuerte deutsche Guthaben auf Schweizer Banken. 21 H EIDI H EIN -K IRCHER / J AROSLAW S UCKOPLES / H ANS H ENNIG H AHN (Hrsg.), Erinnerungsorte; H ANS H ENNING H AHN , Historische Stereotypenforschung (wie Anm. 8). 22 J OHANN A NDREAS S CHMELLER , Baierisches Wörterbuch, München 1985 (Erstauflage 1827- 1837), Bd. 2, 2, Sp. 616-619. Der Schwab oder Schwabenkäfer ist die Bezeichnung für eine Schabe. 23 Vgl. A LFRED W EITNAUER , Die Baiern und die Schwaben, Kempten 1971, 11, der auf eine entsprechende Passage aus dem Immenstädter Physikatsbericht hinweist: Juden gibt es im schwäbischen Allgäu keine, da sie sich wegen der geschäftlichen Tüchtigkeit der Eingeborenen nicht zu ernähren wissen. Dr. Dr. Alfred Weitnauer, von 1935/ 1945 bis 1970 Bezirksheimatpfleger von Schwaben, hat die Passage aus dem Immenstädter Physikatsbericht literarisch zugespitzt und damit zu ihrer Verbreitung beigetragen. Im Original (Bayer. Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Cgm 6874, 76/ 1, S. 34) lautet sie: […] israelitischer Händler kann sich im Allgäu keiner halten, wie ein nicht unwahres Sprichwort sagt: ‚Der allgäuer Bauer verstehe den Juden zu übervortheilen.‘ 24 Staatsarchiv Augsburg, Regierung 9.681. Landrichter Höfle aus Weiler berichtete am 20.12.1849, als im Bayerischen Landtag über die Judenemanzipation verhandelt wurde, über die Einstellung der Bevölkerung zu dieser Frage. Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 327 öffentlich verwendet wird, obgleich sie apologetischen Charakter hat: Juden gab es im Allgäu nicht - was für die Zeit nach 1860 nicht mehr stimmt. Die Stereotypenforschung am Beispiel der Physikatsberichte verbindet damit die allgemeine Fragestellung nach den Vorstellungen und Bildern im Kopf mit den besonderen Strukturen vor Ort, die den Stereotypen ihre besondere Ausprägung geben. Peter Fassl 328 5. Auszüge aus den Physikatsberichten Schwaben 1. Stadt Augsburg Im allgemeinen zeigt sich bei der Bevölkerung Augsburgs große geistige Begabung. Dieselbe erweist sich empfänglich für die Fortschritte der Zeit, insbesondere für Verbesserungen in der Industrie, im Gewerbswesen, ist äußerst fleißig und tätig. Doch geht alles geistige und körperliche Streben wie es in einer Handels- und Fabrikstadt kaum anders zu erwarten ist, mehr auf materielle Spekulationen (130). W. Zorn, Augsburg um 1860, 130. Berichterstatter: Dr. Johann Michael Koller Geburtsort: Lam (Bayer. Wald) Geburtsjahr: 1809 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch 2. Babenhausen Dazu herrscht Reinlichkeit im Hause, Reinlichkeit und Vorrath der Wäsche, und könnte hieran, so wie an der genügenden Hauseinrichtung der fränkische Ackersmann ein Beispiel nehmen, und der gerade davon schreibt, ausrufen: utinam essem agricola! (7). Wie die Theilnahme für die Geschichte der Vergangenheit und die laufenden Bewegungen der nahe stehenden Gegenwart eine geringe ist, so möchte auch das patriotische Gefühl ein engern und weitern Zusammenhang nicht gerade lebhaft seyn. Unser Landmann ist kein Ideologe im Sinn des Napoleon I, noch ein Verehrer Napoleons III.; er ist im Allgemeinen hierfür zu sehr Materialist, und erst mit einem fühlbaren Angriff auf diesen Materialismus würde auch sein patriotischer oder politischer Eifer erwachen (7, 8). unter den jüngsten politischen Verhältnissen Nordamerikas ist diese Auswanderungslust geschwunden und hat auch weniger durch Noth, als durch Verwandtschaftsverhältnisse mit Ausgewanderten und Hoffnung reicheren Erwerbs veranlasst, keinen anderen Zug genommen (8). Bayer. Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Cgm 6874/ 13 a, 7, 8. Berichterstatter: Dr. Karl Daniel Friedrich Lotzbeck Geburtsort: Baierberg (Wassertrüdingen) Geburtsjahr: 1808 Ausbildung: Universitäten Erlangen, Würzburg und München Konfession: protestantisch Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 329 3. Bissingen Wir finden die Bevölkerung durchgängig vom Mittelschlag, gut und regelmäßig gestaltet, mehr blond als schwarz, und wieder mehr dunkelblond als sehr hellfarbig, weder von ungewöhnlicher Länge und Breite noch von auffallender Schmächtigkeit oder Kleinheit, häufig mit braunem Auge, weniger mit grauen, am wenigsten mit feuerschwarzen oder eigentlich blauen Augen, u. so hat sich der schwäbische Stamm, wenn vielleicht auch nicht in der ältesten Zeit schon, überall in seiner weiten Ausdehnung von den Vogesen u. Hochalpen bis zum Lech u. zur Donau u. über diese hinaus bis ins Herz von Deutschland im Laufe der Zeiten gestaltet u. erhalten (58, 59). Das Hauptkennzeichen des schwäbischen Charakters, wenigstens in dieser Gegend, ist aber immerhin das Vorherrschen des Verstandes u. der Ueberlegung, welche sogar bis zu einer gewissen Schlauheit gehen kann. In den schwäbischen Gauen, welche Wein produziren, mag dieser Charakter sich etwas modifizirt haben u. der Altwürtemberger mag mit etwas heißem Bluthe schon, dem Franken, dem Main= u. Rheinländer sich nähern, hier ist, wie gesagt, das Ruhige und Ueberlegende vorherrschend und wir finden sowenig die bayer. Gradu. Derbheit mit ihrer Ausartung in Rohheit, als die fränkisch und rheinische Entschloßenheit und Schnelligkeit mit ihrer Ausartung in Heftigkeit und Ueberstürzung (99, 100). Ein allgemein reger Sinn u. schneller Blick findet sich für oeconomische Vortheile und für das, was Gewinn bringt; der Beschränkteste weiß sich recht bald zu recht zufinden, auf das, was ihm Geld verspricht (100). Der Beschränkteste weiß sich zu helfen, klug u. schlau ergreift er alle Mittel, welche ihm Vortheil u. Gewinn versprechen. Daher kömmt es denn auch, daß sich viele der Begabteren in ihrer Jugend in benachbarte Städte gehen u. dort Beschäftigung suchen. Weil sie arbeiten, treu u. fleißig sind, werden dieselben auch gerne gelitten (148). Nochmehr als der kath. wurde der protestantische Antheil der Bevölkerung von diesem Fieber befallen. Familien, denen es in ihrer Heimat sehr gut erging, ergriffen ohne Ueberlegung u. Ursache den Wanderstab. Nordamerika war das Eldorado, nach dem sich sehnsüchtig die Blicke richteten (149). G. Willi, Landkreis Dillingen, 58, 59, 99, 100, 148, 149. Berichterstatter: Dr. Mathias Kaufmann Geburtsort: Schaan/ Liechtenstein Geburtsjahr: 1810 Ausbildung: Universität München, Wien Konfession: katholisch 4. Burgau Der Charakter des Volkes ist im Allgemeinen ziemlich gut, und beinahe kein Ort weist auffallende Beispiele von Rohheit und Ungezogenheit auf. Fleiß und Thätigkeit ist allgemein (336). Peter Fassl 330 in ihrer Handlungsweise für alle Tagesfragen sich interessirend lieben sie den Wechsel ihrer Geschäfte, ja selbst des Besitzstandes, und nicht leicht in einem andern Bezirke werden soviele Käufe und Verkäufe von Anwesen abgeschlossen als im Gerichtsbezirke Burgau (336). Ein besonderes Erbübel des Landvolkes überhaupt, zum Theil aber auch von wirklicher Noth herrührend, ist die Anlage zum Neid und Geiz, und wird leider die alte Geradheit und Offenheit des Schwaben durch Falschheit, Lüge und Gewinnsucht immer mehr verdrängt. Im protestantischen Markte Burtenbach macht sich in Folge der das Denken anregenden protestantischen Religion, Unterricht und Cultus etwas mehr Inteligenz bemerklich, tritt jedoch auch hier hinter die Bethätigung des Gefühlslebens weit zurück (337). Überhaupt ist die Bezirksbevölkerung, wenn auch nicht sehr intelligent, doch im Fortschreiten allgemeiner Volksbildung begriffen, und für Verbesserung der Erwerbsquellen stets empfänglich und bestrebt. So sieht man auch beinahe in jedem Orte mehre Zeitungen (337). Diese ist wie bei den Schwaben überhaupt keineswegs geringen Grades, und zeigt sich beim hiesigen Volke viele Anlage zu wissenschaftlichen Fächern, namentlich aber zur Kunst, besonders der dramatischen, wie auch zur Musik und Malerei, und sind diese letzteren durch Liebhaber und Kenner ziemlich vertreten, wie sich daher auch viele Neigung, zu Schauspielen, Theatern, xx findet, und die Darstellungsgabe mehrer Individuen nichts weniger als mittelmäßig ist (415). Auch bleiben viele Talente unbenutzt und vergraben, da ihnen die Mittel zur Ausbildung fehlen und diese anderwärts ihnen auch nicht geboten werden (416). G. Willi, Landkreis Günzburg, 336, 337, 415, 416. Berichterstatter: Dr. Anselm Ilg Geburtsort: München Geburtsjahr: 1813 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch (? ) 5. Donauwörth Der große Haufe hat zwei hervorstechende Eigenschaften: erstens ein großes Mißtrauen gegen Alles, was von Oben resp. von den Regierenden kommt und dann eine unüberwindliche Abneigung den Geldbeutel zu ziehen ohne evidentesten individuell persönlichen Vortheil (77). A. Till, Alltagsleben in Donauwörth und Umgebung, 77. Berichterstatter: Dr. Thomas Lauber Geburtsort: Neualbenreuth, Landgericht Waldsassen Geburtsjahr: 1799 Ausbildung: Universität Landshut Konfession: katholisch Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 331 6. Füssen Gebirgsvolk ohne Reinheit des Gebirgscharakters, weil ein Gemisch von Tyrolern, Altbayern, Schwaben und Allgaiern (297). Reinerhalten hat sich die Pfarrgemeinde Pfronten (297). Derb, eigenwillig, intelligent ist die geistige Anlage und zäh, mittelschlägig die physische Constitution der Pfrontner (297). glauben nicht Alles was der Pfarrer predigt und wenn er ihnen nicht behagt suchen sie ihn quovis modo auf eine andere Pfründe zu bringen (301). G. Willi, Landkreis Unterallgäu und Ostallgäu mit Kaufbeuren, 297, 301. Berichterstatter: Dr. Friedrich Caspar Koepf Geburtsort: Anhausen, Landgericht Göggingen Geburtsjahr: 1808 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch 7. Göggingen So nahe sich Oberbayern und Schwaben sind, so wenig vermischen sie sich miteinander und die letzteren haben eher einen kurzen als langen und dicken Oberleib und eher lange als kurze untere Extremitäten. Ihr Bau ist daher proportionirter, jedoch der Gang etwas schwer, schleppend besonders bei den Bauern, welche de Füsse einiger massen nachzuziehen scheinen, während außerdem der Schwabe schnell geht und seiner Sprachweise nach immer läuft (54). Demnach ist der Volkscharakter im Ganzen ein guter, wie durch schwäbische Beharrlichkeit, welche es mit der Wahrheit gerade nicht so genau zu nehmen pflegt, so auch durch Gutherzigkeit und Dienstwilligkeit ausgezeichnet (55). Eigenthumsgefährde ist überhaupt sehr häufig, während Körperverletzungen selten von Bedeutung, meist bei Wirthshaus-Raufereien vorkommen, ohne daß im Volke selbst Rauflust vorhanden wäre. Dasselbe ist vielmehr friedlich wenn auch sonst nicht ohne Rechthaberei, … (55). Es ist also die Bodenkultur und Technik, worauf sich der Geist der Spekulation der Bevölkerung verlegt… (71). W. Pötzl, So lebten unsere Urgroßeltern, 54, 55, 71. Berichterstatter: Dr. Karl Immel Geburtsort: Ansbach Geburtsjahr: 1805 Ausbildung: Universität Erlangen Konfession: evangelisch (? ) Peter Fassl 332 8. Grönenbach Wir sind Nachkommen der Alemannen, resp. der Suev. Alemannen. „Bis zum 16ten Jahrhundert p. Chr. blieb bej den Bewohnern der Stadt u. Grafschaft Kempten das alemannische Jdiom in Eigennammen, in der Sprechweise des Volkes u. in Dokumenten vorherrschend; erst seit der Zeit des Kaisers Max I wurde es von dem Schwäbischen allmähig verdrängt und erhielt sich bis auf unsere Tage nur in den Thälern des obern Allgäu.“ Allein heute noch verathen viele unserer Eigennamen, besonders viele Ortsbenennungen im Süden des Gerichtsbezirks alemannischen Ursprung. Caesar nennt die Sueven das tapferste deutsche Volk. Jn den Reichskriegen hatten sie die Ehre des Vorkampfs. / : nach Feyerabend seit den Kriegen Karls des Grossen gegen die Sachsen: / Wie sie zeigten sich die Allgäuer von jeher herzhaft u. entschlossen in Wort u. That. / : Jch erinnere hier an die vielen Kämpfe mit den Aebten - selbst mit den Waffen in der Hand Ann. 1525: / Unser Völklein ist verständig, faßt leicht u. behält das Gefaßte. Lehrer, die von auswärts zu uns kommen, rühmen die natürlichen Anlagen ihrer Zöglinge. Leicht erkennt der Allgäuer das Zweckmässige, daher seine Fortschritte in der Landwirthschaft, durch sie u. seine Arbeitsamkeit sein Wolstand. Der Allgäuer ist Neuerungen zugänglich; diß beweist sein Hang zur Mode. Schnell zündete das Jahr 1848, die Reformation, der Calvinismus. Boettinger heißt die Schwaben „anstellig, gemüthlich“ (21, 22). Wir haben Katholiken, Lutheraner, Reformirte. Die Protestanten wohnen in 4 nördlichen Gemeinden unvermischt, die Reformirten mit einzelnen protest. Familien zerstreut in den Gemeinden Grönenbach u. Zell. Jm Handel u. Verkehr, im Umgange überhaupt reflectirt man nicht auf die Confession (48, 49). Bayer. Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Cgm 6874/ 59, 21, 22, 48, 49. Berichterstatter: Dr. Johann Nepomuk Martin Geburtsort: Mickhausen Geburtsjahr: 1804 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch 9. Günzburg Die Größe der Einwohner des Gerichtsbezirkes ist - wie bei andern Stammgenossen auch - unbeständig (63). Reflektirt man ferner auf die geistige Anlage, wie sie sich bei den Bewohnern des Gerichts=Bezirkes als Unterlage der intellektuellen Entwicklung zur Wahrnehmung stellt, um als Individualgeist in die Geltung zu treten, so kann man nachgerade auch in dieser Richtung darauf streifen, wie die Bewohner des Gerichtsbezirkes ihrem schwäbischen Volksstamme - dessen Intelligenz ja notorisch und über jeden Zweifel erhaben ist - keine Unehre machen, sondern mit ihm zu den geistig begabtesten Volksstämmen Europa’s u. somit der ganzen bewohnten Erde zählen (64). Sie besitzen unbeanstandet so nach Maßgabe ihrer sinnlichen wie übersinnlichen Ursprünglichkeit die vollste Möglichkeit, sich als unverkümmerter Stammtheil des großen, Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 333 hoch stehenden germanischen Kulturvolkes auf die höchsten Stufen als Vernunftwesen zu erschwingen (64). Auf dem Gebiete des Wissens, wie des Handelns regt sich gegenwärtig eine eigene, vorher nie in dieser Weise, in diesem Grade u. in diesem Umfange da gewesene Thätigkeit (153). Das Gebiet, in dem der Geist der Landwirthe sich früher bewegte, ist seit Jahren in dem dießseitigen Gerichts=Bezirke auffällig vergrößert, die Landwirthschaft ist in der Zeit nachgerade eine Wissenschaft geworden, an deren einzelne Objekte die Gefühle u. Bestrebungen unserer Landwirthe sich um so mehr gefesselt bekunden, je größer die Empfänglichkeit u. das Verständnis für die übrige Welt durch Ausbeutung dieser wissenschaftlich getriebenen Landwirthschaft geworden ist (153, 154). Die Neigung zur höhern Ausbildung ist bei den Bewohnern des Bezirkes nicht nur vorhanden, sondern ihr kann u. wird auch auf eine allseitige Weise Rechnung getragen (154). Es gibt kaum ein junges Mädchen in den wohlhabenden Familien der Stadt - ja selbst schon auf dem Lande, welches nicht bei einer sonst allseitig gesteigerten Bildung der französischen Sprache in hohem Grade mächtig wäre (155). Die Bewohner des Gerichtsbezirks veroffenbaren endlich einen offenen Sinn für die Kunst. Musik wird allenthalben in Stadt u. Land getrieben, der Malerei haben sich ebenfalls einzelne mit einem nicht unbedeutenden Talente zugewendet (155). Sorgen die Bewohner des Bezirkes überhaupt für stäte Erweiterung ihres Bewußtseins, und trifft man fast in jedem Söldnerhause eine kleine Bibliothek von mannigfach=belehrendem Inhalte an, so gibt sich dieser Bildungstrieb namentlich in politischer Beziehung mit der unverkennbaren Strebung kund, die Gegenwart in ihren Tiefen u. im Ganzen zu verstehen, so weit hiezu die Tages=Presse ein zureichendes Materiale zu liefern im Stande ist (162). G. Willi, Landkreis Günzburg, 63, 64, 153, 154, 155, 162. Berichterstatter: Dr. Paul Speth Geburtsort: Neuburg a.d. Donau Geburtsjahr: 1797 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch 10. Höchstädt Der schwäbische Volksstamm, welcher den Bezirk bewohnt, obgleich von reinem Schrott und Korn, zeigt doch in Körperbau, Größe und Physionomie erhebliche in jeder Gemeinde hervortretende Nuancen. Es lassen sich höchstens zwei Menschenschläge unterscheiden, ein mehr schlanker, hochstämmiger, dem nördlichen Hügellande in größerer Zahl angehöriger, und kleinere Leute mit breiten Dimensionen an Kopf und Rumpf, sehr zerstreut im Flachlande zumeist in der Nähe des Donaustromes. Die Masse der Bevölkerung bildet eine Mittelgruppe (61). J. Fiedler, G. Willi, Landkreis Dillingen: Landgericht Höchstädt, 61. Peter Fassl 334 Berichterstatter: Dr. Karl Demleuthner Geburtsort: Buchhorn/ Friedrichshafen am Bodensee Geburtsjahr: 1803 Ausbildung: Promotion in Würzburg Konfession: katholisch 11. Illertissen Sie sind wie alle Schwaben redselig, streitlustig, jedoch nur in seltenen Fällen zu Raufereien geneigt. Hier bemerkt man oft den hitzigsten Wortwechsel, u. kaum ist eine Stunde vergangen so fraternisiren die streitenden Theile mit einander ganz gemüthlich (6). Die geistige Constitution der Bevölkerung ist gut. Nirgends mehr als hierum drängt sich die Jugend zum Studiren; und selbst unter der gewöhnlichen Bevölkerung ist ein reger Sinn für Verbesserung vorhanden (13). Strenges Verharren an die Heimath ist nicht zu bemerken, da gerade aus dem hiesigen Bezirke sehr viele nach Amerika ausgewandert sind, u. diese Manie nur durch die üblen Berichte von dort unterdrückt wurden (14). Bayer. Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Cgm 6874/ 75, 6, 13, 14. Berichterstatter: Dr. Jakob Ferdinand Baumgärtner Geburtsort: Eschenbach (Heilsbronn) Geburtsjahr: 1812 Ausbildung: München Konfession: katholisch 12. Landgericht Kempten Die Bewohner des Bezirkes sind Abkömmlinge der Estionen, welche zum großen Stamme der Vindelizier gehörten, und bis zum Jahre 15 nach Christi Geburt ein unabhängiges Gebirgsvolk waren (43). Der Volkscharakter der Allemannen durchwebte alsdann die Gegend; dieselben gründeten auf den Höhen und Weideplätzen des Allgäus ihre neue Heimat; heute noch ist er in den Anlagen der Wohnstätten und im täglichen Betrieb erkennbar (44). In physischer Beziehung erhielt sich der starkknochige Körperbau der Allemannen, in den weitere Umbildungen charakterisirte sich die intellektuelle Constituirung der Bevölkerung, die sich bis auf die Jetz(t)zeit gleichfalls mehr oder weniger bewährte (44). Die Körpergröße des Allgäuers, zu welchen der Bewohner des Landgerichtsbezirkes Kempten zählt, ist mittelgroß, … (44). Überhaupt hat der Allgäuer viel Hang zum Neuen, wenn er zugleich seine Neugierde befriedigen kann (45). So bewährt sich noch mannigfach (w)enngleich nicht allenthalben auch in unserem Bezirke die alte Wahrheit, die schon Hi(p)pocrates ausgesprochen, daß auf den Höhen alles feiner und besser sei als auf den Ebenen, daß die Bergbewohner in der Regel kräftiger und Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 335 edlerer Natur sind, und daß die Höhen auf die Luft, auf das Wasser, auf die Pflanzen und auf alle Gegenstände in der Natur einen leuternden und kräftigenden Einfluß üben (45). Finden sich zwei Personen zusammen, so dreht sich das Gespräch um einen in neuerer Zeit abgeschlossenen Handel, kommt noch ein Dritter dazu, so steht es oft nicht lange an, daß ein Handel abgeschlossen wird. Durch diese Handelssucht kam es dahin, daß die Gegend vor Ausbeutung der Juden gesichert ist (76). W. Scharrer, Landgericht Kempten (1991), 43, 44, 45, 76. Berichterstatter: Dr. Karl Georg Karrer Geburtsort: Woringen Geburtsjahr: 1806 Ausbildung: Universität Erlangen, München Konfession: evangelisch 13. Krumbach Die physischen Eigenschaften der Bewohner bieten nichts besonderes Charakteristisches. Der ursprüngliche Typus ist aber unverkennbar der schwäbische, welcher aber bedeutend von dem der Oberschwaben absticht, u. scheint, wie schon die Boden=configuration u. die Vegetationsverhältniße - der Übergang des Niederwaldes in Hochwald zur Genüge erkennen laßen; an der nördlichen Grenze des Kgl. Landgerichtes Mindelheim u. der südlichen Grenze des k. Landgerichtes Krumbach in der Nähe der Ortschaften Haupeltshofen u. Winzer der Wendepunkt zu seyn (490). Die intellektuelle Seite dieser so eben bezeichneten Bevölkerung ist aber auch gegenüber den Oberschwaben staunenswerth geweckt. Der Geist ist raffinirt, erfinderisch, falsch, versteckt aber nicht aushaltend nachgribelnd, sondern bald ermüdet; während die oberschwäbische Bevölkerung eben auch nicht in intellektueller Beziehung zurück aber viel offener wahrheitsliebender geradern Charakters ist, und von längerer Ausdauer bey seinen Unternehmungen sich bewährt (492). Der Sinn irdische Güter sich zu erwerben, ist wohl unter den meisten Bewohnern rege (492). Unser schwäbisches Bauern=Volk ist im Allgemeinen sehr dem Aberglauben ergeben, u. spielt dieser Held deßhalb eine große Rolle (541). G. Willi, Landkreis Günzburg, 490, 492, 541. Berichterstatter: Dr. Clemens Zink Geburtsort: Oberdorf Geburtsjahr: 1812 Ausbildung: --- Konfession: --- Peter Fassl 336 14. [Markt-]Oberdorf Wenn auch die Bewohner unseres Gerichtsbezirkes nicht den lebhaften Geist des oberbajerischen Gebirgsbewohners, sowie dessen Raschheit zeigen, wenn sie nicht jodeln u. Cither spielen; so sind sie dagegen mehr besonnen, denken, bevor sie sprechen, urtheilen u. schließen ruhig, sind mehr zurückhaltend gegen Unbekannte, u. es fält[! ] schwer, u. erst nach längerer Bekanntschaft, ihr volles Vertrauen zu gewinnen (283). Die Anhänglichkeit an die Heimath kann wohl bei einem Schweizer nicht größer sein, … (283). G. Willi, Landkreis Unterallgäu und Ostallgäu mit Kaufbeuren, 283. Berichterstatter: Dr. Karl Lingl Geburtsort: München Geburtsjahr: 1805 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch (? ) 15. Memmingen Die Bewohner Memmingens stehen keineswegs auf einer blos mittlern Stufe geistiger Bildung. Besonders in frühern Jahren wurde hier viel für Literatur gearbeitet, während man sich gegenwärtig mehr zu der Kaufmannschaft und Technik hinneigt. Selbst der ganz gewöhnliche Bürger zeigt viel Aufklärung, Belesenheit und praktischen Verstand, dagegen keinen besonders großen Sinn für Arbeitsamkeit und Strebsamkeit bei einem fast unüberwindlichen Hange zum Verbleiben im Heimathorte und bei dem elterlichen Gewerbe (16). Dagegen findet man nirgens Hang zu Ausschweifungen, und zeichnet sich die Bevölkerung besonders durch Nüchternheit, Ordnungsliebe und Friedfertigkeit aus (16). Bayer. Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Cgm 6874/ 110, 16. Berichterstatter: Dr. Marquard Georg v. Hössle Geburtsort: Dinkelscherben Geburtsjahr: 1806 Ausbildung: München Konfession: katholisch 16. Mindelheim Die jetzigen Bewohner des Physicatsbezirkes gehören zu dem Volksstamme der Schwaben, u. zwar Oberschwaben, sind physisch durchweg gut begabt. Vornehmlich die Landbewohner. Man trifft unter ihnen viele kräftige Constitutionen mit starkem Knochengerüste, derber Muskulatur und Faser (98). Der „Volkscharakter“ ist durchweg ein gerader, biederer, offener u. herzlicher. Sieht der Schwabe ein solches Entgegenkommen, dann hält er nicht nur wacker an diesen Tugenden, sondern schließt sogar sein Innerstes auf, wogegen er beim Argwohn von Falschheit höchst Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 337 mißtrauisch wird und die Zutraulichkeit weicht sodann einem verschlossenen Wesen. Derselbe hat demnach seine beßten Eigenschaften mit der ganzen, großen deutschen Nation gemein; ist zart u. schroff; zutraulich, gemüthlich (: heimlich: ), gefällig, freundlich u. stutzighinterhaltig; bequem und unmäßig; erfinderisch u. linkisch (99). G. Willi, Landkreis Unterallgäu und Ostallgäu mit Kaufbeuren, 98, 99. Berichterstatter: Dr. Fidel Sauter Geburtsort: Grafertshofen, Landgericht Roggenburg Geburtsjahr: 1809 Ausbildung: Gymnasium Kempten, Dillingen, Universität München Konfession: katholisch 17. Obergünzburg Der Volksschlag der Bewohner des Gerichtsbezirkes Obergünzburg dürfte ihrer physischen Constitution nach immer noch den stämmigen Allgäuer=Schlage, mit rüstigem, kraftvollen u. ebenmäßigem Körperbaue beigezählt werden, der übrigens einer sichtlich zunehmenden Verkümmerung entgegen zu gehen scheint; … (243). In industrieller u. landwirthschaftlicher Betriebsamkeit entwickelt dieselbe durchweg große Arbeitslust u. Regsamkeit, eine ziemliche Geneigtheit geschäftlicher Handelsthätigkeit, gepaart mit Häuslichkeit, Sparsamkeit u. Ausdauer (244). Ruhiges Verhalten, Verträglichkeit, heiterer Sinn mit fröhlichem Humor sind gute Seiten der Bewohner, u. eigentliche Rauflust, Hang zu groben Exzessen, Schlägereien mit starken Verwundungen gehören zu den seltenen Erscheinungen (244). G. Willi, Landkreis Unterallgäu und Ostallgäu mit Kaufbeuren, 243, 244. Berichterstatter: Dr. Martin Frey Geburtsort: Schweighofen, Kanton Bergzadern/ Pfalz Geburtsjahr: 1803 Ausbildung: Lyzeum Speyer, Universität Würzburg, München Konfession: katholisch 18. Ottobeuren Betrachtet man die Bewohner desselben und insbesondere die Bevölkerung des dießseitigen Amtsbezirkes im Allgemeinen, so ist an derselben der Allomannische Volksstamm nicht zu verkennen, … (14). Aus den Eingangs erwähnten günstigen Produktionsverhältnissen der Gegend und aus dem hiedurch bedingten guten Nahrungsstand der Bevölkerung dürften auch die der physischen adaequate intelektuelle Constitution derselben zu erklären sein. Nah dem südlichen Alpenland mit seinen mannigfaltigen Naturschönheiten, theilt der Oberschwabe mit dessen Bewohnern auch den Sinn für jene, und die gutmüthige Derbheit, die die ganze oberländische Bevölkerung charakterisirt. Sein vielfacher Verkehr in Gegens- Peter Fassl 338 tänden der Landwirthschaft mit angrenzenden Bezirken des Flachlandes läßt jedoch diese Gutmüthigkeit oft mit einer gewißen Schlauheit gepaart erscheinen. Dabei ist er redselig, mittheilsam, leicht mit seiner Lage zufrieden, und sein Gemeinsinn tritt bei vielen Anlässen recht werkthätig in’s Leben (17). Gesunder Verstand, Empfänglichkeit für Belehrung über den Landwirth zunächst interessirenden Gegenstände gehen mit einem gewißen eigensinnigen Beharren an dem Gewohnten u. Traditionellen gleichen Schritt, und ebenso begreift er im Allgemeinen leicht, was Gesetz u. Recht ist, wenn ihm gleich eine feinere Unterscheidung schwer fällt, und Gesetze die zu seinem Nachtheil sprechen etwas mißtrauisch angesehen werden. Ein ansehnlicher Theil der Landwirthe befaßt sich deßhalb auch gerne mit den landwirthschaftlichen Mitteilungen neuerer Zeit, und es haben deßhalb auch manche früher mit scheelen Augen angesehene Einrichtungen und Erfindungen auch auf dem platten Lande Eingang gefunden. Es darf also nach Allem diesem die oberschwäbische Bevölkerung immer zu den intelligenteren des bayrischen Vaterlandes zählen, was auch die Lobredner anderer Gebiete desselben dagegen sagen mögen (17). Wenn geistige Constituion die Fähigkeit zur stufenweisen Ausbildung in sich begreift, vermöge welcher der Mensch in den Stand gesetzt wird, den tiefern Sinn der Religion, der Sittenlehre und des Rechts zu begreifen und werkthätig in’s Leben treten zu laßen, so ist diese wohl bei dem Landvolk überhaupt und so insbesondere bei der Bevölkerung von Oberschwaben nicht hoch anzuschlagen. „Glebae adscriptus“ stand von jeher und steht noch dem Oberschwaben an der Stirne geschrieben“ sagt mit Humor ein Seelsorger der Gegend; Zur Schwärmerei ist das Oberschwäbische Landvolk zu indolent, und wird sie je gefunden, so ergreift sie mehr das weibliche Geschlecht und ist meist mit hysterischer Exaltation verbunden (17). Bayer. Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Cgm 6874/ 136, 14, 17. Berichterstatter: Dr. Johann Nepomuk Forster Geburtsort: Immenstadt Geburtsjahr: 1802 Ausbildung: Universitäten Landshut und München Konfession: katholisch 19. Roggenburg Jn intelligenter Beziehung sind die Schwaben gleich den Yankees u. den Schotten ein durchtriebener u. speculativer Menschenschlag, dessen Dichten u. Trachten auf schnelle Bereicherung gerichtet ist, woraus seine Tugenden u. Laster entspringen. Der Landmann ist unermüdlich arbeitsam, häuslich, oft schmutzig, geizig, zu Hause nüchtern, dagegen an Jahrmärkten u. Schrannentagen excessiv, prahlerisch u. verschwenderisch, dabei ein Freund von Wetten, Karten=, Kegel= u. Lottospiel; im Umgang höflich u. wenn es sein Vortheil erfordert sogar kriecherisch, nichts weniger als zutraulich u. empfangener Wohlthaten uneingedenk, daher gegen seine alten Eltern u. kranken Angehörigen herzlos. ein geborener Han- Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 339 delsmann macht er in Getreide, Vieh, Holz u. Gütern, verleiht gegen Wucherzinsen Geld, übertölpelt ohne Anstand den Unvorsichtigen; … Wie wir schon Eingangs des Berichts bemerkten, ist das hiesige Volk ein speculativer Menschenschlag, der alles klug berechnet, in der Regel sich zu keinen gewagten Unternehmungen hinreissen läßt, u. mit seltener Ruhe sich in alle Wechselfälle zu schicken versteht. Als geborener Kosmopolit ist er nicht an die Scholle gebunen. Geht es ihm u. seiner Familie in der Heimath schlecht, so ergreift er nach dem alten Grundsatze ubi bene, ibi patria den Wanderstab, u. wandert nach America aus, wo ihn die Noth zur Arbeitsamkeit u. Müßigkeit zwingt, u. zu den kühnsten Unternehmungen anspornt; denn fortuna audaces juvat. Der den Schwaben eigenthümliche schweigsame Character u. ihre unermüdliche Arbeitsamkeit erringt ihnen bald eine glänzendere Existenz, als ihnen je diesseits des Meeres geblüht hätte. Alle Auswanderer aus unserer Gegend befinden sich in America glücklich; die hier als complete Lumpen galten, wurden dort wohlhabende Handwerker u. Farmer; Der Hauptgrund zu solchen Wagnissen scheint in der unseren Landleuten u. Bürgern eigenthümlichen Neigung zur höheren Ausbildung zu liegen, daher die allenthalben u. unter allen Ständen herrschende Lesewuth. Während das Kind sich an den Schriften Schmids oder Baubergers sich [sic! ] ergötzt, saugen Jünglinge u. Jungfrauen mit Begierde die Romantic aus den in allen Dörfern vorräthigen Schriften eines Clauren Blumenhagen Bruckbräu u.s.f. Selbst Schillers Werke sind zu finden, u. noch häufiger der Auszug von Rottecks Weltgeschichte verbreitet. Die Alten erholen sich Rath aus den neuesten Nachrichten, der Abendzeitung, aus der Kirchenfackel, einer irvingianischen Abhandlung oder aus der Legende der Heiligen. Bayer. Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Cgm 6874/ 153, o.S. Teil Ethnographie, Kapitel: geistige Konstituion. Berichterstatter: Dr. Johann Heinrich Beck Geburtsort: Neuhaus (BA Eschenbach) Geburtsjahr: 1797 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: evangelisch 20. Türkheim Ihres Herkommens sind sie aus dem schwäbischen Stamme, dessen Idiom sie auch, und zwar in dem südlichen Theile mehr dem allgäuer allemannischen Accente annähernd sprechen. Sie sind mittlerer Größe, meistens braunhaarig wenig zu Fettbildung hinneigend, im Ganzen friedlich, für das häusliche Leben eingenommen, sehr arbeitsam, geistig gewandter, als ihre Nachbarn, die über dem Leche wohnenden Altbayern, im Eßen, und Trinken mäßig, lieben sie gerne Tanz und Gesellschaft (141). Wie beim schwäbischen Stamme überhaupts, so ist auch der Trieb zur Veränderung der Aufenthaltorte, und Wohnung, namentlich der Trieb zur Auswanderung, welche letztere oft Folge im Vaterlande verweigerter Verehelichung und Ansäßigmachung ist, hier ein stärkerer, als bei den benachbarten Altbayern, weßwegen auch die Zahl der Auswanderer in unsern Peter Fassl 340 Gerichtsbezirke immer eine größere ist, als in einem dortigen von gleicher Größe und Volkszahl (151). G. Willi, Landkreis Unterallgäu und Ostallgäu mit Kaufbeuren, 141, 151. Berichterstatter: Dr. Josef Schmid Geburtsort: Augsburg Geburtsjahr: 1805 Ausbildung: Universität Landshut, München Konfession: katholisch 21. Wertingen Das Temperament hält die Mitte zwischen sanguinisch und phlegmatisch, nicht häufig ist das cholerische. Der Ausdruck gemüthlicher (: eigentlich phlegmatischer) Schwabe ist sehr bezeichnend. Raufereien giebt es nicht gar viel (351). Der Bauersmann hat gesunden Menschenverstand, aber keinen Spekulationsgeist (352). Unsere Landleute stehen auf keiner hohen Kulturstufe; auf Beschäftigungen, die auf thätiger Spekulation beruhen, lassen sie sich nicht ein; sie möchten lieber durch Lotterie, Schatzgraben zu Vermögen kommen (372). G. Willi, Landkreis Dillingen, 351, 352, 372. Berichterstatter: Dr. Thomas Götz Geburtsort: Munningen im Ries Geburtsjahr: 1796 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch 22. Zusmarshausen Im übrigen trägt das Volk ganz den Charakter der Schwaben. Sie sind im Ganzen munter und redselig, jedoch still zu nennen im Gegenhalte zu den fränkischen oder ehemaligen pfälzischen Bewohnern. Ihr Charakter ist häufig nicht offen, etwas heimtückisch, selbst kriechend. Freundlich sind sie gerade nicht, sparsam im Grüßen, etwas Bauernstolz, man will eher von Anderen zuerst gegrüßt werden. Eine gewinnende Freundlichkeit geht ihnen ab, dagegen haben sie häufig eine kriechende Freundlichkeit, wenn sie etwas brauchen. Der Fremde wird lange, vielleicht in den abgelegenen Orten immer ein Fremdling bleiben (95). Reinlichkeit kann man im Allgemeinen den Schwaben nachrühmen; es wird tüchtig geputzt; oft ist die Hütte der Armuth blendend rein (95). Eine Schattenseite des Charakters der Bezirksbewohner, namentlich der weiblichen, ist, daß sie sich so leicht über den Verlust ihrer Kinder trösten. Man erblickt sie als Engel im Himmel und glaubt, an ihnen eine Plage weniger auf Erden zu haben. (96). W. Pötzl, So lebten unsere Urgroßeltern, 95, 96. Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 341 Berichterstatter: Dr. Ludwig Lauk Geburtsort: Würzburg Geburtsjahr: 1816 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch Unterfranken 23. Amorbach eine Trägheit ist noch vielen aus der Klosterzeit geblieben, … (172). In der Feldwirthschaft ist ein bedeutender Fortschritt ersichtlich - die Landwirthe verbessern auf jede mögliche Weise nun ihren von Zehnten und andern dergleichen Abgaben befreiten Grund und Boden und zeigen steigende Wohlhabenheit. … 173). Erregbar, aufgeweckt und lebhaft ist der Odenwälder pfiffig und stets auf seinen Vortheil bedacht. Zur Erreichung dieses Vortheils nicht sehr wählerisch in den Mitteln wendet er seine durchschnittlich gute geistige Befähigung, lediglich dem Materiellen zu, ohne Neigung zu höherer Ausbildung; festhängend an dem Alten und der Heimath verläßt derselbe nur ungern einen Geburtsort, weßhalb nur die Hindernisse, welche der Ansässigmachung der wenig Bemittelten von den Gemeinden in den Weg gelegt werden, als Grund der Auswanderungen angesehen werden müssen. Bei Wenigen ist auch die Aussicht auf besseren Verdienst und die Möglichkeit der Hoffnung auf Gelegenheit sich Reichthümer im fremden Lande Amerika und in neuerer Zeit in Brasilien erwerben zu können Bestimmungsgrund zur Auswanderung (184, 185). K. Reder, C. Selheim, J. Weiss, Landkreis Miltenberg, 172, 173, 184, 185. Berichterstatter: Dr. Johannes F. Flessa Geburtsort: Herzogenaurach Geburtsjahr: 1808 Ausbildung: Universität Erlangen, München Konfession: katholisch 24. Bischofsheim Der Rhöner besitzt oft genug nur eine sehr mangelhafte Schulbildung, aber in ihm lebt ein beständiger Drang nach Fortbildung u. höherem Erwerb. Er hat aber auch ein leicht begreifliches Fassungsvermögen, einen gesunden Sinn und Mutterwitz; ist sehr gutmüthig, offenherzig, bisweilen aber oft schnell aufbrausend u. jähzornig (59). Die Bevölkerung hat durchschnittlich einen geweckten Geist, welcher einer höheren Bildung fähig ist. Ein altes Sprichwort sagt, die Rhön liefert die meisten Pfaffen, die schönsten Soldaten, u. aber auch die meisten H. (72). K. Reder, R. Albert, Rhön und Grabfeld, 59, 72. Peter Fassl 342 Berichterstatter: Dr. Ludwig Franz Friedrich Heffner Geburtsort: Würzburg Geburtsjahr: 1817 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch 25. Hammelburg Der deutsche Volksstamm, welcher diese Gegenden und Grafschaften also auch die hiesige Gegend bewohnte, wurde höchst wahrscheinlich ein gemischter aus Hessen und Franken, die sich in unserem Gau jedenfalls freundnachbarlich oder feindlich beäuget haben. Die jetzige Bevölkerung des Bezirkes ist eine kräftige fleißige, und zeichnet sich durch physische wie geistige Vorzüge aus. Dieselbe treibt nicht nur Ackerbau und Viehzucht auf rationelle Weise, sondern liebt und übt auch die Künste und Gewerbe nach Möglichkeit und dem Maße seiner Ausbildung, achtet die Wissenschaft, hat einen regen Sinn für Recht, wie warmen Hang fürs Vaterland und dessen angestammtes Fürstenhaus und achtet die Religion und die Institution seiner Kirche je nach dem Bekenntnisse (70). W. Eberth, Landgericht Hammelburg, 70. Berichterstatter: Dr. Johann Adam Kamm Geburtsort: Zeilizheim Geburtsjahr: 1810 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch 26. Hofheim Wenn endlich auch die Sitten ein Stammeskennzeichen bilden, so ist der große Mangel an Reinlichkeit, wodurch sich leider die ostfränkische Bevölkerung vor Altbayern und den Rheingegenden auszeichnet und der auch im hiesigen Bezirke zu beklagen ist, ein sicheres Merkmal der ostfränkischen Abkunft (222). Daß man aber berechtigt ist, diesen Mißstand als ein Kennzeichen der Stammesverschiedenheit anzunehmen, ergibt sich wohl auch aus der unverkennbaren Wahrnehmung größerer Reinlichkeit in den nahen thüringischen Orten, die sich gleichwohl weder höherer Bildung noch höheren Wohlstandes ihrer Bewohner erfreuen. Ich bedauere, mich der Eintheilung nach der Reinlichkeit nicht mehr zu erinnern, welche ich einst bezüglich der Ostfranken hörte, nur so viel erinnere ich mich, daß es Spiegelfranken gibt, nämlich solche, welche Mund und Nase mit dem Ärmel wischen und daher ihren Spiegel immer am Arme tragen. Ich glaube, der Bezirk gehört zu diesen (223). Stephan Diller, Landgerichte Eltmann, Hassfurt und Hofheim, 222, 223. Berichterstatter: Dr. Michael Eugen Goy Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 343 Geburtsort: Lohr Geburtsjahr: 1802 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch 27. Kitzingen Kreuzung der Racen, Erleichterung der Einwanderung und - da Intelligenz und geistige Bildung auf Schaffung des eigenen Körpers und die Zeugung Einfluß übt - Hebung der Intelligenz und Bildung durch gute Schulen und der Genuß einer mehr frischen thierischen (wegen höherer Potenzierung und größerer Concentrirung des Stick- und Kohlenstoffe und dadurch erleichterter Umschaffung des Thierkörpers zum menschlichen Körper), als vegetabilischer Nahrung möchten unter den gegebenen Verhältnissen die Mittel sein, dem Cretinismus den physischen und psychischen Boden zu entziehen (166). H. Bauer, G. Egert, J. Hecht, C. Wolfsberger, Landkreis Kitzingen, 166. Berichterstatter: Dr. Michael Henke Geburtsort: Kitzingen Geburtsjahr: 1802 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch 28. Klingenberg Physische und Psychische Constitution bedingen sich gegenseitig. Obgleich dem kräftigen, fränkischen Volksstamme, gemischt einigermaßen mit Alemannen, angehörig, ist der Bevölkerung im Durchschnitte doch der Stempel des Waldbewohners aufgedrückt welcher, einmal akklimatisirt, im umgekehrten Verhältnisse zu der Forstvegetation steht, und so quasi eine Abart von der Stammesart bildet, wie die Birke der Alpen von jener der Ebene (197, 198). K. Reder, C. Selheim, J. Weiss, Landkreis Miltenberg, 197, 198. Berichterstatter: Dr. Karl Bleifuß Geburtsort: Würzburg Geburtsjahr: 1800 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch 29. Marktbreit Die Bewohner des Bezirks gehören dem fränkischen Stamme an und sind an ihrer diesem Stamme eigenthümlichen Sprache sehr leicht zu erkennen. Das eigenthümliche, unangenehme Breite des fränkischen Dialekts findet sich auch hier deutlich ausgesprochen (43 - 44). Schließlich sei hier noch erwähnt, daß die Bauern die Gesundheit nicht sehr hoch achten, und daß die Aufmerksamkeit u. die Sorge für dieselbe bei ihnen eine geringe ist. Sie sind Peter Fassl 344 nicht wie die Juden des Bezirks wegen jeder Kleinigkeit um ihr Leben sehr ängstlich besorgt, und behelligen den Arzt daher selten, im Gegentheil sie brauchen auch bei bedeutenden Krankheiten entweder gar keinen Arzt, oder einen Pfuscher, oder wenden sich erst dann an den Arzt, wenn schon Freund Hain an der Thüre steht. Der Bauer hält nämlich den kranken Menschen, der nicht mehr arbeiten kann, für unnütz u. überflüßig u. wünscht dessen Tod sogar, wie ich dieses schon oft zu hören Gelegenheit hatte (46). Die Bewohner des Bezirks gehören drei Confessionen an und zwar die Mahrzahl 7/ 10 sind Protestanten, 2/ 10 Katholiken, 1/ 10 Juden. Von den einzelnen Confessionen muß man gestehen sind die Juden noch am tolerantesten gegen die Mitglieder anderer Confessionen, die Protestanten jedoch am intolerantesten, was leicht zu erklären ist, da sie die Mehrzahl bilden. Die Protestanten haben eine sehr bigotte religiöse Haltung, die Katholiken eine mehr laue, die Juden halten wie überall an ihren alten Gebräuchen fest, überschreiten sie aber natürlich oft und leicht da, wo ihnen aus dieser Überschreitung ein Vortheil erwachsen kann. Hang zum Mysticismus und zur Schwärmerei findet sich selten, man möchte sagen fast nie (68). A. Söllner, Der Landkreis Kitzingen, 43, 44, 46, 68. Berichterstatter: Dr. Franz Anton Weber Geburtsort: Hammelburg Geburtsjahr: 1805 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch 30. Marktheidenfeld Will man eine Charakteristik in der physischen und intellektuellen Constitution der Bevölkerung unseres Bezirkes geben, so basiert sie sich, wie überall anderwärts auch auf d Boden und den Stand, den einer gewählt hat. Man sagt, die Mainthalbewohner, welche sich mit der Schiffahrt und mit dem Handel mehr beschäftigen, sind gescheider im Denken, Reden, Lesen, Schreiben und Rechnen geübter. Das ist richtig. Ihr Geschäft, Handel und Verkehr mit Städtebewohnern und mit anderen Völkern zwingt sie zur Selbstfortbildung, die der Bauer, der seine Feder und seinen Griffel nach der Entlassung von der Werk- und Feyertagsscule wegwirft, unterlässt (215, 216). Der eigentliche Landmann, Ökonom, der nur auf seine Erdscholle angewiesen ist, ist weniger raffinirt und gebildet, läßt sich aber leicht leiten zum Guten, Schönen und Nützlichen; bei einem abgehärteten, kräftigen Körper und derben Charakter zeichnet sich der Bauer und Winzer durch großen Fleiß, Genügsamkeit und Häuslichkeit aus. Auf den größeren Gütern hausen viele intelligente Besitzer, die ernstlich trachten, ihre Ökonomien aufs Beste emporzubringen und musterhaft auf die Bauern der Umgebung einzuwirken (216). Die geistige Verfassung der Bevölkerung wird als eine gute erachtet, allein ein Begehren ein Wille ein Beruf zu einem höheren, geistigen Aufschwung findet sich in der unteren Volksklasse nicht vor (239). Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 345 Unter den Wohlhabenderen dagegen und in den Mainorten gibt sich eine größere geistige Rührigkeit kund und eine größere Hinneigung für höhere wissenschaftliche Bildung (239). Die Bewohner vertauschen ihre Heimath und ihr gewohntes Landleben selten und ungern. Wie der Schweitzer seine Heimath ehrt, so liebt unser Bewohner seine heimathlichen mit Reben bewachsenen Hügel, den Main, der das schöne Frankenland durchschlängelt. Ursachen zur Auswanderung kennt er nicht an, er ist zufrieden in und mit seinem Lande. Und nur einige, die sich hierorts nicht heurathen konnten und ihren Versprechungen doch treu bleiben wollten, haben um dort die Ehe einzugehen, sich nach Amerika begeben. Sie gedenken in Liebe ihrer alten Heimath, und wünschen sich sogar zurück. Wird einst den Armen das Heurathen erlaubt werden, so wird es keine fränkischen Amerikanerinnen mehr geben (239). J. Braun, M. Deubert, J. Hecht, K. Reder, Landkreis Main-Spessart, 215, 216, 239. Berichterstatter: Dr. Willibald Sedelbauer Geburtsort: Eichstätt Geburtsjahr: 1798 Ausbildung: Konfession: katholisch 31. Miltenberg Jedoch ist dieselbe wieder verschieden je nach der Gegend im Thal oder auf der Höhe dort leichter, zündender lebendiger hier ruhiger bedächtiger überlegender oder auch nach der Beschäftigung (133). K. Reder, C. Selheim, J. Weiss, Landkreis Miltenberg, 133. Berichterstatter: Dr. Joseph Zöllner Geburtsort: Würzburg Geburtsjahr: 1807 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch 32. Stadtprozelten ich möchte, gestützt auf meinen mehr als 20 jährigen Aufenthalt im Bezirke und auf Grund meiner gesammelten Erfahrung eine 3fache Gradation aufstellen, nach folgendem Schema 1) die intellectuelle Constitution der Bevölkerung der Mainorte, a) der vorzugsweise Handeltreibenden b) der dem Acker- und Weinbau obliegenden, 2) die intellectuelle Constitution der Bevölkerung der Bergorte und Mainorte, 3) die intellectuelle Constitution der Bevölkerung der Spessartorte (69). Peter Fassl 346 K. Reder, C. Selheim, J. Weiss, Landkreis Miltenberg, 69. Berichterstatter: Dr. Ludwig Döring Geburtsort: Sickershausen bei Kitzingen Geburtsjahr: 1808 Ausbildung: Universität Würzburg Konfession: katholisch (? ) 33. Volkach Die Bevölkerung des Bezirkes Volkach läßt sich ihrer historischen Localisierung und ihrer ethnischen Entwicklung nach unter keinen anderen Gesichtspunkt betrachten, als wie dieß bei den Franken im Allgemeinen der Fall ist. Sie ist ein Mischvolk, hervorgegangen aus der Vermengung von Franken, eingewanderten Sachsen und Thüringen p. Wie in der Geschichte des Mittelalters das mächtige Reich der Franken und seiner Könige auf die bajubarischen Herzöge und ihre Völker ein gewaltiges drückendes doch immerhin durch die provocirende Opposition vortheilhaft einwirkendes Übergewicht äußerten, was sich in physischer und intellectueller Überlegenheit begründet fand, so wird sich dem unbefangenen und unparteiischen vergleichenden Sozialanatomen auch heutzutage noch eine wenngleich nur intellectuelle Überlegenheit und Präponderanz Frankens gegenüber anderen Stämmen des gesegneten Bayerlandes nachweisen lassen (243). Zwar von kaum mittleren körperlichen Proportionen gegenüber dem rein bayerischen Volksstamme spricht sich in physischer Hinsicht, wie nicht Armuth wie auf den Rhön, im Spessart und Steigerwalde allzu niederdrückend auf die Formen einwirkt, im Bau eines gesunden Franken und so auch der Bewohner unseres Gebietes ein gewisses Ebenmaß nach Länge und Breite, ein Ebenmaß von Fleisch und Knochen aus, was Ausdauer und Nachhaltigkeit der Stoffmasse kundgibt (243). Die intellectuelle Constitution der hiesigen Bewohner ist eine geistig gesunde; besonders zeichnet sich der Winzer wie fast allerwärts durch eine geistige Elasticität und Energie aus, durch Mutterwitz und Pfiffigkeit aus, um die ihn, um den Ausdruck eines modernen Culturpolikers zu gebrauchen, der raffinirteste und gewürfeltste Advocat selbst von Paris beneiden dürfte. Auch der Bauer steht auf einer relativ hohen Stufe der geistigen Entwicklung und der Einsicht, obgleich nicht gerade vereinzelte Exemplare eines groben Starrsinns und hirnlosen Conservatismus vorkommen (244). Die Reinlichkeit in den Haushaltungen ist wie in ganz Franken so auch in unserem Bezirke im Allgemeinen unter der Mittelmäßigkeit. Dieselbe ist auf Straße und in Hofrieth größer denn im Innern (246). H. Bauer, G. Egert, J. Hecht, C. Wolfsberger, Landkreis Kitzingen, 243, 244, 246. Berichterstatter: Dr. Heinrich Maximilian Emanuel Brunner Geburtsort: Augsburg Geburtsjahr: 1817 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 347 34. Landgericht Würzburg links des Mains Der Körperbeschaffenheit nach sind die Franken ein kräftiger Schlag, wie im Unterlande. Die Schädelform ist mehr oval, wie breit, sie scheint in der Mitte zwischen dem dolichocephalen Rheinländer und glatzephalen Altbayer zu stehen (180). Die Haare sind meist blond, selten braun, noch seltener schwarze. Wir begegnen einem urdeutschen Volksstamme, der seines Stammes Reinheit und Eigenthümlichkeit getreu und stolz, trotz aller Zeiten Wirrsal bis zur Stunde bewahrt hat. Der Franke hat einen Nationalstolz, und zwar mit Fug und Recht (180). Die Bischöfe zu Würzburg hatten nach und nach Land und Herrschaft sich eigen gemacht, sie erscheinen nunmehr als Herrn des Landes, als Herzoge von Würzburg und Ostfranken, der Ducatur franciae orientalis, bis nach 1000jährigem ununterbrochenem Besitze Land und Herrschaft an die Krone Bayerns fiel (180). Wie sich der fränkische Volksstamm unvermischt von fremden Nationen in seiner Reinheit erhalten hat, so hat er auch der Sprache, Sitten des Charakters Eigenthümlichkeit bewahrt (180). Der Franke hat einen Nationalstolz: er fühlt sich als den Kern der deutschen Nation, als den Träger des Namens des großen einstigen Frankenreichs. Vor allen Stämmen bevorzugt schaut er auf die benachbarten Schwaben, Rheinländer und Bayern mit hohem Selbstgefühl herab. „Wir Edlen Franken Wir loben und danken daß wir nicht seyn wie die Groben am Rhein“ (184). Der Franke ist aufrichtig, voll derben Witzes, macht keine Umstände, ist redlich, auf sein gesundes Urtheil pochend, hat er immer Kraft, er ist verläßig als Freund und Feind. Der Franke ist sich selbst genug, er will keine Gemeinschaft mit benachbarten Stämmen. Es findet daher kein allmähliger Uebergang zu anderen Stämmen statt. Die Grenze des Frankenlandes ist scharf abgeschnitten; unterhalb der fränkischen Saale ist aschaffenburger (= rheinisches) Land. (185). Keinen größeren Schimpf wußte mir ein hochmüthiger würzbgscher Landg[erichts]assessor anzuthun, als indem er im rhein. Dialekte sagte: „er is von unne ruff, e Ascheberger“. Der besonnene ruhige Altbayer und Schwabe spricht ihm noch mehr unverständlich, zu langsam; der Franke ist gleich bereit mit dem Worte, wenn auch lange nicht so schlagfertig, wie der Pfälzer, er hält sich von Natur für viel begabter, wie der erst nach langer Ueberlegung sich aussprechende Altbayer (185). Charakteristisch ist folgende Anekdote: Der durch seine Derbheit bekannte Regi.rath H., welcher über seine altbayrischen Vorstände erbost war, trug in einem statistischen Berichte über die Anzahl der Hausthiere folgendes vor: „Esel gibt’s in Franken keine, der Bedarf wird aus dem Mutterland bezogen“ (185). Reinlichkeit in und außer den Häusern Peter Fassl 348 ist nicht des Franken Eigenschaft. In Wirthschaften wird nur auf guten Trunk gesehen, das Uebrige ist ziemlich gleichgültig, neumodische Einrichtungen werden eher gemieden, selten sind Tisch und Teller rein, das Geschirr so blank wie in Altbayern (206). Geistige Constitution der Bevölkerung Der fränkische Bauer hat durch Naturanlage und musterhafte Schulbildung große Fortschritte gemacht; es herrscht überall reges Interesse für Gemeinde- und Staatsangelegenheiten (206). Sonntags nach der Kirche im Wirthshause unterliegen Staat, Kirche und Kammer rücksichtsloser Kritik (206). Der Franke ist von Herzen froh, zu Bayern zu gehören, so stolz er auch auf sein Frankenthum ist. Die Zeiten des Krummstabs sehnt auch nicht einer zurück. Die Wohlthaten der Befreiung von feudalen Fesseln, der Gleichheit vor dem Gesetze, einer sorgfältigen Administration haben ihn Staat und dessen Organe achten gelehrt; nur Achtung und Vertrauen habe ich von den Ortsvorständen während 6j. Amtsführung erfahren (206). I. Weid, Landkreis Würzburg, 180, 184, 185, 206. Berichterstatter: Dr. Friedrich August Vogt Geburtsort: Aschaffenburg Geburtsjahr: 1812 Ausbildung: Gymnasium Würzburg, Universität Würzburg Konfession: katholisch Oberbayern 35. Freising Eine Handvoll Rheinländer (Ueberrheiner) abgerechnet gibt es im Physikatsbezirke Freising fast ausschließlich nur Einwohner vom altbayerischen Schlag, … In Beziehung auf den Charakter ist der hiesige Altbayer derb, trocken und kalt und wird ihm die Zunge erst beim Bier gelöst, wo er sich gerne auslärmt. Doch besitzt er nebenbei die nachstehenden Eigenschaften der Treue, Verlässichkeit, Gewandheit und des Muthes, welcher manchmal in Keckheit überschlägt (209). Den Lagerstätten, wie sie auf dem Lande und nicht selten in der Stadt vorkommen, kann so lange nicht das Wort geredet werden, bis sie nicht leichter, sondern weniger (mit den verschiedenartigsten Gegenständen) überfüllt, räumlicher sind und fleißiger gelüftet werden; dazu spielt noch Feuchtigkeit nicht selten eine schlimme Rolle. Dieser Mißstand wird erst dann seine Gefährlichkeit für der Bewohner Gesundheit verlieren, wenn die Leute allmählich zur Einsicht durch schlimme Erfahrung und Belehrung gelangen, wie viel an einer gesunden Lagerstätte liegt. Alsdann werden zweistöckige Wohnungen auf dem Land häufiger gesehen werden, alsdann werden die Fenster sich erweitern und höher werden; alsdann wird für Reinlichkeit besser gesorgt werden; vor allem aber ist es nothwendig, auch die Bademeister des alten Schlendrians zu entäußern und ins Spiel zu ziehen (210, 211). Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 349 Denn der hiesige Bauer sieht es nicht, wie der Schwabe, der Franke es in dieser Beziehung hält, sondern will, wenn sein Haus nun aufgebaut werden muß aus Liebe zum Alten, sein Haus wieder, wie er es vom Vater übernommen hat. Müssen wir denn doch anmerken, daß der Bauer es gelernt hat, angesammelten Straßenkoth nunmehr sogar ohne Zuthun der Polizei zu entfernen und stehender Jauche Abfluß zu verschaffen. Freilich schickt es sich nicht auch für die Polizei sich wegen der handhabenden Reinlichkeit in das Innern, der Häuser zu wagen und der Bäurin ins Gesicht zu sagen, wenn sie den Beamten höflich grüßt. „Du bist eine Sau.“ Ja solch säuische Hausmutter oder solche Schweinepelze von Hausvätern gibt es zwar allenthalben; einen großen Theil aber in Altbayern und im Punkte des Reinlichkeitsseins hätten allerdings dieselben von den Bewohnern der benachbarten Provinzen noch viel zu lernen; … (211, 212). Die Liebe zur Heimat scheint im Vergleich zu der der benachbarten Völkerstämme tiefere Wurzeln zu haben und ist der Altbayer im Vergleich zu den anderen Stämmen faktisch schwerer zum Wandern und zu industriellen oder Handelsunternehmungen in der Ferne zu bewegen, so gilt dies noch in größerem Maßstabe von der Auswanderung in entfernte Erdregionen (213). W. Grammel, Landgericht Freising, 208, 210, 211, 212, 213. Berichterstatter: Dr. Aurelius Hug Geburtsort: Großholz/ Lindenberg Geburtsjahr: 1806 Ausbildung: Gymnasium Kempten, Universität München Konfession: katholisch 36.[Fürstenfeld]Bruck Die Einwohner des Bezirkes Bruck gehören insgesammt ohne Ausnahme der bojarischen Abstammung an. Sie haben alle Licht- und Schattenseiten dieses Volkesstammes und besitzen dieselben, wie es mir scheint, in einer noch schärfer ausgeprägten Form, wie viele andere Bezirke, welche der gleichen Abstammung sich erfreuen können (274). Die Charakteristik, welche Aventin am Ende des 15 ten Jahrhunderts von seinen Landsleuten gibt, paßt noch heute vollkommen auf die Bewohner des Bezirkes Bruck, und was Wolfram von Eschenbach über die Bayern sagt, ist auch heute noch wahr. Es ist richtig, sie sind roh, gefühllos, sinnlich, unmäßig, in hohem Grade unzugänglich und wortkarg, sie lieben keine allzu große Fürsorge ihrer Angelegenheiten respective für ihr Wohl, betrachten eine solche mit Mißtrauen und häufig für einen Eingriff in ihre Familienrechte (274). Der Geistliche reicht mit seinem Einfluß selten über die Kirche hinaus, und der Bauer traut in Behandlung seiner weltlichen Interessen demselben umso weniger, als er in ihm ein polizeiliches Organ erblickt, welches hemmend auf seine alt hergebrachten Lieblingsgewohnheiten einzuwirken sucht (276). Die Lehrer auf dem Lande haben auf die Milderung der Sitten gar keinen Einfluß; denn Ansehen und Einfluß auf dem Lande gibt nur der Besitz, und der beste Lehrer ist nicht im Stande, bei dem Landvolke sich über das Gefühl der Duldung emporzuschwingen, sie gehö- Peter Fassl 350 ren nach ihrer Ausdrucksweise zu den sogenannten „kleinen Leuten“ und sind deshalb nicht maßgebend in ihren Kreisen (276). Das ganze altbayrische sociale Leben ist nun bekanntlich ein Wirthshausleben. Im Wirthshause verschwindet die Einsilbigkeit, hier sind die Zungen ohne alle Rücksicht gelöst (276). Alle wichtigen Angelegenheiten der Gemeinde wie der Familie finden in demselben ihre Entscheidung und jeder einigermaßen bedeutende Handel findet dort seine entgiltige Erledigung (276). Der Wirth auf dem Lande ist unbestritten die angesehenste und einflussreichste Person (276). B. Neubauer, W. Pusch, Landgericht Bruck, 274, 276. Berichterstatter: Dr. August Berger Geburtsort: Wolfratshausen Geburtsjahr: 1813 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch 37. Landsberg Was den gegenwärtigen Typus der Bevölkerung des Gerichtsbezirks betrifft, so können hier Hauptunterschiede festgestellt werden, a) die Oberländer, b) die Bewohner des Ammerthales, c) die Schwaben und d) die Unterländer oder eigentliche Lechrainer. a) Die Oberländer, Bewohner des südlichen Theiles, welche sich in Sprache und Sitten mehr dem Gebirgsbewohner nähern. b) Die Bewohner des Ammerthales, Angränzer des Ammersee’s, welche sich in Sprache und Sitten, wohl in der Kleidung von den Oberländern und Schwaben wesentlich unterscheiden, den Unterländern, Lechrainern, zwar nähern, aber noch manche Eigenthümlichkeit beibehalten. c) Schwaben am linken Lechufer, welche sich in Sitten, Gebräuchen, Sprache und Kleidung der übrigen Bevölkerung des Kreises Schwaben anschließen. d) Die Unterländer oder eigentlichen Lechrainer, die Bewohner des nördlichen Theiles (94). Je mehr ein Reisender im Gerichtsbezirke von Süd nach Norden kömmt, desto weniger findet er sie. Interessant ist es, die „Wäscheaufhänge“ des Oberlandes mit dem Lechrain zu vergleichen. Unsere Oberländerinnen würden das in die Wäsche geben, was die Lechrainerinnen als frisch gewaschen ansehen. Daß übrigens unter den vier Gruppen des Landgerichtes die Schwaben die reinlichsten sind, ist unbestritten (95). Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 351 K. Münzer, G.M. Eberle, Landgericht Landsberg, 94, 95. Berichterstatter: Dr. Benedikt Sensburg Geburtsort: Neunkirchen, Bezirksamt Forchheim Geburtsjahr: 1809 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch 38. Landgericht München links der Isar Die ursprünglichen Einwohner des Gerichtsbezirkes gehören dem altbayerschen Stamme an. Im Laufe der Zeiten wurde dieser aber mit fremden Eindringlingen vermischt. Mit dem Churfürsten Carl Theodor kamen viele sogenannte „Manheimer“ nach München, die sich dann auch im Gerichtsbezirke ansiedelten; dem Churfürsten und nachmaligen König Max Joseph folgten Rheinpfälzer, und auch von diesen musste unser Bezirk meh[r]ere aufnehmen, welche förmliche Kolonien bildeten, wie die Kolonie Ludwigsfeld. Oberpfälzer kauften die Schwaige Milbertshofen und verbreiteten sich von dort aus weiter. In neuerer Zeit, als die hohen Getreidepreise durch den Besitz von Landgütern reichlichen Gewinn in Aussicht stellten, kauften wohlhabende Einwohner Münchens solche Bauernanwesen, angelockt durch den Erwerb von großen Flächen um wenig Geld und trieben dort eine täuschende Industrie. Andere christliche und jüdische Spekulanten kauften solche Güter, um sich aus deren Zertrümerung zu bereichern. So ist es gekommen, daß wir jetzt einen wahren Mischmasch von Einwohnern besitzen, die sich fast alle feindselig entgegen stehen. Die ursprünglichen Sitten haben aber dabei nichts gewonnen (119). Es ist eine alte und durch die Geschichte bewährte Erfahrungssache, daß die neuen Eindringlinge die alten Einwohner allmählig verdrängen. Rhein- und Oberpfälzer haben bereits den Stoß gegeben und die Altbayern aus ihren Geleise getrieben, die neubayerischen Franken, welche wie nach einem gelobten Lande zu uns herübersiedeln, werden mit ihrer berechnenden Schlauheit das Werk vollenden und uns beherrschen (119). In intellektueller Beziehung brauche ich nur zu erwähnen, daß unsere ursprünglichen Bewohner in dem Ruf der „dummen Bayern“ stehen. Wol nicht ganz mit Unrecht. Allein es fehlt ihnen ganz sicher nicht an den natürlichen Anlagen und der Bildungsfähigkeit, sondern es fehlt an dem Unterricht und der Erziehungsweise (120). B. Neubauer, Stadt München und Landgerichte München links der Isar und München rechts der Isar, 119, 120. Berichterstatter: Dr. Karl Kaltdorff Geburtsort: Bamberg Geburtsjahr: 1809 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch Peter Fassl 352 39. Neuburg/ Donau Der Festlandbewohner gehört jenseits der Donau dem oberpfälzischen, diesseits dem oberbayerischen Volksstamme an; es trat jedoch zwischen dieser Bevölkerung im Laufe der Zeit eine so innige Mischung ein, daß weder in Sprache, Sitten noch in geistiger und körperlicher Constituirung mehr besondere Merkmale zu beobachten sind (184, 185). Der Bewohner der Stadt Neuburg, ein buntes Stammgemische, erreicht in geistiger Beziehung nur ausnahmsweise die ursprüngliche Fähigkeit des Moosers (185). daß ein großer Theil der Bevölkerung unfähig zum Fortschritte in Landwirthschaft und Gewerbe ist, von roher Sitte, Characterlos, eine leichte Beute der Sinnlichkeit und der Genußsucht, des Aber- oder Unglaubens, welch letzterem vorzüglich ein Theil der Moosbewohner, ersterem die Land und Stadtbewohner verfallen sind (186). M. Veith, Physikatsbericht des Neuburger Bezirksarztes, 184 - 186. Berichterstatter: Dr. August Höger Geburtsort: Nabburg Geburtsjahr: 1815 Ausbildung: Universität München, Würzburg Konfession: katholisch 40. Prien Das Bild also, welches die physische und intellektuelle Constitution der Bevölkerung schildern soll, ist demnach vorherrschend die Charakteristik des eigentlichen Landmannes, des Bauern unseres Bezirkes, ein Bild, nicht nur bedingt durch die ureigenthümliche Stammesanlage, sondern auch modifizirt durch die Einflüße, welche Nahrung, Lebensweise, Bildung und Gewohnheiten, ja die staatsbürgerlichen Verhältniße auf diesen Stand mehrhundertjährige fast in gleicher Weise ausgeübt und ihn eben zu dem gemacht haben, was er jetzt ist (347). Im gewöhnlichen Verkehre ruhig und gutmütig, öffnet der Bauer sein Inneres gerne dem ihm in gewohnter und landüblicher Weise vertraulich und herzlich Entgegenkommenden, und hat dann etwas Offenes und Treuherziges; er liebt jedoch fremde Manieren und hochfahrende und fremde Sprechweise nicht und verschließt sich solchen gegenüber so vollkommen, daß er häufig sein wirklich besseres Wissen bei sich behält, höchstens ungläubig den Kopf schüttelt und sich stillschweigend lieber den Vorwurf der Dummheit gefallen läßt, als daß er seine Ansicht offen und gerade kund gibt und vertritt. Es mag hieran ebenso die gemüthliche Stimmung, die Fremdes überhaupt gerne zurückweist, als auch ein gewißes, auf einer Art von Bescheidenheit beruhendes Streben, sich ja nicht vor Andern auszuzeichnen und hervorzuthun, ein Streben, was dem Altbayern überhaupt eigenthümlich ist, als endlich ein leichter Grad von Apathie schuld sein, der sich im Charakter des Bauern überhaupt kund gibt. Man kann demselben nemlich nicht jede Strebsamkeit überhaupt absprechen; aber jene Lebens- und Thatenenergie, wie sie bei andern Ständen und Volksstämmen, den Schwaben, Franken usw. beobachtet wird, mangelt in der Regel dem Altbayern und er liebt es vielmehr, ganz behaglich und gemäßigt seine Arbeiten nach gewohnter Art auch mit wenigem, aber für Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 353 seine Lebensweise genügenden Erwerbe fortzuführen, als sich durch angestrengteres Schaffen und Eröffnung und Benützung neuer Erwerbsquellen vermehrten Verdienst zu verschaffen. Charakeristisch für diese Eigenthümlichkeit sind die ortsüblichen Alltagsgrüße „Net gar z’fleißi! “, „laßts enk Zeit! “ und andere ähnliche (347). Während der Landmann aber so streng die Vorschriften der Kirche, so mithin die äußere Disziplin betreffen, befolgt und eine Übertretung derselben für die schwerste Stunde betrachtet, so gehört er dennoch nichts weniger als einer pietistischen, alle Lebensfrische und Heiterkeit verbannenden Richtung an, wie man sie in protestantischen Ländern hie und da findet; im Gegentheile, er hat die Forderungen seiner Sinnlichkeit recht füglich mit seiner Religionsübung in Einklang zu bringen verstanden und wenn er einerseits fleißig die Kirche besucht, die Feiertage hält und fastet, glaubt er durch diese mechanischen Übungen vollkommen seiner Pflicht Genüge gethan zu haben und gibt andererseits seiner Neigung zu Lebensgenuß und seinen Leidenschaften auch genügenden Spielraum (375). J. Fuchs, Landgericht Prien, 344, 347, 375. Berichterstatter: Dr. Karl Ramis Geburtsort: 1814 Geburtsjahr: München Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch 41. Rain Die Bewohner des hiesigen Bezirkes gehören zu den Altbayern, und wenn sie auch, da der Bezirk an der Gränze von Schwaben liegt, hie und da eheliche Verbindungen mit Schwaben eingehen, so bleibt sich doch im Ganzen der Schlag gleich (120). Der Altbayer ist durchschnittlich von mittlerer untersetzter, stämmiger Statur, meist wohlbeleibt, hat einen runden meist kleinen, aber auch oft dicken Kopf, gesunde Gesichtsfarbe, oft dicken Bauch, aber viel Muskelkraft. Er ist ein kräftiger Naturmensch und wie man gewöhnlich sagt geradezu; er ist verläßig, treu und gutmüthig, trocken und mild; er ist pflegmatischer denn sein Nachbar, der Schwabe, aber auch derber und gröber und bei seinem Bier lärmig und gleich in den Haaren. In intellektueller Beziehung ist er noch weit zurück; er kümmert sich nur um sich selbst und seine nächste Umgebung und alles andere läßt er bei Seite; deßhalb ist er auch nicht anspruchsvoll und hat kein Verlangen auf höhere Bildung und sagt: so hat’s mein Vater gemacht und so mach’ auch ich’s (120). A. Löffelmeier, Landgericht Rain, 120. Berichterstatter: Dr. Johann Baptist Wolff Geburtsort: Geldersheim/ Unterfranken Geburtsjahr: 1796 Ausbildung: Universität Würzburg (? ) Konfession: katholisch Peter Fassl 354 42. Schongau Im Ganzen ist das Volk intelligent, im Fortschreitten allgemeiner Volksbildung begriffen. Im schwäbischen Gebiethsantheile ist das Volk noch intelligenter, noch agiler im Benehmen und Handlungsweise. Für alle Tagesfragen sich interessirend: in Berechnung einiger Verbeßerung greifen sie zum Wechsel ihres Besitzstandes und ihrer Geschäfte. - Ihr Gespräch betrifft hauptsächlich Tauschhandel, Gutszertrümmerung; bey den einfachsten Verkäufen fehlen keine Unterhändler (75). B. Neubauer, Landgerichte Weilheim und Schongau, 75. Berichterstatter: Dr. Florian Eisenreich Geburtsort: Landshut Geburtsjahr: 1801 Ausbildung: Universität Landshut Konfession: katholisch 43. Weilheim Auch der Sprachunterschied macht sich hier deutlich bemerkbar, und die Bewohner des linken Ammerufers haben schon entschieden die schwäbische Mundart. Ob nach dieser Wahrnehmung die jenseitigen Ammerbewohner nicht allenfalls doch, mindestens theilweise von Alamannen abstammen dürften, muß Berichterstatter dahin gestellt sein lassen. In geistiger Beziehung zeichnet sie eine schnellere und leichtere Fassungskraft und dadurch bedingte größere Redseligkeit aus. Diese Schilderung bezieht sich natürlich vorzüglich auf die Bewohner des Landes (40). B. Neubauer, Landgerichte Weilheim und Schongau, 40. Berichterstatter: Dr. August von Dall’Armi Geburtsort: München Geburtsjahr: 1806 Ausbildung: Universität München, Würzburg Konfession: katholisch 44. Werdenfels Die Altwerdenfelser sind nämlich weder Bayern noch Tyroler, haben keinen Patriotismus, träumen viel von der ehemals bischöflich freisingischen Grafschaft Werdenfels, möchten sich selbst regieren, haßen jeden Beamten, weil sie gehorchen sollen, scheuen das Militär Leben, sind feig, falsch und hinterlistig, laufen zwar unabläßig in die Kirche, haben aber dennoch ein weites Gewissen, ziehen sich zurück, wenn es gilt, die Wahrheit zu sagen, legen Pasquille und suchen überhaupt das Versteck der Lüge und Verläumdung (320). H. Behringer, Landgericht Werdenfels, 320 Schwaben, Franken und Bayern in den Physikatsberichten von 1858 - 1861 355 Berichterstatter: Dr. Joseph Spieß Geburtsort: Au/ München Geburtsjahr: 1811 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch (? ) Mittelfranken 45. Nürnberg Was die eigentlichen Verstandeskräfte betrifft, so ist der Nürnberger damit wohl begabt und werden dieselben bei seinem notorischen Fleiß und industriellen Eifer stets rege erhalten, auch fehlt es ihm nicht an natürlicher Anlage zum Witz. Wenn schon die ehemals so sehr gepriesene Gemüthlichkeit und Treuherzigkeit des Nürnberger durch Vermischung mit so viel fremden Elementen abgenommen und sich selbst zum Theil von der modernen Sucht der Großthuerei und Schwindelei hat verdrängen lassen, so ist im Ganzen doch noch ein guter Kern geblieben, der dann besonders hervortritt, wenn es gilt, wohlzuthun oder für eine edle Idee sich zu begeistern. Geistig gelenkiger als der Altbayer oder Oberpfälzer geräth er doch selten in den extremen Fehler fränkischer Verschmitztheit, eher in den der Überschätzung der Ausländer, welche mit einer gehörigen Dosis Selbstvertrauens und Zungenfertigkeit in seiner Vaterstadt auftreten. J. Seitz, Nürnberg vor 125 Jahren, 56. Berichterstatter: Dr. Carl Julius Adalbert Küttlinger Geburtsort: Erlangen Geburtsjahr: 1817 Ausbildung: Gymnasium Erlangen, Universität Erlangen, Göttingen, Würzburg Konfession: evangelisch 46. Fürth Dem Fürther ist eine gewisse nüchterne Umsicht und schnelle Fassungskraft nicht abzusprechen. Die Sache aber, der er sich widmen soll, muß eine praktische Seite haben. Das Abstrakte liebt er nicht, und seine erste Frage ist: „Wozu nützt es, was ist dabei zu verdienen? “ In der Regel lebhaften, meist sanguinischen Temperaments - das selbst das Gewerbe nicht leicht verändert -, ist er überall gerne dabei, führt gerne „das Wort“. Arbeitslust und Geschick zur Arbeit ist ihm zueigen, und ebenso hat er Sinn für Ordnung, wenn sie ihn in seinem Erwerb nicht stört. Hierdurch erklärt sich auch seine Liebe zu möglichst freier Bewegung, möglichst geringer Beschränkung sowie persönlicher Leistung. Begründeten Anordnungen fügt er sich willig, trotzt aber leicht und gerne aller auch nur scheinbaren Willkür. „Zeit ist Geld! “ gilt ihm, wie dem Amerikaner, als Axiom. Wie dieser hängt der Fürther an seiner Heimat. Mit dem Amerikaner zu vergleichen ist der Fürther überhaupt in vielen Dingen, die das soziale und politische sowie gewerbliche Leben betreffen. Eben wegen dieses durch die gewerblichen Verhältnisse und sozialen Umgang (mit Ideenaustausch verbunden) bedingten fast aus- Peter Fassl 356 schließlichen Hangs zu gesetzlicher, aber nicht polizeiwillkürlicher Ordnung wurde der Fürther schon häufig falscher Beurteilung unterzogen. H. Ott, Fürth zu Beginn des Industriezeitalters, 48. Berichterstatter: Dr. Adolf Mair Geburtsort: Bamberg Geburtsjahr: 1812 Ausbildung: Universität München Konfession: katholisch Die Lebenswelt eines kleinen Mannes Mikrohistorische Annäherungen an die Biographie des Fabrikarbeiters, Kapuziners und Laternenanzünders Jakob Gruber (1874-1954) Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm Der folgende Beitrag macht mit der Biographie eines Mannes bekannt, dessen Lebenswelt, versucht man sie zu resümieren, einerseits der Norm seiner sozialen Lage entsprach und andererseits einen doch nicht geringen Grad an Devianz aufwies. 1 Die Rede ist von Jakob Gruber, der 1874 in Steindorf geboren wurde, einem zwischen Mering und Egling an der Paar gelegenen altbayerischen Dorf, das damals zum Landgericht Bruck gehörte. 2 Sein Vater, der als uneheliches Kind 1834 geborene Franz Paul Gruber, verdingte sich nach seinen abgebrochenen Lehren zum Schuhmacher und Schneider als Ziegeleiarbeiter und später als Soldat in der bayerischen Armee. Als solcher focht er im deutschen Krieg 1866 sowie im deutschfranzösischen Krieg 1870/ 71, aus dem er merklich traumatisiert zurückkehrte. Der bald dem Alkoholismus verfallene Franz heiratete im April 1873 Aloisia - genannt Luise - Gaugenrieder aus Glöttweng bei Zusmarshausen, die bis dahin ihren Lebensunterhalt in einem jüdischen Haushalt in Kriegshaber bei Augsburg verdient hatte. Brachte Franz schon zwei uneheliche Kinder in die Ehe mit, so hatte auch Luise bereits eine außereheliche Tochter, die wohl aus einer Vergewaltigung hervorgegangen war. Jakob Gruber sollte das einzige Kind aus der Ehe seiner Eltern bleiben, welches das Erwachsenenalter erreichte. Die 13 Schwangerschaften seiner Mutter führten zu einem Abortus, zwei Totgeburten und acht lebend geborenen Kindern, die jedoch kaum über das zweite Lebensjahr hinauskamen. Auch Jakob Gruber, unser Hauptprotagonist, startete keineswegs gesund ins Leben. Die nach wenigen Lebensmonaten eintretende Rachitis führte zu einem lange Zeit verunstalteten Körper: zu einer großen Geschwulst am Bauch und zu stark zurückgebildeten und verkrümmten Füßen, die Jakob bis zum sechsten Lebensjahr kaum selbständig zu gehen erlaubten. Trotz der langsam einsetzenden Heilung blieb die physische Konstitution Jakobs lange Zeit prekär. Im Vergleich mit seinen Altersgenossen war er von sehr kleinem Wuchs und von vergleichsweise schwächlicher Konstitution. Selbst im Erwachsenenalter maß er nur etwa 1,50 Meter Körpergröße. Die ersten 1 Vgl. H ELGE P ETERS , Devianz und soziale Kontrolle. Eine Einführung in die Soziologie abweichenden Verhaltens, zweite Auflage, Weinheim / München 1995. 2 Vgl. zu den amtlich gewordenen Daten der Familie Gruber: Stadtarchiv Augsburg (Stadt AA), Bestand Meldekarten, Abgabe 1, Gruber, Jakob, 03.01.1874; StadtAA, Bestand Familienbögen, Gruber, Jakob, 03.01.1874. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 358 zehn Lebensjahre hatte Jakob mit seinen Eltern im bäuerlichen Steindorf gelebt, wo die Häusler-Familie - offensichtlich wegen der aus Schwaben stammenden Mutter Luise - eine systematische Ausgrenzung erfuhr. 1885 zogen die Grubers nach Augsburg. Dort fanden beide Eltern schon bald in der Spinnerei am Stadtbach Arbeit, einer der größten Baumwollfabriken im damaligen Deutschen Reich. 3 Als ein Jahr später der schwer lungen-, nerven- und alkoholkranke Vater starb, hob für den zwölfjährigen Jakob der Ernst des Berufslebens an - gleichfalls in der Stadtbachspinnerei, in der er die nächsten zehn Jahre einfache Hilfstätigkeiten verrichtete. Aber der junge Jakob, geprägt von einer streng katholischen Erziehung, fühlte sich zum klösterlichen Leben berufen. Ende 1896 trat er deshalb als Novize in das Kapuzinerkloster Laufen an der Salzach ein, wo er zwei Jahre später als einfacher Klosterbruder seine erste Profess ablegte. 4 Nach weiteren Stationen in den Kapuzinerklöstern in Rosenheim, München und Dillingen fasste Jakob 1899 - nolens volens - den Entschluss, dem Ordensleben wieder den Rücken zu kehren, um fortan ein weltliches Leben zu führen. Schon kurz nach seiner Rückkehr nach Augsburg trat er 1900 in eine Ehe ein, die ihm allerdings zeit seines Lebens unglücklich erschien, aus der gleichwohl drei Kinder hervorgingen. Beruflich schlug sich der nunmehrige Familienvater unter anderem als Schneider, als Spinnereiarbeiter und als Laternenanzünder in den Lechbezirken der Fuggerstadt durch. Bisweilen verdiente sich der mit einer lebhaften Einbildungskraft ausgestattete junge Mann zusätzliches Geld mit Gelegenheitsgedichten. 1. Die Quelle: „Der arme Jakob. Lebens-Biografie“ Diese literarisch-künstlerische Tätigkeit lenkt die Aufmerksamkeit auf die zentrale Quelle, die Auskunft über das Leben von Jakob Gruber gibt, nämlich dessen knapp 500seitige Autobiographie. Dieses handschriftlich erhaltene Ego-Dokument 5 hat der 3 Vgl. zur Baumwollspinnerei am Stadtbach I NEZ F LORSCHÜTZ , Architektur und Arbeit. Die Fabrik in der bayerischen Frühindustrialisierung 1840-1860, Berlin / Frankfurt a.M. 2000, 129-132; Baumwollspinnerei am Stadtbach (Hrsg.), Baumwollspinnerei am Stadtbach Augsburg. Bericht über die Gründung (1851) und den 50jährigen Betrieb (1853-1903), Augsburg 1904; J OSEF VON G RASSMANN , Die Entwicklung der Augsburger Industrie im neunzehnten Jahrhundert, Augsburg 1894, 41-97. 4 Vgl. die spärliche Überlieferung zum Leben Jakob Grubers als Kapuziner im Archiv der Provinz der Bayerischen Kapuziner, München. Vgl. zum Laufener Kapuzinerkloster, das als Noviziatskloster der bayerischen Kapuziner-Provinz diente A NGELIKUS E BERL , Geschichte der Bayrischen Kapuziner-Ordensprovinz (1593-1902), Freiburg i.Br. 1902, 751-754. 5 Vgl. W INFRIED S CHULZE , Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: DERS . (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 11-32. Vgl. zur Autobiographieforschung, derer sich verschiedene Wissenschaftsdisziplinen angenommen haben: G ÜN - Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 359 Abb. 1: Jakob Gruber als Laternenanzünder in Augsburg, zwischen 1923 und 1935 (Eva Owens) Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 360 Autor in 5 dem Zeitraum von Februar 1931 bis August 1932, also in einem zeitlichen Abstand zu den geschilderten Ereignissen von etwa drei Jahrzehnten, niedergeschrieben. 6 Schon allein das Vorhandensein dieser Quelle lässt den Fall Gruber außergewöhnlich erscheinen, entstammte dieser doch einer sozialen Lage, aus der sich nur sehr selten Autobiographien überliefert haben. 7 Mit gewisser Phantasie begabt und in seiner klösterlichen Sozialisation und Ausbildung weiter geschult, erwarb sich Gruber offensichtlich im Laufe seines Lebens eine gewisse Literarizität, auch wenn sie nicht bis zu einer künstlerischen Qualität reifte. 8 Obschon Grubers Autobiographie wegen ihrer oftmals vitalen Naivität den Eindruck großer Authentizität vermittelt, ist doch quellenkritische Vorsicht geboten. Der einfache, lebendige und von zahlreichen umgangssprachlich-dialektalen Einstreuungen geprägte Sprachstil, mit dem der Autor den Leser immer wieder unmittelbar adressiert, darf nicht 5 TER N IGGL (Hrsg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, zweite Auflage, Darmstadt 1998; W OLFGANG P AULSEN , Das Ich im Spiegel der Sprache. Autobiographisches Schreiben in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1991; M ICHALA H OLDENRIED , Autobiographie, Stuttgart 2000; M ARTINA W AGNER - E GELHAAF , Autobiographie, zweite Auflage, Stuttgart / Weimar 2005. Vgl. zur älteren Forschung zur Arbeiterautobiographie, die weitgehend marxistisch motiviert ist: W OLFGANG E MMERICH , Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, Bd. 1: Anfänge bis 1914, Reinbek b. Hamburg 1974; G E- ORG B OLLENBECK , Zur Theorie und Geschichte der frühen Arbeiterlebenserinnerungen, Kronberg 1976; P ETRA F RERICHS , Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung. Eine vergleichende Darstellung unter besonderer Berücksichtigung persönlichkeitstheoretischer und literaturwissenschaftlich-didaktischer Fragestellungen, Frankfurt a.M. 1980. Vgl. darüber hinaus J OHN B URNETT / D AVID M AYALL / D AVID V INCENT / (Hrsg.), The Autobiography of the Working Class. An Annotated Critical Bibliographiy, Bd. 1: 1770-1900, Brighton 1984; M ANFRED L ECHNER , P ETER W ILDING , Andere Biographien und ihre Quellen, in: Biographische Zugänge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien / Zürich 1992. 6 Dieser Reinschrift liegen wohl verschiedenste Aufzeichnungen zugrunde, die allerdings nicht überliefert sind. Die Autobiographie Jakob Grubers mit dem Titel „Der arme Jakob. Lebens- Biografie“ befindet sich als Leihgabe im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg (tim) mit der Inventarnummer 3216_L (künftig abgekürzt als „Der arme Jakob“). Die Autoren danken herzlich Frau Eva Owens, Augsburg, dass sie die Autobiographie der Forschung zur Verfügung gestellt hat. 7 Vgl. S IGRID P AUL , Arbeiterbiographien in Deutschland, Österreich, Polen und Schweden als Vorläufer mündlicher Geschichte, in: G ERHARD B OTZ / J OSEF W EIDENHOLZER (Hrsg.), Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte “geschichtsloser“ Sozialgruppen, Wien / Köln 1984, 85-108, hier 86-93. 8 Die Autobiographieforschung wird nach wie vor dominiert von der Literaturwissenschaft, die in den Autobiographien vor allem nach der ästhetisch-literarischen Dimension Ausschau hält. Vgl. N IGGL (Hrsg.), Autobiographie (wie Anm. 5); P AULSEN , Ich (wie Anm. 5); H OL- DENRIED , Autobiographie (wie Anm. 5); W AGNER -E GELHAAF , Autobiographie (wie Anm. 5). Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 361 über die vielfachen fiktionalen Momente der Autobiographie hinwegtäuschen, in der die narrative Anlage der Erzählung wiederholt über die historische Wahrheit oder auch nur über einzelne geschichtliche Details dominiert. Immer wieder unterbricht Gruber die chronologische Erzählstruktur mit assoziativen Einschüben wie z.B. selbst verfassten Gedichten, moralischen Sinnsprüchen oder predigtähnlichen Ermahnungen, in denen sich der Erzähler - jenseits der erzählten Zeit - direkt an den Leser wendet. Angereichert hat Gruber seine Autobiographie mit eingeklebten Karten, Bildern, Photographien und schließlich mit einer ganzen Reihe selbst gemalter Bilder, die illustrativ den Text veranschaulichen. Insgesamt betrachtet, kann das autobiographische Werk, das keiner eindeutigen literarischen Tradition folgt, am ehesten dem Kreis der religiösen Bekenntnisliteratur zugerechnet werden. 9 Inhaltlich zerfällt die Autobiographie in zwei Teile. Während sich der erste der Herkunft Grubers, seiner Kindheit, Schulzeit und seinen Arbeitsjahren in der Stadtbachspinnerei widmet, befasst sich der zweite ausführlich mit der Zeit des Erzählers im Kapuzinerorden. Das Faktum, dass Gruber überproportional viel Erzählraum seiner Klosterzeit widmet, verweist schon auf die christlich-religiöse Disposition und damit auf die Mentalität des Autobiographen, auf die später näher einzugehen sein wird. Obwohl der erst 1954 verstorbene Gruber eine Fortsetzung seiner Autobiographie im Sinn hatte, endet diese mit dem Eintritt in seine Ehe im Jahr 1900. 2. Die Methode: Mikrogeschichte und historische Anthropologie Welche Gründe den autobiographischen Erzähler Gruber zum Verfassen seines Werkes veranlasst haben - diese Frage führt zur Methodologie der vorliegenden Untersuchung, die - durch die Augen des erzählenden Autors geblickt -, ganz unterschiedliche Formationen historischer Realität seiner Zeit sichtbar zu machen versucht. Das Spektrum dieser geschichtlichen Wirklichkeit beinhaltet einerseits die Schilderung des Erzählers seiner Herkunftswelt, die den Sozialkosmos einer Häusler- und Arbeiterfamilie in teils eindringlicher Tiefenschärfe zeigt. 10 Die wohl noch reicheren Schichten historischer Realität eröffnen sich jedoch in der subjektiven Welt der Wahrnehmung des gesprächigen Erzählers, der im Alltag 9 Vgl. zum pietistischen Vorläufer der Bekenntnisliteratur: G ÜNTER N IGGL , Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1977, 6-14. 10 Vgl. I NGEBORG W EBER -K ELLERMANN , Die Arbeiterfamilie des 19. Jahrhunderts zwischen Dorftradition und Kleinbürgeridealen, in: Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung, U TZ J EGGLE (Hrsg.), Reinbek b. Hamburg 1986, 205-218. Vgl. allgemein A NDREAS G ESTRICH , Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, 5f., 11-17, 22-25. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 362 den durchwegs harten physischen und psychischen Bedingungen seiner Existenz stets deutend, interpretierend und auch tätig handelnd ein großes Quantum Sinn abgerungen hat. Diese Sinnstiftung stellt eine genuine Kulturleistung dar, die Grubers Autobiographie zu einem lohnenden Gegenstand für eine mikrohistorische Untersuchung macht. In dem hier gewählten Zugang der Mikrohistorie geht es nicht um eine Geschichte des Kleinen per se, sondern um eine Geschichte, wie sie sich erst der Betrachtung im kleinen Maßstab erschließt wie etwa die Lebenswelt Jakob Grubers. 11 Denn der mikrogeschichtliche Ansatz nimmt die Kleinheit des Untersuchungsgegenstandes - im vorliegenden Fall ein menschliches Individuum - nicht als Selbstzweck, sondern verbindet sie mit der methodischen Hoffnung, einerseits neue Erkenntnisse zu gewinnen und andererseits bereits etablierte Ansichten zu hinterfragen, zu ergänzen, zu modifizieren oder zu korrigieren. 12 Die Tragweite der mikrohistorisch gewonnenen Erkenntnis ist dabei mit Blick auf die Schnittstelle zur Makrogeschichte immer wieder zu überprüfen, wobei Teil und Ganzes in ihrem wechselseitigen Verhältnis je neu historiographisch zu gewichten sind. 13 Die historische Anthropologie empfiehlt sich als zusätzliche methodische Anregung, wenn - wie im Falle Grubers - die unmittelbare (politische) Zeitgebundenheit des Untersuchungsgegenstandes gegenüber längerfristigen historischen Prozessen wie etwa der Geschichte der Subjektivität bzw. Individualität in den Hintergrund tritt. 14 Sowohl 11 Vgl. E DOARDO G RENDI , Micro-analisi e storia sociale, in: Quaderni storici 35 (1977), 506- 520; O TTO U LBRICHT , Mikrogeschichte: Versuch einer Vorstellung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), 347-365; C ARLO G INZBURG / C ARLO P ONI , Was ist Mikrogeschichte? , in: Geschichtswerkstatt 6 (1985), 48-52; H ANS M EDICK / A LF L ÜDTKE (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M. / New York 1989; G IOVANNI L EVI , Microhistory, in: P ETER B URKE (Hrsg.), New Perspectives on Historical Writing, Cambridge 1991, 93-113; C ARLO G INZBURG , Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie 1 (1993), 169-192; H ANS M EDICK , Mikro-Historie, in: W INFRIED S CHULZE (Hrsg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, 40-53. 12 Vgl. U LBRICHT , Mikrogeschichte (wie Anm. 11), 353. 13 Vgl. W INFRIED S CHULZE , Mikrohistorie versus Makrohistorie? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: C HRISTIAN M EIER / J ÖRN R ÜSEN (Hrsg.), Historische Methode, München 1988, 319-341; C HRISTIAN M EIER , Notizen zum Verhältnis von Makro- und Mikrogeschichte, in: K ARL A CHAM / W INFRIED S CHULZE (Hrsg.), Teil und Ganzes, München 1990, 111-140; J ÜRGEN S CHLUMBOHM (Hrsg.), Mikrogeschichte, Makrogeschichte, komplementär oder inkommensurabel? , Göttingen 1998. 14 Vgl. H ANS S ÜSSMUTH (Hrsg.), Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984; D IETER G ROH , Anthropologische Dimensionen der Geschichte, Frankfurt a.M. 1992; G ERT D RESSEL , Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien 1996; E R- HARD C HVOJKA / R ICHARD VON D ÜLMEN / V ERA J UNG (Hrsg.), Neue Blicke. Historische Anthropologie in der Praxis, Wien / Köln / Weimar 1997; R ICHARD VAN D ÜLMEN , Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Wien / Köln / Weimar 2000; J AKOB T ANNER , Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004; A LOYS W INTERLING (Hrsg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 363 die Mikrogeschichte als auch die historische Anthropologie operieren mit einem semiotischen Kulturverständnis, wonach unter Kultur ein System von Bedeutungen zu verstehen ist, das die „gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit“ 15 überhaupt erst hervorbringt. 16 In drei Schritten nähert sich die vorliegende Untersuchung der Biographie Grubers an. Der erste Schritt bietet eine hermeneutisch unterfütterte Annäherung an die Sozialgeschichte des Arbeiters Jakob Gruber, der komplett durch das menschen- und blutleere Raster einer nur mit Strukturen, Prozessen und Modellen arbeitenden historischen Sozialforschung fiele, da er sich zu keinem Zeitpunkt als unterdrückter, ausgebeuteter oder vom proletarischen Klassenkampf beherrschter Arbeiter begreift. 17 In einem zweiten Schritt wird das von klösterlichen Ritualen zutiefst geprägte Leben unseres Protagonisten als Kapuzinerbruder in den Blick genommen, worin Jakob Gruber, der forthin Bruder Joseph hieß, eine völlig neue Identität annahm. Das von Gruber geschilderte Klosterleben mag prima vista wie ein Normalfall einer zeitgemäßen Frömmigkeitsgeschichte erscheinen, die allerdings gleichsam von unten erzählt wird. Gegen den Strich betrachtet bietet dieser Teil der Autobiographie jedoch eine ungemein reiche Quelle für eine unzeitgemäße Geschichte der Affektkontrolle und der sozialen Disziplinierung bzw. der Emotionen und des Gewissens. 18 Die dritte Annäherung an Grubers Biographie nimmt sodann 15 Vgl. P ETER L. B ERGER / T HOMAS L UCKMANN , Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, fünfte Auflage, Frankfurt a.M. 1989.. 16 Vgl. U TE D ANIEL , Clio unter Kulturschock: Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), 195-218, 259-278; D IES ., Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2006; T HOMAS M ERGEL / T HOMAS W ELSKOPP (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997; C HRISTOPH C ONRAD / M ARTINA K ESSEL (Hrsg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998. 17 Vgl. J OSEF M OOSER , Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970, Frankfurt a.M. 1984; K LAUS T ENFELDE , Die Geschichte der Arbeiter zwischen Strukturgeschichte und Alltagsgeschichte, in: W OLFGANG S CHIEDER / V OLKER S ELLIN (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, 4 Bde., Bd. 4, Göttingen 1987, 81-107. Vgl. allgemein J ÜRGEN K OCKA , Stand - Klasse - Organisation. Strukturen sozialer Ungleichheit in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Aufriß, in: H ANS -U LRICH W EHLER (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, 137-156. 18 Vgl. C LAUDIA B ENTHIEN / A NNE F LEIG / I NGRID K ASTEN (Hrsg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Wien / Köln / Weimar 2000; B IRGIT A SCHMANN (Hrsg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluß von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005; F RANK B ÖSCH / M ANUAL B ORUTTA (Hrsg.), Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2006. Vgl. zur Geschichte des Gewissens H EINZ D. K ITTSTEINER , Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M. / Leipzig 1991; H ENNING A NDERSEN , Odyssee des Gewissens. Die Entwicklung der freien Individualität Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 364 nochmals einen Wechsel der Perspektive vor. Denn sie durchleuchtet die Autobiographie des Erzählers auf all jene Momente historischer Alterität hin, wie sie zahlreich diesem von christlicher Mystik und Aszese tief geprägten Leben vertreten sind, das Gruber wiederholt am Rande einer psychischen Pathologie findet. Die Leitfrage muss hier lauten, wie diese Momente letztlich zu deuten sind. 3. Alltag und Lebenswelt des Textilarbeiters Jakob Gruber 19 Die bedeutendste soziale Gruppe im Leben Jakob Grubers stellte zweifelsohne die Familie dar, der neben Jakob der Vater Franz, die Mutter Luise und die Halbschwester Anna angehörten. 20 Auch wenn das familiäre Netzwerk weitere Verwandte umfasste, zeigt der Alltag der Grubers engere Kontakte nur noch zu den Großeltern. Diese unterstützten die Eltern unter anderem in der den Kleinkindern geltenden Versorgung, die zeittypisch von materiellem Mangel und wenig kindgerechter Fürsorge geprägt war. 21 Jakobs außerehelich geborene Halbschwester Anna, die anfangs von den Großeltern mütterlicherseits aufgezogen wurde, erfuhr von von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992; S TEFAN H ÜBSCH , Philosophie und Gewissen. Beiträge zur Rehabilitierung des philosophischen Gewissensbegriffs, Göttingen 1995. 19 Vgl. allgemein G ERHARD A. R ITTER (Hrsg.), Arbeiterkultur, Königstein 1979; J ÜRGEN K OCKA (Hrsg.), Arbeiterkultur im 19. Jahrhundert, Göttingen 1979; D IETER L ANGEWIE- SCHE / K LAUS S CHÖNHOVEN , Zur Lebensweise von Arbeitern in Deutschland im Zeitalter der Industrialisierung, in: D IES . (Hrsg.), Arbeiter in Deutschland. Studien zur Lebensweise der Arbeiterschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Paderborn 1981, 7-33; D IETER L AN- GEWIESCHE , Arbeiterkultur. Kultur der Arbeiterbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Bemerkungen zum Forschungsstand, in: Ergebnisse 26 (1984) 9-29; L UD- GER H EID / J ULIUS S CHOEPS (Hrsg.), Arbeit und Alltag im Revier. Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im westlichen Ruhrgebiet im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Duisburg 1985; D IETER K RAMER , Theorien zur historischen Arbeiterkultur, Marburg 1987; D AGMAR K IFT (Hrsg.), Kirmes, Kneipe, Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Komerz und Kontrolle (1850-1914), Paderborn 1992. Vgl. auch A LF L ÜDTKE , Alltagswirklichkeit, Lebensweise und Bedürfnisartikulation. Ein Arbeitsprogramm zu den Bedingungen ‚proletarischen Bewußtseins’ in der Entfaltung der Fabrikindustrie, in: H ANS G EORG B ACK- HAUS / G. B RANDT / G. D IEL / R EINHOLD Z ECH / A LF L ÜDTKE (Hrsg), Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, 14 Bde., Bd. 11, Frankfurt a.M. 1978, 311-350; J ÜRGEN R EULE- CKE (Hrsg.), Fabrik, Familie, Feierabend. Zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978; W OLFGANG K ASCHUBA , Volkskultur und Arbeiterkultur als symbolische Ordnungen. Einige volkskundliche Anmerkungen zur Debatte um Alltags- und Kulturgeschichte, in: A LF L ÜDTKE (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M. / New York 1989, 191-223. 20 Vgl. allgemein A NDREAS G ESTRICH , Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, 5f., 11-17, 22-25. 21 Vgl. G ERHARD R ITTER / K LAUS T ENFELDE , Arbeiter im Deutschen Kaiserreich. 1871 bis 1917, Bonn 1992, 539-647. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 365 Letzteren, so der Autobiograph, keine rechte Pflege. 22 Anna erhielt vielmehr Schlaftrunk zu trinken u. [da] wurde die Kleine […] halt ein bisl blöd, der Morphiumgehalt schadete ihr. 23 Die unzulängliche Ernährung der Kinder wie der Erwachsenen 24 und die unhygienischen Wohnverhältnisse waren jedoch nicht allein dem geringen Familieneinkommen geschuldet, sondern resultierten vielmehr aus binnenfamiliärer Misswirtschaft. Dazu gesellte sich das zeittypische fehlende Wissen um angemessene Kinderversorgung und gesunde Lebensführung. 25 Zusätzlich belastete den jungen Jakob eine Rachitiserkrankung, die in jener Zeit häufig auf eine Mangelernährung zurückzuführen ist. 26 Die infolge der Rachitis deformierte Anatomie seines Körpers schränkte Gruber bis ins sechste Lebensjahr sehr stark in seiner Bewegungsfreiheit ein. Nachdem die Konsultation verschiedener Ärzte jedoch keine Heilung von der „englischen Krankheit“ erbrachte, sorgte nach Ansicht Grubers nicht die Medizin, sondern eine Wallfahrt letztlich für die Genesung von dem schweren Leiden. Mit sieben Jahren, am 16. September 1881, wurde Gruber in der Augsburger Schule bei St. Maximilian eingeschult. Neben der elterlichen prägte von nun an die schulische Erziehung durch die Lehrer den jungen Jakob. Wie zuhause dominierte auch im Klassenzimmer eine harte Disziplin, die für gewöhnlich mit Bestrafung - meist körperlicher Gewalt - sanktioniert wurde: 27 Mir war jeden Tag Todesangst, wie es mir heut wieder in der Schule gehe ob ich wieder Schläge bekomme, ich wäre lieber gestorben, ich saß in tausend Ängsten in der Bank drin. 28 Inhaltliche Lernziele standen hinter der Vermittlung traditioneller Moral- und Ordnungsvorstellungen zurück. 29 22 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 46. 23 Ebd. 24 Vgl. allgemein E DITH H EISCHKEL -A RTELT (Hrsg.), Ernährung und Ernährungslehre im 19. Jahrhundert, Göttingen 1976; G ÜNTER W IEGELMANN , Tendenzen kulturellen Wandels in der Volksnahrung des 19. Jahrhunderts, in: L ANGEWIESCHE / S CHÖNHOVEN , Arbeiter (wie Anm. 19), 173-181, H ANS J. T EUTEBERG , Die Nahrung der sozialen Unterschichten im späten 19. Jahrhundert, ebd., 182-186. 25 Vgl. zu den hohen Mortalitätsraten unter Kleinkindern in Augsburg K ARL M ARTINI , Zur Lage der Augsburger Fabrikarbeiter, Augsburg 1902, 50; I LSE F ISCHER , Industrialisierung sozialer Konflikt und politische Willensbildung in der Stadtgemeinde. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte Augsburgs 1840-1914, Augsburg 1977, 112. 26 Vgl. zur zeitgenössischen Auffassung der Rachitis: M. F IEBIG , Rachitis als eine auf Alkoholisation und Produktionserschöpfung beruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen, Jena 1907. 27 Vgl. G ISELA F ELHOFER , Die Produktion des disziplinierten Menschen, Wien 1987, die Disziplinierungsprozesse in Klöstern, beim Militär, in Arbeits-, Zucht-, Waisenhäuser, Manufakturen, Fabriken, Gefängnissen, Industrie- und Armenschulen sowie Kleinkinderbewahranstalten untersucht. 28 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 124. 29 Vgl. B RUNO S CHONIG (Hrsg.), Arbeiterkindheit. Kindheit und Schulzeit in Arbeiterlebenserinnerungen, Bensheim 1979; M ARTIN N IEßELER , Das Augsburger Elementarschulwesen (1750-1850), in: R AINER A. M ÜLLER / M ICHAEL H ENKER (Hrsg.), Aufbruch ins Industrie- Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 366 So bereitete die Schule Jakob Gruber zumindest darauf vor, sich weiterhin unterzuordnen, was geradezu als dessen beherrschendes Lebensthema gesehen werden kann. In allen sozialen Gruppen, denen Gruber zugehörte, sei es in der Familie, Schule, Fabrik oder im Kloster, herrschten ein streng hierarchisches Ordnungssystem und ein nahezu selbstverständlich anmutender Gebrauch physischer Gewalt. Als brutal erlebte Gruber die Übergriffe des alkoholabhängigen Vaters, der sich vor allem im betrunkenen Zustand rücksichtslos gegenüber seiner Familie benahm. 30 Neben seiner gewalttätigen Art, einhergehend mit einer emotionalen Entkoppelung von den anderen Familienmitgliedern, stellte Vater Franz auch eine finanzielle Belastung für den Rest der Familie dar. Auch wenn er als die unumstrittene Autoritätsperson innerhalb der Familie galt und traditionell als deren Repräsentant in der Öffentlichkeit fungierte - auch wenn sich diese Öffentlichkeit häufig auf das Wirtshaus beschränkte -, zeigte er sich nicht mehr in der Lage, seiner Rolle als Ernährer der Familie gerecht zu werden. Der hohe Alkoholkonsum führte dazu, dass die Mutter mit ihrem weitaus geringeren Frauenlohn aus der Spinnerei für die Lebenshaltung der Familie aufkommen musste: [D]afür sorgte der Franz besser für seine Gurgl u. da mußte der Mutter Luise ihr Lohn oft noch dafür einstehen um Bierschulden beim Fabrikwirt zu zahlen. 31 Luise verzehrte sich in der Doppelfunktion als Spinnereiarbeiterin und Mutter, der wiederum der familiäre Haushalt oblag. Jakob schildert die Person der Mutter durchweg positiv, die er zeit seines Lebens verehrte und die ihm zeitalter. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns 1750-1850, 4 Bde., Bd. 2, München 1985, 578-583; A LBERT R EBLE / C ORNELIA J ULIUS / W OLFGANG S ACHßE , Schule und Industrialisierung, in: G ERHARD B OTT (Hrsg.), Leben und Arbeiten im Industriezeitalter. Eine Ausstellung zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns seit 1850, Stuttgart 1985, 151-155. 30 Vgl. zum Thema Alkoholismus J AMES S. R OBERTS , Drink and Industrial Work Discipline in 19 th -Century Germany, in: Journal of Social History 15 (1981), 25-38; DERS ., Drink, Temperance and the Working-Class in Nineteenth-Century Germany, Boston / London 1984; H ARTMANN W UNDERER , Alkoholismus und Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), 141-144; M ICHAEL G RÜTTNER , Alkoholismus in der Arbeiterschaft 1871-1939, in: T ONI P IERENKEMPER (Hrsg.), Haushalt und Verbrauch in historischer Perspektive. Zum Wandel des privaten Verbrauchs in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1987, 229-273; M ANFRED H ÜBNER , Zwischen Alkohol und Abstinenz: Trinksitten und Alkoholfrage im deutschen Proletariat bis 1914, Berlin 1988; S ABINE S CHALLER , Familie, Geschlecht, Alkoholismus. Geschlechtsspezifische Ausdeutungen und der Blick auf die Familien (1880-1930), in: E VA L ABOUVIE (Hrsg.), Familienbande, Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft, Wien / Köln / Weimar 2007, 213-238; H EINRICH T APPE , Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur. Alkoholproduktion, Trinkverhalten und Temperenzbewegung in Deutschland vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1994; H ASSO S PODE , Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland, Opladen 1993. 31 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 62. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 367 aufgrund der häuslichen Gewalt sogar als Martyrin 32 erschien. In der autobiographischen Rückschau befiel Jakob Scham über die Behandlung der Mutter durch den Vater: Zudem kann ich nicht alles erzählen, sie litt viel mehr als ich sah, u. sie mir sagte, u. dazu war Franz noch grob u. mißhandelte sie noch wenn ihr im größten Schmerz u. Not ein bisl unfreundliches Wörtl oder Tadel entschlüpfte, oder sie empfing ihn nicht sofort zärtlich lächelnd oder wenn sie ein ernstes oder bisl unfreundliches Gesicht machte, oder ihn nicht sofort grüßte wenn er im Rausch heimkam, dann konnte er sagen: Ists dir recht oder nicht recht, dann wenn Mutter Luise nicht sofort Antwort gab, dann nahm er Hut u. Stock u. stieß Mutter Luise beiseite u. ging zum Saufen. 33 Einerseits stand die Mutter in der familiären Hierarchie weit unterhalb ihres Mannes, andererseits war sie die Schlüsselfigur im Familiengefüge, indem sie durch ihre Tätigkeit in Haushalt und Fabrik das Auskommen der Grubers sicherte. Das Faktum, dass zur unehelichen Tochter bei Luise in 13 Ehejahren 13 Schwangerschaften hinzukamen, wobei nur ein Kind, Jakob, erwachsen werden sollte, bedeutete für die Mutter unzweifelhaft eine enorme physische wie psychische Belastung. 34 So paradox es klingt: nur die Arbeit in der Fabrik bot für Luise ein kleines Stück Freiheit, auch wenn diese durch hohe Belastung und schlechte Arbeitsbedingungen teuer erkauft war. Die geregelten Pausen in der Stadtbachspinnerei bildeten die einzigen Ruhephasen im gesamten Tagesablauf. Trotz der geringen Bezahlung darf man der Fabrikarbeit der Frauen, wie sie in den Spinnereien üblich war, eine gewisse emanzipatorische Funktion nicht absprechen. Die Verwaltung des eigenen Haushaltsbudgets durch Luise ist gleichfalls als ein Zeichen für die emanzipatorische Entwicklung innerhalb der Familie zu bewerten. Dadurch erlangte die Mutter ein Minimum an Autonomie, das auch ihre Autorität als Hausfrau und Mutter stärkte. Mit diesem funktionalen Übergewicht innerhalb des Familiengefüges relativierte die Mutter die Autorität des patriarchalen Vaters zu einem gewissen Teil, was eine - wenngleich langsame - Verlagerung der klassischen Rollenverteilung bedeutete. Dass Luise nach dem Tod ihres Mannes wie selbstverständlich die Funktion des Familienoberhauptes übernahm, in der sie neben der Ernährung der Familie auch mit dem Vermieter und Arbeitgeber verhandelte, belegt diese Vermutung zusätzlich. Trotz anfänglicher Zweifel wegen der künftigen Versorgungslage, die wie auch die Repräsentation der Familie nun ohne den Vater bestritten werden musste, wandelte sich die familiäre Lage der Grubers sowohl ökonomisch als auch emotional zum Positiven. Da der Posten für den väterlichen Alkoholkonsum nun aus dem Haus- 32 Ebd. 33 Ebd.; vgl. zu dem in Arbeiterautobiographien wiederholt vorkommenden Motiv der misshandelten Mutter gegenüber dem gewalttätigen Vater C ECILIA A. T RUNZ , Die Autobiographien von deutschen Industriearbeitern, Diss. Freiburg 1934, 212f. 34 Vgl. R OBERT P. N EUMANN , Geburtenkontrolle der Arbeiterklasse im Wilhelminischen Deutschland, in: L ANGEWIESCHE / S CHÖNHOVEN , Arbeiter (wie Anm. 19), 187-205. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 368 haltsbudget wegfiel, konnte die Familie Gruber ihren Lebensstandard steigern. 35 Sonntägliche Kaffeehausbesuche, Theatervorstellungen, die Aufmöblierung der Wohnung und eine fortan ausreichende Nahrungsversorgung können hierfür als Indikatoren genannt werden. Zu beachten ist allerdings, dass der zwölfjährige Jakob betreffs großer Not 36 aus der regulären Schule entlassen wurde und von nun an die Fabrikschule der Stadtbachspinnerei besuchte. Bis zum Ende seines 16. Lebensjahres verbrachte Jakob die eine Hälfte des Tages in der Schule und die andere zu Hilfstätigkeiten in der Fabrik. 37 In der Baumwollspinnerei am Stadtbach arbeitete er zunächst als Aufstecker, später als Aufsetzer. Der Arbeitsrhythmus wie die Arbeitszeiten in der Stadtbachspinnerei glichen denen anderer Textilfabriken Bayerns und auch des übrigen Deutschen Reichs. 38 Nach dem Kaffeefrühstück ging es in die nahe Fabrik, in der um sechs Uhr die Maschinen anliefen. Bis zur Mittagspause, die von zwölf bis 13.00 Uhr dauerte, wurde der Vormittag nur von einer Pause unterbrochen. Der als besonders beschwerlich erlebte Nachmittag konnte im Sommer auch bis 20.00 Uhr dauern, wobei lediglich eine halbstündige Nachmittagsbrotzeit eine kurze Erholung versprach. Zwölfbis 13stündige Arbeitstage bildeten die Normalität. Die Fabrikglocke regelte den Tagesrhythmus, wobei sich in der Werkswohnung private Bereiche mit dem Arbeitsplatz verschränkten. Neben den langen Arbeitszeiten bedeutete vor allem die geforderte Schnelligkeit der Tätigkeiten, verbunden mit körperlichen Zwangshaltungen und ermüdender Monotonie, eine große Belastung für die Arbeitnehmer. Dazu kamen gesundheitliche Gefahren und Schädigungen, die durch die offene Mechanik von Maschinen und Transmissionen, durch Lärm, Staub, Erschütterungen und hohe Luftfeuchtigkeit hervorgerufen wurden. 39 Gruber rekapitu- 35 Siehe zu den durchschnittlichen Aufwendungen für Alkohol im Arbeiterhaushalt E LISABETH P LÖßL , Augsburg auf dem Weg ins Industriezeitalter, München 1985, 63; S PODE , Macht (wie Anm. 30), 248; R ITTER / T ENFELDE , Arbeiter (wie Anm. 21) 510-516, 664. 36 Der arme Jakob (wie Anm. 6) 140. 37 Noch im Jahre 1900 waren 9,4% der Belegschaft der Baumwollspinnerei am Stadtbach Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren. Die Quote für alle Augsburger Textilbetriebe lag bei 6,7%. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nahm die Zahl der jugendlichen Beschäftigten weiter zu. Vgl. F RANZ -A UGUST D ÜLL , Der Betriebsschutz in der Augsburger Textil-Industrie. Eine Untersuchung über dessen Auswirkungen in volkswirtschaftlicher und sozialer Bedeutung, Würzburg 1927, 33-34. Siehe zu den Fabrikschulen in Augsburg F I- SCHER , Industrialisierung (wie Anm. 25), 146. 38 Vgl. ebd., 132-135; P ETER B ORSCHEID , Textilarbeiterschaft in der Industrialisierung. Soziale Lage und Mobilität in Württemberg (19. Jahrhundert), Stuttgart 1978, 368-370; R ITTER / T ENFELDE , Arbeiter (wie Anm. 21), 354-371. 39 Vgl. M ARLENE E LLERKAMP , Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht. Zu den sozialen Kosten der Industrialisierung. Bremer Textilarbeiterinnen 1870-1914, Göttingen 1991, 90- 96; D ÜLL , Betriebsschutz (wie Anm. 37), 40. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 369 lierte seinen ersten Eindruck von der Fabrik folgendermaßen: Ich trat langsam ein. Ein arges Maschinengerassel tönte mir entgegen, ich hörte kaum mit meinen Ohren. 40 Neben diesen physisch anstrengenden Arbeitsbedingungen war es die in der Fabrikordnung geregelte und in der Realität streng überwachte Disziplin, die eine reibungslose Arbeitsleistung des Personals gewährleisten sollte. Innerhalb der Fabrik wachten die Meister über die Einhaltung der Disziplin. Dabei vertraten nicht nur die Saal- und Werkmeister, sondern auch die einfachen Meister oder Spinner eine strenge Hierarchieordnung, die ihre Autorität gegenüber Untergeordneten wie Jakob Gruber rigide durchsetzten - dies nicht nur mittels verbaler Ermahnungen, sondern auch durch körperliche Strafen. So berichtet Jakob einmal über den Spinner, dem er zugeordnet war: Am 1. 2. 3. 4. 5. Tag machte der Spinner Anton Kiefer der auch in der Kolonie wohnte mir keine Vorwürfe, später jedoch packte er mich manchmal bei dem Gnack oder bei den Ohren obwohl ich nichts dafür konnte, weil ich mit dem Schemmel ausrutschte auf dem arg öhligen Boden. Ich weinte dan halt dann still für mich hin, der Lipert Bube lachte dann mich aus, flößte mir Mut u. Trost zu. 41 Obwohl auch die Stadtbachspinnerei, die wie alle Textilbetriebe jener Zeit einen hohen Frauenanteil in ihrer Belegschaft aufwies, 42 eine strikte Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz verfolgte, ließ sich im betrieblichen Alltag eine Kontaktaufnahme zwischen Männern und Frauen kaum verhindern. Gruber genoss die in diesem kleinen Freiraum möglich gewordenen Momente des sozialen Umgangs mit jungen Frauen. Seine lebensgeschichtlichen Ausführungen verraten jedenfalls ein gesteigertes Interesse am weiblichen Geschlecht, das ihn nach seinem Klostereintritt im Alter von 23 Jahren vor erhebliche Probleme stellen sollte. Jakob, dem sein Arbeitszeugnis bescheinigte, ein fleißiger, treuer Arbeiter 43 gewesen zu sein, gehörte bis zu seinem Klostereintritt 1896 bereits 10 Jahre der Belegschaft der Stadtbachspinnerei an, was für den Sektor der Textilindustrie mit deren hohen Fluktuationsraten eine enorme Zeitspanne darstellte. 44 Seine zur Liebe stilisierte Bindung an sein Fabrikquartier, an die treue kleine Stadt, die er als Heimat verstand, verklärte Gruber ex post sogar poetisch: O! Du Stadtbach Kolonie / Preis 40 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 161. 41 Ebd., 162. 42 Karl Martini gibt die Zahl der weiblichen Arbeiter in der Augsburger Textilindustrie für 1901 mit 8038 an. Bei einer Gesamtzahl von 14120 Textilarbeitern ergibt dies einen Anteil von 56,9%. In der Baumwollverarbeitung lag der Frauenanteil teilweise bei mehr als zwei Drittel der Belegschaft. Vgl. M ARTINI , Lage (wie Anm. 25), 3. Düll gibt für das Jahr 1900 eine Frauenquote von 56,2% in der Augsburger Textilindustrie an. Dieses Übergewicht an Frauen in den Belegschaften wuchs bis 1924 auf 63,89%. Vgl. D ÜLL , Betriebsschutz (wie Anm. 37), 28-30. 43 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 195. 44 Vgl. G RASSMANN , Entwicklung (wie Anm. 3), 176; Jahresbericht der Handelkammer 1909, 4-5, zitiert nach F ISCHER , Industrialisierung (wie Anm. 25), 130. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 370 dich als das Paradies / Meine Sehnsucht, Reue sieh / Ich dich tausendmale grüß! 45 Diese ungemein positive Würdigung der an der Stadtbachkolonie festgemachten Lebenswirklichkeit, die den harten Fabrikalltag als Spinnereihilfsarbeiter mit einschloss, erhellt vor dem Hintergrund von Grubers früherer Lebensgeschichte. Denn die hohe Wertschätzung seines - wenngleich überschaubaren - urbanen Fabriklebens in der Stadtbachspinnerei definiert sich im Kontrast zum kärglichen und konfliktreichen Häuslerdasein im bäuerlichen Milieu seines Geburtsorts Steindorf. Die Fabrikexistenz bot zudem eine gewisse soziale Absicherung mittels eines von Unternehmerseite eingerichteten Wohlfahrtsystems, das Lebenskrisen besser zu bestehen half. Dieses System umfasste die Wohnung in der Werkskolonie, den gemeinsamen Konsumverein, die Fabrikkranken- und Sparkasse, einen Unterstützungs- und Pensionsfonds sowie Hilfszahlungen für Witwen, Waisen und alte Menschen. 46 Die Geschichte der Familie Gruber zeigt nicht zuletzt, dass die unternehmerische Fürsorge - ganz nach der Intention des Arbeitgebers - zu einer gefestigten Bindung der Arbeiterschaft an den Betrieb führte. In der Rückschau Jakob Grubers drückte sich diese Bindung als Loyalität der Fabrik gegenüber aus. Politische Forderungen oder Sympathie für die (freien) Gewerkschaften oder gar die Sozialdemokratie hegte unterdessen keines der Gruber’schen Familienmitglieder. Nur in einer einzigen Passage, in der es um die Reduktion der Arbeitszeit geht, würdigt Gruber die Politik der Sozialdemokratie, die sich für den aus katholischer Warte so wichtigen arbeitsfreien Sonntag eingesetzt hatte: In diesem Stück muß ich die Sozialdemokratische Partei loben, daß sie dieses in Kraft durchsezte! Jetzt ist man doch auch wieder ein Mensch u. kein Arbeitstier mehr u. der Sontag ist wieder Sontag für den Menschen, für den Arbeitsmenschen. 47 Ansonsten lässt sich bei Gruber - typischer oder untypischer Weise? - kein gesteigertes Bewusstsein um die eigene soziale Klasse der lohnabhängigen Arbeiterschaft feststellen. Trotz des überschwänglichen Lobs für die Stadtbachkolonie bildete nicht das Sozialgefüge des Betriebs oder der Wohnkolonie den wichtigsten Ort für Grubers Vergesellschaftung. Neben der Familie strukturierten nämlich zuallererst die katholische Kirche, die Pfarrgemeinde und der darin praktizierte Glaube den Familienalltag, sorgten für Orientierung und stifteten Sinn. Trotz der oft 13stündigen Arbeitstage führte der erste Gang des Tages die Grubers zur Arbeitermesse in die Kirche des Augsburger Kapuzinerklosters St. Sebastian. 48 Der liturgische Kalender 45 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 89. 46 Siehe zu den Wohlfahrtseinrichtungen B AUMWOLLSPINNEREI AM S TADTBACH , Bericht (wie Anm. 3), 36f. 47 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 117. 48 Vgl. J OHANNA S CHMID , Augsburg St. Sebastian, zweite Auflage, Regensburg 2001. Eine Geschichte der Pfarrei St. Sebastian liegt nicht vor. Vgl. als Anregung P ETER F ASSL , Die Errichtung der Arbeiterpfarrei St. Josef in Augsburg, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 16 (1982), 224-267. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 371 Abb. 2: Einkleidung von Bruder Joseph (Jakob Gruber) im Kapuzinerkloster Laufen an der Salzach am 2. Februar 1897 (tim, 3216_L, 250) mit all seinen Kirchenfesten prägte nicht nur äußerlich den Rhythmus des Jahres, sondern bestimmte geradezu intrinsisch das Zeitdenken Jakobs - eine Erfahrung, die sich im späteren Klosterleben mit all seinen Stundengebeten noch weiter vertiefen sollte. So ist es kein Zufall, dass Gruber sogar seine Autobiographie teilweise am liturgischen Festkalender entlang schrieb. Neben den Kirchgängen gehörten insbesondere die Wallfahrten, die neben ihrer religiösen Dimension immer auch Geselligkeit ermöglichten, zu den Gelegenheiten, die einen außeralltäglichen Kontra- oder Fluchtpunkt zu dem harten Alltag boten. Die Kirche fungierte als „lebensweltliches Ordnungssystem“, 49 das sich sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Gruppe als stabilisierender Faktor auswirkte. Die soziale und sinnstiftende Funktion dieses Ordnungssystems offenbarte ihre Kraft besonders in den verschiedenen biographischen Übergangsphasen und darüber hinaus in der Bewältigung von Krisensituationen wie Krankheit oder Tod. Grubers kirchlich orientierte Lebensgestaltung, seine enge Einbindung in die Pfarrgemeinde und seine starke Neigung zu einer praktischen Frömmigkeit, die er vor allem als Mitglied in der bei den Augsburger 49 W OLFGANG K ASCHUBA , Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, 78. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 372 Kapuzinern angesiedelten Laienorganisation des Dritten Ordens vielfach erproben konnte, machten ein reguliertes Ordensleben als biographische Alternative attraktiv. 50 4. Jakob Grubers Klosterleben im ausgehenden 19. Jahrhundert Mit dem Eintritt in den Kapuzinerorden nahm für Jakob Gruber die zweite prägende Lebensphase ihren Anfang. Die Bedeutung dieses Lebensabschnitts hebt die Tatsache hervor, dass der Autobiograph auf die nur zweieinhalb Jahre währende Phase seines Klosterlebens weit ausführlicher eingeht als auf die zehn Jahre dauernde Beschäftigung als Fabrikarbeiter. Gruber war in Augsburg durch das Kloster St. Sebastian, das ein zentraler sozialer wie religiöser Anlaufpunkt seiner Familie gewesen war, mit dem Kapuzinerorden und dadurch mit kapuzinischer bzw. franziskanischer Spiritualität in Kontakt gekommen. 51 Aus diesem Kontakt erwuchs der Wunsch, ins Kloster einzutreten, was Jakob im Dezember 1896 im Kapuzinerkloster in Laufen an der Salzach verwirklichte, das als Noviziatskloster für die bayerische Kapuzinerprovinz fungierte. Die Autobiographie Grubers lässt keinen Zweifel daran, dass sich Jakob zum geistlichen Leben berufen fühlte. Er schildert äußerst detailreich den Eintritt in den Orden als bedeutenden Passageritus: die Ablegung der alten Kleider, die Einkleidung mit dem neuen Gewand, die Ablegung des alten Namens Jakob, die Zuteilung „Josefs“ als Ordensnamens. 52 All diese symbolischen Handlungen bedeuteten für Gruber offensichtlich ein hohes Sozialprestige, das ihn gegenüber der säkularen Welt abhob. Gruber, seit seiner Kindheit in ausgeprägter Subordination eingeübt, stieß sich an keinem Tag seines Ordenslebens grundlegend daran, dass er ganz unten in 50 Vgl. E GID B ÖRNER , Orden und Bruderschaften der Franziskaner in Kurbayern, Werl/ Westfalen 1988; A LFONS M ARIA B RANDL , Der Dritte Orden in Bayern. Statistische Orientierung über den Dritten Orden des heiligen Franziskus in Bayern, Altötting 1915; A RNULF G ÖTZ , Geschichte des Dritten Ordens des Heiligen Franziskus, Altötting 1956. 51 Das 2006 aufgelöste Kloster St. Sebastian wurde vom Werksgelände der Maschinenfabrik Augsburg, der späteren MAN, umschlossen. Die unmittelbare Nähe zur Maschinenfabrik, der Papierfabrik Haindl, der Stadtbachspinnerei, der Stadtbachkolonie und der Sebastiankolonie machte die Klosterkirche zum zentralen Anlaufpunkt für Arbeiter. Siehe zu St. Sebastian und den Kapuzinern in Augsburg D OMINIK D ORFNER , Die Kapuziner im Bistum Augsburg, in: M ANFRED W EITLAUFF (Hrsg.), Das Bistum Augsburg im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Von der Säkularisation (1802/ 03) bis zum Bayerischen Konkordat (1924/ 25), Augsburg 2008, 701-738, hier 730-734. 52 Siehe zur Bedeutung der Ankleidung und Umbenennung als Trennungs-, Schwellen- und Angliederungsrituale A RNOLD VAN G ENNEP , Übergangsriten, Frankfurt a.M. / New York 2005. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 373 der Klosterhierarchie angesiedelt war und blieb. Gleichwohl registrierte er sehr sensibel die Sanktionen, Bestrafungen oder auch nur die Antipathien von Mitbrüdern, die den wunderlichen Gruber immer wieder schnitten, letztlich aber auch seine Selbstwahrnehmung prägten und damit sein markantes Selbstbild beförderten. Zur Arbeit wurde er zunächst in der Waschküche, zu Putzaufgaben und zu Hilfsdiensten in der Küche eingesetzt. Schließlich erlernte er das Schneiderhandwerk, wozu er jedoch nach eigener Einschätzung nicht sonderlich begabt war. Gruber fesselten weniger die profanen Arbeiten, die er tat als Liebe zur Demut, 53 sondern die christlich-klösterlichen Rituale des Kapuzinerordens, die den Tages- und Jahresablauf zutiefst strukturierten und prägten. Da der Autobiograph von diesen Ritualen nicht aus einer theologischen, sondern aus einer Alltagsperspektive heraus berichtet, geraten die teils minutiösen Schilderungen zu einem eindringlichen Dokument für ein reguliertes Klosterleben im Ausgang des 19. Jahrhunderts. 54 Der geistliche Gehalt der regelmäßigen Stundenbzw. Chorgebete wie auch der theologischen Unterweisungen tritt dabei in den Hintergrund gegenüber der eminent physischen Dimension all der liturgisch-klösterlichen Praktiken. Gruber berichtet fasziniert von den Demuts- und Bußübungen, die dem mönchischen Leben Rhythmus und Takt verliehen: 55 ob man beim Eintritt in die Zelle des Guardian auf die Knie fiel und den Boden küsste, ob man im Chor der Klosterkirche dem Altar zugewandt einen Bodenkuss vollführte, ob man im Refektorium den Boden zu küssen hatte oder dort kniend mit ausgestreckten Armen betete, ob man in der Fastenzeit kniend Wasser und Brot zu sich nahm, ob man sich im liturgischen Akt ganz auf den Boden legte, ob man das Haupt oder den Oberkörper zur Verehrung dem Oberen gegenüber verneigte, ob man sich mit niedergeschlagenen Augen und gesenkten Blickes verhielt, ob man den Bruderkuss verabreichte oder einfach nur im tiefsten Schweigen zum Chorgebet schritt. Spezielle Klopf- oder Klatschzeichen stimmten die Litaneien an. Verschiedenste Klopfzeichen strukturierten geradezu das ganze Klosterleben, wie Gruber berichtet: so wurden uns die Klopfschläge instruiert, der Takt gelernt. 56 76 Vaterunser zu beten, bildete das normale Quantum einer Gebetseinheit, erweitert oft durch andere anlassbezogene Gebete wie etwa 76 Ave Maria etc. Zu den exzeptionellen Bußübungen gehörten die dreimal die Woche stattfindenden Selbstgeißelungen sowie das Tragen eines Bußgürtels - Frömmigkeitsprak- 53 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 234. 54 Vgl. als zeitgleiche normative Quelle E NGELBERT M ARIA VON S CHEYERN , Geistliche Schule zur Unterweisung im seraph[ischen]. Leben für die Brüder des Kapuzinerordens, zweite Auflage, Altötting 1930 [Erstauflage 1906]. 55 Vgl. zur langen Tradition dieser Bußpraktiken P IUS W ILHELM H EGEMANN , Die Exerzitienbücher der westdeutschen Kapuziner des 17. und 18. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur ignatianischen und franziskanischen Spiritualität, o.O. 1957. 56 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 388. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 374 tiken, die ihrem Ursprung nach weit ins Mittelalter zurückreichten. 57 Als ich da nach einer Weile in der Küche arbeitete, hörte ich vom Refektorium heraus ein Patschen u. ein Rasseln, wie das brennen eines stark dürren Holzes, so tönte es vom Speisesaal heraus. Ich dachte, es wird halt eingeheitzt sein, daß Holz so schnellt u. brasselt, aber es war so eigenartig taktmäßig mir vorgekommen. Später hab ichs schon selbst gewußt, durch eigene Erfahrung, daß es die gemeinsame Geislung der Mönche und Novizen war. 58 Gruber beschreibt in Wort und Bild dieserart Bußpraktiken. Die Geißelungen wurden dabei entweder auf den nackten Rücken oder das Gesäß ausgeführt. En passant erfahren wir, dass Gruber die Selbstgeißelung und das Tragen des Bußgürtels schon lange vor dem Eintritt in den Kapuzinerorden gepflegt hatte wie auch dessen Vater: [D]er hochseel. P. Josef schenkte jedem 3. Ordensmitglied eine Geisel u. Bußgürtl, eine Geisel mit Striken u. einige Theile hatten Messingsternlein [...] Dies alles hab ich schon zu Hause gethan auf den Rücken gegeißelt bei Nacht. alle Wochen einmal u. Bußgürtel auch bei Arbeit getragen habe. Auch mein Vater [...] hatt sich alle Freitag Abend gegeiselt, ich belauschte ihn mal durch das Schlüsselloch sehend. 59 Allein schon der Begriff der „Disziplin“, wie die Selbstgeißelung in der Kirchensprache hieß, 60 verweist auf den zentralen Charakter der Selbstkontrolle, die diesen Bußübungen innewohnte - eine in vielen Punkten auch körperlich geübte Selbstkontrolle, 61 die einer Gefühlsbzw. Affektkontrolle gleichkam. Beim Besuch der Fronleichnamsprozession der örtlichen Laufener Kirchengemeinde trat die Schwierigkeit einer solchen gefühlsmäßigen Selbstkontrolle offen zutage: Selbstverständlich durften wir Mönche unsere Blicke nicht umherwandern lassen, mußten als Mönche die Augen niederschlagen vorerst als Novizen. Aber hie u. da machte man doch so einen kleinen Blinzl Abstecher mit den Augen zu den schönen Trachten was allerdings ein vollkommener abgetöteter Mönch nicht tut. 62 Als Gruber später einmal bei den Kapuzinern in Rosenheim lebhaft während der Rekreation ein Tischbillardspiel der Mitbrüder verfolgte, übernahm der dortige Obere die Affektkontrolle: Gut, wie ich da so tat mußte sich der Obere P. Guardian hinter mir hergeschlichen haben, er ging von Rücklings auf mich zu pakte mich mit beiden Händen am Kopf u. rüttelte u. schüttelte mich einige Mal recht kräftig 57 Vgl. N IKLAUS L ARGIER , Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001, 29-186; P ATRICK V ANDERMEERSCH , La chair de la passion une histoire de foi la flagellation, Paris 2002; DERS ., Self-Flagellation in the Early Modern Era, in: J AN F RANS VAN D IJKHUIZEN / K ARL A.E. E NENKEL (Hrsg.), The Sense of Suffering. Constructions of Physical Pain in Early Modern Culture, Leiden / Boston 2009, 253-265; P ETER J. B RÄUNLEIN , Passion. Rituale des Schmerzes im europäischen und philippinischen Christentum, München 2010, 43-126. 58 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 223. 59 Ebd., 277. 60 Vgl. VON S CHEYERN , Schule (wie Anm. 54), 127, 222f. 61 Vgl. E UGEN K ÖNIG , Körper - Wissen - Macht. Studien zur historischen Anthropologie des Körpers, Berlin 1989. 62 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 328. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 375 das Haupt hin u. her u. dann hielt er mein Kopf gerade hin u. sprach dabei: Sie hörens mal Sie wollen ein Ordensman sein u. benehmen sich so disziplinlos, merken sie sichs für allmal. 63 Aus Grubers Autobiographie ließe sich ohne Zweifel eine ganze Sprache der Blicke herausarbeiten, die es für Ordensangehörige in allen Lagen zu kontrollieren galt und die deshalb Blicke der Macht darstellten. 64 Dahinter verbarg sich eine religiös motivierte Verhaltenslehre, die man mit Helmut Lethen und dessen Rückgriff auf den spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601-1668) als eine „Verhaltenslehre der Kälte“ charakterisieren kann. 65 In der christlichen Tradition der Leidensaszese forderte die Spiritualität der Kapuziner auch noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine vollkommene Abtötung der Leidenschaften. 66 Es ging, wie Gruber verinnerlichte, um das absterben allem was teuer war. Mönch, stirb, stirb allem ab. 67 Dem eigenen Ich abgestorben sein, so beschrieb Gruber die klösterliche Losung. Diese Affektkontrolle, die mit einer Sozialdisziplinierung Hand in Hand ging, wurde unterstützt von einer steten, peinlichen Gewissenserforschung der Mönche sowie von einer häufigen Beichtpraxis. 68 Die öffentlichen Schuldbekenntnisse der jüngeren Brüder im Refektorium bestrafte der Guardian mit einer kommunitätsöffentlichen Bußhandlung. Grubers Autobiographie lässt wiederholt erkennen, wie fließend im Modus der Verinnerlichung Fremdkritik in Selbstkritik, Fremdbeherrschung in Selbstbeherrschung übergingen. Skrupel, Gewissensbisse und auch die Klage über seine Nächtlichen Sünden 69 plagten Gruber deshalb allenthalben. Soweit der junge Kapuziner die permanente Selbstkontrolle nicht schon internalisiert hatte, war es an den Hausoberen oder Mitbrüdern, ihn unentwegt daran darin zu ermahnen. Es wurde viel klösterlich bespitzelt, 70 stellte Gruber einmal fest. Die Kontrolle erschien systematisch und allumfassend. Die den Bußpraktiken zugrunde liegende Theologie operierte mit einer unmissverständlich moralischen Ökonomie von Sünde und Strafe. 71 Die Welt an sich bedeutete für den katholischen Mönch vor allem die Verführung zur Sünde, worüber Gruber wiederholt in seinem Gewissen bitter Klage führte. Diese Ordnungsvorstellung unterschied in einer fast augustinisch-manichäisch erscheinenden Abgrenzung die sakrale Sphäre des Klosters und der Kirche von der profanen Sphäre der Welt. 63 Ebd., 430. 64 Vgl. VON S CHEYERN , Schule (wie Anm. 54), 223, 227f. 65 H ELMUT L ETHEN , Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994. 66 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 400. Vgl. VON S CHEYERN , Schule (wie Anm. 54), 121-125. Vgl. zur Aszese ebd., 89f. 67 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 389. 68 Vgl. ebd., 456, 458. Vgl. VON S CHEYERN , Schule (wie Anm. 54), 66f, 151-159, 196, 217f. 69 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 275. 70 Ebd., 338. 71 Vgl. P ETER M ÜLLER -G OLDKUHLE , Die Theologie der Sünde in der Dogmatik des 19. Jahrhunderts, Essen 1978. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 376 Gruber illustrierte diese scharfe Dichotomie wiederholt in seinen Bildern und Skizzen. Es ist bezeichnend, dass Gruber seinen eigenen „Sündenfall“, der schließlich in seinen Klosteraustritt münden sollte, damit initiiert sah, dass er heimlich durch das Fernrohr eines Mitbruders seinen Blick in die Welt außerhalb des Klosters schweifen ließ. Die bedrohliche Welt in Form der Sünde drang jedoch auch in das Kloster selbst ein, veranlasst durch, so Gruber: mein lüsternes Unkeusches Fleisch. 72 Den armen Jakob peinigte, wie er einmal bemerkte, stärkster Ansturm der Unkeuschen Lust u. Weibesbegier. 73 Denn Gott gab ihm schon von Jugend an den Engel des Fleisches, daß er [ihm] Paukschläge versetzte. 74 Weshalb, ist zu fragen, nahm der junge Jakob Gruber diese vielfältigen Praktiken christlicher Leidensaszese auf sich? Neben dem Gewinn von Sozialprestige, das sich für Gruber zweifellos mit seinem Ordensleben verband, muss der Grund für dessen asketischen Einsatz letztlich in einer metaphysisch gegründeten Ökonomie des Leidens gesehen werden, die im eschatologischen Dienst dem büßenden Menschen Seelenheil im Jenseits versprach. Als Gruber in seiner ersten Profess mit einem Kuss des Evangeliumsbuches Gehorsam, Armut und Keuschheit gelobte, versprach ihm der zelebrierende Priester im Gegenzug: Wenn du dieses alles halten willst, verspreche ich dir das ewige Leben, Amen. 75 Genau diese Aussicht auf den Lohn in der Ewigkeit trieb Gruber an, die strenge Aszese immer wieder von neuem auf sich zu nehmen. Was hält den versuchten Menschen sonst von der Sünde als der Gedanke an ewige Belohnung für Tugend, Haltung der Gebote! Was sonst hält den armen, leidenden, gedrückten Kranken aufrecht als der Gedanke an das bessere Jenseits. Warum üben Geistliche u. weltliche Personen erstaunliche Buße, bringen größte Opfer für ihr Seelenheil u. für den Nächsten als der Gedanke an herrlicher Entschädigung, Vergeltung im Himmel! 76 Gruber war es vergönnt, wie er berichtet, etwas von der „Vergeltung im Himmel“ schon im Diesseits zu erfahren. In Anspielung auf die Verklärung Jesu Christi auf dem Berg Tabor berichtet er mehrfach in verzückter Sprache von mystisch-ekstatischen Erlebnissen der Gottesnähe, wodurch er sich zeitweise durch Aszetisches auf Taborhöhen gehoben fühlte. 77 Gerade das letztere Zitat legt den unmittelbaren Konnex von Aszese und mystischer Erfahrung offen. 72 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 275. 73 Ebd., 384. 74 Ebd., 275. 75 Vgl. VON S CHEYERN , Schule (wie Anm. 54), 32-35. 76 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 151. 77 Ebd., 315. Vgl. außerdem ebd., 206, 354, 373, 417. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 377 5. Momente der Alterität und Identität in Jakob Grubers Leben All die vorgenannten klösterlich-religiösen Praktiken mögen aus heutiger Sicht vielleicht fremd anmuten, sie stellten jedoch für katholische Klöster Ende des 19. Jahrhunderts weitaus die Regel dar. Die folgenden Ausführungen, die in einem dritten Schritt der Annährung an die Biographie Jakob Grubers die Perspektive der Untersuchung nochmals verändern, beziehen sich dagegen auf all die Momente der Devianz oder auch der Alterität, die sich in der Lebensbeschreibung Grubers finden lassen. Es soll hier gar nicht von denjenigen Phänomenen die Rede sein, die man unter das Rubrum Volks- oder Aberglaube fassen kann; im Kosmos Grubers fanden selbstverständlich Wunderheilungen, Gesundbeten, die exakte Vorhersage der eigenen Todeszeit oder der Todesstunde des Vaters, ja die geisterhafte Kontaktaufnahme der toten Seele des Vaters mit der verbliebenen Familie statt. 78 Plötzlich, so schildert Gruber letztere Situation, hat es unter dem Kannapee unter uns. Füßen laut und stark gerauscht als ob man sehr steifes Papier zusammenknittern zusammreiben wollte, wir wurden Leichenblaß, sahen einander erschrekt an. Mutter Luise brach die lautlose Stille u. sprach: Hörst Jakob, hörts ihr Kinder, das war sicher der Geist des Vater[s]. 79 Die persönliche Frömmigkeit Grubers fand ihren Ausdruck manchmal in teils naiv-magisch anmutenden Praktiken, worin Symbole des Glaubens den Charakter eines Fetisches annehmen konnten. So nahm der von Heimweh geplagte und von seinen Mitbrüdern zurückgesetzte Gruber im Laufener Kloster heimlich am Heiligen Abend die lebensgroße Statue des Jesuskindes aus dem Klosterbestand von seinem angestammten Platz, trug es küssend in seine Zelle redete ganz kindlich mit ihm […] legte das Jesulein in sein Bett und legte sich einige Zeit zu ihm hinein - das alles, um unaussprechliche Tröstung zu erhalten. 80 Grubers Frömmigkeitspraxis äußerte sich darüber hinaus in einer großen Verehrung von christlichen Vanitas-Symbolen: Hab einen echten Totenkopf erhalten vor vielen Jahren u. ich halte ihn aus Andacht hoch in Ehren u. bete davor. Hab ein Tintengefäß als Totenkopf (Porzelan), einen Schoppenbierkrug Totenk. (Porzelan) zum Bier oder Zitronenwasser trinken. Hab einen kleinen Sarg, 20cm lang wo ich meine Farben, Bleistifte, Federhalter aufbewahre. Wenn ich noch Junggeselle oder Witwer wäre würde ich mir meinen Totensarg machen lassen u. darin schlafen, aber die meinen gestatten es nicht. […] Auch hab ich eine Schnupftabakdose als einen Sarg. 81 78 Vgl. allgemein D IETHARD S AWICKI , Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn 2002. 79 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 155. 80 Zitate: ebd., 361f. 81 Ebd., 359. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 378 Nicht diese mehr oder weniger ausgeprägten Momente des Volksglaubens sollen hier näher interessieren, sondern vielmehr derjenige Identitätskonflikt, der Leben wie Autobiographie Jakob Grubers zutiefst bestimmte. Dieser Konflikt trieb den empathiebegabten Mann bis an den Rand der Pathologie, die er gleichsam christologisch zu fassen versuchte. Die Vorstellung von der persönlichen Nachfolge Christi, der imitatio Christi, beherrschte Gruber zutiefst. Nicht zufällig war die auch im 19. Jahrhundert weit verbreitete „De imitatione Christi“ von Thomas a Kempis Grubers Lieblingslektüre, ein spiritueller Kompass, eine „Karte für seine Seelenlandschaft“. 82 Die franziskanisch-kapuzinische Spiritualität übte für Gruber deshalb eine so große Attraktivität aus, da sie auch weniger gebildeten Menschen wie ihm die Möglichkeit der Heiligkeit eröffnete. Gruber fühlte sich fraglos zum Mönchsleben auserwählt, wie ihm offensichtlich auch sein Novizenmeister attestiert hatte: Ich wäre von Gott aus erwählt u. berufen gewesen zum Mönchsleben und wäre darin ein heiliger geworden, das sprach auch P. Zeno aus: „Wir glaubten alle, sie würden ein heiliger Schneider.“ Aber ich habe mit der Gnade gespielt u. da lies es dann Gott zu, daß Satan den Sieg errang. 83 Um seinen ganz persönlichen „Sündenfall“, der schließlich zu dem zeit seines Lebens bedauerten Klosteraustritt führte, zu verarbeiten, erzählt Gruber seine Geschichte der Versuchung nicht zufällig in den Sprachbildern der Versuchung Jesu, der nach 40tägigem Fasten mit dem Teufel gerungen hatte. Gruber sah klar den Satan am Werk, der ihn nur deshalb aus dem Kloster vertreiben konnte, weil sich Jakob als Mönch nicht standhaft genug gegen die Versuchung wehrte. Nebenbei schlich sich auch Satan ein, er war es der mir Mißmut einflößte. 84 Satan, so Gruber an anderer Stelle über die Ambivalenz des Teufels, zeigte mir auch die schöne Welt, die Natur um mir liebe zur Welt u. zur Natur ein zu flößen. 85 Seinem persönlichen Kampf mit der Versuchung gab Gruber zudem in dem literarisch überlieferten Topos des Schachspiels mit dem Teufel Ausdruck: Satan nahm mir eine um die andere gute Seelen u. Tugendpartie vom Spiel, vom Schachkampf weg u. so verlor ich das ganze Spiel, die Krone seeliger Tugend u. Gnade. 86 Eine Beichte um die andere, u. dann wieder eine Sünde um die andere, die Seele war totkrank. 87 Wie im Fieberwahn, Gruber 82 A LOIS H AHN , Zur Soziologie der Beichte und anderen Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), 407-434, hier 412. 83 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 472. 84 Ebd., 446. 85 Ebd., 449. 86 Ebd., 456. 87 Ebd., 458 f. Jaques Le Brun zeigt in seinem Aufsatz über Nonnenbiographien im 17. Jahrhundert, dass gerade die häufige Beichtpraxis und andauernde Gewissenserforschung eine seelische Belastung bzw. eine Vermehrung der Schuldgefühle erzeugte und eben nicht die von der Theologie angestrebte Gewissensberuhigung. Vgl. J AQUES L E B RUN , Das Geständnis in Nonnenbiographien des 17. Jahrhunderts, in: A LOIS H AHN / V OLKER K APP (Hrsg.), Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 379 Abb. 3: Heirat Jakob Grubers mit Anna Kraus am 22. April 1900 (Eva Owens) Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 380 spricht 87 vom Dillierium, 88 versuchte der arme Mönch schließlich nachts dem Kloster Dillingen für immer zu entfliehen. Was ihn antrieb, war die körperlich gewordene Sehnsucht nach dem weiblichen Geschlecht. In Grubers Vorstellungswelt, die sich hier als persönliches Bibliodrama darstellt, war es jedoch Satan, der ihn - ähnlich wie Jesus in der Wüste - mit den größten Verlockungen verführte. Satan habe ihn auf die hohe Klostermauer gelockt und ihn in höchste Gefahr manövriert, um dort - angesichts der verlockenden Welt - im wörtlichen und übertragenen Sinne abzustürzen. Nach Grubers christlichem Verständnis konnte es wiederum nur ein Engel sein, der ihn dann jedoch wieder sicher zurück ins Kloster geleitete. Doch mit seinem Fluchtversuch war der Anfang vom Ende der mönchischen Existenz Grubers eingeleitet. Denn von Klosterseite war man nun bestrebt, sich von dem Fluchtwilligen zu trennen. Mit dem angestrengten Dispensverfahren wurde dessen großer innerer Konflikt, der Zweifel an seiner seelischen Gesundheit aufkommen ließ, endgültig pathologisiert. Nach Grubers Erinnerung lautete die Diagnose des begutachtenden Arztes: Ich kann nicht garantieren daß es bei dem Bruder nicht zum Wahnsinn käme, er ist hochgradig erregt, Nerviös, für ihn ist das Kloster nichts, das Eheloseleben schadt ihm u. das ist besser, man lässt den Frater scheiden bevor etwa Unannehmlichkeiten von ihm u. dem Orden erwachten. 89 Von Rom aus erfolgte dann auch der Dispens, der Gruber schließlich von seinen klösterlichen Gelübden, den drei evangelischen Räten der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams, entband. 90 Ende August 1899 schied Jakob dann endgültig aus dem Kloster aus. Nur mit Mühe fand er wieder Anschluss im weltlichen Leben. Endlich stand ihm aber auch die Möglichkeit offen zu heiraten, was er schon bald, nicht zuletzt um seinen Sexualtrieb ausleben zu können, anstrebte. So trat er bereits 1900 sehr unvermittelt in die Ehe mit Anna Kraus ein. Allerdings hielt das Eheleben nicht das, was sich Jakob davon versprochen hatte. Denn der nach Zärtlichkeit und Sexualität verlangende Jakob wurde in dieser Beziehung zutiefst von seiner Frau enttäuscht, die eigentlich - wie er erst nach der vollzogenen Heirat erfuhr - auf eine Josefsehe gehofft hatte, in der beide Partner bewusst auf den ehelichen Vollzug verzichteten. Gleichwohl gingen aus der Ehe drei Kinder hervor. Um sich und seine Familie zu ernähren, arbeitete Gruber als Textilarbeiter, als Hilfsarbeiter für einen Konditor, als Soldat, als Schneider, als Laternenanzünder und nicht zuletzt auch als Gelegenheitsdichter. Seine Huldigungsgedichte, die er beispielsweise auch an den Reichspräsidenten Hindenburg, an den spanischen König oder zu Festanlässen an 87 Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M. 1987, 248-264, hier 250f. 88 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 462. 89 Ebd., 468. Vgl. zum medizinischen Hintergrund des zeitgenössischen Wahnsinns R OBERT C ASTEL , Die Institutionalisierung des Uneingestehbaren und die Aufwertung des Intimen, in: H AHN / K APP , Selbstthematisierung (wie Anm. 87), 170-180, hier 171f. 90 Vgl. VON S CHEYERN , Schule (wie Anm. 54), 35-37. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 381 Abb. 4: Jakob Gruber im Ordenshabit unterrichtet die Tochter Anna 1909 (Eva Owens) Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 382 Augsburger Firmen verschicken sollte, trugen ihm in der Fuggerstadt den Ruf des Dachstubenpoeten 91 bzw. Hauspoeten 92 ein. Der Ruf einer sonderlichen Persönlichkeit begleitete Gruber bis zu seinem Lebensende. Versucht man, die Momente der Devianz bzw. der Alterität in Grubers Leben in ein Deutungsschema zu bringen, so eröffnen sie letztlich den Blick auf eine andere Moderne, in der die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) bei weitem noch nicht alle Lebensbereiche erfasst hat, die im Gegenteil mit noch zahlreichen Momenten verschütteter Volkskultur aufwartet. 93 Zumindest äußert sich in dem scheinbar abweichenden Verhalten Grubers eine veritable „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ 94 , wonach sich traditionale Überhänge in einem Zeitalter der rasch fortschreitenden Aufklärung, Rationalisierung, Liberalisierung und Demokratisierung noch nachhaltig behaupten konnten. Gruber unterläuft jedenfalls die bekannte Meistererzählung der Modernisierungstheorie, wonach der abendländische Gang der Geschichte sich notwendig zu einer wachsenden Freisetzung des historischen Subjekts entwickelte. 95 Seinen eigenen Sexualtrieb etwa erlebte Gruber zu keinem Zeitpunkt als die Begabung eines freien Subjekts, sondern stets als „unkeusche Lust“, als satanische Versuchung oder als kausalen Ausfluss seiner rachitischen Erkrankung. Vor allem zeigen die devianten Momente in Grubers Leben die große Wirkmächtigkeit einer katholischen (Volks-)Kultur, die um 1900 bis in die innersten Winkel und letzten Abgründe der menschlichen Seele vordrang. Grubers Lebensschilderung offenbart gerade in seiner existentiellen Not, wie durchdringend - für Leib und Seele - die religiösen Techniken sozialer Kontrolle und Disziplinierung sein konnten, die, von außen herangetragen und/ oder als internalisierte und von der Scham sanktionierte Verhaltensnormen, die Souveränität des Individuums radikal in Frage stellten. 96 Vor allem im Alltag des Klosters zeigte sich eine unerbittliche Welt 91 Einer von den sieben Letzten, in: Neue Augsburger Zeitung, Nr. 195 vom 01.09.1933, 6. 92 Lichtmacher - und Poet dazu, in: Augsburger Nationalzeitung, Nr. 271 vom 22.11.1937, 11. Zahlreiche Gedichte Grubers an Honoratioren und Firmen sind gesammelt in einem Album erhalten geblieben. Das Album befindet sich im Privatbesitz der Nachfahren Grubers. 93 Vgl. exemplarisch N ILS F REYTAG / D IETHARD S AWICKI (Hrsg.), Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, München 2006. 94 Vgl. B EAT D IETSCHY , Gebrochene Gegenwart. Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und das Geschichtsbild der Moderne, Frankfurt a.M. 1988; P AUL N OLTE , Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: S TEFAN J ORDAN (Hrsg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, 134-137. 95 Vgl. zur Modernisierungstheorie und der Kritik an derselben: W OLFGANG K NÖBL , Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit, Weilerswist 2001. 96 Vgl. S UZANNE M ARCHAND , Foucault, die moderne Individualität und die Geschichte der humanistischen Bildung, in: M ERGEL / W ELSKOPP (Hrsg.), Geschichte (wie Anm. 16), 323- 348. Vgl. zur Rolle der Scham im Prozess der Zivilisation N ORBERT E LIAS , Scham im Zivilisationsprozeß. Ein Gespräch mit Hans Peter Dürr, in: M ICHAEL S CHRÖTER , Erfahrungen mit Norbert Elias, Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a.M. 1997, 71-109; S IGHARD N ECKE , Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 383 von „Überwachen und Strafen“ 97 , die mit ihrer Logik des absoluten Gehorsams und der Abtötung des Ichs die moderne Vorstellung eines autonomen Subjekts von Grund auf aushebelte. Allein in der Klosterzeit verdichteten sich lediglich die Mechanismen einer autoritären „Disziplinargesellschaft“ 98 , die sich durch Grubers gesamte Sozialisation zogen, von der Phase des Kleinkinds über die Zeit als Schüler bis hin zum Leben als Fabrikarbeiter. 99 Die Gruber’sche Autobiographie erlaubt von daher einen instruktiven Blick auf die Innenseite des kaiserzeitlichen Obrigkeitsstaates, der nicht unwesentlich in der Religion gründete. 100 Es wäre jedoch viel zu einseitig, bei der Feststellung stehen zu bleiben, dass sich die katholische Kultur und Praxis in Grubers Leben nur repressiv bemerkbar gemacht hätten. Vielmehr ist der produktive Anteil dieser Kultur an Grubers Leben kaum zu übersehen. Die katholische Überlieferung, biblische Geschichten, Heiligenviten, christliche Mythen, traditionelle Sinnsprüche etc. - sie bildeten zusammen ein reiches kulturelles Reservoir, das es Gruber überhaupt erst möglich machte, seinen seelischen und körperlichen Nöten und Ängsten Ausdruck zu verleihen. Biblische Erzählungen etwa stellten die narrativen Möglichkeiten zur Verfügung, mit denen Gruber seine eigene Lebensgeschichte begriff, sein eigenes Selbst in einen umfassenderen Horizont stellte und damit nicht zuletzt seine eigenen Handlungsmöglichkeiten auslotete. Es gehört zu den eindringlichen Erkenntnissen, die sich aus der Biographie Grubers ziehen lassen, wie ihr eher am unteren Rand der Gesellschaft anzusiedelnder Protagonist mittels seiner christlich-religiösen Ausdrucksmöglichkeiten immer wieder aktiv um Sinn in seinem Leben rang und diesen auch schöpfte - all das angesichts einer Lebenswelt voller übermächtiger und kontingenzförderlicher Strukturen, Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt a.M. / New York 1991. 97 M ICHEL F OUCAULT , Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976. 98 Ebd., 269. 99 Vgl. G ISELA F ELHOFER , Die Produktion des disziplinierten Menschen, Diss. Wien 1987. 100 Vgl. H ANS -U LRICH W EHLER , Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, in: J OACHIM L EUSCH - NER (Hrsg.), Deutsche Geschichte. 19. und 20. Jahrhundert 1815-1945, 3 Bde., Bd. 3, Göttingen 1985, 203-404, hier 301-318; J ÜRGEN K OCKA , Obrigkeitsstaat und Bürgerlichkeit. Zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: W OLFGANG H ARDTWIG (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, 107-121; W ILFRIED L OTH , Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München 1996. Vgl. dagegen T HOMAS N IPPERDEY , War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft? , in: DERS ., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, 172-185; W INFRIED B ECKER , Das Bismarck- Reich - ein Obrigkeitsstaat? Die Entwicklung des Parlamentarismus und der Parteien 1871- 1890, Friedrichsruh 2000; J AMES R ETALLACK , Obrigkeitsstaat und politischer Massenmarkt, in: S VEN O LIVER M ÜLLER (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, 122-135. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 384 die in Familie, Religion, Beruf, in Ökonomie und Gesellschaft die Subjektivität und Individualität des „armen Jakob“ immer wieder fundamental untergruben. Gerade in den Momenten größter persönlicher Konflikte und stärkster Anfechtungen artikulierte sich Grubers Überlebenswille, der, übersetzt in eine christlich-biblische Sprache, Auswege aus diesen Situationen wies. Ungeachtet seiner strukturellen Einschränkungen, ungeachtet auch, dass Gruber - der eigenen Beobachtung nach - oft verachtet, mißverstanden u. gehaßt 101 wurde, begriff er sich nicht wesentlich als eine unterdrückte, ausgebeutete Persönlichkeit, als entfremdetes Opfer sozioökonomischer Bedingungen oder als gar als ein Genosse im Klassenkampf. Gruber eignete sich vielmehr im Rückgriff auf seine christliche Religion deutend seine Welt an und schuf sich gerade dadurch ein Stück Eigensinn. 102 Es war wohl Grubers durchdringender Puls der persönlich erfahrenden religiösen Berufung, in der sich - allen kulturellen, ökonomischen oder psychologischen Zwängen zum Trotz, die immer wieder die Souveränität des Subjekts bedrohten - ein vitaler Ausdruck von Individualität behauptete. Allein schon die literarische Gattung der Autobiographie begründete diese Individualitätsform, die jedoch alternativ zu der eindimensionalen bürgerlich-liberalen Vorstellung des Individualismus zu denken ist. 103 Allein die Sozialgeschichte des abendländischen Individualisierungsprozesses ist gerade für das 19. Jahrhundert noch nicht geschrieben. 104 Grubers Autobiographie böte von daher eine reichhaltige Quelle, für seine soziale Lage den diskursiven Zusammenhang von religiös-katholischer Prägung und der Ausbildung von Individualität exemplarisch herauszuarbeiten. 105 Dieser Versuch lohnt um so mehr vor dem Hintergrund einer Forschungsgeschichte, die lange Zeit die Heraus- 101 Der arme Jakob (wie Anm. 6), 23. 102 Vgl. A LF L ÜDTKE , Geschichte und Eigensinn, in: B ERLINER G ESCHICHTSWERKSTATT (Hrsg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, 139-153; DERS ., Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. B ELINDA D AVIS / T HOMAS L INDENBERGER / M ICHAEL W ILDT (Hrsg.), Alltag, Erfahrung, Eigensinn: Historischanthropologische Erkundungen, Frankfurt a.M. 2008. 103 Vgl. R ICHARD VON D ÜLMEN , Die Entdeckung des Individuums 1500-1800, Frankfurt a.M. 1997. Vgl. aus marxistischer Perspektive L OTHAR H ACK , Subjektivität im Alltagsleben. Zur Konstitution sozialer Relevanzstrukturen, Frankfurt a.M. / New York 1977. 104 Vgl. allgemein A LOIS H AHN , Identität und Selbstthematisierung, in: DERS . / K APP , Selbstthematisierung (wie Anm. 87), 9-24. Vgl. zum 19. Jahrhundert M ICHAEL S ONNTAG , „Das Verborgene des Herzens“. Zur Geschichte der Individualität, Reinbek b. Hamburg 1999, 147-216. 105 Vgl. O DO M ARQUARDT , Das Individuum: Resultat oder Emigrant der Religion? , in: M AN- FRED F RANK / A NSELM H AVERKAMP (Hrsg.), Individualität, München 1988, 161-163. Wenig ergiebig K LAUS R EUTER , Lebensgeschichte und religiöse Sozialisation. Aspekte der Subjektivität in Arbeiterautobiographien aus der Zeit der Industrialisierung bis 1914, Frankfurt a.M. / Bern / New York 1991. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 385 bildung von Individualität vornehmlich als eine Domäne bürgerlicher Subjekte betrachtet hat. 106 So mussten doch vor allem die Brüche in Grubers Leben immer wieder die Frage nach den durchgängigen Momenten seiner Existenz, nach der Integrität bzw. Identität seiner Persönlichkeit aufkommen lassen. Die permanente Anforderung zur Gewissenserforschung als eine unentwegte Selbstkontrolle, 107 die in einer exzessiven Beichtpraxis ihren Ausdruck fand, nötigte darüber hinaus zu einer dauernden - obschon nicht selten quälenden - Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. 108 Jedoch gelang es Gruber mit seiner inneren Flexibilität wiederholt, sich mit den unumgänglich scheinenden Notwendigkeiten seiner Existenz zu arrangieren und diesen ein persönliches Quantum an Autonomie abzuringen, die sich nicht in die Vorstellung von dem allein willenlosen, hörigen und unterdrückten Untertanen des Kaiserreichs fügt. 109 Jedenfalls eröffnete die Akzeptanz von notwendig oder autoritär auftretenden Strukturen für Gruber in gleichsam dialektischer Manier ein gewisses Maß an Freiheit bzw. Eigensinn, das in seiner Bedeutung weder unternoch zu überschätzt werden darf. Die Vorstellung von seiner geistlichen Berufung bewegte Gruber jedenfalls bis an sein Lebensende, mindestens aber bis an das literarische Ende seiner Autobiographie. Auch in seinem nachklösterlichen Leben pflegte der ehemalige Ordensangehörige bewusst seinen mönchischen Bart, zog immer wieder den kapuzinischen Habit an, in dem er sich nicht nur fotografisch ablichten ließ, 110 sondern sogar beerdigt zu werden wünschte. 111 Sein in der Autobiographie stets wiederkehrendes Eingeständnis der eigenen Begriffsstutzigkeit, Dummheit, Einfalt, der eigenen Armut - ein Eingeständnis, das sicherlich auch ein Ausdruck der Demut zu werten ist -, erscheint jedoch dialektisch gekoppelt an die Überzeugung, mit einer ganz besonderen Gottesgnade beschenkt worden zu sein, die den so „armen“, „einfältigen“ und „dummen“ Mann zumindest mit der künstlerischen Gabe der Dichtung ausgestattet 106 Vgl. B ERND N EUMANN , Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a.M. 1970; R ALPH -R AINER W UTHENOW , Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974; Niggl, Geschichte (wie Anm. 9); F RERICHS , Autobiographie (wie Anm. 5). 107 Mit der Gewissenserforschung war ein Vorsatzwesen gekoppelt, das jedem Kapuzinerbruder abverlangte, seine guten Vorsätze mindesten stündlich zu wiederholen. Vgl. VON S CHEYERN , Schule (wie Anm. 54), 154, 196. 108 Alois Hahn spricht von der Beichte als einem wesentlichen abendländischen „Biographiegenerator“. Vgl. H AHN , Identität (wie Anm. 104), 18f. 109 Vgl. W EHLER , Kaiserreich (wie Anm. 100), 301-318; L OTH , Kaiserreich (wie Anm. 100), N IPPERDEY , Gesellschaft (wie Anm. 100), 172-185; B ECKER , Bismarck-Reich (wie Anm. 100); R ETALLACK , Obrigkeitsstaat (wie Anm. 100), 122-135. 110 Im Nachlass Jakob Grubers (Privatbesitz, Augsburg) befinden sich zwei Photoaufnahmen, die ihn viele Jahre nach seinem Klosteraustritt im kapuzinischen Habit zeigen. 111 Vgl. Der arme Jakob (wie Anm. 6), 285, 498. Karl Borromäus Murr / Benjamin Widholm 386 habe. Der Titel, mit dem unser Autor seine autobiographischen Aufzeichnungen überschrieben hat, „Der arme Jakob. Lebens-Biografie“, erscheint deshalb geradezu als programmatisches Motto dieses geistlichen Lebens. 6. Jakob Grubers Autobiographie: zwischen Faktionalität und Fiktionalität Die literarische Form von Grubers Autobiographie, auch wenn sie bisweilen noch so ursprünglich, vital und originell erscheint, verdankt sich Vorbildern einer christlichen Andachtsliteratur wie der „Nachfolge Christi“ des genannten Thomas a Kempis wie auch der populären katholischen Kalenderliteratur etwa aus der Feder eines Alban Stolz. 112 Die literarischen Anregungen aus franziskanisch-kapuzinischen Exerzitienbüchern wären noch herauszuarbeiten. 113 Letztlich gehören Grubers Lebenserinnerungen zum Kreis einer christlichen Bekenntnisliteratur, in der sich inhaltlich darstellende, bezeugende und performative Motive bunt überlagern. Dass Gruber die eigene Geburt oder sein Scheitern als Mönch in Sprachbildern schildert, die der neutestamentlichen Erzählung vom Leben Jesu entlehnt sind, verdeutlicht den hohen Grad an Fiktionalität, der seine Autobiographie durchdringt. In so manchen Passagen lassen sich die Fakten hinter der Fiktion von Grubers Erzählung kaum mehr erkennen. Am Ende erscheint die Autobiographie Grubers wie der Versuch, sein so schmerzlich empfundenes Scheitern als Mönch literarisch zu rechtfertigen. Ja mehr noch: die Schrift unternimmt es, literarisch Zeugnis abzulegen von einem geistlichen Leben, das in der Realität misslang, dessen Misslingen jedoch kulturell ungemein produktiv war. Die Sinnstiftung der eigenen Vita wird damit auf die Ebene der Literaturproduktion verlegt. Zumindest erlaubte die literarische Form der Autobiographie, ein Leben narrativ zu ordnen, das in Wirklichkeit immer wieder der Ordnung entbehrte. 114 Der Leser fungiert bei diesem autobiographischen Unternehmen als der Adressat, als Tribunal der Rechtfertigung, vor dem der Autor mit seiner Lebenserzählung, die dem Leitmotiv von Schuld und Sühne folgt, eine Art Generalbeichte ablegt. Grubers Appelle an den Leser, für ihn und sein Seelenheil zu beten, sollten das eschatologische Schicksal der „arme Seele“ im Fegfeuer vermeiden helfen. Im Appell an seine Leserschaft liegt damit das performative Anliegen von Grubers Autobiographie verborgen. Performativ angelegt ist auch das unterschwelli- 112 Vgl. Der arme Jakob (wie Anm. 6), 154. Vgl. zu Stolz H ERMANN H ERZ , Alban Stolz, Mönchen-Gladbach 1916. 113 Vgl. VON S CHEYERN , Schule (wie Anm. 54), 205f. Vgl. auch Hegemann, Exerzitienbücher (wie Anm. 55). 114 Vgl. M ONIKA B ERNOLD , Anfänge. Zur Selbstverortung in der popularen Autobiographik, in: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 1 (1993), 5-24. Die Lebenswelt eines kleinen Mannes 387 ge Anliegen seiner Autobiographie, das darauf abzielt, den Leser am Beispiel der Gruber’schen Biographie anzuregen, erbaulich zu wirken, um selbst ein christenmäßiges Leben zu führen. Richtet sich die Frage schließlich nach der Originalität von Grubers autobiographischer Leistung, so erscheint nicht einmal sonderlich originell, was Gruber im Einzelnen festhielt, vielmehr zeigt sich die Besonderheit in dem bloßen Faktum, dass er sein Leben aufzeichnete. Wer allerdings mit Blick auf das deutsche Kaiserreich nur nach dem Höhenkamm politischer Entscheidungen Bismarck’scher Dimensionen Ausschau hält oder wer bezüglich der zeitgleichen Gesellschaft vor allem einen zukunftsweisenden „Klassenkampf“ erwartet, der wird in einer Biographie wie der Gruber’schen nicht fündig werden, der seinerseits wohl eher der Exponent einer beharrenden Gesellschaftsmehrheit war - einer Mehrheit, der es jedoch aufgrund mangelnder Quellenüberlieferung meist an einer eigenen Stimme gebricht und die deshalb entsprechend zum Schweigen verurteilt ist. So steht am Ende der Betrachtung der Autobiographie Grubers die These, dass es sich bei dieser vielschichtigen Schrift mit all ihren Ambivalenzen um die Quelle eines - im Sinne der Mikrogeschichte - „außergewöhnlichen Normalen“ 115 (Edoardo Grendi) handelt. 115 Vgl. G RENDI , Micro-analisi (wie Anm. 11), 512. Wirtschaftsbürgertum im Kaiserreich. Der Bankier Wilhelm von Finck Marita Krauss Die Bürgertumsforschung hat in den vergangenen zwanzig Jahren einen beachtlichen Aufschwung erlebt. So wissen wir vor allem dank der Forschungen in Frankfurt und in Bielefeld inzwischen sehr viel mehr über den Weg vom alten zum neuen Bürgertum, über die Entwicklung in einigen Regionen, über Bürgertum und Liberalismus, über das Bildungsbürgertum, über bestimmte Professionen, über Kindheit und Erziehung. 1 Die Fülle an Untersuchungen zu einzelnen Fraktionen des Bürgertums, zu seinen Debatten und Bestrebungen ist enorm. Das für die Industrialisierung so zentrale Wirtschaftsbürgertum ist jedoch immer noch vergleichsweise wenig erforscht. Der Bankier Wilhelm Finck, einer seiner wichtigsten bayerischen Repräsentanten, bildet gewissermaßen den Spiegel, in dem die Konturen dieser Fraktion des Bürgertums sichtbar werden. Seine Biografie und sein Wirken machen deutlich, wie wichtig und weiterführend ein landesgeschichtlicher Blick auf diese Gruppe ist. Dies zeigen nicht zuletzt meine Projekte zu den „Königlich bayerischen Hoflieferanten“ 2 und zu den „Bayerischen Kommerzienräten“. 3 1. Wege der Forschung Wirtschaftsbürgertum, so die Definition von Rainer Lepsius, der ich hier folgen werde, 4 rekrutiert sich über Eigentumsrechte oder Delegation dieser Rechte und 1 L OTHAR G ALL , Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989; J ÜRGEN K OCKA , Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987; W ERNER P LUMPE / J ÖRG L ESCENZKI (Hrsg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009; M ICHAEL S CHÄFER , Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung, Köln 2009; A NDREAS S CHULZ , Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005; R AINER M. L EPSIUS (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil III. Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992; H ANS -J ÜRGEN P UH- LE (Hrsg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft-Politik-Kultur, Göttingen 1991. 2 M ARITA K RAUSS , Die königlich bayerischen Hoflieferanten, München 2009. 3 Zu den Kommerzienräten demnächst: M ARITA K RAUSS (Hrsg.), Wirtschaftseliten. Schwäbische Kommerzienräte vom Kaiserreich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 2014. 4 R AINER L EPSIUS , Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: J ÜRGEN K OCKA (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, 79-100. Marita Krauss 390 erwirbt seine Handlungsprivilegien durch Nutzung von Marktchancen. Seine Repräsentanten sind Unternehmer, Kaufleute, Bankiers, Rentiers, Manager. Untersuchungen gelten meist Preußen, vor allem dem Rheinland-westfälischen Industriegebiet und Berlin. Diese Arbeiten konnten aufbauen auf einer älteren Geschichtsschreibung der sechziger und frühen siebziger Jahre, für die stellvertretend Friedrich Zunkels Studie über den „Rheinisch-westfälischen Unternehmer 1834-1879“ 5 sowie Hartmut Kaelbles Arbeit über „Berliner Unternehmer während der Industrialisierung“ 6 zu erwähnen sind, nicht zu vergessen herausragende Einzelbiografien wie die von Fritz Stern über Bismarcks Bankier Gerson Bleichröder. 7 Im Mittelpunkt stand und steht die Frage nach der „Feudalisierung“ oder „Aristokratisierung“ des Großunternehmertums, also der Verflechtung dieser Schicht mit dem Adel und ihre vermutete Übernahme adeligen Lebensstils. 8 Ein solches Überwechseln der unternehmerischen Elite sei, lautet die These, vor allem in Deutschland mit einem Verlust an Bürgerlichkeit einhergegangen. Es habe die wesentlichen Voraussetzungen geschaffen für das Bündnis von „Eisen und Roggen“ in Preußen, also einer großbourgeoisen Führungsschicht mit den alten Eliten, ein Bündnis, das allzu lange und mit politisch verhängnisvollen Folgen die Machtpositionen der alten feudalen Führungsschicht erhalten half. Diese Feudalisierungs-These, die zunächst stark von dem preußischen Modell ausging, ist in der Zwischenzeit vielfach diskutiert und für unterschiedliche Regionen untersucht worden. 9 Hartmut Berghoff stellte dabei in seiner Arbeit über „Englische Unternehmer 1870 bis 1914“ fest, 10 dass sich in England hartnäckig eine ganz ähnliche These hält: Dem „gentryfizierten“ englischen Unternehmer, der sein Geschäft verlässt und sich auf dem Lande niederlässt, wird dort der zutiefst bürgerliche deutsche Wirtschaftsmann in leuchtenden Farben gegenübergestellt. Bei einem Vergleich von je rund 400 Wirtschaftsbürgern in den beiden Hafen- und Handelsstädten Bremen und Bristol durch Berghoff und Roland Möller dominieren jedoch 5 F RIEDRICH Z UNKEL , Ehre, Reputation, in: O TTO B RUNNER / W ERNER C ONZE / R EINHARD K OSELLECK (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., O TTO B RUNNER / W ERNER C ONZE / R EINHARD K OSELLECK (Hrsg.), Bd. 2, Stuttgart 1975, 1-63. 6 H ARTMUT K AELBLE , Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung: Herkunft, sozialer Status und politischer Einfluss, Berlin 1972. 7 F RITZ S TERN , Gold und Eisen. Bismarck, Bleichröder und die Entstehung des Deutschen Reiches, Frankfurt a. Main 1978. 8 A RNO J. M AYER , Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914, München 1988. 9 Auch die einzige neuere Arbeit von Morten Reitmayer orientiert sich stark an Norddeutschland. M ORTEN R EITMAYER , Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz, Göttingen 1999. 10 H ARTMUT B ERGHOFF , Englische Unternehmer 1870-1914. Eine Kollektivbiographie führender Wirtschaftsbürger in Birmingham, Bristol und Manchester, Göttingen 1991. Wirtschaftsbürgertum im Kaiserreich. Der Bankier Wilhelm von Finck 391 die Gemeinsamkeiten, 11 wobei in England der Weg in den Adel offener, die Berührungspunkte zur nationalen Oberschicht häufiger waren als in Bremen. Dort distanzierte man sich, wie auch in Hamburg, 12 viel eindeutiger vom aristokratischen Modell. Einen signifikanten Unterschied stellte jedoch der Umgang mit der Politik dar: In Bremen kümmerten sich die Wirtschaftsbürger um ihre Geschäfte, bauten auf den verfassungsrechtlich gesicherten wirtschaftspolitischen Einfluss und überließen die Politik einer weitgehend funktionierenden Bürokratie. 13 In Bristol hingegen verwandten die Unternehmer viel mehr Zeit und Energie auf die Mitwirkung im Stadtrat und den politischen Parteien. Die britische Form von Eigenverantwortung und Parteiendemokratie ließ eine solche Abstinenz von der Politik nicht zu. Nun sind die Hansestädte nicht unbedingt eine ideale Messlatte für Fragen nach der Feudalisierung: In Hamburg war bis 1860 die Annahme eines Adelstitels mit dem Verlust des Bürgerrechtes verbunden und auch die bis 1918 gültige Bremer Verfassung forderte dafür eine Sondererlaubnis des Senats. Nach der Reichsgründung sind zwar Bestrebungen zur Abgrenzung gegen neue politische Schichten und damit verbunden Aristokratisierungstendenzen des hanseatischen Wirtschaftsbürgertums festzustellen, doch die Nobilitierung war nur selten mit einer Feudalisierung der Lebensweise verbunden. Also keine signifikante Feudalisierung in England und in Norddeutschland, sichtbare Tendenzen jedoch im Rheinland und in Berlin. Wie sah es nun im Süden Deutschlands aus? Lassen sich hier Belege finden? Dafür ist die Arbeit von Dirk Schumann hilfreich, der auf ganz ähnlicher Basis wie Berghoff und Möller fünf Städte - München, Augsburg, Nürnberg, Ludwigshafen und Regensburg - untersucht. 14 Er betrachtet die Herkunft der einzelnen Unternehmer, ihre Ausbildung, Qualifikationen, Auszeichnungen und öffentlichen Ämter, ihr religiöses Bekenntnis, ihr Vermögen, ihr Konnubium und das Konnubium ihrer Kinder. Auf seine Arbeit kann man zurückgreifen, will man soziale und wirtschaftliche Verflechtungen, Lebensstil, die Haltung zu Staat und Politik rekonstruieren. 15 11 H ARTMUT B ERGHOFF / R AINER M ÖLLER , Unternehmer in Deutschland und England 1870- 1914. Aspekte eines kollektivbiographischen Vergleichs, in Historische Zeitschrift 256 (1999), 353-386. 12 Dies zeigt das Beispiel der Warburgs; R ON C HERNOW , Die Warburgs. Odyssee einer Familie, Berlin 1994, sowie die Arbeiten über den Reeder Albert Ballin, z.B. E BERHARD S TRAUB , Albert Ballin. Der Reeder des Kaisers, Berlin 2001. 13 Zu Bremen auch A NDREAS S CHULZ , Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750-1880, München 2002. 14 D IRK S CHUMANN , Bayerns Unternehmer in Gesellschaft und Staat 1834-1914. Fallstudien zu Herkunft und Familie, politischer Partizipation und staatlichen Auszeichnungen, Göttingen 1992. Außerdem H ANS H ESSELMANN , Das Wirtschaftsbürgertum in Bayern 1890- 1914. Ein Beitrag zur Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Politik am Beispiel des Wirtschaftsbürgertums im Bayern der Prinzregentenzeit, Wiesbaden 1985. 15 Demnächst dazu auch unsere Publikation zu den Kommerzienräten. Marita Krauss 392 In Kenntnis solcher kollektivbiografischer Forschungen ist es spannend und wichtig, sich einer Einzelbiografie zuzuwenden. So machen kollektivbiografische Studien, zu denen auch Familienbiografien gehören, wie sie für die württembergische Familie Bassermann Lothar Gall und für die Hamburger Familie Warburg Ron Chernow meisterhaft vorgeführt haben, 16 letztlich deutlich, in wie hohem Maße in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts Politik und Wirtschaft noch durch Personen getragen und vermittelt wurden. Hier wird überdies, wie Rudolf Boch in seiner Arbeit über die Industrialisierungsdebatte des rheinisch-westfälischen Wirtschaftsbürgertums schreibt, 17 eine Umorientierung in der Geschichtsschreibung zur Industrialisierung deutlich: weg von dem „stummen Zwang ökonomischer Verhältnisse“, von der immanenten „ehernen“ Entwicklungslogik der Wirtschaft, hin zu der Frage nach den strategischen Entscheidungen historischer Akteure, hier der Unternehmer. Es bietet sich an, sich der wirtschaftshistorisch oder kollektivbiografisch erarbeiteten Daten zu bedienen, um eine Einzelperson vergleichend einzuordnen. 2. Wilhelm von Finck Dabei handelt es sich um den Bankier Wilhelm von Finck - geboren 1848, gestorben 1924; seine Biografie ist im Schnittpunkt zwischen Wirtschaftsgeschichte und Bürgertumsforschung anzusiedeln. 18 In der Wirtschaftsgeschichte, da Finck bemerkenswert geschickt seit 1870 die Bank Merck, Finck & Co. in München aufbaute und in „klassischen“ Wirtschaftszweigen des 19. Jahrhunderts wie dem Eisenbahnbau, dem Brauereiwesen und dem Hypothekengeschäft reüssierte, 19 so als Aufsichtsratsvorsitzender der „Süddeutschen Bodencreditanstalt“. 20 Er rief aber auch höchst innovative Unternehmen ins Leben, denen er als Aufsichtsratsvorsitzender diente: Erwähnt seien hier vor allem die bald weltweit operierende „Münchner Rückversi- 16 G ALL , Bürgertum in Deutschland (wie Anm. 1); C HERNOW , Die Warburgs (wie Anm. 12). 17 R UDOLF B OCH / H ERMANN B ECK , Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814-1857, in Journal of Modern History 66 (1994), 852-854. 18 Eine Biografie, die leider nicht wissenschaftlich belegt, wenn auch aus sonst nicht zugänglichen Akten erarbeitet wurde, legte in den fünfziger Jahren ein Mitarbeiter aus dem Umfeld des Finck-Imperiums vor; B ERNHARD H OFFMANN , Wilhelm von Finck 1848-1924. Lebensbild eines deutschen Bankiers, München 1953. 19 Zur Gesamtthematik M ARITA K RAUSS , Banken, Sparer, Spekulanten. München als Finanzplatz, in: F RIEDRICH P RINZ / M ARITA K RAUSS (Hrsg.), München - Musenstadt mit Hinterhöfen. Die Prinzregentenzeit 1886-1912, München 1988, 26-34. 20 E RICH A CHTERBERG , Süddeutsche Bodencreditbank. Ein Jahrhundert Werden und Wirken, Frankfurt a. Main 1971. Wirtschaftsbürgertum im Kaiserreich. Der Bankier Wilhelm von Finck 393 cherung“ und die „Allianz“. 21 Zu nennen sind auch die „Isarwerke“, die als erste elektrische Überlandzentrale Deutschlands die Wasserkraft nutzten, 22 und die „Bayerischen Stickstoffwerke“ in Trostberg, die mit Hilfe der Wasserkräfte der Alz das erste große Kalkstickstoffwerk Deutschlands betrieben. In die Bürgertumsforschung gehört eine Biografie Fincks, war er doch bald einer der mächtigsten Wirtschaftsbürger in Süddeutschland, in einem Netzwerk von Aufsichtsratsposten, Beteiligungen und anderen wirtschaftlichen Beziehungen verbunden mit den wichtigsten Unternehmern und Unternehmungen seiner Zeit. Unter oft hohem persönlichen Finanzrisiko engagierte sich Finck für Modernisierung durch Technisierung und Elektrifizierung. Nicht zuletzt geht die heutige Bedeutung Deutschlands als einer der wichtigsten Versicherungsplätze der Erde auf Wilhelm von Finck zurück. Geschrieben wurde zu diesem wichtigen Bankier noch wenig: Es gibt zwar eine Biografie Fincks aus den frühen fünfziger Jahren, die aus dichtem Quellenmaterial erarbeitet ist, doch diese Dokumente sind nicht zugänglich und nicht wissenschaftlich zitiert. 23 Sie befinden sich in Privatbesitz. Inwiefern, so ist zunächst zu fragen, kann Wilhelm Finck als Modell, als Prototyp eines deutschen Wirtschaftsbürgers des 19. Jahrhunderts gelten? Als Charakteristika des Sozialprofils der süddeutschen Unternehmer sind zu nennen: 24 die große Bedeutung von Zuwanderern, die herausragende Rolle der Protestanten, die geringe Zahl von Aufsteigern aus der Unterschicht, die Dominanz der Selbstständigen aus Handel und Gewerbe unter den Vätern und die schwache Feudalisierung der Unternehmer, der hier eine deutliche Tendenz zur „sozialen Bürokratisierung“ gegenüberstand. Letzteres ging einher mit dem Abstand vom traditionellen Bildungsbürgertum, aber einer deutlichen Nähe zum Staat und seinen höchsten bürokratischen Vertretern. Alle diese Kriterien trafen auf Wilhelm Finck zu: 25 Er stammte aus dem oberhessischen Vilbel, lernte im nahen Frankfurt am Main - damals noch der wichtigste internationale Börsenplatz in Deutschland - das Bankgeschäft und kam im März 1870 mit 22 Jahren als Prokurist einer von der Darmstädter Bank für Handel und Gewerbe errichteten Kommandite, der Privatbank Merck, Christan & Co, später 21 P ETER B ORSCHEID , 100 Jahre Allianz, 2 Bde., München 1990; P ETER K OCH , Versicherungsplätze in Deutschland. Geschichte als Gegenwart, Wiesbaden 1986, 56, 63 f.; L UDWIG A RPS , Wechselvolle Zeiten. 75 Jahre Allianz-Versicherung 1890-1965, München 1965. 22 D ORLE G RIBL , „Für das Isartal“. Chronik des Isartalvereins, München 2002; M ARIE -L OUISE P LESSEN , Die Isar. Ein Lebenslauf, Ausstellung im Münchner Stadtmuseum vom 5. Mai - 25. September 1983, München 1985; A RNE A NDERSEN / R EINHARD F ALTER , Die ‚Rauchplage‘. Großtechnologie und frühe Großstadtkritik, in: P RINZ / K RAUSS , Musenstadt (wie Anm. 19), 191-194. 23 H OFFMANN , Wilhelm von Finck (wie Anm. 18). 24 S CHUMANN , Bayerns Unternehmer (wie Anm. 14). 25 Zu diesen Angaben H OFFMANN , Wilhelm von Finck (wie Anm. 18). Marita Krauss 394 Merck, Finck & Co, nach München. Finck war also ein Zuwanderer. Er stammte aus einer streng protestantischen Familie; der Bruder seines Vaters wirkte als protestantischer Pfarrer. Der Vater ermahnte die beiden Söhne Wilhelm und August auch schriftlich immer wieder zum Vertrauen auf Gott und zum Tatchristentum. Auftreten, Lebensführung und Wertorientierungen des arrivierten Bankiers zeigten auch später noch deutlich Züge protestantischer Kargheit. Max Webers These von der Verbindung zwischen dem Geist des Kapitalismus und der protestantischen Ethik 26 ließe sich an Wilhelm Finck gut nachvollziehen. Dazu später noch einige Anmerkungen. Finck war nicht nur Zuwanderer und Protestant. Sein Vater, ein ausgebildeter Kaufmann, leitete mit gutem Erfolg in zweiter Generation eine Firma mit Apfelweinkelterei, Brennerei und Essigfabrikation sowie deren Vertrieb. Finck entstammte also der Schicht der Selbstständigen aus Handel und Gewerbe. Der Vater verfügte über ein ständig steigendes Vermögen, das er geschickt anzulegen verstand; so konnte er dem Sohn später 50.000 fl. für seine Einlage in das neue Bankhaus leihen - das „ökonomische Kapital“ für Fincks Lebensweg. Der Vater verfügte auch über gute geschäftliche Verbindungen - mit Pierre Bourdieu und der soziologischen Netzwerkforschung das „soziale Kapital“ des jungen Wilhelm Finck: 27 Das Frankfurter Bankhaus Philipp Nicolaus Schmidt, in dem Wilhelm Finck 1862 nach Abschluss einer hochrenommierten „Privatrealschule“ seine Lehre antrat und in dem er sieben Jahre blieb, stand mit der väterlichen Firma „seit dem 18.Jahrhundert in intimer Verbindung“, wie Finck 1885 schrieb. Diese Lehre war für Finck der Ausgangspunkt seiner späteren Karriere: Einer der Besitzer des Bankhauses, Philipp Nicolaus Schmidt-Polex, 28 saß auch im Aufsichtsrat der national und international operierenden Darmstädter Bank, mit der Fincks weitere Laufbahn eng verbunden blieb. Schmidt-Polex machte Finck mit einem der führenden Industriellen seiner Zeit bekannt, mit dem Mann, der sein wichtigster Gönner und Geschäftspartner werden sollte: mit Theodor von Cramer-Klett, 29 dem Besitzer der Maschinenbau A.G. Nürnberg, der späteren M.A.N. Die Verbindung mit Cramer-Klett gestaltete sich so eng, dass bei dessen Tod im April 1884 neben der Familie nur Wilhelm Finck an 26 M AX W EBER , Die Protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, Gütersloh 1991. 27 P IERRE B OURDIEU , Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: R EIN- HARD K RECKEL (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, 183-198; M ORTEN R EITMAYER / C HRISTIAN M ARX , Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, in: C HRIS- TIAN S TEGBAUER / R OGER H ÄUßLING (Hrsg.), Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, 869-880; D ELIA S CHINDLER , Qualitative Netzwerkanalyse, in: J OACHIM B EHNKE / T HOMAS G SCHWEND / D ELIA S CHINDLER / K AI -U WE S CHNAPP (Hrsg.), Methoden der Politikwissenschaft, Baden-Baden 2006, 287-296. 28 W OLFGANG K LÖTZER , Frankfurter Biographie. Personengeschichtliches Lexikon, 2 Bde, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1994, 313. 29 L UDWIG B ENEDIKT VON C RAMER -K LETT , Theodor Freiherr von Cramer-Klett. Weg und Wirken eines christlichen Mannes, Aschau i. Chiemgau 1966. Wirtschaftsbürgertum im Kaiserreich. Der Bankier Wilhelm von Finck 395 Cramer-Kletts Sterbebett stand. Cramer-Klett hatte ihn auch zum Hauptvormund und Vermögensverwalter seines noch unmündigen Sohnes gemacht, eine Stellung, die Finck die Disposition über ein großes Vermögen und unzählige industrielle Beteiligungen sicherte. Finck folgte Cramer-Klett noch in anderer Hinsicht: Als dritter Unternehmer seit der Reichsgründung wurde Finck 1909 zum erblichen Reichsrat der Krone Bayerns berufen. 30 Lebenslängliches Mitglied des Reichsrates, des parlamentarischen „Oberhauses“, war er - als einer von zehn Unternehmern seit 1871 - bereits 1905 geworden. Doch trotz seiner Erhebung in den erblichen Adel gibt es bei Wilhelm Finck, hierin vergleichbar hanseatischen Wirtschaftsbürgern, keine Anzeichen von Feudalisierung; in seiner Lebensführung blieb er zutiefst bürgerlich: besessen von der Arbeit, die ihn von morgens um acht bis abends um acht mit einer knappen Stunde Mittagspause gefangen nahm, bedürfnislos bis geizig, von scharfer Selbstzucht gegenüber Ausgaben wie Temperamentsausbrüchen, von peinlicher Ordnungsliebe, zuverlässig und pflichtbewusst, fleißig und von unerschöpflicher Arbeitskraft. Die kühle Verstandesentscheidung unter Abwägen aller Risiken, mit Max Weber die „spezifische Neigung zu ökonomischem Rationalismus“, gehörte zu Fincks besonderen Stärken, das Streben nach beruflicher und persönlicher Unabhängigkeit, ein zentrales Kriterium im Katalog bürgerlicher Besonderheiten, kennzeichnete viele seiner Entscheidungen. Sein Ziel war es, so sein Biograf Bernhard Hoffmann, „Werte zu schaffen und zum Fortschritt beizutragen im Allgemeininteresse“. 31 Wäre es ihm nur, wie dies Max Weber nennt, um den „Erwerb zur Befriedigung materieller Lebensbedürfnisse“ gegangen - und insofern erhält Hoffmanns Aussage Glaubwürdigkeit -, hätte er sich bereits mit 40 Jahren zur Ruhe setzen können. 1914 war er jedenfalls mit mindestens 16 Millionen Goldmark Nominalvermögen unter den bayerischen Unternehmern an die sechste Stelle aufgerückt. 32 Neben dem Warenhausbesitzer Hermann Tietz und den Erbinnen der BASF wies im „Handbuch der Millionäre“ von 1914 allein sein Vermögen eine Rendite von zehn Prozent auf. Finck hatte also richtig investiert, sein Versicherungsimperium konnte in der Rendite leicht mit dem Leitsektor der deutschen Industrie, der Chemie, mithalten. Weder sein Adelstitel noch sein Vermögen hatten aber maßgeblichen Einfluss auf seine Lebensführung. Er kommt damit Max Webers Idealtypus des kapitalistischen Unternehmers sehr nahe, der unnötigen Aufwand ebenso scheut wie bewussten Genuss der Macht. Seine Lebensführung trägt oft einen asketischen 30 B ERNHARD L ÖFFLER , Die bayerische Kammer der Reichsräte. Grundlagen, Zusammensetzung, Politik. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, hrsg. v. der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 108), München 1996. 31 H OFFMANN , Wilhelm von Finck (wie Anm. 18), 114. 32 R UDOLF M ARTIN , Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Bayern, Berlin 1914, 9. Marita Krauss 396 Zug, er zeigt, so Weber, meist kühle Bescheidenheit. Von seinem Reichtum hat er vor allem das irrationale Empfinden guter „Berufserfüllung“. So sehr diese Beschreibung auf Finck zutrifft: Irritierend wirkt die Tatsache, dass er zu den wenigen Unternehmern gehörte, die in großem Maßstab Ländereien erwarben: Bei seinem Tod 1924 dehnte sich sein Hauptbesitz im Münchner Osten fast geschlossen über 20 Kilometer aus; überdies besaß er mehrere Landhäuser. Doch auch hiermit war - hier vergleichbar den landbesitzenden Wirtschaftsbürgern aus Bristol - keine Feudalisierung seiner Lebensführung verbunden: Er ließ sich nicht als Gutsbesitzer nieder, sondern sah darin eine weitere unternehmerische Herausforderung. So nutzte Finck zwar auch den Boden als Kapitalanlage, vor allem testete er jedoch neue Maschinen, die von Firmen wie der M.A.N. produziert wurden, an denen er beteiligt war, und den Kalkstickstoffdünger, den die von ihm mit gegründeten Bayerischen Stickstoffwerke in Trostberg lieferten. Er konnte daher bald die positiven Düngungsergebnisse von Kalkstickstoff beim Anbau von Gerste und Hafer veröffentlichen und damit den internationalen Vertrieb ankurbeln. Düngemittel waren einer von Deutschlands Exportschlagern, hier lag es weltweit an der Spitze. Auch Grund und Boden, so ist zu resümieren, waren für Finck nicht um ihrer selbst willen ein Objekt der Begierde, auch sie dienten der „guten Berufserfüllung“ des Bankiers. Gute Beziehungen zum politischen Establishment wusste jedoch auch Finck zu schätzen: Mit 38 Jahren heiratete er Marie von Fäustle, die 20jährige Tochter des liberalen bayerischen Justizministers, der die wichtigen 16 Jahre nach der Reichsgründung als Minister wirkte. 33 Durch diese Heirat verschwägerte sich Finck mit höchstem Beamtenadel: Die Familie von Stengel, der seine Schwiegermutter entstammte, stellte Regierungs- und Oberlandesgerichtspräsidenten, Oberregierungsräte, Ministerialdirektoren, Hofbeamte. 34 Ihr gehörte auch ein Staatssekretär im Reichsschatzamt in Berlin an, Hermann von Stengel, der übrigens später auch in den Aufsichtsrat der Darmstädter Bank eintrat. Sein Schwager wurde der spätere bayerische Justizminister Heinrich von Thelemann. 35 Damit schuf sich Finck die zentrale Verbindung zu der herrschenden Schicht, die über mehr Macht und politischen Einfluss verfügte als ein Großteil des alten Adels: zur Beamtenaristokratie. Wie bei den Wirtschaftsbürgern in Bremen und Bristol, die ebenfalls zu 32 bzw. zu 33 Zu dieser Hochzeit und ihrem Umfeld auch M ARITA K RAUSS , Evangelisch in München. Karl von Buchrucker (1827-1899). Wegbereiter der bayerischen Diakonie, München 2009. 34 Genealogisches Handbuch des Adels, hrsg. vom D EUTSCHEN A DELSARCHIV E .V., Bd. 61, Limburg a. d. Lahn 1975. 35 K ARL M ÖCKL , Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Revolution in Bayern, in: K ARL B OSL (Hrsg.), Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, München / Wien 1972, 211. Wirtschaftsbürgertum im Kaiserreich. Der Bankier Wilhelm von Finck 397 48 Prozent die Töchter von Akademikern und höheren Verwaltungsbeamten heirateten, ging es wohl auch um soziale Statuserwägungen. 36 Die Verlobung war ein wichtiger bürgerlicher Geschäftsvorgang: Seinem Heiratsantrag ließ der damals noch nicht nobilitierte Finck schriftliche Angaben über seine Vermögensverhältnisse folgen, den Gesellschaftsvertrag von Merck, Finck & Co sowie einen Bericht über die Firmenentwicklung. Seine Angaben über Form und Fassung der Verlobungsanzeige machen die weitgehende Trennung der beiden Verkehrskreise deutlich: „Ich nehme an“, schreibt er an Fäustle, 37 „daß Ihnen die Bezeichnung meines Standes etc. angenehm sein dürfte, da mein einfacher Name in den Kreisen, denen Sie die Anzeige senden, wenig oder nicht bekannt ist, doch würde mir auch die einfache Bezeichnung ‚Banquier‘ vollständig recht sein. Die Bezeichnung ‚Staatsministers-Tochter‘ ist in Ihren Kreisen jedenfalls nicht nötig. Was mich betrifft, so möchte ich, daß sie in Wegfall käme, weil in den vorzugsweise kaufmännischen Zirkeln, an welche ich die Anzeige expediere, mir das eventuell als Renommage ausgelegt werden könnte.“ Ein Mitglied der wirtschaftsbürgerlichen Elite heiratete hier eine Tochter der führenden Schicht des staatsnahen Bildungsbürgertums unter Einhaltung aller Heiratsformalien: Das Vermögen musste stimmen, ebenso aber das Prestige, die gesellschaftliche Wertschätzung. Das in der staatlichen Verwaltung tätige Bildungs- oder auch Dienstleistungsbürgertum, so Rainer Lepsius, nahm für sich primär die soziale Sonderschätzung in Anspruch, die auf Bildungswissen, Bildungspatenten und aus Kooptation oder Wahl abgeleiteten „Autoritätschancen“ beruhte. 38 Das Wirtschaftsbürgertum hingegen definierte sich über die erfolgreiche Nutzung von Marktchancen und die Verfügungsmacht über Kapital. Der nicht-akademische Bankier Finck weist selbstbewusst darauf hin, dass sein Name in Verbindung mit dem Beruf einem bildungsbürgerlichen Titel gleichzusetzen ist und dass in der kaufmännischen Welt, in der detaillierte Personenkenntnis die Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg ist, ein Titel eher befremden würde. Insofern ist dies ein kleines Lehrstück über die unterschiedlichen Verhaltensorientierungen, es zeigt aber auch, dass sich hanseatisches Understatement keineswegs nur in kaufmännischen Zirkeln des Nordens findet. 3. Hochfinanz im Reich und Bayern Wilhelm Finck war Teil einer besonderen Gruppierung, ja der Führungsschicht des Wirtschaftsbürgertums: Er gehörte zur Hochfinanz, der Geldaristokratie. Diese 36 B ERGHOFF / M ÖLLER , Unternehmer in Deutschland und England (wie Anm. 11), 353-386. 37 K RAUSS , Evangelisch in München (wie Anm. 33). 38 L EPSIUS , Zur Soziologie(wie Anm. 4), 79-100. Marita Krauss 398 Schicht des Finanzbürgertums hob sich durch ihre besondere wirtschaftliche Macht an der Börse und in Aufsichtsräten, durch ihr Vermögen und ihren Lebensstil in vielen Städten vom übrigen Wirtschaftsbürgertum ab. Vor allem bestand diese Schicht traditionell in hohem Maß aus Juden: 50 Prozent errechnet Kaelble für die Berliner Unternehmer insgesamt, für das Finanzbürgertum lag die Zahl noch beträchtlich höher. 39 Viele der großen Bankiers dieser Zeit waren jüdischen Glaubens - die Rothschilds, Gerson Bleichröder, Joseph Mendelssohn, Abraham Oppenheim, Salomon Heine, Max Warburg. Persönliche, verwandtschaftliche und geschäftliche Verbindungen waren für die innere Kohäsion dieser Gruppe ebenso wichtig gewesen wie für das Fortkommen des einzelnen in ihr. Hierin hatte über Jahrhunderte die Chance der jüdischen „Hoffaktoren“, der Hofbankiers, gelegen, die allein große Summen mobilisieren konnten. Noch in den Napoleonischen Kriegen zu Anfang des 19. Jahrhunderts finanzierten jüdische Privatbankiers ganze Armeen für ihre Fürsten. An Aaron Elias Seligmann beispielsweise waren in dieser Zeit auf Jahre hinaus die gesamten bayerischen Staatseinnahmen verpfändet. 40 Bismarck setzte diese Praxis fort, als er während des preußischen Verfassungskonflikts die militärischen Vorbereitungen für den deutsch-deutschen Krieg durch Gerson Bleichröder vorfinanzieren ließ. 41 Bleichröder stieg durch Bismarcks Gunst, wie früher die „Hofjuden“ absolutistischer Herrscher, vom abhängigen Agenten der Rothschilds zu größtem Reichtum und Einfluss auf. Gerade diese jüdischen Bankiers strebten mit aller Macht nach voller gesellschaftlicher Integration, nach Titeln, Orden und Ehrungen. 1868 wurde als erster ungetaufter Jude in Preußen Abraham Oppenheim, 1872 Bleichröder in den erblichen Freiherrnstand erhoben, eine Ehre, die Aaron Elias Seligmann in Bayern bereits 1814 zuteil geworden war. Oppenheim, Bleichröder und Warburg wurden auch von Wilhelm II. empfangen und als Berater herangezogen. 42 Doch dieses Bild trügt: Insgesamt nahm in diesen Jahren der Einfluss der jüdischen Bankiers, vor allem der Privatbankiers ab: 43 1895 waren nur noch 38 Prozent der Bankdirektoren und Bankinhaber jüdischer Abstammung, wobei die kleinen Privatbankiers überwogen. Im Reichsanleihekonsortium lag ihr Anteil bei einem Drittel. Trotz heftiger Gegenwehr verloren die Privatbanken zunehmend an Einfluss. Spätestens seit der Gründerwelle nach 1870 wuchs die Bedeutung der anony- 39 K AELBLE , Berliner Unternehmer (wie Anm. 6), 77-85. 40 A NTON L ÖFFELMEIER , Wege in die bürgerliche Gesellschaft (1799-1848), in: R ICHARD B AUER / M ICHAEL B RENNER (Hrsg.), Jüdisches München. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2006, 58-88. 41 F RITZ S TERN , Gold und Eisen. Bismarck, Bleichröder und die Entstehung des Deutschen Reiches, Frankfurt a. Main 1978, 76-131. 42 M ONIKA R ICHARZ (Hrsg.), Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich, Stuttgart 1979, 23-35. 43 R EITMAYER , Bankiers im Kaisereich (wie Anm. 9), 165-175. Wirtschaftsbürgertum im Kaiserreich. Der Bankier Wilhelm von Finck 399 men Kapitalgesellschaften, die selbst die größten Privatbankiers wie Bleichröder oder Warburg überflügelten: Der Geldbedarf zur Industriefinanzierung ließ sich nicht mehr auf klassischen Wegen befriedigen. Darüber kann auch eine exzeptionelle Karriere wie die von Bleichröder nicht hinwegtäuschen. Um die Jahrhundertwende übernahm die Berliner Disconto-Gesellschaft sogar das traditionell einflussreichste und international bedeutendste Privatbankhaus, die Firma Rothschild in Frankfurt. 44 Die Ära der Privatbankiers ging ihrem Ende entgegen. Hier zeigt sich die besondere Rolle von Wilhelm Finck, der eben in dieser Zeit als Privatbankier aufstieg: Er war nicht über familiäre Tradition dem Bankgeschäft verbunden, gehörte nicht zu Kreisen, die durch den Minderheitenstatus einer rechtlich unterprivilegierten Glaubensgemeinschaft zusammengeschweißt worden waren. Er repräsentierte eine neue Generation von Bankiers: Trotz seiner Kapitalgrundlage war er nicht als patriarchalischer Familienunternehmer angetreten - man denke nur an Industriepaternalisten wie Alfred Krupp in Essen 45 oder etwa in kleinerem Maßstab Carl Lahusen in Delmenhorst! -, 46 sondern gewissermaßen als „Topmanager“ einer Großbank. Diese Sozialisation begleitete ihn auch noch, als er selbst schon längst zu den ganz Reichen gehörte. Fincks Karriere hatte mit der Industriefinanzierung begonnen, sein Lehrmeister Cramer-Klett war Industrieller und daher schon früh ein leidenschaftlicher Verfechter von Aktiengesellschaften, die allein den Geldbedarf in der Größenordnung abdecken konnten, wie ihn die Industrie brauchte. 47 Mit Cramer-Klett hatte Finck auch das Interesse an zukunftsträchtigen Innovationen gemeinsam. Erfindungen wie der Dieselmotor oder die Fernübertragung von Strom erschlossen vielfältige neue Betätigungsfelder; Finck war Mitbegründer der „Allgemeinen Gesellschaft für Dieselmotoren“ wie der „Isarwerke“. 48 So wurden aus Bankiers und Maschinenfabrikanten Multiunternehmer und Betreiber privatwirtschaftlicher Landesentwicklung. Bei Cramer-Klett, dem Buch- und Zeitungsverleger, dem Maschinenfabrikanten, Besitzer von Bergwerken und Erzminen, lernte er eines seiner Erfolgsprinzipien: Für die meisten seiner Unternehmungen tat er sich mit einem Spezialisten zusammen, der den technischen Teil perfekt beherrschte, und übernahm seinerseits - meist lebenslang - den Aufsichtsratsvorsitz, um Finanzierung und Platzierung zu 44 Zu dieser besonderen Familie N IALL F ERGUSON , Die Geschichte der Rothschilds. Propheten des Geldes, 2 Bde., München/ Stuttgart 2002; G EORG H EUBERGER (Hrsg.), Die Rothschilds. Eine europäische Familie, Sigmaringen 1994. 45 L OTHAR G ALL , Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002; K LAUS T ENFELDE (Hrsg.), Bilder von Krupp. Fotographie und Geschichte im Industriezeitalter, München 2000. 46 D IETMAR VON R EEKEN , Lahusen. Eine Bremer Unternehmerdynastie 1816-1933, Bremen 1996. 47 C RAMER -K LETT , Theodor Freiherr von Cramer-Klett (wie Anm. 29). 48 K RAUSS , Banken, Sparer, Spekulanten (wie Anm. 19), 26-34. Marita Krauss 400 sichern, wovon wiederum er am meisten verstand. Diese Aufgabenteilung stand quer zum patriarchalen Führungsstil, der meist beides in einer Hand vereint. Damit war es Finck auch möglich, sich in sehr vielen Bereichen zu engagieren, ohne sich um die technische Seite im Detail kümmern zu müssen. Wilhelm Finck stand im Schnittpunkt zweier Traditionen: Er gehörte durchaus noch zu den Unternehmern, die sich an eine Stadt oder Region gebunden fühlten; dies zeigten seine Schwierigkeiten, sich von Bayern zu lösen, obwohl er aus Wien, Frankfurt und Berlin umworben wurde. Berlin hatte sich zum Finanzzentrum des Reiches entwickelt. Süddeutschland war seit der Reichsgründung durch die Monopolstellung des elitären „Preußenkonsortiums“ aus Berliner und rheinischwestfälischen Bankiers von Reichsanleihen weitgehend ausgeschlossen und Finck gelang es trotz vieler Bemühungen nicht, hier Mitglied zu werden. Insofern hätten sich seinen Talenten durchaus weitergehende Möglichkeiten geboten, die er aber jedes Mal nach reiflichem Überlegen ausschlug. Sein Wirkungskreis lag im Süden. Andererseits schuf er vor allem mit den multinationalen und schnell expandierenden Versicherungen eben die Form von Großunternehmen, die international operierten und deren Struktur nicht mehr ohne weiteres durchschaubar war: Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war die „Münchner Rück“ der größte Rückversicherer der Erde mit etlichen Tochtergesellschaften. 49 Da diese frühzeitig zu nationalen Unternehmen geworden waren, überstanden die global agierenden „Münchner Rück“ und „Allianz“ auch glänzend die deutsche Inflation nach dem Ersten Weltkrieg. 50 Die Allianz konnte sich in diesen Jahren eine Vielzahl kleinerer Versicherungen einverleiben, so unter anderem die Hermes-Berlin, Globus-Hamburg, Providentia- Frankfurt, Wilhelma-Magdeburg und Arminia-München; es entstand der „Allianz- Konzern“. Mit diesen Unternehmen war Finck, Aufsichtsratsvorsitzender bis zu seinem Tode 1924, den regionalen Verhältnissen längst entwachsen. 4. Resümee Der süddeutsche Bankier Wilhelm Finck, dessen Biografie hier exemplarisch vorgeführt wurde, hatte mit seinen preußischen und norddeutschen Kollegen den Blick für die Innovation gemeinsam, für das gute Geschäft, das sich aus der deutschen Industrialisierung und Technisierung ergab. Er war als Süddeutscher nur indirekt an deutscher Weltmachtpolitik beteiligt und ging daher eigene Wege, seine Standortnachteile auszugleichen. So entwickelten sich Unternehmen, die früh Region und Welt verbanden. Die Gefahr einer übermäßigen Annäherung an die alten Eliten bestand wohl stärker in Berlin als in München oder Hamburg. Der Protestant Finck 49 K OCH , Versicherungsplätze in Deutschland (wie Anm. 21), 61. 50 B ORSCHEID , 100 Jahre Allianz (wie Anm. 21). Wirtschaftsbürgertum im Kaiserreich. Der Bankier Wilhelm von Finck 401 musste nicht wie jüdische Bankiers um gesellschaftliche Anerkennung ringen und er lebte nicht in einer Gesellschaft, in der man ohne Titel und Orden nichts galt. Diese regionalen Differenzen bieten eine stimmige Erklärung für die ausgeprägten Feudalisierungstendenzen der preußischen Hochfinanz, deren Nähe zum Kaiser, seinem Hof und seiner Politik auch andere Begehrlichkeiten entstehen ließen. Insofern war es wohl nicht die kühle Distanz von der Politik, so meine These, die den Weg des Wirtschaftsbürgertums zum Steigbügelhalter des Nationalsozialismus beförderte, es ist eher eine Aufhebung der Trennung von Wirtschaft und Politik, die bei Leuten wie dem langjährigen Krupp-Direktor Hugenberg oder dem Reichsbankdirektor Hjalmar Schacht verhängnisvoll wurde. Er habe nie ein politisches Amt angenommen, schrieb Max Warburg, sondern sich darauf beschränkt, „Leute vor Dummheiten zu bewahren und Leute zu beeinflussen“. Dies war ein wichtiger Teil der „guten Berufserfüllung“ eines Bankiers. „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit Offizielle Vorgaben und ihre regionale und lokale Umsetzung Markwart Herzog Wenn man die Beiträge der Sportredaktionen in der nationalsozialistischen Presse liest, gewinnt man den Eindruck, dass sich der „bürgerliche Sport“ 1 nach der „Machtergreifung“ der NSDAP den Vorgaben des NS-Regimes bereitwillig anpasste und voller Überzeugung auf die neuen Verhältnisse einließ, 2 obwohl er vor 1933 politische Neutralität wie eine Monstranz vor sich hergetragen hatte. 3 Mehr oder weniger schnell signalisierten die Funktionäre der Sportverbände und die Vorstände der Vereine ihre Kooperationsbereitschaft mit der neuen Staatsordnung. Sie erklärten den Schulterschluss, und zwar auch dann, wenn vor 1933 nur marginale Berührungspunkte mit der nationalsozialistischen Bewegung gegeben waren. Die Gleichschaltung der bürgerlichen Fußballclubs erfolgte deshalb zumeist problemlos. Anders die Vereine und Verbände der Linksparteien und der Kirchen: Sie wurden alsbald liquidiert, ihre Immobilien, Sportgeräte und sonstigen Vermögenswerte den bürgerlichen Vereinen überschrieben. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) war der große Gewinner der „ersten Gleichschaltung“ 4 von 1933 bis 1936. Zwar wurden die föderalen Strukturen mit der Einführung des „Führerprinzips“ und der Transformation des DFB in das „Fachamt Fußball“ Schritt für Schritt beseitigt. Gleichwohl geschah dies bei gleichzeitiger Wahrung von personellen und sportlichen Kontinuitäten. Auch die DFB-Vereine waren zwar formal gleichgeschaltet, doch erfuhren sie in den Anfangsjahren der Diktatur eine verhältnismäßig großzügige Behandlung und Förderung, 5 unter anderem von Lokal- und Regionalpolitikern, so dass auch sie, grosso modo, von der Gleichschaltung profitierten. 1 Mit dem Terminus „bürgerlicher Sport“ sind im Folgenden die Leibesübungen (Turnen und Sport) gemeint, die in den weltanschaulich, politisch und konfessionell neutralen, paritätischen Verbänden und Vereinen organisierte waren, also nicht den Lagern des klassenkämpferischen Sports der Linksparteien oder des konfessionellen Sports der Kirchen oder der jüdischen Sportbewegung angehörten. - Dazu E RIK E GGERS , Fußball in der Weimarer Republik, Kassel 2001, 54-97. 2 Dazu und zum Folgenden N ILS H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz: Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, Frankfurt a.M. / New York 2005, 114-119, 130-135, 331-335. 3 Vgl. E GGERS , Fußball (wie Anm. 1), 71-79. 4 Zur „ersten Gleichschaltung“ des Fußballsports H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 114-135. 5 Vgl. H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 150f.; K LAUS V IEWEG , Gleich- Markwart Herzog 404 1. „Großerzählungen“ und ihre hermeneutischen Weichenstellungen Die genannte Entwicklung von Gleichschaltung und Anpassung wurde in unterschiedliche „Großerzählungen“ der beteiligten Akteure einerseits und der Sporthistoriografie andererseits eingekleidet und überliefert. 1.1. Die Vereine und Verbände, so jedenfalls ließen sie beim Vollzug der „ersten Gleichschaltung“ verlauten, seien immer schon deutsch-national eingestellt gewesen und hätten mit dem Sport bereits lange vor 1933 Volksgesundheit, Jugendpflege und Wehrertüchtigung gefördert. Deshalb hätten sie die nationalsozialistische Revolution begrüßt und aus ganzem Herzen die neuen politischen Verhältnisse gut geheißen. 6 1.2. Nach 1945 wurde diese Deutung von einer konträren Version abgelöst. Die Vertreter der Vereine und Verbände, sofern sie noch bestanden, insbesondere die Pressewarte und Schriftleiter - teilweise waren es dieselben Persönlichkeiten, die sich vor 1945 zum NS-Staat bekannt hatten -, kolportierten eine ganz andere Großerzählung. 7 Es hätte demzufolge so gut wie keine Berührungspunkte zwischen dem braunen Verbrecherregime und der Sportbewegung gegeben, und wenn doch, dann sei der Fußball mehr oder weniger dazu gezwungen worden. Ein Opfernarrativ wurde konstruiert. Man habe sich weitgehend auf den Sportbetrieb, das Training und die Wettbewerbe konzentriert; energisch habe man versucht, die Eingriffe der Nazis in die Strukturen des organisierten bürgerlichen Fußballs abzuwehren. Soweit überhaupt möglich, habe man die Autonomie des Sports erhalten wollen, und das in dem Bemühen, das „Bundesschiff“ des DFB nach 1933 durch die gefährlichen „Klippen“ der geänderten politischen Verhältnisse „hindurchzusteuern“. 8 1.3. Seit den 1970er Jahren wurde dieses Narrativ der Nachkriegszeit von einer neuen Großerzählung abgelöst. Sie wurde nun nicht mehr von den ehemals han- schaltung und Führerprinzip - Zum rechtlichen Instrumentarium der Organisation des Sports im Dritten Reich, in: P ETER S ALJE (Hrsg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, Münster 1985, 244-271, hier 247f. 6 Vgl. u.a. H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 72, 93, 117-119; S TEFAN G OCH / N ORBERT S ILBERBACH , Zwischen Blau und Weiß liegt Grau: Der FC Schalke 04 im Nationalsozialismus, Essen 2005, 73-75, 142f.; M ARKWART H ERZOG , Der „Betze“ unterm Hakenkreuz: Der 1. FC Kaiserslautern in der Zeit des Nationalsozialismus, Göttingen 2006, 2., verbesserte Auflage 2009, 64f., 104f. 7 Exemplarisch dazu und zum Folgenden C ARL K OPPEHEL (Bearb.), Geschichte des Deutschen Fußballsports, Frankfurt a.M. [1954], 187-215, bes. 188-190; kritisch dazu und mit weiteren Belegen E RIK E GGERS , Publizist - Journalist - Geschichtenerzähler: Der Funktionär und Schiedsrichter Carl Koppehel als Lehrstück der deutschen Fußballhistoriographie, in: M ARKWART H ERZOG (Hrsg.), Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus: Alltag - Medien - Künste - Stars, Stuttgart 2008, 195-214, hier 209-212. 8 K OPPEHEL , Geschichte (wie Anm. 7), 188. „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 405 delnden Akteuren selbst geschrieben, die allmählich die Hoheit über die Darstellung der Turn- und Sportgeschichte in der NS-Zeit verloren. Risse und Spannungen zwischen ihrem Selbstbild und den Ergebnissen der nun entstehenden Zeitgeschichte der Leibesübungen taten sich auf. Zunächst richtete die Forschung den Fokus auf das Turnen und die Organisationsstrukturen des nationalsozialistischen Sports. Dabei musste die bisherige verklärende Rückschau einer kritischeren Perspektive weichen. Junge Sporthistoriker entdeckten, dass die Lehrer, bei denen sie studierten und die durch ihre teils vor 1945 ausgeübten Funktionen belastet zu sein schienen, ihre Doktorarbeiten und Publikationen aus den Bibliotheken und Seminaren verschwinden ließen. 9 Darüber hinaus verweigerten sich viele Turn- und Sportvereine einem unvoreingenommenen Blick auf ihre Geschichte in der Diktatur. 10 Es war Zeit für eine Durchleuchtung der Verschleierungs- und Beschönigungsstrategien und eine Aufarbeitung kollektiver Verdrängung. 11 Zu erdrückend waren die Hinweise auf die Bereitschaft der Funktionäre zur Kooperation mit dem NS-Regime. Vor allem Hajo Bernett, dem Nestor der Zeitgeschichte des deutschen Sports, sind bahnbrechende Studien zu diesem Themenkomplex zu verdanken. 1.4. Einige Sportwissenschaftler und Publizisten zogen seit den 1990er Jahren mit dem Gestus „kritischer Theorie“ weitreichende Schlussfolgerungen aus diesem Befund und flankierten sie mit überzogenen Interpretationen: Der bürgerliche Sport sei im Frühjahr 1933 gleichsam in den Startlöchern gestanden und habe nur auf ein Signal von außen gewartet, um sich selbst nach nationalsozialistischen Grundsätzen zu reorganisieren. Er sei längst vor 1933 gleichsam faschistisch vorgeprägt gewesen. Die Funktionäre seien der von Hans Mommsen sogenannten „kumulativen Radikalisierung“ 12 gefolgt, von der auch die Turn- und Sportbewegung 13 ergriffen worden 9 Dazu H ANS J OACHIM T EICHLER , Vorwort zur überarbeiteten 2. Auflage, in: H AJO B ERNETT (Hrsg.), Nationalsozialistische Leibeserziehung: Eine Dokumentation ihrer Theorie und Organisation, 2. Auflage, überarbeitet und erweitert von Hans Joachim Teichler und Berno Bahro, Schorndorf 2008, 9f. 10 Dazu exemplarisch B ERNO B AHRO , Vom Umgang mit der eigenen nationalsozialistischen Geschichte - das Beispiel eines Berliner Traditionsvereins, in: A RND K RÜGER / B ERND W E- DEMEYER -K OLWE (Hrsg.), Vergessen, verdrängt, abgelehnt - Zur Geschichte der Ausgrenzung im Sport, Münster 2009, 117-139. 11 Dazu auch H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 11. 12 So L ORENZ P EIFFER , Sport im Nationalsozialismus: Zum aktuellen Stand der sporthistorischen Forschung. Eine kommentierte Bibliografie, 2. Auflage, Göttingen 2009, 31, im Anschluss an H ANS M OMMSEN , Der Nationalsozialismus: Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Bd. 16, Mannheim / Wien / Zürich 1976, 785-790. 13 Kritisch zu dieser Position M ARKWART H ERZOG , Fußballsport in der Zeit des Nationalsozialismus: Quellen - Methoden - Erkenntnisinteressen, in: A NDREA B RUNS / W OLFGANG B USS (Hrsg.), Sportgeschichte erforschen und vermitteln, Hamburg 2009 (http: / / www.schwaben akademie.de/ cms/ uploads/ media/ Fussballsport_in_der_Zeit_des_Nationalsozialismus_01. Markwart Herzog 406 sei. Die in ihrem Selbstbild kritische Sportwissenschaft und Publizistik behauptete ideologische Kontinuitäten des Bürgertums als entscheidenden Faktor. Es habe „beträchtliche Schnittmengen“ 14 politischer und weltanschaulicher Art gegeben, die das Weltbild des bürgerlichen Sports mit dem der Nazis verbunden und eine sich permanent steigernde „Selbstradikalisierung“ 15 hervorgerufen hätten. Vor allem der Fußballsport der NS-Zeit, dessen Erforschung seit der Jahrtausendwende Fahrt aufgenommen hat, wurde derartigen „ideologiekritischen“ Betrachtungen unterzogen: Er sei schon vor 1933 von einer „intimen Nähe der Fußballvertreter zum nationalsozialistischen Gedankengut“ 16 befeuert gewesen, habe sich mit dem NS- Regime arrangiert, weil sein Führungspersonal seit dem Kaiserreich eine „militaristische und nationalistische, ja chauvinistische Grundprägung“ aufgewiesen habe, die insgesamt „als repräsentativ für das deutsche Bürgertum“ gelten könne 17 und den DFB als bürgerlichen Verband für den Nationalsozialismus weltanschaulich prädisponiert habe. Diese antibürgerliche Hermeneutik war ganz offenkundig von stark ideologischen 18 Vorurteilen geprägt. Dennoch wurde sie teilweise in den Medien rezipiert, von der Geschichtswissenschaft gleichwohl mit wachsender Skepsis aufgenommen. 19 pdf), 51-64, hier 52; H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 396 Anm. 173, 406 Anm. 46. 14 A RTHUR H EINRICH , Der Deutsche Fußballbund: Eine politische Geschichte, Köln 2000, 218; dazu kritisch H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 13. 15 Kritisch dazu H ERZOG , Fußballsport in der Zeit des Nationalsozialismus (wie Anm. 13), 52. 16 H EINRICH , Der Deutsche Fußballbund (wie Anm. 14), 155. 17 So zu Heinrichs ideologiegetrübtem Blick auf Bürgertum und DFB C HRISTIANE E ISENBERG , Aus der Geschichte lernen - aber was? Neuere Literatur zum Fußball in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), 569-578, hier 570. 18 Mit „ideologisch“ werden theoretische Positionen bezeichnet, die ihren wissenschaftlichen Anspruch nicht oder nur unvollständig einzulösen vermögen, da sie einerseits geschichtspolitische Zielsetzungen verfolgen, andererseits die Vielschichtigkeit und Ambivalenz historischer Sachverhalte holzschnittartig vereinfachen, die Quellen selektiv und manipulativ auswerten und, „cum ira et studio“, mit Feindbildern operieren, die teilweise noch von anachronistischer Klassenkampfrhetorik geprägt sind. - Dazu kritisch bspw. E GGERS , Fußball (wie Anm. 1), 79; N ILS H AVEMANN , Der DFB im Dritten Reich - die Fragwürdigkeit der widerstreitenden Positionen, in: W OLFRAM P YTA (Hrsg.), Der lange Weg zur Bundesliga: Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland, Münster 2004, 113-125; DERS ., Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 345-347, 351-355, 361f.; H ERZOG , Fußballsport in der Zeit des Nationalsozialismus (wie Anm. 13); DERS ., Sport im Nationalsozialismus, in: Sportwissenschaft: The German Journal of Sports Science 40 (2010), 134f.; DERS ., Ein Fußballclub unter dem NS-Regime: der 1. FC Kaiserslautern als Fallbeispiel für politische Verstrickung und kulturelle Widerständigkeit, in: W OLFGANG B USS / S VEN G ÜLDENPFENNIG / J ÜRGEN M ITTAG (Hrsg.), Sport und Politik, Münster 2013 (im Druck); M ICHAEL K RÜGER , Zur Debatte um Carl Diem, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), 201-209, hier 207-209. 19 Vgl. P ER L EO , „Bremsklötze des Fortschritts“: Krisendiskurse und Dezisionismus im deut- „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 407 1.5. Die „kritische Sportgeschichte“ wurde nun selbst zum Thema kritischer Betrachtung und einer wohl begründeten Revision unterzogen. Dabei waren nicht die Fakten der Gleichschaltung und Anpassung, des Opportunismus und der Anbiederung an das NS-Regime strittig, sondern die Motive der handelnden Akteure. Wiederum waren es die Vertreter einer neuen Generation junger Historiker, die seit 2005 - sei es aus eigenem Antrieb oder im Rahmen akademischer Abschlussarbeiten oder Auftragsstudien - sehr viel intensivere Archivrecherchen anstellten, als die kritische Zeitgeschichte des Sports in den Jahren zuvor in diese Forschung investiert hatte. Sie begnügten sich nicht mehr nur mit einer ideologiekritischen oder diskurstheoretischen Analyse der offiziellen Propaganda, der von den Verbands- und Vereinsoffiziellen verkündeten Deklarationen oder der Berichterstattung in der Tages-, Sport- und Parteipresse. 20 Statt dessen drangen ihre quellennahen Archivrecherchen von den Dachverbänden bis in die untersten Ebenen der kleinen Strukturen der lokalen Vereinsgeschichten vor und vermochten somit, das Innenleben der Organisationen aus der Perspektive der handelnden Akteure selbst nachzuzeichnen. Schon 1981 hatte Bernett „die mikrogeschichtliche Analyse des Geschehens auf regionaler und lokaler Ebene, d.h. in den Bezirken, Kreisen und Vereinen“ 21 vermisst, und Nils Havemann beklagte noch 2005 im Hinblick auf „das Innenleben der Vereine im Übergang zur Diktatur“ 22 große Lücken. Man musste nur den zeitgenössischen Sportteil der jeweiligen lokalen Tageszeitung aufschlagen, um auf Belege für beschämenden Opportunismus in den örtlichen Fußballclubs zu stoßen. Aber worin war diese Anpassungsbereitschaft motiviert? Mittlerweile liegen zahlreiche Monografien über die Geschichte von Fußballclubs in der NS-Zeit vor, die einhellig zu folgendem Ergebnis führen: In der „Eigenwelt“ des bürgerlichen Sports waren wirtschaftliche Prosperität, der Erfolg im Wettkampf und die Erhaltung der Institutionen und Vermögenswerte unverhältnismäßig viel wichtigere Motive als weltanschauliche Positionen, ideologischen Parolen und (partei-)politische Loyalitä- schen Verbandsfußball 1919-1934, in: M ORITZ F ÖLLMER / R ÜDIGER G RAF (Hrsg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik: Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 2005, 107-137, hier 132-137, bes. 136f.; L UTZ B UDRASS , „Helmut Schön Kv.“ Der Fußball im nationalsozialistischen Deutschland, in: J ÜRGEN M ITTAG / J ÖRG -U WE N IELAND (Hrsg.), Das Spiel mit dem Fußball: Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen, Essen 2007, 51-68, hier 60f.; H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 12-16, 345-348 u.ö.; DERS ., Der DFB im Dritten Reich (wie Anm. 18), 113-121; E RIK E GGERS , Rezension zu: R UDOLF O SWALD , „Fußball-Volksgemeinschaft“: Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964, Frankfurt a.M. / New York 2008, in: Stadion: Internationale Zeitschrift für Geschichte des Sports 34,2 (2008), 290-294, hier 290. 20 Vgl. H AVEMANN , Der DFB im Dritten Reich (wie Anm. 18), 115, 120, 125. 21 H AJO B ERNETT , Der deutsche Sport im Jahre 1933, in: Stadion: Zeitschrift für Geschichte des Sports und der Körperkultur 7 (1981), Nr. 2, 225-283, hier 226. 22 H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 134f., Zitat 134. Markwart Herzog 408 ten, die von der „kritischen Sportwissenschaft“ exponiert worden waren. 23 In ihrem Beharren auf Ideologiekritik und mit der manipulativen Konstruktion wohlfeiler weltanschaulicher Kontinuitäten hatte sie die unpolitische „Eigenlogik“ und die bereichsspezifischen Kontexte des Handelns der Sportfunktionäre aus den Augen verloren. Wenn man die erste und die dritte Großerzählung zugrunde legt - die von 1933 bis 1945 kolportierte und die der seit den 1970er Jahren sich etablierenden kritischen Theorie des Sports -, müsste man eigentlich erwarten, dass sich die nationalen, regionalen und lokalen Strukturen der Leibesübungen den Vorgaben der Reichssportführung in allen wichtigen Bereichen angepasst hatten. Man müsste also in den Archiven bestätigt finden, dass beispielsweise der Ausschluss jüdischer Mitglieder reibungslos erfolgte, dass die ideologische Schulung der Verbände und Vereine gern angenommen wurde, dass die Berichterstattung der Sportpresse nach den Vorgaben und Normen des NS-Staates erfolgte und der Sport sich in allen wesentlichen Belangen einer straffen und schneidigen politischen Organisation unterwarf. Gleichwohl zeigt ein genauerer Blick auf die Positionierung der Verbände und insbesondere auf das Innenleben der Vereine, dass manche wichtige Vorgabe von oben gar nicht oder bruchstückhaft und unvollständig oder erst relativ spät ganz unten auf der Ebene der Vereine angekommen ist und dort umgesetzt wurde. 2. „Kleine Strukturen“ in den lokalen Fußballclubs Die genannten Punkte sollen genauer unter die Lupe genommen werden: Antisemitismus und „Arierparagrafen“, ideologische Schulung („Dietwesen“), die Sozialutopie einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft als Sportvereinsgemeinschaft vor Ort und die Sportberichterstattung. 2.1. Antisemitismus und die „Arisierung“ der Vereine Da „kritische“ Sportwissenschaftler und Publizisten häufig nur auf die generelle Diskriminierung jüdischer Bürger und die Ausschlussbestimmungen zahlreicher Sportverbände zur „Judenfrage“ blickten, ging man lange Jahre davon aus, dass auch die Fußballclubs ihre jüdischen Mitglieder im Frühjahr 1933 ausnahmslos aus ihren Reihen ausgeschlossen hätten. Bis in die jüngste Zeit hielt sich die These, der DFB 24 23 Dazu die sehr zutreffende Zwischenbilanz in: G REGOR B ACKES , „Mit deutschem Sportgruß, Heil Hitler! “: Der FC St. Pauli im Nationalsozialismus, Hamburg 2010, 5, 158-162. 24 So etwa L ORENZ P EIFFER , Rezension von: G OCH / S ILBERBACH , Schalke (wie Anm. 6), in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.3.2007], URL: <http: / / www.sehepunkte.de/ 2007/ 03/ 9740. html> (Zugriff am 17.12.2012). „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 409 und seine Regionalverbände 25 hätten angeordnet, jüdische Vereinsmitglieder aus ihren Reihen generell zu eliminieren. Doch nach wie vor wurde keine Quelle gefunden, mit der man diese immer wieder abgeschriebene Behauptung belegen könnte. Zwar gibt es eine Direktive des DFB an die Fußballclubs, jüdische und marxistische Verantwortungsträger aus der Funktionärs- und Verwaltungsebene auszuschließen, 26 nicht aber auf der Ebene des aktiven Sports selbst. Hier hatten die Vereine Handlungsspielräume, die sie auf ganz verschiedene Art und Weise ausgestalten konnten. In den Vereinen 1. FC Kaiserslautern, 27 Eintracht Frankfurt, 28 Hertha BSC Berlin 29 und FC St. Pauli 30 spielte der Antisemitismus keine oder eine geringe Rolle, teilweise findet man bis weit in die 1930er Jahre hinein jüdische Mitglieder, Mäzene und Gönner, aktive Sportler und Unterstützer. Eintracht Frankfurt nahm mehrere Sportler jüdischer Abstammung, die aus einem Frankfurter Sportverein ausgeschlossen worden waren, 1935 neu auf und gab vereinzelt bis 1938 jüdischen Bürgern eine Heimat. 31 Auch der FC St. Pauli nahm andernorts verstoßene jüdische Rugbyspieler bis zu deren Emigration im Jahr 1935 als Mitglieder auf. 32 Fußballclubs indes wie der 1. FC Nürnberg gingen den entgegengesetzten Weg, indem sie den nationalsozialistischen Rassismus mit entsprechenden Ausschlussbestimmungen unverzüglich und ohne Rücksicht auf die Verdienste ihrer jüdischen Kameraden verwirklichten. 33 Ein beschämendes Kapitel sind darüber hinaus die Arisierungen jüdischen Eigentums, von denen einige Fußballstars profitierten, 34 oder die im „Nachrichtenblatt“ des TSV München von 1860 publizierten antisemitischen Hetztiraden. 35 25 Vgl. G ERHARD F ISCHER / U LRICH L INDNER , Stürmer für Hitler: Vom Zusammenspiel zwischen Fußball und Nationalsozialismus (1999), dritte Auflage, Göttingen 2002, 50; A N- TON L ÖFFELMEIER , Die „Löwen“ unterm Hakenkreuz: Der TSV München von 1860 im Nationalsozialismus, Göttingen 2009, 70. 26 Vgl. H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 160f. 27 Vgl. H ERZOG , Betze (wie Anm. 6), 32-52. 28 Vgl. M ATTHIAS T HOMA , „Wir waren die Juddebube“: Eintracht Frankfurt in der NS-Zeit, Göttingen 2007, 67-70, 88, 115f., 126-129. 29 Vgl. D ANIEL K OERFER , Hertha unter dem Hakenkreuz: Ein Berliner Fußballclub im Dritten Reich, Göttingen 2009, 64f., 76-79, 159, 194, 273f. 30 Vgl. B ACKES , FC St. Pauli (wie Anm. 23), 48-50, 91f. 31 Vgl. T HOMA , Juddebube (wie Anm. 28), 89f., 128. 32 Vgl. B ACKES , FC St. Pauli (wie Anm. 23), 48f., 91. 33 Vgl. B ERND S IEGLER , Eine Fahrkarte nach Jerusalem: Der 1. FC Nürnberg wird „judenfrei“, in: nurinst 2006: Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Bd. 3: Schwerpunktthema: Fußball (Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts), Nürnberg 2006, 13-34, hier 13-28. 34 Vgl. G OCH / S ILBERBACH , Schalke (wie Anm. 6), 165-180; M ATTHIAS M ARSCHIK , Helden des runden Leders in der „Eigenwelt“ Stadion: Fußballstars im „Altreich“ und in der „Ostmark“, in: H ERZOG , Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus (wie Anm. 7), 313-323, hier 321. 35 Vgl. bspw. F RANZ G RUNDNER , Die Weltteufel, in: Nachrichtenblatt Turn- und Sportverein München von 1860 e.V., Jg. 25 (März 1936), Nr. 3, 33-35; A RNULF S TRECK , 10 Gebote Markwart Herzog 410 Auf lokaler Ebene wurde die Undurchsichtigkeit der Verhältnisse dadurch gesteigert, dass die einzelnen Abteilungen der Sportvereine an unterschiedliche Vorgaben der jeweiligen Fachämter gebunden waren. Anders als in der Fußballabteilung, beispielsweise bei Eintracht Frankfurt, wurden die Boxsportler von den Wettbewerben ausgeschlossen, ebenso die Tennisspieler, die auf Weisung des Deutschen Tennisverbandes überdies gehalten waren, deutsche Tennisbälle zu verwenden; gleichermaßen erließen die Deutsche Turnerschaft, der Deutsche Schwimmverband und der Deutsche Ruderverband „Arierparagrafen“, die sehr viel weiter reichten als die Vorgaben des DFB. 36 Das in der Frage der „Arisierung“ sehr unterschiedliche Verhalten der Fußballclubs wurde von der kritischen Sportgeschichtsschreibung mit pauschalisierenden Urteilen teilweise so „unkritisch“ dargestellt, dass sie der Vielschichtigkeit der Materie nicht gerecht zu werden vermochte. Lorenz Peiffers wahrheitswidrige These vom „verordneten Ausschluss der jüdischen Mitglieder“ 37 aus dem DFB resultiert vermutlich aus einer schwer verständlichen Verwechslung: Die Deutsche Turnerschaft (DT) hatte in der Tat eine generelle „Arisierung“ angeordnet, wohingegen der DFB keinen derartigen „Ariererlass“ propagierte, gleichwohl auf der Ausschaltung jüdischer Mitglieder aus leitenden Positionen in der Funktionärsebene der Verbände und Vereine bestand. In immer neuen Anläufen versuchte Peiffer, das Verhalten der DT in der „Judenfrage“, ohne sich auf Quellen stützen zu können, auf den DFB zu übertragen. Seine Argumentation verhedderte sich in innere Widersprüche, und einige der von ihm herangezogenen Belege sind schon bei oberflächlicher Betrachtung ungeeignet, die Generalthese von vorauseilender Selbstgleichschaltung, exemplifiziert am Beispiel des Antisemitismus, zu tragen. Sogar dann, wenn die von ihm analysierten „kleinen Strukturen“ lokaler Sportgeschichten eindeutig gegen seine Generalthese vom vorauseilenden Gehorsam des Sports am Beispiel der „Judenfrage“ sprechen, referierte er sie, ohne sich über den offenkundigen Selbstwiderspruch im Klaren zu sein. So berief er sich beispielsweise auf den Fall des jüdischen Fußballnationalspielers Julius Hirsch, der 1943 ein Opfer der Shoa wurde. 38 Als Hirsch von den Bestrebungen süddeutscher Fußballclubs, jüdische Mitglieder auszuschließen, erfahren hatte, erklärte er im April 1933 seinen Austritt aus dem Karlsruher FV (KFV), um seinem Verein, dem er Jahrzehnte lang angehört hatte, nicht zur Last zu der Rassenpolitik, in: Nachrichtenblatt Turn- und Sportverein München von 1860 e.V., Jg. 26 (2. April 1936), Nr. 4, 50. 36 Vgl. T HOMA , Juddebube (wie Anm. 28), 44-53. 37 So beispielsweise P EIFFER , Rezension von: G OCH / S ILBERBACH , Schalke (wie Anm. 24). 38 Zum Folgenden L ORENZ P EIFFER , Gefeiert, verfolgt, ermordet - und dann vergessen? Das Schicksal des Julius Hirsch und anderer jüdischer Sportler, in: nurinst 2008: Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Bd. 4: Schwerpunktthema: Entrechtung und Enteignung (Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts), Nürnberg 2008, 49-62, hier 58-61. „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 411 fallen. 39 Der Vorstand des KFV indes bedauerte Hirschs Entschluss zum Vereinsaustritt und lehnte im August 1933 dessen Gesuch ab, bat ihn statt dessen im Verein zu verbleiben. In Peiffers Argumentation erfüllt das Beispiel Hirsch die Funktion eines Beleges für die angeblich offene Bereitschaft der Fußballclubs zur Arisierung ihres Mitgliederbestandes, ohne durch Anordnungen von oben dazu genötigt gewesen zu sein. Aber gerade beim KFV war das Gegenteil der Fall: Der Verein hatte Hirschs Austrittsgesuch nicht nur abgelehnt, sondern ihn noch im April 1933 eingeladen - und Peiffer zitiert sogar die dafür einschlägige Quelle -, den Beisitz im Preisgericht eines Jugendsportwettkampfs des KFV zu übernehmen. Ein zweites Beispiel, das Peiffer immer wieder ausgebreitet hat, 40 betrifft die Arisierungspolitik des Magistrats von Hannover. Die dortige Stadtverwaltung hatte den paritätischen Turn- und Sportvereinen mit dem ihre Existenz bedrohenden Entzug von Unterstützung und finanziellen Zuwendungen gedroht, wenn sie sich weigerten, einen „Arierparagrafen“ in ihre Satzungen aufzunehmen. Aber warum mussten derart massive Drohszenarien aufgebaut werden, um die Vereine zu einer rassistischen Säuberung ihrer Mitgliederschaft zu bewegen, wenn auf ihrer Seite die von Peiffer behauptete „offene Bereitschaft“ in „vorauseilendem Gehorsam“ 41 angeblich schon vor der „Machtergreifung“ der NSDAP vorhanden war? Der Selbstwiderspruch dieser Argumentation fällt in beiden genannten Beispielen so deutlich aus, dass der manipulative Gebrauch von Quellen für die Bestätigung des vorgefassten Urteils einer sich „kritisch“ gebenden „Großerzählung“ offenkundig ist. Sie ist typisch für eine Hermeneutik, die mehr auf moralische Empörung als auf historischen Erkenntnisgewinn setzt. Gerade die Behandlung der „Judenfrage“ unter den Bedingungen der klein strukturierten Verhältnisse in lokalen Turn- und Sportvereinen, insbesondere in Fußballclubs, bietet für eine quellennahe und unvoreingenommene Sporthistoriografie viel Überraschendes, das man nicht aus den antisemitischen Beschlüssen der DT ableiten kann. 2.2. Völkische Schulung: das „Dietwesen“ Ein weiteres interessantes Beispiel bietet der Versuch, den Vereinen durch theoretische Schulung die nationalsozialistische Weltanschauung einzuflößen. Seit dem Jahr 39 Vgl. S WANTJE S CHOLLMEYER , Julius „Juller“ Hirsch: 1892 Achern - 1943 Auschwitz. Deutscher Fußballnationalspieler, Berlin 2007, 24. 40 Vgl. z.B. L ORENZ P EIFFER , „... unser Verein ist judenfrei“. Die Funktion der deutschen Turn- und Sportbewegung in dem politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozess nach dem 30. Januar 1933, in: SportZeiten: Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft 7 (2007), Nr. 2, 7-30, hier 24f.; dazu kritisch M ARKWART H ERZOG , „Eigenwelt“ Fußball: Unterhaltung für die Massen, in: DERS . (Hrsg.), Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus (wie Anm. 7), 11-35, hier 13 mit Anm. 22. 41 Zum Vorherigen P EIFFER , Gefeiert (wie Anm. 38), 55f., Zitate ebd., 54f. Markwart Herzog 412 1934 hatte die Reichssportführung die Dietarbeit, also die aus der Turnbewegung stammende völkische Schulung, für alle Turn- und Sportvereine verbindlich angeordnet. Es gab einen Reichsdietwart, Gau-, Bezirks- und Kreisdietwarte und in den Vereinen selbst die Vereinsdietwarte. Sie hatten die Aufgabe, die Sportler nationalsozialistisch umzuerziehen, die Vereinsmitglieder völkisch zu indoktrinieren und den Sport zu politisieren. Bei der von den Fußballclubs nach außen hin demonstrierten Begeisterung für den Nationalsozialismus müsste man erwarten, dass die Dietarbeit problemlos angenommen worden wäre. Gleichwohl sprechen die bisher publizierten Regional- und Lokalstudien eine andere Sprache. 42 Denn für die Besetzung der entsprechenden Dietwartposten wurden in vielen Fällen völlig ungeeignete Persönlichkeiten ausgewählt, oft wurden die Dietabende extrem schlecht besucht oder aber für ganz andere Zwecke verwendet. So beklagte man beispielsweise in einem Bericht über einen solchen Dietabend, dass „beim Eisbeinessen von sudetendeutscher Not gesprochen“ 43 worden sei. Größeren Zuspruch fanden die Dietabende gleichwohl dann, „wenn man sie mit Kneipabenden zusammenlegte“. 44 Darüber hinaus waren die Sportvereine gehalten, die vom Reichsdietwart herausgegebene Zeitschrift zu abonnieren, eine Pflicht, der die Vereine, wie regionalhistorische Untersuchungen zeigen, zu weniger als 50 Prozent nachgekommen sind. Als sich abzeichnete, dass die Dietarbeit scheitern würde, versuchten die Behörden, theoretische Prüfungen („völkische Aussprachen“) einzuführen, mit denen man sich für die Teilnahme an Sportwettbewerben erst qualifizieren musste. 45 Aber auch diese Zwangsmaßnahme wurde alsbald wieder aufgegeben. Bereits wenige Jahre nach ihrer Einführung erwies sich die Dietarbeit als Rohrkrepierer. Die Reichssportführung konnte sie trotz aller Zwangsmaßnahmen nicht in den kleinen Strukturen der Vereine durchsetzen. 2.3. Volksgemeinschaft versus Vereinsfanatismus Das bisher Gesagte soll also keineswegs bedeuten, dass die NS-Politiker keine Anstrengungen unternommen hätten, den Sport für ihre Zwecke zu instrumentalisie- 42 Vgl. dazu H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 132-134; H ERZOG , Betze (wie Anm. 6), 106-108; T HOMA , Juddebube (wie Anm. 28), 70f., 210; K OERFER , Hertha (wie Anm. 29), 57-59; L ÖFFELMEIER , Löwen (wie Anm. 25), 85-88. 43 Zit. in: B ERNHARD S CHWANK , Weltanschauliche Schulung im Sport - das Dietwesen im Gau Hessen-Nassau in der Zeit des Nationalsozialismus, in: H ANS -G EORG M EYER / H ANS B ERKESSEL , Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd. 1, Mainz 2000, 169- 181, hier 175. 44 L ÖFFELMEIER , Löwen (wie Anm. 25), 88. 45 Vgl. S CHWANK , Weltanschauliche Schulung (wie Anm. 43), 175f. „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 413 ren. Ganz im Gegenteil war gerade das Dietwesen ein solcher Versuch, der aber weitgehend fruchtlos blieb. Ein weiteres in unserem Kontext sehr aussagekräftiges Phänomen ist der „Vereinsfanatismus“. 46 Was ist damit gemeint? Spätestens seit der Zeit der Weimarer Republik waren viele Fußballclubs durch lokale oder regionale Konkurrenz miteinander verfeindet. Die nationalsozialistische Sportpolitik wollte diesem Missstand ein Ende setzen, sollten doch die Vereine zu klein dimensionierten lokalen NS- Volksgemeinschaften ausgebaut werden. Aber die Realität des Alltags wich auch in der NS-Zeit meilenweit von dieser Zielvorgabe ab. 47 Denn einerseits standen, wie gesagt, die Fußballclubs der Arisierungspolitik der NSDAP relativ desinteressiert gegenüber. Andererseits gab es eine ausgesprochene „segmentäre“ Solidarität und Rivalität der Fangruppen. Die Identifikation mit dem eigenen Fußballclub wurde zementiert durch die Rivalität mit anderen Clubs. Häufig bestanden die kommunalen und regionalen Feindschaften schon lange Jahre vor der Gründung der Vereine, so dass die Fußballgegnerschaften in ein bereits bestehendes Netz von Lokalrivalitäten inkulturiert waren. Durch Stadtviertel und Nachbarschaft, Spielplätze und Vereinsgaststätten oder das Mäzenatentum ortsansässiger Firmen waren sie lokal verortet und alltagskulturell eingebunden. Die innerstädtischen Grenzen waren teilweise derart scharf gezogen, dass man es nicht wagen konnte, das Terrain eines anderen Stadtteilclubs zu betreten, ohne sich dem Risiko von Prügeln, Beleidigungen und Drangsalierungen auszusetzen. Mit der von der NSDAP ausgerufenen „Volksgemeinschaft in Leibesübungen“ hatten diese Gemeinschaften wenig zu tun. Mit allen legalen und illegalen Mitteln - durch Randale, Tumulte und Proteste, Unsportlichkeiten auf dem Spielfeld, Bedrohung und Gewaltanwendung gegen Schiedsrichter, an denen sich sogar NS- Lokalpolitiker beteiligen konnten, 48 permanente gerichtliche Anfechtung von Spielresultaten, ständiges Prozessieren, Korruption und Denunziation - versuchten Anhänger und Vereinsvorstände, ihre Interessen durchzusetzen, und verstießen damit ohne Unterlass gegen die offiziell verkündete NS-Volksgemeinschaftsideologie. Gewalttätige Tumulte und Rachefeldzüge, Polizeieinsätze im Stadion und Spielabbrüche waren vor und nach 1933 an der Tagesordnung. Die Politik bekam die subkulturelle Eigenwelt der Clubanhängerschaften und ihre exklusive, ja fanatische 46 Dazu und zum Folgenden O SWALD , „Fußball-Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 19), 211-299. 47 Dazu auch M ARKWART H ERZOG , „Blitzkrieg“ im Fußballstadion: Der Spielsystemstreit zwischen dem NS-Sportfunktionär Karl Oberhuber und Reichstrainer Sepp Herberger, Stuttgart 2012, 10f. (Lit.), 20f., 45f.; DERS ., Sport im Nationalsozialismus - Sport unter der Herrschaft der Ideologie? Der Fußballsystemstreit zwischen Reichstrainer Josef „Sepp“ Herberger und dem bayerischen Sportbereichsführer Karl Oberhuber, in: M ICHAEL K RÜGER (Hrsg.), Erinnerungskultur im Sport: Vom kritischen Umgang mit Carl Diem, Sepp Herberger und anderen Größen des deutschen Sports, Münster 2012, 101-118. 48 Vgl. H ERZOG , Betze (wie Anm. 6), 98f. Markwart Herzog 414 Fixierung auf den je eigenen Verein disziplinarisch, organisatorisch und verwaltungstechnisch nie in den Griff. Dabei ging es beileibe nicht nur um das Gewinnen im Stadion. Vielmehr wurde die Ehre der Kommune oder des eigenen Stadtviertels auch nach dem Spiel verteidigt: in Raufereien mit den Anhängern der Auswärtsmannschaft in und außerhalb des Stadions oder auch auf dem Weg zum oder vom Bahnhof. Das von oben dekretierte Volksgemeinschaftsideal konnte sich in den subkulturellen Fußballvereinsgemeinschaften jedenfalls nie durchsetzen. 2.4. Fehlende „weltanschauliche Exerzitien“ in der Sportpresse Auch von der Sportfachpresse könnte man erwarten, dass sie sich nach der Gleichschaltung und dem Ausschluss jüdischer Journalisten und Redakteure 49 einschneidend verändert hätte, dass sie signifikant politischer geworden wäre. Aber das war keineswegs der Fall. Es gibt mittlerweile einige Detailuntersuchungen, 50 die belegen, dass die Sportberichterstattung den üblichen Routinen verhaftet blieb. Erst in den Kriegsjahren wurde eine militaristischere Interpretation des Sports signifikant, vor allem in Glossen, Kolumnen und Kommentaren. Aber die Sportberichterstattung im engeren Sinn blieb weitgehend unangetastet und wurde kaum für „weltanschauliche Exerzitien genutzt“. 51 Das gilt für Wort- und Bildbeiträge gleichermaßen. Auch die visuelle Kommunikation des Sports weist kaum Spezifika des Nationalsozialismus auf, sie ist in Fotografie, Karikatur, Kinofilm und Wochenschau ideologisch unterbelichtet geblieben. 52 Trotz der Gleichschaltung konnte beispielsweise noch im Jahr 1941 ein großer Konflikt um den Fußballsport in den Medien, in Sportfachzeitschriften und Tageszeitungen, also vor einer denkbar breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden. Zu dieser Zeit versuchte der bayerische Sportbereichsführer Karl Oberhuber mit Rückendeckung von Gauleiter Adolf Wagner 53 , den Fußball zu revolutionieren. Er wollte Konsequenzen aus Hitlers „Blitzkrieg“ ziehen und das Spiel mit dem runden Leder attraktiver und aggressiver, offensiver und torreicher machen. Dabei stand ihm Reichstrainer Sepp Herberger im Weg, der - orientiert am Vorbild des englischen Fußballs - großen Wert auf eine gepflegte Defensive legte. Trotz ausdrücklichen Verbots der Berliner Reichssportführung instrumentalisierte Oberhuber Teile 49 Dazu E RIK E GGERS , „Deutsch wie der Sport, so auch das Wort! “ Zur Scheinblüte der Fußballpublizistik im Dritten Reich, in: H ERZOG , Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus (wie Anm. 7), 161-181, hier 165-167. 50 Vgl. z.B. H ERZOG , Betze (wie Anm. 6), 236-256 (Lit.). 51 E GGERS , Scheinblüte (wie Anm. 49), 172 (im Anschluss an Hajo Bernett). 52 Dazu die Einzeluntersuchungen in: H ERZOG , Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus (wie Anm. 7). 53 Vgl. J OACHIM L ILLA , Wagner, Adolf, in: Staatsminister, leitende Verwaltungsbeamte und (NS-) Funktionsträger in Bayern 1918 bis 1945, URL <http: / / verwaltungshandbuch. bayerische-landesbibliothek-online.de/ wagner-adolf> (Zugriff am 25.11.2012). „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 415 der Sportpresse monatelang für seinen geradezu missionarischen bajuwarischen Partikularismus und Separatismus. In diesem Fall einer, wenn auch letztlich gescheiterten, ideologisch befeuerten regionalen Sportpolitik verbindet sich das Thema „kleine Strukturen“ mit den polykratischen Verhältnissen des Nationalsozialismus. Abweichend vom Mainstream bietet dieses Kapitel der Mediengeschichte des Fußballs im Nationalsozialismus in der Tat ein Exempel für ideologische Exerzitien. 3. Die Konsequenzen der Sportpolitik Karl Oberhubers für Schwaben Der Kern des zwischen dem kurpfälzischen Reichstrainer und dem oberbayerischen Sportbereichsführer ausgetragenen Spielsystemstreits 54 bestand im Wesentlichen darin, dass Herberger den Mittelläufer als eine Art „Ausputzer“, genannt „Stopper“, in der Verteidigung aufstellte. Während Oberhuber mit mindestens fünf Stürmern spielen lassen wollte, zog Herberger auch den halblinken und den halbrechten Stürmer als Halbstürmer ins Mittelfeld zurück, hatte in seinem System also nur drei Stürmer vorgesehen - eine Spielweise, die für Oberhuber neben dem Makel des englischen Ursprungs „ihr Gepräge erhielt durch die Jahre des Pazifismus der vergangenen und überwundenen Systemzeit vor 1933“. 55 Die „Augsburger National-Zeitung“ verkündete vor diesem Hintergrund und ganz in Oberhubers Sinn: Gerade den fuggerstädtischen Vereinen komme ein „offensives Mittelläuferspiel“ bzw. ein „Schönheits-Fußball“ mit „der in einer Front vorgehenden Angriffslinie“ 56 der fünf Vollstürmer in besonderer Weise entgegen. 3.1. „Bayerns Revolution“ gegen Sepp Herberger - auch in Augsburg Dass dieser Spielsystemstreit auch für den Sportgau Schwaben im Sportbereich XVI (Bayern) des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen (NSRL) nicht nur in der Augsburger Presse seinen Niederschlag fand, sondern auch praktische 54 Vgl. dazu H ERZOG , Blitzkrieg (wie Anm. 47), 29f.; „Im Fußball jetzt offensiver Mittelläufer“, in: ANZ, 29.7.1941; „In Zukunft: Offensivspiel in Bayern - Durch Aenderung der Spieltaktik zur Hebung der Spielstärke“, in: ANZ, 19.2.1941; „Die Tage des ‚Stoppers‘ sind in Bayern gezählt: Neuer Schwung im Fußball durch betontes Offensivspiel“, in: NAZ, 19.2.1941. 55 K ARL O BERHUBER , Fußball - wie ich ihn sehe. Zum Thema „Stopper“, in: Fußball - Illustrierte Sportzeitung, Nr. 51, 17.12.1940, 7. 56 „In Zukunft: Offensivspiel in Bayern“ (wie Anm. 54). Markwart Herzog 416 Abb. 1: Telegramm des Augsburger HJ-Funktionärs Wilhelm Nusser an Reichstrainer Sepp Herberger, Anfang April 1941 (Deutscher Fußball-Bund, Archiv, Nachlass Herberger, Sa/ B, Nr. 289, 2). Konsequenzen nach sich zog, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Denn ein Kapitel dieses Konflikts, den die in Berlin verlegte „Fußball-Woche“ auf dem Titelblatt der Ausgabe vom 18. Februar 1941 als „Bayerns ‚Revolution‘“ 57 gegen Herbergers Spielsystem dramatisierte, wurde in der Fuggerstadt ausgetragen. 58 Der Dissens entzündete sich an der Planung eines Fußballlehrgangs für Spitzenkönner der Hitlerjugend (HJ) aus Baden und Württemberg, Franken und Schwaben, für dessen Leitung Herberger eingeplant war. Die Reichsjugendführung hatte den Lehrgang in Absprache mit dem NSRL-Fachamt Fußball auf dem Gelände der TSG Lechhausen für die Zeit vom 7. bis 11. April 1941 angesetzt. Als Oberhuber davon erfuhr, setzte er alles daran, Herberger auszuschalten. Er übte auf die lokale HJ-Führung Druck aus, dem Reichstrainer wahrheitswidrig zu telegrafieren, das Training falle aus (Abb. 1). Statt dessen engagierte er den in seinen Diensten stehenden Sportbereichstrainer Josef „Sepp“ Pöttinger, einen ehemaligen Spieler des FC Bayern München und der Nationalelf. Gleichzeitig ließ Oberhuber das NSRL-Fachamt Fußball davon 57 Die Fußball-Woche, Brandenburgische Ausgabe, Nr. 7, 18.2.1941, 1. 58 Dazu und zum Folgenden H ERZOG , Blitzkrieg (wie Anm. 47), 85-92. „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 417 in Kenntnis setzen, dass Herberger durch Pöttinger ersetzt worden sei. Sicher befürchtete Oberhuber, dass sein Kontrahent die bayerische Fußballjugend durch zu defensiven, angeblich pazifistischen und obendrein englischen Fußball charakterlich verderben würde. Mit dieser Blockadepolitik hatte sich Oberhuber nicht nur mit Herberger und der Reichssportführung angelegt, sondern auch mit der Reichsjugendführung, deren mit Herberger geplante HJ-Lehrgänge, sofern sie in Bayern vorgesehen waren, er auch in anderen Fällen sabotierte. Sowohl im Stadtarchiv als auch im Staatsarchiv Augsburg konnten keine für den Herberger-Oberhuber-Konflikt einschlägige Akten ermittelt werden. Gleichwohl lassen sich der Lokalpresse einige Details entnehmen, die den bisherigen Kenntnisstand 59 erweitern. Die „Augsburger National-Zeitung“ hatte den strittigen Lehrgang am 26. März angekündigt. 60 Am 8. April informierte sie über den Trainerwechsel und führte dazu aus: „Die Umstände zwangen dazu, mit dem theoretischen Teil des Lehrganges zu beginnen“, um „das bisherige System“, also das von Herberger gelehrte, mit „der künftigen Spielweise mit dem offensiven Mittelläufer“ 61 auszutauschen. Die zitierten Formulierungen machen deutlich, wie sehr diese bayerische „Revolution“ von ideologischen Gesichtspunkten diktiert war. Deshalb musste vor dem eigentlichen Training auf dem Rasen zunächst die neue Theorie gepaukt werden. An dem Lechhausener Lehrgang nahmen einige Jugendspieler teil, die später, teilweise in der Nationalelf, Karriere machten: Ein Weltmeister von 1954, Max Morlock (1. FC Nürnberg), befand sich unter ihnen, sowie Helmut Herboldsheimer (1. FC Nürnberg) und Robert Schlienz (VfB Stuttgart). 62 Bei späteren in Schwaben durchgeführten Lehrgängen wurde Pöttinger, der zur Wehrmacht einrücken musste, durch den ehemaligen Nationalspieler Hans „Bumbas“ Schmidt ersetzt, der von der bayerischen Sportbereichsführung ebenfalls als „Wanderlehrer“ 63 engagiert worden war. Seine politische Mission bestand in der Umerziehung „zum offensiven Spiel“, wie er der „Augsburger National-Zeitung“ erläuterte: Es gehe darum, dass man „im offenen Kampf wieder Prachttore zu sehen bekomme, die aus dem flüssigen Angriffssystem erzielt werden“. Mit der „Einführung des offensiv spielenden Mittelläufers“ anstelle des defensiven Stoppers werde die „Schönheit des Fußballspieles“ ge- 59 Vgl. H ERZOG , Blitzkrieg (wie Anm. 47), 85-92. 60 „Reichstrainer Herberger lehrt in Augsburg“, in: ANZ, 26.3.1941. - Vgl. ferner „Tagung der Bannfachwarte für Fußball und Handball“, in: NAZ, 29.1.1941; „HJ-Fußball im Kriege“, in: NAZ, 14.10.1940; „HJ-Fußballsport im Kriege: Kriegsarbeitstagung der Gebietsfachwarte für Fußball“, in: ANZ, 15.10.1940. 61 „Pöttinger schult Fußballnachwuchs“, in: ANZ, 8.4.1941. 62 Vgl. „Pöttinger schult Fußballnachwuchs“ (wie Anm. 61); „Sechs Wochen trainiert Pöttinger schwäbische Fußballer“, in: NAZ, 31.5.1941. - Vgl. auch „HJ-Fußball-Lehrgang abgeschlossen“, in: NAZ, 16.4.1941. 63 Dazu H ERZOG , Blitzkrieg (wie Anm. 47), 87f. Markwart Herzog 418 fördert. „Durch die beiderseitige offene Kampfeinstellung, indem ein Angriff dem anderen folgt, kommt das Prinzip zum Durchbruch, daß der Angriff immer noch die beste Verteidigung ist“. Und eben dies sollte in der damals ausgetragenen Augsburger Stadtmeisterschaft demonstriert werden. 64 Sie fand statt „Im Zeichen des offensiven Mittelläufers“, wie die „Neue Augsburger Zeitung“ titelte. 65 Schmidt wies die konkurrierenden Vereine in das neue Spielsystem ein, damit „die Mannschaften zum ‚Normalsystem‘, dem Angriffsspiel im eigentlichen Sinne des Wortes“ umkehren. Ende Juli 1941 habe man in diesem Wettbewerb „das Angriffsspiel mit dem vorrückenden Mittelläufer an Stelle des blockierenden und abstoppenden Mittelläufers erstmals in der Praxis ausgeführt“. 66 3.2. „Ortssportgemeinschaften“: Vollendung der Gleichschaltung Oberhubers Sportpolitik verschaffte sich in Bayerisch-Schwaben noch auf einer anderen Ebene Geltung: Mit Unterstützung von Sportgauführer Dr. Willy Förg 67 ließ die Sportbereichsführung zahlreiche Augsburger Turn- und Sportvereine fusionieren. Neben etlichen Ämtern in der Augsburger Kommunalpolitik 68 war der Jurist und Diplom-Volkswirt auch als Sportler, Funktionär und Sportpolitiker aktiv. Förg, NSDAP-Mitglied seit dem 1. Dezember 1931, war leidenschaftlicher Bergwanderer, aktiver Skisportler im SSV Schwaben Augsburg, von 1926 bis 1939 Leiter der Skiabteilung dieses Vereins. Vom Sommer 1933 bis 1935/ 36 wirkte er als Sonderbeauftragter bzw. Beauftragter des Reichssportführers für den Gau Schwaben und von 1941 an als Sportgauführer für Schwaben (Abb. 2). 69 Die genannten Zusammenschlüsse standen von Anfang an auf der Agenda der Sportpolitik Oberhubers und bilden ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der „zweiten Gleichschaltung“ der Turn- und Sportvereine. Sie wurden mit Förgs enga- 64 Die vorhergehenden Zitate in: „Im Fußball jetzt offensiver Mittelläufer“, in: ANZ, 29.7.1941. 65 „Im Zeichen des offensiven Mittelläufers: 13: 1 (6: 0) für TSV Schwaben 1847 gegen TSG“, in: NAZ, 31.7.1941. 66 „Heute erstmals offiziell ‚offensiver Mittelläufer‘ im Spiel TSV ’47 Schwaben gegen TSG um die Stadtmeisterschaft“, in: NAZ, 30.7.1941; vgl. „Auch BCA mit offensiver Läuferreihe“, in: NAZ, 2.8.1941. 67 Vgl. H ERZOG , Blitzkrieg (wie Anm. 47), 67. 68 Vgl. B ERNHARD G OTTO , Nationalsozialistische Kommunalpolitik: Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933-1945, München 2006, 54f., 62-64, 92-95, 199-205, 280-282 u.ö. 69 Vgl. F ÖRG , Antrag auf Haftentlassung, undatiert: StadtAA, Nachlass Dr. Willy Förg (im Folgenden NL Förg), A 2; DERS ., „Rechtfertigungsschrift“, 27 Seiten, undatiert (1946): StadtAA, NL Förg, A 4; DERS ., Schreiben an Spruchkammer II - Augsburg Stadt, 22.2.1948, 10 Seiten: StadtAA, NL Förg, A 7. „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 419 Abb. 2: Zeitungsfoto von der Sonderarbeitstagung des NSRL-Sportbezirks Schwaben am 5. März 1943 in der Turnhalle des TV Augsburg 1847, auf dem Bereichssportführer Karl Oberhuber und Sportgauführer Willy Förg auffallend angespannt und verkrampft wirken (Neue Augsburger Zeitung, 7.3.1941). gierter Unterstützung vor allem in der Fuggerstadt durchgeführt und mit der Ideologie des NSRL unterfüttert. 70 Gleichwohl lassen sich in den einschlägigen Akten über die von Auflösung und Fusion betroffenen Vereine, 71 die im Stadtarchiv Augsburg liegen, zu diesen Vorgängen ebenso wenig Unterlagen finden wie in Förgs Nachlass, der ebenfalls im Stadtarchiv liegt. 72 Lediglich eine Akte dieses Bestandes 73 enthält Zeitungsausschnitte zum Sport aus den Jahren 1939 bis 1942, darunter auch 70 Vgl. H ERZOG , Blitzkrieg (wie Anm. 47), 66f. 71 Vgl. StadtAA, V 2, Nr. 704: TS Union Augsburg 1885 (1929-1941); StadtAA, V 2, Nr. 795: Radfahrerklub „Feucht“ Augsburg X, Augsburg-Lechhausen (1904-1940); StadtAA, V 2, Nr. 696: Schwimmverein Augsburg; StadtAA, V 2, Nr. 700: Turnverein Stadtbach (1929-1939); StadtAA, V 2, Nr. 812: Radlerclub Stadtbach (1929-1940); StadtAA, V 3, Nr. 217: TSV 1847 Schwaben Augsburg (1946-1947, Wiederzulassung). 72 Vgl. StadtAA, NL Förg, Kartons 1-4. 73 Vgl. StadtAA, NL Förg, A 1. Markwart Herzog 420 Abb. 3: Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten empfängt bayerische Sportfunktionäre, unter ihnen als Dritten von links den Sportgauführer Schwabens, Willy Förg (Stadtarchiv Augsburg, Nachlass Willy Förg, Karton 4) einige Artikel über Förgs Beteiligung an Oberhubers Fusionspolitik (Abb. 3). Insgesamt bieten Berichte der Tagespresse 74 die wichtigste Quelle zu diesem Thema. Über Augsburg hinaus sind in Schwaben weitere Vereinszusammenschlüsse, unter anderem in Günzburg, Rain am Lech, Leipheim und Offingen an der Donau, nachgewiesen, an denen Förg beteiligt war. 75 In einem Fall erfolgte der Zusammenschluss auf direkte „Anregung des NSRL-Gausportführers Dr. Förg“. 76 In Günzburg 74 Vgl. „Morgen Gründungsversammlung der TSG“, in: ANZ, 18.4.1941; ke, TSV 1847 Schwaben Sammelbecken der Leibesübungen: Festliche Gründungsfeier des neuen Augsburger Großvereins, in: ANZ, 16.6.1941. - Vgl. auch „‚Turn- und Sportgemeinschaft Augsburg‘: TS Union und VfL Lechhausen haben sich nach einstimmigem Beschluß der Mitglieder zusammengeschlossen“, in: NAZ, 24.3.1941; „Morgen Gründungsversammlung der TSG“, in: NAZ, 18.4.1941; „Ein wichtiger Tag für Augsburgs Leibesübungen: Die Turn- und Sportgemeinschaft Augsburg feierlich gegründet“, in: NAZ, 21.4.1941. 75 Vgl. ka, Die Idee der Gemeinschaft ist bestimmend - Gedanken zur Gründung des Augsburger Großvereins für Leibesübungen: TSV 1847 Schwaben, in: ANZ, 17.6.1941; „Augsburg, Schwabens sportlicher Mittelpunkt: Sportgauführer Dr. Förg über Leistungen von heute und Pläne für morgen“, in: München-Augsburger Abendzeitung, 3.4.1941 (StadtAA, NL Förg, A 1). 76 „Einstimmiger Beschluß: TVA und Schwaben gehen zusammen: Bedeutungsvolle Entscheidung für Augsburgs künftiges Sportleben“, in: NAZ, 28.3.1941. „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 421 ließ sich die Fusion der vier örtlichen Vereine offenkundig nicht ganz so reibungslos zum Abschluss bringen, wie geplant, denn „die letzten Hindernisse“ 77 mussten mit Hilfe des NSDAP-Kreisleiters und des Bürgermeisters ausgeräumt werden. Den offenkundigen politischen Zweck dieser Fusionen verrät nicht zuletzt die in der Sportberichterstattung der schwäbischen Tagespresse verwendete Terminologie. So habe die Günzburger Fusion das Ziel verfolgt, „durch einen Verein von vornherein schon die Ortssportgemeinschaft herzustellen“. 78 In dieselbe Richtung zielte die Bemerkung, dass man sich auch „in Augsburg auf dem Wege zur Gründung von Ortssportgemeinschaften“ 79 befinde. Bei der Feier der Günzburger Großfusion verkündete Förg, er werde die Frage nach weiteren Zusammenschlüssen „an alle jene Vereinsführer richten, wo es möglich und notwendig sein wird, an einem Ort einen NSRL-Verein zu haben.“ 80 In Günzburg sei, so die „Neue Augsburger Zeitung“, „eine jener Ortssportgemeinschaften entstanden, die später allgemein in die Praxis umgesetzt werden sollen“, was dieses Beispiel „weit über seine örtliche große Bedeutung herausheben“ 81 würde. Ähnliches galt in Augsburg für den damals aus Fusionen hervorgegangenen TSV 1847 Schwaben: „Er ist also schon - was ja mit diesen im ganzen Reich geplanten Zusammenschlüssen auch bezweckt wird - ein ‚Reichsbund im kleinen‘“. 82 Ebenso wie Oberhuber 83 arbeitete Förg auf die Etablierung von vielseitigen, großen und leistungsstarken lokalen Vereinen hin, „mit dem Ziel, innerhalb einer Ortssportgemeinschaft einen Reichsbund im Kleinen zu schaffen“, 84 und nannte deshalb „als zweckmäßiges und wichtiges Erfordernis die örtliche Zusammenfassung aller Sportarten in einem einzigen NSRL-Verein“, 85 um die 77 „Ein Großverein für Leibesübungen in Günzburg: Beispielhafter Entschluß der Günzburger Turn- und Sportvereine“, in: ANZ, 28.1.1941. 78 „Ein Großverein für Leibesübungen in Günzburg“ (wie Anm. 77) (Hervorhebung nicht im Original). 79 „Sportvereins-Zusammenschluß in Lechhausen“, in: ANZ, 3.12.1940 (zur Fusion des Radfahrerbundes 1893 Lechhausen und des VfL Lechhausen). 80 „Ein Großverein für Leibesübungen in Günzburg“ (wie Anm. 77) (Hervorhebung nicht im Original). 81 „Eine Ortssportgemeinschaft in Günzburg als Beispiel: Alle vier Günzburger Vereine des NSRL haben sich zusammengeschlossen“, in: NAZ, 28.1.1941. 82 „‚TSV 1847 Schwaben Augsburg‘ des Gaues größter Sportverein: Der innerstädtische Großverein Wirklichkeit geworden - Zusammenschluß nach den Richtlinien einer neuen Zeit“, in: NAZ, 16.6.1941. 83 Vgl. J OSEPH W IPP , Gesammelte Kräfte, in: Münchner Abendblatt, 19.3.1941 (StadtAA, NL Förg, A 1). - Zu Oberhubers journalistischem Mitstreiter Wipp H ERZOG , Blitzkrieg (wie Anm. 47), 51-58. 84 „Sportgauführer Dr. Förg bei den Amtsträgern des Sportkreises Ulm: Vereinsführer-Tagung im ‚Münchner Hof‘ Neu-Ulm“, in: Neu-Ulmer Anzeiger - Weißenhorner National- Zeitung, 26.1.1942 (StadtAA, NL Förg, A 1). 85 „Die schwäbische Gauvorführungsgruppe in Füssen: Tagung der Kreis- und Vereinsführer im NSRL“, in: Ostallgäuer Nachrichten, 6.7.1942 (StadtAA, NL Förg, A 1). Markwart Herzog 422 verbliebenen Relikte des bürgerlichen „Sportspezialistentums“ der Weimarer Republik zu beseitigen. Zugleich wollte Förg „gewisse Auswüchse“ des Vereinsfanatismus beseitigen und gab die Parole „Von der Vereinsmeierei zum Großverein“ aus - sei doch „vielfach eine falsche Konkurrenz-Einstellung unter manchen Sportvereinen vorhanden“, die verhinderten, dass sie „ein kleines Abbild des NSRL selbst“ werden könnten. 86 Auch nach der Demission Oberhubers als Sportbereichsführer des NSRL 87 im Sommer 1941 arbeitete Förg - gemäß „Führer“-Erlass vom 21. Dezember 1938 - weiter daran, dass „der Aufbau des NSRL in Schwaben genau dem der Partei entspricht“. 88 Und dazu gehörte die Abschaffung der bürgerlichen Turn- und Sportvereine und deren Überführung in jene NS-Ortssportgemeinschaften, von denen die schwäbische Presse ganz unverhohlen berichtete. Anders als auf den übergeordneten Ebenen der Sportorganisation hatte die nationalsozialistische Gleichschaltungspolitik die lokalen Vereine noch nicht wirklich angetastet. Ihre Liquidierung und Neuaufstellung als Ortssportgemeinschaften sollten den Sport auf lokaler Ebene an die gebietsmäßige Gliederung der NSDAP angleichen, die bis dahin noch unvollendete „zweite Gleichschaltung“ zum Abschluss bringen und den Vereinssport in Parteisport transformieren. Offensichtlich gehörten Oberhuber 89 und Förg zu jenen Sportregionalpolitikern (Abb. 4), die sich mit Nachdruck einer Vollendung der Gleichschaltung der Turn- und Sportvereine durch deren Transformation zu Ortssportgemeinschaften widmeten, die der „Führer-Erlass“ über die Errichtung des NSRL vom 21. Dezember 1938 90 projektiert hatte und durch ein Dekret der Reichsorganisationsleitung der NSDAP vom 3. Juni 1939 weiter forciert wurde. Dass dies ein definitives Ende der freiheitlichen Vereinskultur bedeutet hätte, verrät auch das folgende Detail: Bei der Gründungsversammlung des Fusionsprodukts TSG Augsburg wurde der „erste Vereinsführer“ - ganz im „Geist der neuen Zeit“ - nicht mehr gemäß den Vorgaben des BGB gewählt, sondern von Förg eingesetzt. 91 86 nk, Wirklich Kamerad sein! Grundlegende Ausführungen des NSRL-Kreisführers Dr. Förg in einer Versammlung des BCA, in: NAZ, 24.4.1939 (StadtAA, NL Förg, A 1). 87 Zu Oberhubers Ende als Sportbereichsführer des NSRL und Sportaufsichtsdezernent im Bayerischen Staatsministerium des Innern vgl. H ERZOG , Blitzkrieg (wie Anm. 47), 113-119. 88 „Sportbereich Bayern in Sportgaue aufgeteilt: Sportgau Schwaben mit dem Verwaltungssitz in Augsburg gebildet“, in: ANZ, 6.10.1941. 89 Vgl. „Der Sportbereichsführer sprach zu den NSRL-Amtswaltern im Bezirk Inn-Chiemsee“, in: NAZ, 4.2.1941; „Auch Augsburg einbezogen in die Durchführung von Fußballstädtespielen“, in: NAZ, 7.2.1941. 90 Vgl. Erlass des Führers und Reichskanzlers über den Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen (NSRL) vom 21.12.1938 (RGBl I, S. 1959). 91 „Ein wichtiger Tag für Augsburgs Leibesübungen: Die Turn- und Sportgemeinschaft Augsburg feierlich gegründet“, in: NAZ, 21.4.1941; „Im Geist der neuen Zeit - zur großen Fusion in Augsburg“, in: NAZ, 17.6.1941. - Zur sukzessiven Erosion der föderalen und demo- „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 423 Abb. 4: Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten empfängt bayerische Sportfunktionäre, unter ihnen als Vierten von links den Sportgauführer Schwabens, Willy Förg (Stadtarchiv Augsburg, Nachlass Willy Förg, Karton 4) Um für diese gegen die Existenz der traditionsreichen Turn- und Sportvereine gerichtete Politik zu werben, köderten Oberhuber und Förg die Betroffenen in Schwaben und im Allgäu mit vielfältigen Versprechungen: Kempten sollte neben dem Ausbau von bereits bestehenden Sportanlagen mit einem Stadionneubau eine „Großanlage des Sportes“ 92 erhalten. Für Augsburg waren spektakuläre „Fußballstädtespiele“ sowie - nach Kriegsende - „Fußball-Länderspiele und andere Großereignisse in laufender Folge“ vorgesehen, darüber hinaus eine „Großsportanlage“, 93 ein riesiges Hallenbad, eine große Schießsportanlage, der Ausbau vorhandener Freibäder und der Eissportanlage am Schießgraben sowie die Schaffung eines Kunsteisstadi- kratischen Strukturen des Vereinssports in der NS-Zeit H AJO B ERNETT , Der Weg des Sports in die nationalsozialistische Diktatur: Die Entstehung des Deutschen (Nationalsozialistischen) Reichsbundes für Leibesübungen, Schorndorf 1983, 29-32 u.ö.; V IEWEG , Gleichschaltung und Führerprinzip (wie Anm. 5). 92 „Kempten plant ein Sportstadion: Bayerns Sportführer im Allgäu - Zusammenarbeit zwischen HJ und NSRL“, in: ANZ, 19.3.1941; vgl. „Bayerns Sportführer im Allgäu: Große Planungen in der Allgäuer Hauptstadt“, in: NAZ, 19.3.1941. 93 „Auch Augsburg einbezogen in die Durchführung von Fußballstädtespielen“, in: NAZ, 7.2.1941; „Die großen Ideale der bayerischen Leibesübungen: Bayerns NSRL-Bereichsführer Regierungsrat Oberhuber sprach zu den schwäbischen Sportführern“, in: NAZ, 7.3.1941. Markwart Herzog 424 ons. 94 Ein repräsentatives Städtespiel „Augsburg gegen Rom“ 95 bzw. „Städtespiele von Augsburg gegen Bologna und Stuttgart“ 96 wurden in Aussicht gestellt. Solche Projekte sollten andere europäische Sportsensationen übertrumpfen, den „Volksgenossen“ spannende Unterhaltung bieten und - nicht zuletzt - Oberhuber und Förg ein Denkmal setzen. Fußball als Massenspektakel und die NSDAP als Massenpartei schienen wie füreinander geschaffen. Oberhuber und Förg standen für eine ideologisch fokussierte und zudem auf modernes Massenentertainment ausgerichtete Vision des Sports, die in allen Belangen der zutiefst antibürgerlichen Ausrichtung des Nationalsozialismus entsprach. Ihre Strategie zielte darauf, mit dem Sport als Freizeitangebot „das Interesse der Massen“ 97 für die Politik der NSDAP zu gewinnen und die „Pflege der Leibesübungen [...] als einen Auftrag des Führers selbst“ 98 anzunehmen. Wenn man die Sportpolitik Oberhubers und Förgs nach Erfolgen und Misserfolgen bilanziert, sind in Bayerisch-Schwaben folgende Ergebnisse festzuhalten: Einerseits ist Oberhuber in dem von ihm angezettelten Spielsystemstreit gescheitert, und zwar nicht nur in Schwaben, da die bayerischen Vereine seinen Vorstellungen und Dekreten in der Praxis nicht oder nur sehr halbherzig gefolgt sind. 99 Auch einige andere Pläne konnte Oberhuber nicht realisieren, weil er seine Ämter als Sportbereichsführer und Sportaufsichtsdezernent lediglich ein Jahr lang ausgeübt und ihm demzufolge für weitreichende Reformen die Zeit gefehlt hatte. Andererseits ist es ihm mit tatkräftiger Unterstützung von Sportgauführer Förg - teilweise auch mit der Hilfe von Lokalpolitikern -, gelungen, in einigen bayerisch-schwäbischen Städten lokale Turn- und Sportvereine zu liquidieren, zusammenzuschließen und die Fusionsprodukte gemäß „Führer-Erlaß“ als Ortssportgemeinschaften nach dem Vorbild der NSDAP zu reorganisieren. Dass dieses Ziel letztlich doch nicht durchgesetzt wurde, geht auf einen von Martin Bormann, Leiter der Parteikanzlei, mitgeteilten Wunsch Hitlers zurück, der „während des Krieges alle organisatorischen Veränderungen dieser Art untersagt habe“. 100 94 Vgl. „Augsburg, Schwabens sportlicher Mittelpunkt: Sportgauführer Dr. Förg über Leistungen von heute und Pläne für morgen“, in: München-Augsburger Abendzeitung, 3.4.1941 (StadtAA, NL Förg, A 1). 95 „Der Sportbereichsführer vor der bayerischen Presse: Wichtige Entscheidung für die Abstiegsfrage während der Kriegsdauer“, in: NAZ, 21.3.1941. 96 J OSEPH W IPP , Pflege der Breitenarbeit, in: München-Augsburger Abendzeitung (? ) (Stadt- AA, NL Förg, A 1). 97 J OSEPH W IPP , Eine gute Idee wird verwirklicht: Bereichs-Vergleichskampf Bayern - Ostmark, aber auf neuer, interessanter Basis, in: Die Fußball-Woche, Brandenburgische Ausgabe, Nr. 12, 25.3.1941, 9. 98 O BERHUBER , zit. in: „Die großen Ideale der bayerischen Leibesübungen“ (wie Anm. 93). 99 Vgl. dazu H ERZOG , Blitzkrieg (wie Anm. 47), 33-37. 100 M ARTIN B ORMANN , Mitteilung an Robert Ley, Februar 1942, zit. in: A NDREAS L UH , Auf dem Weg zu einem nationalsozialistischen Sportsystem: Vom Vereinssport zum parteige- „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 425 Zwei Ziele der Strukturpolitik des NS-Sports, deren Verwirklichung Oberhuber und Förg in Schwaben forcierten, wurden erst nach 1945 realisiert, wenn auch nicht in Bayern, sondern kurzzeitig an der Saar und nachhaltig in der DDR. So erzwang die französische Verwaltung an der Saar mit gigantischem Verwaltungsaufwand das Konzept von „Omnisportvereinen“, die an einem Ort alle Sportarten umfassen sollten. 101 Damit bezweckte sie eine Abkehr von der fachspezifischen Ausdifferenzierung und Spezialisierung des Sports, eine Zerschlagung der Traditionen und Bindungen der „Vereinsmeierei“ und nicht zuletzt eine lückenlose Überwachung des Sportbetriebs. Das Omnivereinsprinzip war nicht zuletzt deshalb heftig umstritten, weil es ein unabgeschlossenes Projekt des NS-Sports durchsetzte. 102 Und dem DDR-Sozialismus war es schließlich vorbehalten, das Erbe der nationalsozialistischen Organisationsstrukturen zu übernehmen und den Sport gänzlich einer Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), zu unterwerfen. 103 4. Resümee Der Fußballsport in der NS-Zeit war sehr viel bunter, vielgestaltiger und von inneren Widersprüchen durchzogen, als man noch vor einigen Jahren angenommen hatte. Man darf eben nicht nur die Dekrete fokussieren, die von oben kamen und umwälzend Neues ankündigten, sondern muss auch analysieren, welche Anordnungen unten, also auf Vereinsebene, tatsächlich umgesetzt wurden. Es genügt nicht festzustellen, dass sich beispielsweise der FC Bayern München, der 1. FC Kaiserslautern, der Karlsruher FV oder Eintracht Frankfurt in einer öffentlichen Proklamation zum generellen Ausschluss ihrer jüdischen Mitglieder verpflichtet hatten, 104 sondern man muss prüfen, ob Selbstverpflichtungen dieser Art tatsächlich verwirklicht wurden. In den Fußballabteilungen der genannten Beispiele ist, wie festgestellt, das Gegenteil der Fall. bundenen Sport, in: Stadion: Internationale Zeitschrift für Geschichte des Sports 31,2 (2005), 181-198, hier 193; vgl. BArch, NS 19/ 2679: Der Reichsführer-SS/ Chef des SS- Hauptamtes, Geheime Kommandosache, an den Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Feld-Kommandostelle, 9.1.1943: „Betr. Vortrag Stabschef Lutze u. Reichsorganisationsleiter Dr. Ley beim Führer“. 101 Vgl. W OLFGANG H ARRES , Sportpolitik an der Saar 1945-1957, Saarbrücken 1997, 39-45, 81-83, 130-134 u.ö. 102 Vgl. H ARRES , Sportpolitik an der Saar (wie Anm. 101), 30f., 41f., 132. 103 Vgl. H ANS J OACHIM T EICHLER , Die Sportbeschlüsse des Politbüros: Eine Studie zum Verhältnis von SED und Sport mit einem Gesamtverzeichnis und einer Dokumentation ausgewählter Beschlüsse, Köln 2002, 33, 40-45. 104 Dazu H AVEMANN , Fußball unterm Hakenkreuz (wie Anm. 2), 158f.; H ERZOG , Betze (wie Anm. 6), 50-52; T HOMA , Juddebube (wie Anm. 28), 47f. Markwart Herzog 426 Der bürgerliche Sport konnte in der NS-Zeit insgesamt, zumindest auf Vereinsebene, einen Teil seiner früheren Autonomie erhalten. Die Fußballclubs standen dem Rassismus des NS-Regimes eher distanziert gegenüber. Die Frage, ob die lokalen Vereine „Arierparagrafen“ eingeführt haben, muss im jeweiligen Einzelfall untersucht werden, kann - auch aufgrund der nicht sehr weit reichenden Beschlüsse des DFB - jedenfalls nicht pauschal beantwortet werden. Auch an der ideologischen Schulung der Vereine im Rahmen des von oben verordneten Dietwesens bestand seitens der Fußballclubs kein signifikantes Interesse. Diese Befunde sind nicht zuletzt auch in der erst um das Jahr 1936 einsetzenden Phase einer „zweiten Gleichschaltung“ begründet, die bedingt durch den Kriegsausbruch nicht mehr zum Abschluss gebracht werden konnte und auf die Nachkriegszeit vertagt wurde. Insofern bietet der Sportgau Schwaben hinsichtlich der Umsetzung der nationalsozialistischen Strukturreform der Ortssportgemeinschaften auf lokaler Ebene eine Überraschung. Denn dieser Gau scheint - abgesehen von den Turn- und Sportgemeinschaften (TSGs) in dem von deutschen Truppen besetzten Moseldepartement und den Nationalsozialistischen Turn- und Sportgemeinschaften (NSTGs) im sudetendeutschen „Mustergau“ 105 - die einzige Region gewesen zu sein, in der die nationalsozialistische Regionalpolitik erste konkrete Schritte einer Transformation des bürgerlichen Vereinssports in NS-Ortssportgemeinschaften gegangen ist und dieses sich anbahnende Ende der traditionsreichen Vereinskultur in der Presse unverblümt verkünden ließ. Es kommt darauf an, auf lokaler Ebene zu untersuchen, ob und inwieweit kleine Strukturen erhalten geblieben sind, die sich als resistent gegen den politischen Mainstream erwiesen, oder aber doch durch „Führer-Erlasse“ und sonstige Dekrete überformt wurden. Dieser differenzierte Blick, der in der historischen Forschung eigentlich selbstverständlich sein müsste, setzt sich auch in der Historiografie des Fußballsports zunehmend durch. Seit dem Jahr 2005, mit der Publikation der Monographien über den DFB und den FC Gelsenkirchen-Schalke 04, ist hier jedenfalls ein Umbruch zu verzeichnen: Ältere, ergraute Sportwissenschaftler und Publizisten hängen teilweise zwar immer noch einem pauschalisierenden Strukturmodell an, das sich sehr schwer tut mit der Komplexität biografischer Forschung sowie den sozialen und sportlichen Praktiken auf der mikrokulturellen organisatorischen Ebene des 105 Vgl. M ARKWART H ERZOG , Tagungsbericht „Die Gleichschaltung des Fußballsports im nationalsozialistischen und staatssozialistischen Deutschland. Internationale sporthistorische Konferenz“. 01.02.2013-03.02.2013, Irsee, in: H-Soz-u-Kult, 11.06.2013, <http: / / hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/ id=4851>; S TEFAN Z WICKER , 100 Jahre Spitzensport in der böhmischen Provinz - Der Fußball in Teplitz-Schönau (Teplice-Šanov) im Spannungsfeld gesellschaftlicher Transformation: Fußball und Gesellschaft in Teplitz Schönau bis 1945, in: D ITTMAR D AHLMANN / A NKE H ILBRENNER / B RITTA L ENZ (Hrsg.), Überall ist der Ball rund: Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa - Nachspielzeit, Essen 2011, 319-362, hier 343-345. „Kleine Strukturen“ im Fußballsport der NS-Zeit 427 Sports. 106 Dagegen sind jüngere Historiker eher bereit, sich ganz unbefangen auf Quellen einzulassen und Schlussfolgerungen zu ziehen, die zu neuen, differenzierten Befunden führen. Wer nur auf die von oben kommenden Dekrete oder die in den Printmedien veröffentlichten Parteiverlautbarungen starrt, reproduziert unkritisch das von der NS-Propaganda entworfene Selbstbild des Nationalsozialismus und verhilft Goebbels und seinen „Großerzählungen“ posthum zu einem späten Sieg. Ebenso wenig sinnvoll ist es, Thesen wie die einer „kumulativen Radikalisierung“, die in bestimmten Bereichen ihre Berechtigung haben mögen, wie Schlagworte auf andere Bereiche ohne deren kritische Überprüfung zu übertragen. 107 Weil der in örtlichen Vereinen organisierte Sport strukturell nicht in den Rahmen der NS-Politik passte, beschloss die Reichsorganisationsleitung der NSDAP, alle Turn- und Sportvereine im Deutschen Reich zu liquidieren. Dieser Ende 1938 durch „Führer-Erlass“ gefasste Plan wurde dann aber, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nicht mehr realisiert, sondern auf die Zeit nach dem „Endsieg“ vertagt. Diese unvollendete Gleichschaltung ist einer der Gründe für die immer wieder überraschenden Ergebnisse, die bei der Erforschung „kleiner Strukturen“, hier beispielsweise in den lokalen Fußballclubs der NS-Zeit, erzielt werden können. Abkürzungen ANZ Augsburger National-Zeitung, Augsburger Lokalanzeiger, Schwäbischer Beobachter, Gaublatt der NSDAP, Amtliches Organ für den Regierungsbezirk Schwaben BArch Bundesarchiv Berlin DT Deutsche Turnerschaft DFB Deutscher Fußball-Bund DRL Deutscher Reichsbund für Leibesübungen FC Fußballclub FV Fußballverein HJ Hitlerjugend KFV Karlsruher Fußball-Verein NAZ Neue Augsburger Zeitung: Augsburger Generalanzeiger - Das große schwäbische Heimatblatt NL Nachlass NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSRL Nationalsozialistischer Reichsbund für Leibesübungen 106 Dazu auch M ARKWART H ERZOG , Rezension von: L ÖFFELMEIER , Löwen (wie Anm. 25) & K OERFER , Hertha (wie Anm. 29), in: H-Soz-u-Kult, 18.11.2009, <http: / / hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/ rezensionen/ 2009-4-153>. 107 So beispielsweise P EIFFER , Sport im Nationalsozialismus (wie Anm. 12), 31; dazu kritisch H ERZOG , Sport im Nationalsozialismus (wie Anm. 18), 134f. Markwart Herzog 428 NSTG Nationalsozialistische Turn- und Sportgemeinschaft RGBl Reichsgesetzblatt StadtAA Stadtarchiv Augsburg TSG Turn- und Sportgemeinde VfB Verein für Bewegungsspiele Sommerferien der frühen 1960er Jahre in einer Augsburger Stadtrandsiedlung Mikrogeschichtliche Betrachtungen zu Georg Kleins „Roman unserer Kindheit“ Helmut Gier 1. Autobiographisches Erzählen Im Kontext von regionalhistorischen Analysen kann ein Beitrag über Georg Kleins „Roman unserer Kindheit“ auf den ersten Blick so wirken, als ob nach der strengen fachwissenschaftlichen Geschichtsforschung in einem befreienden Akt die Tore zur Beschäftigung mit der großen Literatur der Gegenwart aufgestoßen würden. 1 Denn um Literatur von Rang handelt es sich bei dem „Roman unserer Kindheit“ zweifellos, auch wenn zunächst einmal nur äußerliche formale Kriterien zugrundegelegt würden: Das Buch ist in einem der bedeutendsten, angesehensten Verlage der Bundesrepublik, dem Rowohlt-Verlag, erschienen, 2010 mit einem renommierten Literaturpreis - dem Preis der Leipziger Buchmesse - ausgezeichnet und in allen großen Feuilletons, der „Zeit“, der „Frankfurter Allgemeinen“, der „Süddeutschen Zeitung“, der „Welt“ und auch in einer Zeitschrift wie dem „Merkur“ einer Besprechung gewürdigt worden. 2 Einem Roman, dessen Ort des Geschehens sich ausschließlich auf das Gebiet der Stadt Augsburg beschränkt, noch dazu von einem Augsburger Autor, der in Augsburg geboren und aufgewachsen ist, widerfuhr dies schon seit Jahrzehnten nicht mehr, was ein erster Anreiz war, sich im Rahmen einer Reihe von Arbeiten, die einem am Lechrain beheimateten Augsburger Universitätslehrer für bayerische und schwäbische Geschichte gewidmet sind, einmal eingehen- 1 G EORG K LEIN , Roman unserer Kindheit, Reinbek b. Hamburg 2010. 2 I NA H ARTWIG , Die schlimme, schlimme Sucht. Georg Klein erzählt fulminant von der Zeit, als die Mädchenschlüpfer noch Gummibänder hatten, in: Die Zeit 2010, 12 (18.03.); K A- THARINA T EUTSCH , Wenn die Stollen Trauer tragen. Nicht nachfragen, lieber Leser, sonst holt dich der Wespenmann. Der schwarze Magier Georg Klein verhext eine Ruhrpottkindheit in einen düsteren, bluttriefenden Sommernachtstraum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.08.2010; C HRISTOPHER S CHMIDT , Grandios gruselig. Georg Klein erzählt in seinem Roman von den frühen Raubtierjahren seines Lebens. Warum er den Preis der Leipziger Buchmesse verdient hat, in: Süddeutsche Zeitung. Literaturbeilage vom 16.03.2010; T ILLMANN K RAUSE , Bombastischer Budenzauber. Georg Kleins bedeutungshubernder Kindheitsroman läuft hochtourig ins Leere, in: Die Welt 26.03.2010; S TEFAN W IL- LER , Der Stimmenbeschwörer. Über den Erzähler Georg Klein, in: Merkur 64 (2010), 7, 624-629. Helmut Gier 430 der damit zu beschäftigen. Ein zweiter Anstoß soll nicht unerwähnt bleiben, auch wenn er im persönlichen Bereich liegt: Der 1953 geborene Georg Klein hat einen Augsburg-Roman geschrieben, der im Jahre 1963 spielt. Der 1947 geborene Autor dieses Beitrags, dessen Wege sich mit dem des Schriftstellers im Pausenhof desselben Gymnasiums, dem damaligen Realgymnasium und späteren Peutinger-Gymnasiums, das sie beide neun Jahre lang besuchten, kreuzten, der somit noch derselben Nachkriegsgeneration angehört, fühlt sich in gewisser Weise herausgefordert, seine Eigenschaft als unmittelbarer Zeitzeuge ins Spiel zu bringen und den Roman vor diesem Hintergrund zu analysieren. Zudem sind eine Reihe der Schauplätze des Romans links der Wertach dem Interpreten, der im Stadtbezirk Rechts der Wertach aufgewachsen ist, sehr vertraut. 2. Begrenzung von Zeit und Raum Der eigentliche wissenschaftliche Anstoß, sich mit dem Roman bei einer Tagung über kleine Strukturen auseinander zu setzen, kam durch die Konfrontation mit dem Thema des Verhältnisses von Makro- und Mikrohistorie unmittelbar nach seiner Lektüre. Denn was könnte in gewisser Weise besser in den Rahmen der Untersuchung kleiner Strukturen passen als ein Erzählwerk, das auf 448 Seiten die Sommerferien einer Gruppe von acht Kindern im Augsburger Stadtteil Bärenkeller und dem angrenzenden Oberhausen schildert und lebendig werden lässt, ein umfangreicher Roman also, dessen Handlungsdauer sich auf 30 Tage des Jahres 1963 beschränkt und dessen Aktionsradius einen eng umrissenen Bezirk im Nordwesten der Großstadt nicht überschreitet. Sehr viel kleinräumiger und zeitlich begrenzter ist ein Roman kaum vorstellbar, der doch das große Thema der erzählten Kindheit zum Inhalt hat und dabei wie alle Literatur von Rang die Strahlkraft des Allgemeingültigen entfalten will. Um deutlich zu machen, wie klein die räumlichen Strukturen in dem Roman sind, soll ein auf den ersten Blick überraschendes Analyseergebnis vorweggenommen werden: Der Name „Augsburg“ fällt in dem Werk, das wie schon gesagt ganz auf dem Gebiet dieser Stadt spielt, nicht. Dies hat die Rezensentin in einem der bedeutenden Feuilletons schon in die Irre geführt, als sie, verleitet vom Stadtteilnamen Oberhausen, den ganzen Roman in den Ruhrpott verlegte. 3 Diese Tatsache hängt nicht damit zusammen, dass Georg Klein etwa nach dem Vorbild Marcel Prousts in seinem großen Romanwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ die Namen der Örtlichkeiten verschlüsselt hätte. Der große französische Romancier schafft aus den realen Geburts- und Wohnorten Illiers und Auteuil ein imaginäres Combray und aus dem Seebad in der Normandie Cabourg wird bei ihm 3 Vgl. die Besprechung von K ATHARINA T EUTSCH (wie Anm. 2). Sommerferien der frühen 1960er Jahre in einer Augsburger Stadtrandsiedlung 431 Abb. 1: Adressbuch der Stadt Augsburg 1963, Drosselweg Nr. 11b (Staats- und Stadtbibliothek) Balbec. 4 Ganz im Gegenteil herrscht im Roman von Klein ein erstaunlich unmittelbarer offener Realitätsbezug: Oberhausen ist Oberhausen, Bärenkeller Bärenkeller, das Krankenhaus Josefinum wird Josephinium genannt und der Drosselweg, wo die Familie Georg Kleins wohnte, wird zum Drosselgrund, was sozusagen schon das Äußerste an Verschlüsselung darstellt. 5 Keine der Hauptfiguren überschreitet aber während des ganzen Romans die Wertach nach Osten in Richtung des historischen 4 Vgl. M ARCEL P ROUST , Enzyklopädie. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung, hrsg. von Luzius Keller, Hamburg 2009, 72f., 167 und 413. 5 Adressbuch der Stadt Augsburg 78 (1963). Straßen und Häuser, 91 (Abb. 1). Helmut Gier 432 Augsburg, so dass die Handlung sich ausschließlich im Bärenkeller und in Oberhausen abspielt und nicht in der „Stadt zwischen Lech und Wertach“, wie Augsburg selbst in Kreuzworträtseln traditionell bezeichnet wird. Die Kernstadt taucht nur manchmal als „Stadt“ auf, als jener etwas bedrohlich anmutende Ort, wo sich das Gymnasium befindet, auf das der ältere Bruder, das Alter Ego des Autors, nach den Ferien als erster aus der Siedlung wechseln wird, was in den Augen der Freunde Anlass zu großer Sorge ist. Angesichts des „radikal autobiographischen Charakters“ des Buchs, den schon sein Klappentext betont, liegt damit das genaue Jahr der Handlung fest, denn Georg Klein war seit dem Schuljahr 1963/ 64 Schüler des Realgymnasiums. 6 Genauso wie die räumliche Enge von einigen wenigen Kilometern im Umkreis kennzeichnet den Roman damit die zeitliche Beschränkung auf einige wenige Wochen der Sommerferien im Jahre 1963. Sie erhalten zwar einige Bedeutungsschwere als Zeit des Übergangs zwischen zwei Lebensstadien und letztlich als sich ankündigendes Ende der Kindheit mit dem Wechsel ans Gymnasium, auch der beginnenden Pubertät bei der Hauptfigur unter den Mädchen, der „schicken Sybille“. Schon Theodor Fontane hatte in seinem autobiographischen Roman „Meine Kinderjahre“ aus dem Jahre 1893 diesen Abschnitt seines Lebens, mit dem Übertritt ans Gymnasium enden lassen. 7 Heißt Erzählen der erinnerten Welt der Kindheit in der Regel aber die Beschreibung des Wachsens und Werdens in der Abfolge der Jahre, so ist das Zusammenziehen der Zeit auf wenige Wochen eher ungewöhnlich. In Kleins Roman fehlt auch jede Anbindung an eine wie auch immer gearteten Gegenwart der Jetztzeit eines Erzählers, es handelt es sich damit um ein streng von der Gegenwart abgetrenntes, gleichsam schon historisches Zeit- und Gesellschaftsgemälde. 3. Bild der Gesellschaft Gerade angesichts der realistischen Verortung des Buches von Georg Klein im Mikrokosmos von Bärenkeller und Oberhausen und des kurzen Zeitraums, in dem die Handlung spielt, tritt der hohe Anspruch des Titels umso deutlicher hervor: „Roman unserer Kindheit“. 8 Werke mit dem Personalpronomen „unser“ im Titel sind eher selten, zu den wenigen bekannteren Beispielen gehören Thornton Wilders „Unsere kleine Stadt“ oder Wolfdietrich Schnurres „Das Los unserer Stadt“. Was - 6 Realgymnasium Augsburg, Jahresbericht 99 (1963/ 64), 8 (Abb. 2). 7 T HEODOR F ONTANE , Meine Kinderjahre, in: DERS ., Sämtliche Werke. Aufsätze Kritiken Erinnerungen, Autobiographisches, Bd. 4, München 1973, 7-177, hier 175-177. 8 Dazu auch B URKHARD M ÜLLER , Geheimnisse eines Feriensommers. Georg Kleins ausgeklügelt vielschichtiger ‚Roman unserer Kindheit‘, in: Volltext. Zeitung für Literatur 2010, 1, 19-21. Sommerferien der frühen 1960er Jahre in einer Augsburger Stadtrandsiedlung 433 Abb. 2: Realgymnasium Augsburg, Jahresbericht 1963/ 64 (Staats- und Stadtbibliothek) Helmut Gier 434 meint also das „unser“ im Titel, ist es schlicht ein pluralis majestatis, gibt hier jemand vor, im Namen einer Gruppe oder ganzen Generation zu sprechen, soll der Roman also repräsentativ für Kindsein in der jungen Bundesrepublik oder gar für das Kindsein überhaupt sein. „Meine Kindheitserinnerungen“ nannte Theodor Fontane wie schon erwähnt sein Werk, aber auch er unterstrich den Charakter der Fiktion, der jeder Erzählung der eigenen Kindheit innewohnt, vor allem wenn sie mehr sein will als eine äußere Lebensgeschichte, indem er sein Werk einen „autobiographischen Roman“ nannte. Wie alle bedeutenden Schriftsteller, die autobiographische Werke verfassen, will auch er „Zeitbildliches“ geben, ohne immer auf die „Echtheitsfrage“ festgelegt zu werden. 9 Wer die Beschreibung eines Abschnitts des eigenen Lebens zur literarischen Form erhebt - dafür steht hier die Gattungsbezeichnung „Roman“ - fordert eine Interpretationsweise heraus, die Ernst Toller im Vorwort ausdrücklich zum organisierenden Prinzip seiner Autobiographie „Eine Jugend in Deutschland“ erhebt: „Nicht nur meine Jugend ist hier aufgezeichnet, sondern die Jugend einer Generation und ein Stück Zeitgeschichte dazu.“ 10 Im Rahmen von historischen Studien soll hier zunächst einmal die Darstellung erlebter Zeitgeschichte, die den Roman durchaus prägt, im Vordergrund stehen, auch wenn er nicht darauf reduziert werden darf. Dabei sollen zwei ineinander verschränkte Fragestellungen an den Roman herangetragen werden. Ist das Bild des Stadtteils Bärenkeller in seiner Einbettung ins zeitgenössische Augsburg, wie es aus dem Roman dem Leser entgegentritt, mit den soziologischen und historischen Fakten in Einklang zu bringen und vermag darüber hinaus das Leben in diesem Augsburger Stadtteil zu einem bestimmten Zeitpunkt repräsentative Züge aufzuweisen, die für die lebensweltlichen Verhältnisse in der gesamten Bundesrepublik kennzeichnend und aussagekräftig sind. Denn mit Sicherheit schwebte Georg Klein kein auf ein regionales Publikum beschränkter Heimatroman vor, sondern eher der Entwurf eines Gesamtbildes, das auch den gründlichsten wissenschaftlichen zeitgeschichtlichen Bemühungen überlegen sein sollte. Gelingt es dem Autor letztlich durch eine in sich stimmige Überhöhung eines kleinen Wirklichkeitsausschnitts in der Verbindung von Fakten, Werthaltungen und Gefühlseinstellungen eine Weltsicht, die dem Leser eine geschlossene und überzeugende Deutung der Verhältnisse der sechziger Jahre der Bundesrepublik vermittelt? Im Mittelpunkt von Georg Kleins Roman steht wie schon erwähnt eine Gruppe von acht Kindern: Geschwister, Freunde und Freundinnen, die einen Feriensommer miteinander verbringen. Es handelt sich also zunächst um ein „Kinderbandenbuch“ oder eine Acht-Freunde-und-Freundinnen-Geschichte, nicht um eine 9 F ONTANE , Kinderjahre (wie Anm. 7), Vorwort 9. 10 E RNST T OLLER , Eine Jugend in Deutschland, hrsg. und kommentiert von W OLFGANG F RÜHWALD , Stuttgart 2011, 9. Sommerferien der frühen 1960er Jahre in einer Augsburger Stadtrandsiedlung 435 Autobiographie, in der ein Individuum im Mittelpunkt steht. 11 Dies passt insofern zum Stadtteil Bärenkeller, als dort in der Tat eine junge Bevölkerung vorherrschte: 1963 waren ein Drittel der Bewohner Kinder und Jugendliche bis zum 21. Lebensjahr gegenüber gut einem Viertel in der ganzen Stadt. 53 % der Bevölkerung in diesem Stadtbezirk war insgesamt unter 35 Jahre alt. 12 Dieses Überwiegen der jungen Bevölkerung in diesem Stadtteil hängt damit zusammen, dass der Bärenkeller auch der jüngste Augsburger Stadtteil ist. Erst 1933 wurden die ersten Siedlerhäuser errichtet, später kamen im Süden des Bezirks auch größere Mietwohnhäuser hinzu. Bis auf die alte Ausflugsgaststätte „Zum Bärenkeller“ war die gesamte Bebauung neueren Datums und damit vergleichsweise gesichtslos - zur Unterscheidung der verschiedenen Wohnblocks müssen in Kleins Roman deshalb immer die Farben herhalten -, die einzige Abwechslung bietet die Hauptstraße mit Kirche, Kino, Sparkasse und Einzelhandelsgeschäften. Historische Bauten fehlen damit völlig - wie in vielen Neubaugebieten der Bundesrepublik -, weshalb es auch nicht so sehr verwundert, dass eine Rezension diese Stadtteilsiedlung fälschlicherweise in Oberhausen im Ruhrgebiet verortete. Der Bärenkeller blieb auch jahrzehntelang vorwiegend eine Arbeitersiedlung. Nach der Volkszählung von 1961 gehörten 64,3 % der Erwerbsbevölkerung der Arbeiterschaft an. 13 Auch diese Tatsache spiegelt sich in dem Roman Kleins getreu wieder: In dem ganzen Werk kommen überhaupt nur zwei Akademiker vor, nämlich die beiden Ärzte, der Allgemeinmediziner im Viertel Ernst Junghans und Professor Felsenbrecher in der Oberhausener Klinik Josefinum. Beim Vater der „Schicken Sybille“ wird ausdrücklich festgehalten, dass er als „einziger Vater im grünen Block“ mit „einer Angestelltenaktentasche“ zur Arbeit geht, aber auch er ist nur ein kleiner städtischer Angestellter, der früher den Verbrauch an den Gaszählern ablas. 14 Der Vater des „Älteren Bruders“ und der „Witzigen Zwillinge“ ist wie der von Georg Klein in der Realität Maurer, andere Väter arbeiten im nahen Gaswerk. Eine junge Bevölkerung, die hauptsächlich aus Arbeiterfamilien besteht, in einer etwas gesichtslosen Neubausiedlung am Stadtrand: ein solches Gesellschaftsbild stellt nicht unbedingt die naheliegendste Vorstellung dar, die man mit der zweitausend Jahre alten Geschichts- und Kulturstadt Augsburg verbindet, mit der jungen Bundesrepublik am Ende der Nachkriegszeit, als der Wiederaufbau weit- 11 Georg Klein im Gespräch mit Gisela Trahms, Erinnern ging nicht ohne Schmerz (www.taz.de/ Leipzger-Buchmessen-Preistraeger-Georg-Klein/ ! 49921/ ). 12 Augsburg in Zahlen (1966), 1, Sonderbeiträge, 143 und 145. 13 K ARL K ÖNIG , Bärenkeller heute Heimat für nahezu 10000 Augsburger. Vor 30 Jahren zogen im Bärenkeller die ersten Siedler ein, in: Amtsblatt der Stadt Augsburg 1963, 30 (26. Juli), 123f. 14 K LEIN , Roman (wie Anm. 1), 188. Helmut Gier 436 gehend abgeschlossen war und die Zahl der Geburten im Jahre 1964 ihre Höchstziffer erreichte, schon eher. 15 Vor dem Hintergrund dieses Altersaufbaus und dieser sozialen Schichtung in einer Neubausiedlung am Stadtrand zeichnet der Autor doch bei all seinen Vorbehalten gegen den populären zeitgeschichtlichen Roman ein stimmiges, detailreiches Bild der Alltagskultur der früheren sechziger Jahre mit ihren Wandlungen und Veränderungen. 16 Typische Requisiten wie Amibrause, Instantkaffee, selbstgemachter Mokkalikör, Wundertüten und Klebebilderalbum begegnen immer wieder. Die ersten Telefonanschlüsse sind schon vorhanden, Waschmaschinen und Waschsalons haben zur Folge, dass die Waschküchen nicht mehr benutzt werden, die ersten Fernseher führen zu gemeinsam verbrachten Fernsehabenden, Ladentheken werden beim Übergang zur Selbstbedienung entsorgt, die Institution der Leihbücherei spielt noch eine wichtige Rolle (Abb. 3). Die enge Perspektive der kleinen Welt einer Arbeitersiedlung wird aber in dem ganzen Roman streng durchgehalten. Jedes bildungsbürgerliche Element fehlt völlig, was in gewisser Weise Georg Klein doch eine Ausnahmestellung verleiht und zusammen mit seiner hochartifiziellen Erzählweise seinen besonderen Ton ausmacht: Es gibt keine Gespräche über Politik; Literatur, Kunst, Theater und Musik von Rang kommen nicht vor, und im Gegensatz zu den Romanen von Heinrich Böll über die Nachkriegsgesellschaft der frühen Bundesrepublik spielen auch das kirchliche und religiöse Leben nicht die geringste Rolle. Literatur, die als Flucht aus einer öden Gegenwart und Möglichkeit zur phantastischen Verwandlung der Realität eine große Rolle spielt, besteht nur aus Comic-Heften, Klebebilderalben und Leihbüchereiromanen, Musik beschränkt sich im Wesentlichen auf das Akkordeonspiel eines Kriegsversehrten. Der Roman spielt zwar ganz in der Ferienzeit, in den Urlaub fährt aber noch niemand, die Motorisierung steht erst ganz am Anfang, so dass schon das Erreichen der nahegelegenen Klinik mit einem nicht gehfähigen Jungen eine logistische Herausforderung darstellt. Ein zu Recht von der Sozialgeschichtsforschung konstatiertes gesellschaftliches Faktum prägt ganz unbewusst die Handlungsstruktur des Romans von Georg Klein, nämlich die Mütterdominanz in Arbeiterfamilien, die selbstverständlich damit zusammenhängt, dass verheiratete Mütter nicht erwerbstätig sind. 17 Wenn die Mütter in dem Roman außerordentlich präsent sind, so unterscheiden sie sich doch von nicht erwerbstätigen Müttern unserer Tage dadurch, dass sie keine dauernde Aufsicht über ihre Kinder ausüben, sonst wäre ein Roman, der großteils aus den Streifzügen einer Kinder- 15 H ANS -U LRICH W EHLER , Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bundesrepublik und DDR 1949-1990, Bd. 5, München 2008, 34 und 37. 16 Georg Klein im Gespräch mit Inka und Moritz Rümenapf „Das Atlantis unserer Seele“ auf der Homepage von Georg Klein (www.devries-klein.de). 17 W EHLER , Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 15), 161. Sommerferien der frühen 1960er Jahre in einer Augsburger Stadtrandsiedlung 437 Abb. 3: 25 Jahre Gedächtnissiedlung in Augsburg Bärenkeller. 1948-1973 (Staats- und Stadtbibliothek) bande besteht, auch nicht möglich. 18 Die Handlung kommt schon dadurch in Gang, dass sich der ältere Bruder bei einer Verfolgungsjagd auf dem Fahrrad eines Freundes so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus behandelt werden muss und die ganzen Sommerferien von den anderen Freunden in einem Behelfsgefährt geschoben werden oder an Krücken gehen muss. 4. Nachwirkungen des Krieges Der Roman bleibt aber nicht auf diese kurze Spanne der Sommerferien am Augsburger Stadtrand beschränkt. Der Autor lässt vielmehr an vielen Stellen immer wieder die Vergangenheit des Weltkriegs, des Kriegsendes und der Nachkriegszeit hineinragen, so dass das erzählte Geschehen der Gegenwart in längere historische Linien eingebettet ist und eine geschichtliche Tiefendimension bekommt. Zum einen ist der Erfahrungshorizont der Bewohner der Siedlung stark durch die amerikanische Besatzungsmacht geprägt. Für die Darstellung ihrer Präsenz und Wirkung bieten sich die Stadt Augsburg im Allgemeinen und die Stadtteile Bärenkeller und Oberhausen im Besonderen geradezu an wie nur wenige Orte in Deutschland. In den sechziger Jahren, der Spitzenzeit, lebten, Soldaten, Familienangehörige und 18 Vgl. die Besprechung von I NA H ARTWIG (wie Anm. 18). Helmut Gier 438 Bedienstete zusammengerechnet, immerhin 30.000 Amerikaner in der Stadt, die vor den Eingemeindungen des Jahres 1972 etwas über 200.000 Einwohner zählte. 19 Da die US-Streitkräfte die früheren Kasernen im Westen der Stadt belegten, waren die westlichen Stadtteile wie Oberhausen Brennpunkte des Soldatenlebens außerhalb der Militäranlagen und geschlossenen Siedlungen. Die Einflüsse und Begegnungen beschränken sich dabei nicht auf Amibrause, das Hören amerikanischer Soldatensender, Kolonnen von Ami-Lastern, die durch die Unterführungen donnern und überhaupt das Bewusstsein, dass in den Kasernen hinter dem Gaswerk „tausendundein Ami“ leben. 20 Ein Mitglied der achtköpfigen Kinderbande, das eigentlich Hans- Michael heißt, wird nämlich von den anderen immer nur Ami-Michi genannt, da seine Mutter, die Frau eines Fernfahrers, die ganze Nachkriegszeit bis in die Gegenwart immer Verhältnisse mit weißen und dunkelhäutigen US-Soldaten eingegangen ist und unterhält. Wie streng der Autor im Übrigen auch sprachlich die Perspektive der frühen sechziger Jahre einhält, lässt sich daran ablesen, dass bei ihm Afroamerikaner immer nur Neger genannt werden. Für den Vater des Helden des Romans, des Älteren Bruders, ist eine Ami-Kneipe in Oberhausen, der „Affentanz“, Ort der Verheißung, der Sehnsucht, der Versuchung, aus einer grauen, engen, tristen und harten Welt, den Zwängen seines verhassten Maurerdaseins auszubrechen. Hier trinkt und spielt er, begibt sich sogar in so gefährliche Situationen, dass er bei einer Messerstecherei so verletzt wird, dass auch ihn der Weg wie seinen älteren Sohn in die Oberhauser Klinik, das Josefinum, zur Behandlung führt. Die Präsenz der amerikanischen Besatzungsmacht bricht die Immanenz des alltäglichen Lebens in einem Augsburger Stadtviertel auf der großen Welt und historische Entwicklung hin auf, noch stärker ragt die jüngere Vergangenheit durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs in den Roman hinein. Auch im Bärenkeller handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes 1963 noch um eine Nachkriegsgesellschaft. Georg Klein setzt dies dichterisch dadurch um, dass eindrucksstark gezeichnete Kriegsversehrte, Blinde, Amputierte, Gesichtsentstellte, der Akkordeon spielende „Fehlharmoniker“, der Kommandant „Silber“, dem beide Beine fehlen und der „Mann ohne Gesicht“ das öffentliche Bild in der Siedlung mitprägen. Sie sind darüber hinaus neben der Kinderbande selbst die wichtigsten handelnden Figuren, da sie in einer mit dem Schicksal der Kinder verknüpften Parallelaktion das Geschehen vorantreiben und die magische Sogwirkung der Phantasie, die die Nachtseite der Romanhandlung bestimmt, von ihren körperlichen und seelischen Kriegsverletzungen ausgeht. Die prägende Kraft der Ereignisse und Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs nicht nur auf die Kriegsbeschädigten, sondern auf die innere Verfassung 19 W OLFGANG Z ORN , Augsburg. Geschichte einer europäischen Stadt, Augsburg 4 2001, 373f. und US-Garnison Augsburg, in: Wikipedia (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ US-Garnison_ Augsburg; Zugriff am 10.4.2013). 20 K LEIN , Roman (wie Anm. 1), 363. Sommerferien der frühen 1960er Jahre in einer Augsburger Stadtrandsiedlung 439 fast aller erwachsenen Männer überhaupt lässt ihre Bedeutung schon dadurch erkennen, dass die einzigen längeren Rückblenden, die den Erzählfluss unterbrechen, die Kriegszeit und ihre Auswirkungen zum Gegenstand haben. 1,4 Millionen Kriegsbeschädigte gab es 1962 noch in der Bundesrepublik, 400 Kriegsopfer waren 1963 allein im Ortsverband des Verbands der Kriegsopfer im Bärenkeller organisiert. 21 Der Roman führt aber vor Augen, dass nicht nur sie sondern die gesamte Männerwelt in ihrem Denken und Fühlen durch die Kriegserlebnisse gezeichnet und versehrt ist. Alle sind sie „Soldaten im anhaltenden Nachkrieg“, auch im Vater des Älteren Bruders alias Georg Klein steigen immer die Erinnerungen an die Zeit als junger Soldat in Griechenland auf. 22 Neben die Zeit der sechziger Jahre tritt damit geradezu eine zweite zeitliche Ebene, zwischen denen vielfältige reale und emotionale Verbindungen hin- und herlaufen. Die Kriegsfolgen beschränken sich aber auf die individuellen Versuche, mit den inneren und äußeren Verletzungen fertig zu werden, eine offenere Auseinandersetzung mit den Kriegsverbrechen, dem Nationalsozialismus oder der Verfolgung und Vernichtung der Juden findet auch nicht in den geringsten Ansätzen statt. Die historische Tiefendimension legt damit auch die Sprachlosigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft bloß, die Prägung und Verkapselung durch die eigene, nicht wirklich verarbeitete Opferrolle bricht erst nach der Zeit auf, in der der „Roman unserer Kindheit“ spricht. Am Ende desselben Jahres 1963 beginnen in Frankfurt die Auschwitzprozesse. 5. Abgründe unter der Oberfläche Eher geschwiegen wurde in dieser Zeit gerade in den einfacheren Schichten über verdrängte geschlechtliche Sehnsüchte, Neigungen und Begierden, erst recht pädophile und homosexuelle, wie auch das Erwachen der Sexualität bei Kindern. Durch die Mittel eines magischen Realismus führt Georg Klein die Romanhandlung ins Innere, buchstäblich in die Tiefe und legt die verborgenen Schichten des Unterbewussten frei. Darum lädt er die Örtlichkeiten des Stadtviertels metaphorisch auf, geht von ihnen aus. Der Name „Bärenkeller“ kommt ja von den Bierkellern einer alten Oberhausener Brau- und Gaststätte „Zum Bärenwirt“, die im freien Feld gelegen waren und über denen dann ein Ausflugslokal, die Wirtschaft „Zum Bärenkeller“ entstand, die dem jungen Stadtviertel später den Namen gab. 23 Diese Bierkeller, in denen ein Monster in Bärengestalt spukt, werden zu schaurigen Gängen einer Nachtwelt, die das über Tag gelegene Viertel unterhöhlen und in denen die Bedro- 21 A XEL S CHILDT , Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/ 90, München 2007, 2 und: (ungezeichneter Artikel), Wille und Weg. Monatsschrift des VdK- Landesverbandes Bayern e.V. 16 (1963), 6 (Juni), 5 und 10 (Oktober), 6. 22 Zitat K LEIN , Roman (wie Anm. 1), 233. 23 K ÖNIG , Bärenkeller (wie Anm. 13), 123. Helmut Gier 440 hungen und Verletzungen im Innersten der Erwachsenen wie der Kinder in ihren Beschädigungen zwar offenbar werden, aber doch die letzte Katastrophe noch abgewendet werden kann. Dieses aus Lektüreerfahrungen befeuerte Labyrinth, in dem Kindheitsphantasien die Realität überwuchern, lässt wie in einem Brennspiegel die Verwerfungen und Bedrohungen einer als unheimlich empfundenen Triebwelt hervortreten. Das den ganzen Roman durchziehende Verfahren, die Feriensommeridylle und die äußerliche biedere Wohlanständigkeit und Langweiligkeit als Illusion zu enthüllen, gelangt damit in dieser Zuspitzung der Handlung mit dem Gang in die Tiefe seinen Höhepunkt. Tatsächliches und versuchtes ehebrecherische Verhalten wird von den Kindern beobachtet und wahrgenommen, zwei Ladenbesitzer versuchen auf versteckte Weise, ihren homosexuellen pädophilen Neigungen zu frönen, die jüngeren Brüder lesen heimlich Pornohefte, was wiederum die Mutter entdeckt, ein Mädchen kann verführerischen unheimlichen Verlockungen nicht widerstehen, im nahen Wald scheint ein Kindermörder umzugehen. Jede Verklärung der Kindheit wie jegliche Versuchung zum nostalgischen Rückblick liegt dem Autor völlig fern. Im Ineinander von sehr genauen Beobachtungen und einer phantastischen Traumwelt wird der in einem ganz buchstäblichen Sinn von einem unterirdischen Labyrinth durchzogene Bärenkeller zu einem symbolischen Ort, wo die Naivität der Kinder als Illusion entlarvt wird und die Nachkriegsgesellschaft sich unter der Oberfläche als abgründig, von dunklen Sehnsüchten und Alpträumen getrieben, bedrückend und bedrohlich herausstellt. 6. Kleine und große Welt Mit seinem zeitlich und räumlich eng begrenzten Panorama des Lebens der frühen sechziger Jahre in einem Augsburger Stadtviertel weist Georg Kleins Roman nicht nur einen engen Bezug zur Wirklichkeit auf, sondern bildet auch ein Musterbeispiel für die dichterische Darstellung überschaubarer Lebensverhältnisse einer bestimmten Epoche. Dieser Blick auf kleine soziale Strukturen gewinnt dadurch an Eindringlichkeit, weil Georg Klein eben nicht wie im gängigen autobiographischen Erzählen die Ausbildung der Identität einer Persönlichkeit gestaltet, er schreibt bewusst keinen Entwicklungsroman, sondern stellt die ganze kleine Welt der Siedlung in ihrer Verflochtenheit und mit ihren Abgründen in den Mittelpunkt. Durch die Reduktion auf den Mikrokosmos eines Stadtbezirks Augsburgs, gewinnt dieser aber auf den ersten Blick paradoxerweise an Allgemeingültigkeit. Denn hätte der Autor die Kernstadt Augsburg lebendig werden lassen, so wäre die Unverwechselbarkeit und Besonderheit ihrer zweitausendjährigen Geschichte und Kultur unweigerlich hervorgetreten. So aber ähneln der junge Stadtteil Bärenkeller und auch noch Oberhausen in ihrer Gesichtslosigkeit vielen anderen deutschen Orten und können deshalb modellhaft für die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik stehen. Sommerferien der frühen 1960er Jahre in einer Augsburger Stadtrandsiedlung 441 Aber jenseits statistischer Bilanzen, materialreicher Spezialstudien und umfassender sozialgeschichtlicher Abhandlungen kommen im „Roman unserer Kindheit“ konkrete Individuen mit ihrem Denken, Fühlen und Wollen, ihren Wertorientierungen, Wunschvorstellungen und Verstrickungen zu ihrem Recht, was durch dieses, die Gesamtheit menschlichen Lebens ansprechende Vermögen dichterischen Werken ihre emotionale Kraft im Unterschied zur wissenschaftlichen Analyse verleiht. Literatur von Rang - und das unterscheidet Kleins Roman vom schlichten subjektiven lebensgeschichtlichen Erzählen - zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass sie nicht nur zufällige, äußere Ereignisse und Abläufe ohne über sich hinausweisende Sinnhaftigkeit wiedergibt, sondern sich in den Personen, Charakteren, Begebenheiten und Wirklichkeitsausschnitten größere Zusammenhänge spiegeln, die Romanerzählung auf gesamtgesellschaftliche und menschliche Verhältnisse sowie Triebkräfte der Zeit hin durchsichtig ist. Nur dann kann ein Roman, der im Bärenkeller und in Oberhausen spielt, in Hamburg oder Leipzig Leser ansprechen, emotional ergreifen und nachdenklich machen, auch wenn diese von Augsburg und erst recht den Stadtvierteln an der Peripherie wenig oder nichts wissen. Kleinen Strukturen und konkreten Persönlichkeiten gerecht zu werden und sie lebendig werden zu lassen und zugleich die komplexe Wechselwirkung mit allgemeinen lebensweltlichen und sozialen Gesetzmäßigkeiten auf neue, überraschende Weise zu gestalten, macht den bedeutenden Schriftsteller aus. Wie Georg Klein aus einer Kinderbandengeschichte im Bärenkeller durch vielschichtige Bezüge und die Hinzufügung einer historischen Tiefendimension einen phantasievollen, doch jedem zeitgeschichtlichen Zugriff standhaltenden, alles mit allem verbindenden und emotional ergreifenden Mikrokosmos herausentwickelt, der eine stimmige, auch verfremdende, gewohnte Denkweisen in Fragen stellende Sicht auf die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft herstellt, das ist große Kunst. IV. Würdigungen Pankraz Fried zum 60. Geburtstag 1 Peter Fassl Wer Pankraz Fried kennt, der weiß, dass bei ihm Ehrungen, mithin Festschriften, auf eine zwiespältige Aufnahme stoßen. Der ihm eigenen Bescheidenheit und Zurückhaltung, der wissenschaftlichen Redlichkeit liegen - bei aller Freude um die Anerkennung - die lauten Töne nicht. Die Sache, die Landesgeschichte im umfassenden Sinn, steht bei ihm im Zentrum und nicht die eigene Person. Dies ist wohl auch der Grund, dass es ihm als akademischem Lehrer gelang, zahlreiche Studenten in den Bann zu schlagen. Nicht durch die Darstellung erdrückender eigener Gelehrsamkeit gegenüber seinen Studenten - hier nahm sich der Gelehrte im Sinne eines geduldigen Zuhörers, anspornenden Förderers und wissenschaftlichen „Geburtshelfers“ zurück -, sondern durch die Ernsthaftigkeit und Eindringlichkeit des Forschens und den anschaulichen Nachweis der prägenden Kraft der Geschichte im Bild der Kulturlandschaft konnte Fried seine eigene landesgeschichtliche Leidenschaft an inzwischen mehr als drei Studentengenerationen weitergeben und eine neue landesgeschichtliche Tradition in Schwaben begründen. Das Ernstnehmen der Geschichte bis ins kleinste Detail spiegelte sich wider in dem Ernstnehmen der Schüler und Studenten, deren Fragen und Suchen auf allen Ebenen aufgenommen wurde, und die so ganz unmerklich als Akteure in den wissenschaftlichen Diskurs hineingeführt wurden. Es ist guter Brauch, dass sich Schüler dankbar und damit zugleich Rechenschaft gebend ihres Lehrers erinnern, vor allem dann, wenn deren Rüstzeug weniger in der Übernahme eines spezifischen historischen Ansatzes als in dem überzeugenden, in christlichhumanistischer Tradition stehendem Vorbild des Forschens und Lehrens besteht. 1. Herkunft. Ausbildung und erste Forschungsarbeiten Pankraz Fried wurde am 12.7.1931 als ältestes von sieben Kindern einer seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts als Landwirte in Wabern (Lechrain) ansässigen und heimatverbundenen Familie geboren. Spuren der Familie lassen sich in der Fugger- Hofmark Schmiechen bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums bei St. Stephan in Augsburg, dessen benediktinisch-weltoffener Geist ihn tief prägte, studierte Fried zunächst Philosophie an der dem Gymnasium angeschlossenen philosophischen Hoch- 1 Erstmals erschienen im Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau, 93. Jahrgang 1991, Dillingen an der Donau 1991, 29-33. Peter Fassl 446 schule (1951/ 52). Statt des zunächst vorgesehenen Theologiestudiums entschied er sich für das Studium der Altphilologie, Geschichte und Volkskunde (1952 bis 1958) an der Universität München. 1960 promovierte er bei seinem Lehrer Max Spindler mit einer aus der Arbeit am Historischen Atlas von Bayern hervorgegangenen Studie über die „Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und Siedlungsgeschichte der altbayerischen Landgerichte Dachau und Kranzberg" 2 , die grundlegend Formen frühmoderner Staatlichkeit, den Übergang vom Personenverbandsstaat zum institutionellen Flächenstaat und die wittelsbachische Technik der Herrschaftsbildung im Spätmittelalter untersuchte und herausarbeitete. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1959 bis 1969) und als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München (1969 bis 1971) bei Karl Bosl war Fried eng mit der Entwicklung und Fortführung des Historischen Atlas von Bayern verbunden. Es entstanden in dieser Zeit neben dem Atlas von Landsberg (mit Sebastian Hiereth) und Schongau zahlreiche Aufsätze über die hoch- und spätmittelalterliche Verwaltungs-, Besitz-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Altbayerns. Alle diese Arbeiten kreisen um den Problemkreis der staatlichen Entwicklungstendenzen im spätmittelalterlichen Bayern, wobei durch die Erforschung der Klostervogtei und hochadeligen Burgenpolitik neue, überregional fruchtbare Forschungsansätze erarbeitet wurden. Frieds umfassender landesgeschichtlicher Ansatz, im Sinne von Ludwig Petry „in Grenzen unbegrenzt“, der seiner eigenen Vielseitigkeit und Neigung entsprach, und den er 1978 in dem Forschungsbericht „Probleme und Methoden der Landesgeschichte" darlegte, führte ihn 1972 als Konservator an das Landesamt für Denkmalpflege, eine für den Historiker eher ungewöhnliche Berufung. Im selben Jahr habilitierte er sich an der Universität Regensburg mit einer Arbeit über die Sozialgeschichte der ländlichen Welt Bayerns im frühen Industriezeitalter, die den mit der Reagrarisierung verbundenen Strukturwandel im ländlichen Bereich beschreibt und deren Ergebnisse in seinen Beitrag zu Spindlers Handbuch der Bayerischen Geschichte (Bd. 4, S. 748-780) eingingen. 2. Universität Augsburg. Berufung und Wirken 1974 schließlich erfolgte die Berufung an die neu gegründete Universität Augsburg als Professor für Bayerische Landesgeschichte. Seit 1986 hat der Lehrstuhl die Bezeichnung für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte. Es begann damit ein 2 1960 als Dissertation erschienen, 1962 dann auch unter dem Titel Herrschaftsgeschichte der altbayerischen Landgerichte Dachau und Kranzberg im Hoch- und Spätmittelalter sowie in der frühen Neuzeit (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 1) bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte. Pankraz Fried zum 60. Geburtstag 447 für die schwäbische Landesgeschichtsforschung überaus fruchtbarer und weit ausstrahlender neuer Abschnitt. Trotz der 1949 erfolgten Gründung der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft und ihrer verdienstvollen Arbeit in der Edition grundlegender Urkundenbestände, der Herausgabe der Lebensbilder und Reiseberichte aus dem Bayerischen Schwaben, der Fuggerstudien und Geschichtsstudien stand Schwaben forschungsgeschichtlich im Windschatten der auf Altbayern konzentrierten Münchner Universitätsforschung. Die württembergische Landesgeschichtsforschung machte an der Iller halt, nur wenige „trauten" sich ins Bayerische Schwaben. Trotz so verdienstvoller Forscherpersönlichkeiten wie Andreas Bigelmair und Friedrich Zoepfl an der philosophisch-theologischen Hochschule in Dillingen konnten in der Forschung nicht annähernd die Impulse und Kapazitäten von Universitätsinstituten erreicht werden. Das hier angesprochene Problem war nicht nur eine Frage der Forschung, sondern ein kulturpolitisches Problem, das letztlich erst aus der zentralistischen Kultuspolitik Bayerns zu verstehen ist. Mit feinem Gespür sah Fried diese Situation und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Aufgaben, die er in seinem ersten Tätigkeitsbericht für die Studienjahre 1974/ 75 bis 1976/ 77 folgendermaßen charakterisierte: „Dem Landeshistoriker ist es bis zu einem bestimmten Grade verwehrt, den Stubengelehrten im „Elfenbeinernen Turm" zu spielen. Er steht in einer besonderen Verantwortung für den Bezirk Schwaben, mit dem er ständig ,Zwiesprache' halten soll. Aus diesem Grunde wurden zahlreiche Kontakte mit der Regierungs- und Bezirksverwaltung, den Stadt- und Landkreisbehörden, den Archiven und Bibliotheken, der Denkmal- und Heimatpflege, den historischen Vereinen Bayerisch Schwabens usw. angeknüpft oder weiter ausgebaut." 3 3. Ansätze und Ziele in Forschung und Lehre In den folgenden inzwischen 16 Jahren wurde unter bewusster Einbeziehung interdisziplinärer Forschung und Zusammenarbeit in allen Bereichen der landesgeschichtlichen Forschung eine grundlegende und weitgreifende, Schwaben in den südwestdeutschen Raum einbindende Forschungsarbeit geleistet, die durch ein systematisches, alle Geschichtsepochen umfassendes Lehrangebot vorbereitet wurde. Ansatz- und Orientierungspunkte waren zunächst die aus der Arbeit am Historischen Atlas sich ergebenden Fragestellungen, die auf Schwaben hin modifiziert und weiterentwickelt wurden. Bis 1989 entstanden am Lehrstuhl Fried 110, meist auf Quellenarbeit beruhende Prüfungsarbeiten für Lehramtsschlussprüfungen, 17 Magisterarbeiten und zehn Dissertationen. Durch den Aufbau enger Kontakte zu den kulturellen Institutionen im Land konnten zahlreiche größere Projekte (Landkreis- 3 P ANKRAZ F RIED , Bayerisch-Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg 1975-1977, Sigmaringen 1979, 203. Peter Fassl 448 und Stadtgeschichte, Dehio von Schwaben, Geschichte des Bezirkstags von Schwaben etc.) initiiert, wissenschaftlich betreut und verwirklicht werden. Die Forschungslandschaft Schwabens veränderte sich grundlegend, die schwäbische Kulturpflege erhielt direkt und indirekt wesentliche Impulse. Zu verfassungs- und besitzgeschichtlichen Fragestellungen kamen nun mit der Eingliederung der Oettingen-Wallerstein-Bibliothek in die Universitätsbibliothek Augsburg kulturgeschichtliche Forschungsprojekte, dann der Strukturwandel Schwabens im 19. und 20. Jahrhundert, das in der schwäbischen Geschichte vorstrukturierte Problem der überregionalen Beziehungen, mithin das Projekt einer europäischen Regionalgeschichte, und schließlich volkskundliche und sachgeschichtliche Fragestellungen. Als „Ziel" dieser Forschungen könnte man benennen, Bayerisch-Schwaben einerseits in die landesgeschichtliche Forschung der Alpenregion und Südwestdeutschlands einzufügen („Alemannia"), andererseits das historische und kulturelle Eigengewicht der Region herauszuarbeiten. Alle diese Initiativen haben in vielfältiger Weise über die Universität hinaus durch Ausstellungen, Museumskonzeptionen, die Arbeit der historischen Vereine, Buch- und Forschungsprojekte in die schwäbische Kulturpflege hinein befruchtend gewirkt. Landesgeschichtliche Fragestellungen werden nach der anfänglich nicht immer leichten Aufbauarbeit Frieds heute von praktisch allen philosophischen Fachrichtungen an der Universität mit Erfolg angewandt. Frieds Führung geschieht mit behutsamer Hand. Die Möglichkeiten und Interessen der Studenten werden aufgenommen und zur selbstständigen Arbeit hingeleitet. Er lässt keine Arbeiten schreiben. Er gewährt und eröffnet aus Liebe zur Sache und eigener, zum Teil leidvoller Erfahrung den wissenschaftlichen Freiraum, den Forschung, Wissenschaft und Person zu ihrer Entwicklung brauchen. Er selbst versteht Forschung und Lehre wohl letztlich als Dienst, als Dienst an Schwaben. 4. Ehrungen und weitere Berufungen Zahlreiche Ehrungen und Berufungen in wissenschaftliche Institutionen haben seine Leistungen gewürdigt. Fried wurde 1977 Mitglied der Kommission für Bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1979 Vorsitzender der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, in den 1980er Jahren korrespondierendes Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden- Württemberg, ao. Mitglied der historischen Kommission der Bayerischen Benediktinerakademie, Beiratsmitglied des alemannischen Instituts in Freiburg usw. Seinen Festvortrag anlässlich der Errichtung des Kreises Schwaben und Neuburg vor 150 Jahren am 26. November 1987 schloss Fried mit folgenden Bemerkungen: „Schwaben wie Franken haben durch die königliche Namengebung diese heimatbezogene Identität wiedererhalten. Aus den Resten des alten, von Ludwig Pankraz Fried zum 60. Geburtstag 449 sicherlich romantisierten und idealisierten Stammesbewusstseins konnte ein neuer stammlich geprägter Regionalismus entstehen, in dem sich auch der Mensch der modernen Industrie- und Massengesellschaft zunehmend geborgen fühlt." 4 Diesen Regionalismus in seinen landesgeschichtlichen Grundlagen und Dimensionen erforscht und befragt, die Vermittlung von Wissenschaft zur Kulturpflege gesucht und gefunden zu haben, ist das wesentliche Verdienst von Professor Dr. Pankraz Fried. 4 P ANKRAZ F RIED , Die staatliche Neuorganisation Bayerns auf der mittleren Verwaltungsebene zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: DERS . (Hg.), Forschungen zur schwäbischen Geschichte, Sigmaringen 1991, 179f. Pankraz Fried, der Vater der schwäbischen Landesgeschichte Alois Schmid Am 26. Februar 2013 ist Professor Dr. Pankraz Fried im hohen Alter von 82 Jahren verstorben. Der Tod ereilte ihn völlig unerwartet in seiner geliebten ostschwäbischen Heimat zu Heinrichshofen. Am 2. März wurde er auf dem Friedhof des Pfarrdorfes Egling an der Paar zur letzten Ruhe gebettet. Eine große Trauergemeinde erwies ihm die Ehre. Zu den Angehörigen, Freunden und Nachbarn waren auch zahlreiche Kollegen, Weggefährten und Schüler nach Egling gekommen, um dem hochgeschätzten Verstorbenen das letzte Geleit zu geben. In mehreren Nachrufen wurde der Privatmann wie der Fachgelehrte gewürdigt 1 . Ohne Zweifel gehörte Professor Dr. Pankraz Fried zu den profiliertesten Fachvertretern der Landesgeschichte an den Universitäten der Bundesrepublik Deutschland in den zurückliegenden Jahrzehnten. Seine Bedeutung liegt in drei Bereichen: als akademischer Lehrer, als Forscher und als Wissenschaftsorganisator. 1. Der akademische Lehrer Pankraz Fried wurde nach seiner Promotion bei Professor Dr. Max Spindler an der Universität München (1960), erster Berufstätigkeit in verschiedenen Sektoren des Kulturbetriebes in München und der Habilitation an der Universität Regensburg (1972) im Jahre 1974 zum ersten Inhaber der neu geschaffenen Professur bzw. des Lehrstuhls für bayerische (ab 1986: und schwäbische) Landesgeschichte an der damals jungen Universität Augsburg berufen. Dort hat er das Fach bis zu seiner Emeritierung 1993 aufgebaut und damit einen wesentlichen Beitrag zur Profilierung dieser schwäbischen Universität geleistet. Eine ganze Generation von schwäbischen Landeshistorikern hat in seiner prägenden Schule ihre wissenschaftliche Formung erfahren. Sie setzt in der Gegenwart die bei diesem akademischen Lehrer empfangenen Anregungen in Wissenschaft, Schule, Medien, Verwaltung, Archiven, Bibliotheken und Museen um und trägt damit entscheidend zur kulturellen Physiognomie Bayerisch-Schwabens in unserer Gegenwart bei. Dabei hat der Universitätsprofessor Pankraz Fried immer bewusst über die akademischen Hörsäle hinaus- und durch zahllose Vorträge breit in die interessierte 1 Aus Anlass seines Todes geringfügig veränderter Abdruck aus: Der Welf (2010-2011), 185- 189. Alois Schmid 452 Öffentlichkeit hineingewirkt. Oftmalige Exkursionen bezogen das Land unmittelbar in die Lehrtätigkeit ein und untermauerten die fachlichen Ausführungen durch Anschaulichkeit. Ausgangspunkte der Erörterungen waren oftmals sehr konkret das Dorf, der Markt, die Stadt oder auch das Kloster mit den hier ansässigen Bauern, Handwerkern, Bürgern oder Mönchen. Mit Vorliebe trat Pankraz Fried von unten an die Geschichte heran und zeigte damit die Basis auf, auf der die von der Fachwissenschaft üblicherweise behandelte Allgemeine Geschichte aufruht. Sein Zugriff galt immer mehr als den Herrschenden den Kleinen Leuten bis hinunter zu den Söldnern und Landarbeitern. Er eröffnete damit der Landesgeschichte weithin neue Betrachtungshorizonte jenseits der sonst in den Vordergrund gestellten Kategorien von Staat und Politik. Dabei nahm Herr Fried die schwäbische Geschichte in ihrer gesamten Breite in den Blick. Zu allen Epochen hatte er Gehaltvolles zu sagen, wobei seine Vorliebe unverkennbar dem Mittelalter galt. Er betrieb Landesgeschichte immer als epochenübergreifende Disziplin, in der er die Linien über Jahrhunderte hinweg durchzuziehen verstand. In gleicher Weise unterwarf er die behandelten Gegenstände einer sehr umfassenden Betrachtung von unterschiedlichen Seiten her, so dass ihm Landesgeschichte geradezu als Musterbeispiel für die viel beschworene, aber nur selten umgesetzte Interdisziplinarität wurde; er hat sie durch die Einbeziehung vor allem der Geographie, Volkskunde, Kirchen- und Sprachgeschichte, aber auch der Soziologie mit erstaunlichen Ergebnissen wirklich erreicht. Er ist ein Vertreter der deutschen Landesgeschichte im herkömmlichen Sinn: ein echter Generalist, wie sie die Generation nach ihm kaum mehr kennt. Er hat das Fach in seither nur mehr selten erreichtem Umfang bearbeitet. Auf diesem Wege hat Pankraz Fried eine für Universitätsprofessoren ungewöhnliche Außenwirkung erreicht. Für ihn war die Landesgeschichte Bayerisch- Schwabens nie nur eine akademische Fachdisziplin. Sein Bildungsziel war ausgehend von der Landesgeschichte die Begründung und Stärkung eines Regionalbewusstseins als hochrangiger Bildungswert. Letztlich schrieb er der Landesgeschichte einen besonderen Stellenwert als Grundlage des Staatsbewusstseins und damit eine wichtige staatspolitische Aufgabe zu. An der Verwirklichung dieses hohen Anspruches hat er als akademischer Lehrer in sehr unterschiedlichen Bereichen ein Leben lang gearbeitet und ohne Zweifel viel erreicht. 2. Der Forscher Pankraz Fried verknüpfte den sich selbst gesetzten bildungspolitischen Grundauftrag engstens mit den Forderungen der Geschichtswissenschaft. Er baute die Landesgeschichte immer auf dem tragfähigen Fundament der historischen Methodik auf. Pankraz Fried gehört zu den Gründungsvätern der Landesgeschichte als Universitätsdisziplin in der Zeit des großflächigen Ausbaues des deutschen Hochschulwesens Pankraz Fried, der Vater der schwäbischen Landesgeschichte. 453 und hat einen entscheidenden Beitrag zu deren Verankerung im akademischen Fächerkanon geleistet. Er hat darüber hinaus einen wegweisenden Beitrag zur wissenschaftstheoretischen Untermauerung erbracht. Als solcher darf der von ihm verantwortete Sammelband „Probleme und Methoden der Landesgeschichte“ (1978) eingestuft werden, der zur Grundliteratur des Faches gehört und bis heute deutschlandweit hohe Anerkennung findet. Die Liste der Veröffentlichungen von Pankraz Fried umfasst alle Gattungen des wissenschaftlichen Schrifttums von der Rezension über Lexikonartikel, Zeitschriftenaufsätze, Buchbeiträge, Handbuchartikel bis hin zu mehreren Monographien. Sie haben ihre Schwerpunkte in durchwegs vorzüglich abgefassten Untersuchungen und Darstellungen, sie schließen auch Quelleneditionen ein. Zur Charakterisierung der Publikationstätigkeit seien lediglich die wichtigsten Bände hervorgehoben. Bereits die Dissertation über „Die Herrschaftsgeschichte der altbayerischen Landgerichte Dachau und Kranzberg“ (1962) setzte Maßstäbe, indem sie für die in Deutschland einzigartige flächendeckende Untersuchungsreihe des „Historischen Atlas von Bayern“ völlig neue Horizonte erschloss. Sie weitete die begrenzten Fragestellungen der Einleitungsbände durch die Aufwertung der älteren Epochen zu eigengewichtigen Abschnitten wesentlich aus, so dass sich die Folgebände immer mehr zu Gesamtdarstellungen der herrschaftlichen Entwicklung der jeweiligen Untersuchungsräume auswuchsen. Für diese Neuausrichtung der Atlasforschung legte Pankraz Fried mit den Heften „Die Landgerichte Dachau und Kranzberg“ (1958) sowie „Die Landgerichte Landsberg und Schongau“ (1971) selber zukunftsweisende Muster vor; an ihnen orientiert sich die Reihe bis in unsere Tage maßgeblich. Der Band „Schwaben von den Anfängen bis 1268“ innerhalb der Reihe „Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern“ ist seit seinem Erscheinen 1988 ein äußerst hilfreiches Nachschlagewerk zur Geschichte des Herzogtums Schwaben im frühen und hohen Mittelalter geworden; er bietet sowohl die entscheidenden Quellen in zweckgerechter Aufbereitung als auch deren komprimierte Interpretation auf dem derzeitigen Wissensstand. Im Editionsbereich ist vor allem auf seine Ausgaben des „Chronicon Schirense“ des Abtes Konrad von Scheyern (1980), der „Lex Alamannorum“ (1993) oder der „Ökonomie der Abtei Dießen“ (1974) zu verweisen. Sein Beitrag „Die Sozialentwicklung im Bauerntum und Landvolk“ im „Handbuch der bayerischen Geschichte“ (Teilband IV/ 2, 1975) übertrug soziologische Betrachtungsweisen auch auf die neueste Geschichte des Agrarstaates Bayern; er bietet die erstmalige Gesamtdarstellung der Entwicklung des ländlichen Raumes unter sozialgeschichtlichen Fragestellungen und eröffnete damit völlig neue Perspektiven für die Behandlung des Königreiches und Freistaates Bayern. Dem Dorf und der Landbevölkerung gehörte immer die besondere Liebe des Forschers Fried. Mit ihm beschäftigte er sich vor allem in verfassungsgeschichtlicher, kulturgeographischer und sozialgeschichtlicher Hinsicht an lohnenden Einzelbeispielen. Als einer der ersten Landeshistoriker hat er die Bearbeitung der in dieser Alois Schmid 454 Hinsicht besonders aussagekräftigen Quellengruppe der Dorfordnungen und Weistümer angeregt, die erst seitdem breitere Beachtung erfahren. Pankraz Fried hat seinen spezifischen Zugang zur Landesgeschichte gesucht und durch die gezielte Ausrichtung an der Landeskunde auch gefunden. Er hat ihr neue Untersuchungsbereiche erschlossen. Die Liste der im Jahre 1958 einsetzenden Publikationen von Pankraz Fried ist lang und von beeindruckender thematischer Vielfalt gekennzeichnet. Er hat sich als Forscher immer zu den zwei Hauptaufgaben eines Universitätsprofessors bekannt, der seinen Impulsen nicht nur durch das gesprochene Wort Verbreitung, sondern vor allem durch Veröffentlichungen auch Nachhaltigkeit verschaffen soll. Zu dieser Verpflichtung stand er bis in die letzten Tage. Noch zwei Wochen vor seinem Tod setzte er mit dem letzten Buch über das Lechraingebiet einen sehr bezeichnenden Schlußpunkt. 3. Der Wissenschaftsorganisator Für Pankraz Fried war die bayerisch-schwäbische Landesgeschichte nicht nur eine unter den vielen Wissenschaftsdisziplinen, in denen es darum geht, mithilfe rational abgesicherter Methoden abstrakte wissenschaftliche Aussagen zu erarbeiten. Er erkannte seiner Tätigkeit darüber hinaus einen hohen Stellenwert für die staatsbürgerliche Bildungsarbeit und damit eine staatspolitische Dimension zu. Diese Überzeugung von der über die Wissenschaft hinausreichenden Bedeutung der Landesgeschichte veranlasste ihn zu seinem ausgeprägten Engagement im Kulturmanagement. Vor allem gehört er zu den Gründungsvätern der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, der er als zentraler Einrichtung der Forschung in und über Schwaben über zwei Jahrzehnte (1979-1999) hinweg selber zunächst als Geschäftsführender Vorstand und ab 1984 als Erster Vorsitzender vorstand. Darüber hinaus war er 1991 wegweisend an der Errichtung der Schwäbischen Forschungsstelle der Kommission für bayerische Landesgeschichte beteiligt, die innerhalb des Forschungsbetriebes an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die schwäbischen Belange betreut. In der Kommission für bayerische Landesgeschichte fungierte er über viele Jahre als wirkungsvoller Sprecher der schwäbischen Abteilung. Außerdem war er in mehreren Vereinen, Verbänden und Beiräten gestaltend tätig. An seinem Lehrstuhl und in der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft baute er verschiedene erfolgreiche Veröffentlichungsreihen auf, die den dort erarbeiteten Forschungsergebnissen breite Beachtung und Dauer verschaffen; sie sind bis heute die wichtigsten Sprachrohre der schwäbischen Landesforschung. Es sei vor allem auf die „Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens“ (6 Bände, 1979-1996) oder die „Materialien zur Geschichte des bayerischen Schwaben“ (23 Bände, 1978-1995) verwiesen. Die neun Veröffentlichungsreihen der SFG lebten Pankraz Fried, der Vater der schwäbischen Landesgeschichte. 455 während seiner Vorstandschaft weithin von den wegweisenden Impulsen des Vorsitzenden. Seine besondere Vorliebe gehörte immer dem „Historischen Atlas von Bayern“, dessen schwäbische Abteilung er bis zu seinem Tod leitete. Mit den zahlreichen Bänden seiner Schüler hat er sie wesentlich vorangetrieben. Mit gleichem Engagement beteiligte er sich an der Erarbeitung des Kartenwerkes des „Historischen Atlas von Bayerisch-Schwaben“, der als Muster eines Regionalatlasses hohe Wertschätzung genießt; ab 1982 bis 1998 stand er der Neubearbeitung in einer Zweitauflage als verantwortlicher Gesamtredaktor vor, der für insgesamt 40 Karten verantwortlich zeichnet. Diese vielfältigen wirkungsvollen Aktivitäten und Weichenstellungen von Pankraz Fried waren nur durch seine engen Verbindungen zur Politik zu verwirklichen. Es war ihm immer ein großes Anliegen, auch die politischen Verantwortungsträger für seine Ideen zu begeistern und so zur Unterstützung anzuregen. In keinem anderen Regierungsbezirk Bayerns ist das in vergleichbarer Weise wie in Schwaben gelungen. Bereits der junge Pankraz Fried gehörte zu den Wegweisern der „Bayerische Einigung - Bayerischen Volksstiftung e.V.“, die seit Jahrzehnten bedeutsame Kulturprojekte fördert. Auf diesem Wege vermochte er sich über Jahrzehnte hinweg gestaltend in die Erhaltung der Kulturlandschaft Bayerns und Schwabens, etwa in der Denkmal- oder Heimatpflege, einzuschalten; in diesem Sinne hat er sich auch in die Errichtung der Schwabenakademie zu Irsee eingebracht und damit zu einem echten Glanzlicht der Kulturpflege im Freistaat beigetragen. 4. Würdigung Pankraz Fried gehört zu den renommiertesten deutschen Landeshistorikern. Im Unterschied zu manchem anderen Fachvertreter hat er das von ihm zu bearbeitende Land nie als irgendeine, beliebig austauschbare Region verstanden. Land bezeichnete in seinem Verständnis zunächst einmal die unmittelbare Umgebung, die ihn selber geprägt und ein Leben lang weiter bestimmt hat. Land ist für ihn immer in erster Linie unser Land gewesen, das er durchaus als Heimat verstand, der er sich jederzeit verpflichtet fühlte. Er hat auf der Grundlage einer methodisch abgesicherten Heimatkunde die universitäre Landesgeschichte aufgebaut und dieser ein tragfähiges Fundament verschafft. Er hat an ihrer organisatorischen Ausgestaltung wegweisend mitgewirkt. Er hat ihr aber auch Inhalt und Richtung gegeben. Über seine Schüler wirkt sein Erbe unmittelbar in unsere Gegenwart herein, so dass auch heute noch die Landeskultur Schwabens wesentlich die Handschrift von Pankraz Fried trägt. Dabei waren seine Aktivitäten beständig in die zugehörigen Zusammenhänge eingebettet. Er hat den Kulturraum Schwaben immer im übergeordneten Rahmen des Alois Schmid 456 Freistaates Bayern und der Bundesrepublik Deutschland und letztlich auch Europas bearbeitet. Das Wirken von Professor Dr. Pankraz Fried hat die verdiente Anerkennung erfahren. Diese fand ihren Ausdruck in der Verleihung vielfacher öffentlicher Auszeichnungen. Deren höchste sind das Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1996) und die Bayerische Verfassungsmedaille (1996); die Bayerische Landesstiftung hat ihm ihren Preis für herausragende kulturelle Leistungen im Freistaat für das Jahr 2011 verliehen. Seine wissenschaftliche Tätigkeit fand in mehreren Festschriften (1991, 1997, 2007) eine angemessene Würdigung durch die Fachwelt. Mit dieser vierten Jubiläumsgabe wollten zusammen mit seinen Fachkollegen und dem großen Schülerkreis alle an der Kultur des Freistaates Bayern und besonders Schwabens Interessierten dem hoch verdienten Jubilar im Nachgang zu seinem 80. Geburtstag ihre Glückwünsche überbringen. Es ist anders gekommen. Die Geburtstagsgabe muß zu einer Gedenkschrift werden. Doch wird der Geehrte durch sein Lebenswerk als Vater der schwäbischen Landesgeschichte in seiner Umgebung sowie in der Fachwelt weiterleben. Prof. Dr. Pankraz Fried: Ruhe in Frieden! Autoren und Herausgeber N ICOLA B IRK , Assessorin iur., geb. 1981, seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilverfahrensrecht, Römisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Augsburg, Rechtsanwältin in Lindau. F RANZ -R ASSO B ÖCK , Dr. phil. M.A., geb. 1957, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Pankraz Fried, seit 1992 Stadtarchivar in Kempten (Allgäu). P ETER F ASSL , Dr. phil., geb. 1955, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Pankraz Fried, seit 1987 Bezirksheimatpfleger von Schwaben. H ELMUT G IER , Dr. phil. M.A., geb. 1947, 1985-2012 Direktor der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. A NDREA G ROß , M.A., geb. 1983, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Erlangen 2004-2009, Doktorandin am Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte. M ARINA H ELLER , M.A., Studium der Geschichte in Erlangen, dort seit 2004/ 05 Doktorandin und seit 2006 wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte. M ARKWART H ERZOG , Dr. phil., geb. 1958, Studium der Philosophie in München, Sport- und Kulturhistoriker, seit 2009 Direktor der Schwabenakademie Irsee. R EGINA H INDELANG , M.A., geb. 1982, seit 2011 Promotion über den Historischen Atlas von Bayern, Altlandkreis Dillingen, am Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte in Erlangen. M ATTHIAS K ÖRNER , Dr. phil. M.A., geb. 1976, Promotion über den Historischen Atlas von Bayern, Altlandkreis Naila, am Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte in Erlangen. M ARITA K RAUSS , Prof. Dr. phil., geb. 1956, seit 2008 Professorin für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg. W ILHELM L IEBHART , Prof. Dr. M.A., geb. 1951, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Pankraz Fried, seit 1989 Professor für Geschichte, Politik und Literatur an der Hochschule Augsburg, Fachbereich Allgemeinwissenschaften. K ARL B ORROMÄUS M URR , Dr. phil., seit 2009 Leiter des Staatlichen Textil- und Industriemuseums Augsburg, Lehrbeauftragter der Universität Augsburg und der Ludwig-Maximilians-Universität München. W OLFGANG O TT , M.A., geb. 1950, Studium der Kunstgeschichte und Empirischen Kulturwissenschaften, seit 1992 Museumsleiter des Weißenhorner Heimatmuseums. Autoren und Herausgeber 458 E BERHARD P FEUFFER , Dr. med., Ehrenmitglied und Ehrenvorsitzender des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schwaben. T OBIAS R IEDL , M.A., geb. 1980, Sozialversicherungsfachangestellter, später Studium für das Lehramt am Gymnasium und Magisterstudiengang „Ethik der Textkulturen“, seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte in Erlangen-Nürnberg. A LOIS S CHMID , Prof. Dr. phil., geb. 1945, Professor für bayerische Landesgeschichte an den Universitäten Eichstätt, Erlangen-Nürnberg und München (1998-2010), seit 1999 Erster Vorsitzender der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. A NDREAS O TTO W EBER , Dr. phil., seit 2008 Privatdozent am Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte der Universität Erlangen-Nürnberg, seit 2013 Leiter des Hauses des Deutschen Ostens. M ARKUS W EIS , Dr. phil., geb. 1976, seit 1989 Gebietsreferent beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, seit 2001 Leiter des Referats A III, Schwaben- Mittelfranken. B ENJAMIN W IDHOLM , M.A., geb. 1985, wissenschaftlicher Volontär am Landesmuseum Württemberg in der Fachabteilung Volkskunde. W OLFGANG W ÜST , Prof. Dr. phil., geb. 1953, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Pankraz Fried, seit 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Personenregister - A - Adalbero (Graf): 160f. Albrecht III.(Herzog von Bayern): 91 Altdarffer (Händler Landshut): 94 Altkirch, Rosa von: 163 Aretin, von (Beamtenfamilie): 165 Ausonius: 88 Avenarius, Ferdinand (Verleger, Schriftsteller): 68 - B - Barthelme, Hugo (Kirchenmaler): 71f. Bauer, Volker: 266 Baumeister, Reinhard (Stadtplaner): 292-294 Baumgärtner, Dr. Jakob Ferdinand (Landgerichtsarzt Illertissen): 334 Beck, Dr. Johann Heinrich (Landgerichtsarzt Roggenburg): 339 Behem, Hans (Hirte): 34 Beittinger, Georg (Hauptlehrer): 77 Berger, Dr. August (Landgerichtsarzt Fürstenfeldbruck): 350 Berghoff, Hartmut: 390 Berhta (Äbtissin): 162 Bestelmeyer, German (Architekt): 301 Biletrud (Witwe des bayerischen Herzogs Berthold): 157 Binder, Andreas (Deutschordensbaumeister): 236-238 Binder, Matthias (Baumeister): 237, 240 Bleichröder, Gerson: 398 Bleifuß, Dr. Karl (Landgerichtsarzt Klingenberg): 343 Blickle, Peter: 246, 256 Bobinger (Pfarrer): 77 Böckler, Georg Andreas: 228 Bonifaz VIII. (Papst): 165 Brandenburg, Christian Ernst von (Markgraf): 226 Brandenburg-Bayreuth, Christian von (Markgraf): 104 Brenner, Bernhard: 246f. Brunner, Dr. Heinrich Maximilian Emanuel (Landgerichtsarzt Volkach): 346 Büttner, Elisabetha (herrschaftliche Dienstmagd): 175-184, 186f., 190-193 - C - Castell, Freiherren von: 231 Christa (Pfarrer): 74 Christof Franz (Fürstbischof Bamberg): 108f. Christoff (Ingolstadt): 92 Closen zu Gern, Amalia Gräfin (Äbtissin Hohenwart): 165 Cramer-Klett, Theodor von (Besitzer Maschinenbau A.G. Nürnberg): 394f., 399 - D - Dall’ Armi, Dr. August von (Landgerichtsarzt Weilheim): 354 Dannheimer, Johann Martin: 118 Dannheimer, Tobias (Buchdrucker, Buchhändler, Verleger): 53, 56, 118 Demleuthner, Dr. Karl (Landgerichtsarzt Höchstädt): 334 Deuring, von (Beamtenfamilie): 165 Personenregister 460 Diet(e)l, Ursula (Bäckerstochter): 179-181, 187 Dietzel, Friedrich Elias (Drucker): 274 Dinkel, Pankratius von (Bischof): 71 Dinklage, Karl: 248 Dirr, Anton (Bürgermeister): 77 Döring, Dr. Ludwig (Landgerichtsarzt Stadtprozelten): 346 Donnersberg, Sigfrid von: 166 - E - Eberl, Barthel (Kreisheimatpfleger, Benefiziat): 74, 77f. Eberle (Kämmerer, Schuldekan): 74 Ebersberg, Eberhard von (Graf): 161 Egi: 86f. Egloffstein, Herren von: 252 Eisenreich, Dr. Florian (Landgerichtsarzt Schongau): 354 Embrico (Bischof Augsburg): 164 Engel, Sebastian (Müller Föritzmühle): 176 Erb (Königlich Bayerischer Polizeikommissär): 58 Ettenhofer (Familie München): 165 Evans, Mary Ann (Schriftstellerin, Pseudonym Georg Eliot): 250 Eysgrueber (Händler Landshut): 94 - F - Fäustle, Marie von: 396 Faust, Ulrich: 153 Finck, Wilhelm von (Bankier): 389, 392-401 Fischer, Johann Bernhard: 266f. Flessa, Dr. Johannes F. (Landgerichtsarzt Amorbach): 341 Förg, Willy (Gausportführer Schwaben): 418-424 Förster, Margaretha: 179f. Fontane, Theodor: 434 Forster, Dr. Johann Nepomuk (Landgerichtsarzt Ottobeuren): 338 Frey, Dr. Martin (Landgerichtsarzt Obergünzburg): 337 Fridrun (Äbtissin): 161 Fried, Pankraz: 13-15, 21, 42, 100, 243-246, 445-456 Friedrich I. Barbarossa (Kaiser): 165 Fugger, Veronika (Gräfin von Kirchberg-Weißenhorn, Priorin): 162 Fugger, Veronika und Sibylla (Freiinnen von Welden): 165 - G - Gaiser, Luitpold (Baumeister): 69 Gaugenrieder, Aloisia: 357f., 366f. Gebhard, Georg (Drucker): 53 Genzinger, Franz: 246 Gerstens (Familie München): 165 Giels von Gielsberg, Roman (Fürstabt): 117 Ginzburg, Carlo: 169f. Götz, Dr. Thomas (Landgerichtsarzt Wertingen): 340 Goy, Dr. Michael Eugen (Landgerichtsarzt Hofheim/ Oberfranken): 342f. Grimm, Jacob und Wilhelm: 246 Gröschel (Regierungsdirektor Generaldirektion der Bayerischen Staatsbahn): 301 Groß, Johann Gottfried (Publizist): 52, 65 Gruber, Franz Paul: 357f., 366f. Gruber, Jakob (Fabrikarbeiter, Kapuziner, Laternenanzünder): 357- 387 Gutmann, Johann Georg: 53 Personenregister 461 - H - Haab (Schauspieler, Porträtmaler): 57 Hadamo(v)t (Äbtissin): 162 Häcker (Landgerichtsrat): 74 Haggenmüller, Johann Baptist (Abgeordneter, Geschichtsschreiber): 118-121 Hallwachs, Halbpax (Kaufmann Nürnberg): 94 Hans Veit I.: 173 Harder (Bürgermeister Weißenhorn): 70 Hartmann (Bischof Augsburg): 167 Haueisen, Benedict Friedrich (Buchhändler): 278 Haziga (Gräfin): 160 Hedwig von Schlesien (Herzogin): 165 Heffner, Dr. Ludwig Franz Friedrich (Landgerichtsarzt Bischofsheim): 342 Heinle, Albert (Kirchenmaler): 69-74, 78, 80-82 Heinle, Anton (Stadtprediger): 74 Heinle, Karl (Kirchenmaler): 72 Heinrich II. (König): 156, 160 Heinrich III. (Bischof Augsburg): 162 Heinrich IV. (Herzog von Bayern): 156f. Heinscheidt, Anton (Buchdrucker): 44 Heinz, Wilhelm (Architekt): 300 Henke, Dr. Michael (Landgerichtsarzt Kitzingen): 343 Henrici, Karl (Stadtbaukünstler): 294f. Herberger, Sepp (Reichstrainer Fußball): 414-417 Hermann II. (Herzog von Schwaben): 159 Herwarth, Margaretha (Meisterin/ Priorin): 168 Hieronymus II. von Würzburg: 173 Hilber, Richard (Malermeister): 78, 80 Hilta: 161 Hinträger (Bürgermeister Weißenhorn): 69 Hirsch, Johann Christoph: 275f. Hirsch, Julius (Fußballnationalspieler): 410f. Höger, Dr. August (Landgerichtsarzt Neuburg/ Donau): 352 Höß, Franz Anton: 219 Hössle, Dr. Marquard Georg von (Landgerichtsarzt Memmingen): 336 Hofmaister, Hanns (Weinlieferant): 91 Hofmeister, Franz (Zinngießermeister): 76-80 Hohenzollern (Geschlecht): 99f., 102-106 Hohmann, Johann Baptist: 230 Holl, Josef (Geistlicher Rat, Dekan): 69-73, 81f. Holzapfel, Ludovika (Oberin): 163 Howard, Ebenezer: 306f. Huber, Konrad (Kunstmaler): 73 Hug, Dr. Aurelius (Landgerichtsarzt Freising): 349 - I - Igel (Scharfrichter): 70 Igel, Walburga: 70 Ilg, Dr. Anselm (Landgerichtsarzt Burgau): 330 Immel, Dr. Karl (Landgerichtsarzt Göggingen): 331 Irmingarda (Äbtissin): 161 Personenregister 462 - J - Judith (Tochter Herzog Konrads von Schwaben): 158f. - K - Kaltdorff, Dr. Karl (Landgerichtsarzt München links der Isar): 351 Kamm, Dr. Johann Adam (Landgerichtsarzt Hammelberg): 342 Kammerer, Johann Dietrich Michael (Verleger): 46f., 50 Karrer, Dr. Karl Georg (Landgerichtsarzt Kempten): 335 Kaufmann, Dr. Mathias (Landgerichtsarzt Bissingen): 329 Keller, Franz (Baumeister): 237 Khuen-Belasi, Scholastika Reichsgräfin von: 163 Kiefer, Anton: 369 Klein, Georg (Schriftsteller): 429-441 Knapp, Hermann: 247 Knittl, Albrecht (Weinlieferant): 91 Köngott, Franz (Drucker): 65 Königsegg, Georg Freiherr zu: 219 Königsegg-Rothenfels, Christian Moriz zu: 219 Königsegg-Rothenfels, Maximilian Graf zu: 219 Koepf, Dr. Friedrich Caspar (Landgerichtsarzt Füssen): 331 Körner (Vogt Enchenreuth): 108f. Köstlin, Konrad: 67 Kolb (Dekan): 74 Kolleffel, Johann Lambert: 222 Koller, Dr. Johann Michael (Landgerichtsarzt Augsburg): 328 Konrad III. von Dachau (Graf, Herzog): 165 Konrad von Lechsberg: 165 Kraus, Anna: 380 Kraus, Anna (Tochter): 381 Krauß, Christoph (Drucker): 53 Kreittmayr, Anna Bennonia: 163 Kreittmayr, Wiguleus Xaver Alois Freiherr von (Jurist): 163 Kuch, Georg (Stadtplaner): 302 Küttlinger, Dr. Carl Julius Adalbert (Landgerichtsarzt Nürnberg): 355 Kunigunde (Kaiserin): 161 - L - Landauer („Schutzjude“ Ellingen): 238 Lauber, Dr. Thomas (Landgerichtsarzt Donauwörth): 330 Laubheim, von (Beamtenfamilie): 165 Lauk, Dr. Ludwig (Landgerichtsarzt Zusmarshausen): 341 Lederer, Hanns (Händler Weilheim): 94 Lehener, Hanns (Weinlieferant): 90 Lenbach, Franz von (Maler): 37 Lepsius, Rainer: 389f. Lerchenfeld, Helena und Franziska von: 163 Lichtwark, Alfred (Kunsthallendirektor): 83 Liebhart, Wilhelm: 153 Limburg-Styrum (Grafen): 232 Lingl, Dr. Karl (Landgerichtsarzt Markt-Oberdorf): 336 Liutkart: 161 Löhner, Otto (Bauamtsassessor): 75 Lotzbeck, Dr. Karl Daniel Friedrich (Landgerichtsarzt Babenhausen): 328 Lucius III. (Papst): 166 Ludwig Anton (Pfalzgraf): 260 Ludwig I. (König von Bayern): 318 Ludwig I. (Herzog): 165 Personenregister 463 Ludwig IV. (Kaiser): 165 Lüders, Johann Valentin (Buchdrucker Ansbach): 278 Luther, Martin (Reformator): 113 - M - Mändl auf Deutenhofen, von (Beamtenfamilie): 165 Mair, Dr. Adolf (Landgerichtsarzt Fürth): 356 Mangold I. von Werd (Edelfreier): 156 Mangold IV.: 156 Manner, Jörg (Partenkirchen): 95 Marini (Familie München): 165 Marquard (Bischof Eichstätt): 255 Martin, Dr. Johann Nepomuk (Landgerichtsarzt Grönenbach): 332 Maurer, Matheis (Weinkäufer Garmisch): 95 Messerer, Johann David (Buchdrucker): 278 Müller, Johann Georg (Gerichtsknecht): 181, 188 Müller, Julius: 217 - N - Neuburger, Berta: 80 Neuhaus, Helmut: 260 Neumann, Balthasar (Architekt): 174, 223f. Neusoner, von (Beamtenfamilie): 165 Nothhelfer, Johann Georg (Rechtsanwalt, Reporter, Redakteur, Verleger): 64f. Nusser, Wilhelm (HJ-Funktionär): 416 - O - Oberhuber, Karl (bayerischer Sportbereichsführer): 414-419, 422-424 Öhningen, Ita von: 159 Öhningen, Kuno von: 158f. Ohlenroth (Hauptkonservator): 77 Ortolf (Vogt Ilmmünster): 164 Ostermayr, Ulreich (Weinlieferant): 90 Ottheinrich (Pfalzgraf): 157 Otto I. (Bischof Bamberg): 89, 156 Otto II. (Kaiser): 157 - P - Palm, Fürst Karl von: 232 Pappenheim, Marschälle von: 220 Paul (Bürgermeister Regensburg): 92 Petry, David: 153 Peutinger, Konrad (Humanist, Stadtschreiber Augsburg): 160 Pfeffenhauser (herzoglicher Pfleger zu Abbach): 92 Peiffer, Lorenz: 410f. Philipp Wilhelm (Pfalzgraf): 159 Pöcher (Familie München): 165 Pöttinger, Josef (Sportbereichstrainer): 416f. Pötzl, Walter (Kreisheimatpfleger Lkr. Augsburg): 153 Pohlain, Christoff von (Kanoniker Freising): 260 Posch, Jacob Christoph (Buchhändler): 278 Prantmayr (Händler Weilheim): 94 Pressmar, Emma: 80 Puhlin, Catharina: 180, 187 - Q - Quaglio, Lorenz: 37 Personenregister 464 - R - Ramis, Dr. Karl (Landgerichtsarzt Prien): 353 Rapotonen von Hohenwart (Geschlecht): 164 Rechberg, Marschälle von: 222 Rehse (Fotograf): 75 Reichl (Stadtsekretär Weißenhorn): 69 Reinelius (Amtmann Unteres Schloss Mitwitz): 175f., 178f., 183, 187, 192 Reitzenstein zu Schwarzenbach am Wald, von (Geschlecht): 99, 103, 107, 109 Richter, Johann Moritz (Oberbaumeister): 226f. Riedel, Ernst (Bezirksamtmann): 75- 78 Riemerschmid, Richard (Stadtplaner): 308 Rieppel, Anton von (Direktor Klettsche Maschinenfabrik): 304 Ritz, Josef Maria (Landeskonservator): 80f. Rösch (Bezirksschulrat): 77 Rohr, Julius Bernhard von: 226f. Rosenau (Geschlecht): 173 Rosenau und Ahorn, Hans Berthold von: 173 Rosenau zu Öslau, Adam Alexander von: 173 Roth, Franz Josef (Baumeister): 237 Rüßbeck, Wilhelm: 250 Ruff, Ludwig (Architekt): 305f. Rupprecht, Friedrich Karl: 37 - S - Sailer, Max (Bürgermeister): 77f. Salzgeber, Johann Nepomuk (Baumeister): 233 Sauter, Dr. Fidel (Landgerichtsarzt Mindelheim): 337 Scandella, Domenico, genannt Menocchio (Müller): 169 Schatz, Jorg (Händler München): 94 Schaumberg (Geschlecht): 173 Scheiter, Hans (Schmiedemeister): 76, 80 Schenk von Kastell, Johann Willibald (Fürstabt Kempten): 116 Schilcher, Karl (Pfarrer): 77 Schiltberg, Bertold von (Marschalk): 165 Schlegel (Redakteur Fränkische Tagespost): 307 Schlicht, Josef (Pfarrer, Volkskundler): 37 Schlund, Fidel: 121 Schmid, Eduard (Benefiziat): 70f., 73 Schmid, Heinz: 261 Schmid, Dr. Josef (Landgerichtsarzt Türkheim): 340 Schmidt, Hans (Nationalspieler Fußball): 417f. Schmidt-Polex, Philipp Nicolaus (Bankbesitzer): 394 Schmitz (Bauabteilung Schuckertwerke Nürnberg): 299 Schnetzer, Johann Michael (Gutsbesitzer, Käsehändler): 118 Schott, Clausdieter (Rechtshistoriker): 247 Schreck, Johann Stephan (Müllerknecht Föritzmühle): 175-178, 184, 186, 191 Personenregister 465 Schrötter, Georg (Kreisarchivdirektor Nürnberg): 247 Schumann, Dirk: 391 Schwarzenberg (Fürsten): 232 Schwarzkopf, Joachim von: 265f. Schwoller (Händler Regensburg): 92 Sedelbauer, Dr. Willibald (Landgerichtsarzt Marktheidenfeld): 345 Seitz, Reinhard H.: 153 Seligmann, Aaron Elias: 398 Sensburg, Dr. Benedikt (Landgerichtsarzt Landsberg): 351 Sigihart (Abt Fulda): 87 Sigihilt: 86f. Sitte, Camillo (Stadtbaukünstler): 294f., 301 Sixtus IV. (Papst): 167 Speth, Dr. Paul (Landgerichtsarzt Günzburg): 333 Spieß, Dr. Joseph (Landgerichtsarzt Werdenfels): 355 Sponsel, Wilfried: 153 Sprandel, Viktor: 82 Stainlein (Vogt Naila): 108 Starrenberger, Andreas (Waldhirte, Aschenbrenner): 33f. Steidl (Familie München): 165 Steidle, Anton (Stadtpfarrer Weißenhorn): 71 Steiner, Thaddäus: 247 Stelzl, Hans (Dorfhirte): 20, 29 Stengel, von (Familie): 396 Stengel, Hermann von: 396 Stich, Andreas (Konditor): 57 Strasser (Händler Landshut): 94 Stübben, Joseph Hermann (Stadtplaner): 292, 294 Stury (Kirchenmaler): 71 - T - Thelemann, Heinrich von (Bayerischer Justizminister): 396 Toller, Ernst: 434 Trauchburg, Gabriele von: 246 Treitschke, Heinrich von (Historiker): 243 Tschammer und Osten, Hans von (Reichssportführer): 420, 423 - U - Udalschalk (Graf): 161 - V - Veit II. (Bischof Bamberg): 173 Venantius Fortunatus: 89 Villinger zu Seifriedsberg, Anna Scholastica: 162 Vog(e)l, Wilhalm (Händler Weilheim): 94f. Vogt, Dr. Friedrich August (Landgerichtsarzt Würzburg links des Mains): 348 - W - Wacker, Alexander (Kaufmännischer Direktor Schuckertwerke Nürnberg): 299 Wämpl, Sabina Richildis von (Tochter des Bürgermeisters von Landshut, Äbtissin Hohenwart): 165 Wagenknecht, Chonradt (Weinlieferant): 90 Wagner, Amalia (herrschaftliche Dienstmagd): 175-182, 184, 186f., 190-193 Wagner, Philip Frantz (Zeugmacher): 179f. Wagner, Rudolf: 153 Personenregister 466 Waibel, Balthasar (Reichsrat Kempten): 118-121 Waldenfelser zu Lichtenberg und Thierbach (Geschlecht): 105 Wallenreiter, Christian: 79f. Weber, Dr. Franz Anton (Landgerichtsarzt Marktbreit): 344 Weiß (Familie München): 165 Weißenhorner (Magistratsrat Weißenhorn): 69 Welf II. (Graf): 159 Weller (Familie München): 165 Wening, Michael: 37 Werder, Ludwig: 305 Werkmüller, Dieter: 246 Wildenstein, von (Geschlecht): 99, 103-110 Wilkus, Maria Johanna (Wirtin Mitwitz): 176-178, 184, 186 Willi, Gerhard: 312 Wiltrudis: 164 Wöhrnitz, M. Philipp: 57f. Wolff, Dr. Johann Baptist (Landgerichtsarzt Rain): 353 Würtzburg (Geschlecht): 174 Würtzburg, Georg Heinrich Wilhelm: 175 Würtzburg, Johann Ludwig Freiherr von: 175, 181, 192 Würtzburg, Johann Veit Freiherr von (Domdechant): 171, 174f., 178f., 183, 192 - Z - Zabitzer, Philipp Friedrich: 274 Zeltner, Georg Wolfgang (Verleger): 47 Zink, Dr. Clemens (Landgerichtsarzt Krumbach): 335 Zöllner, Dr. Joseph (Landgerichtsarzt Miltenberg): 345 Zolles, Hannß: 250 Ortsregister - A - Altenstadt (Kreis Neu-Ulm): 232-234 Altomünster (Kreis Dachau): 159 Amorbach/ Unterfranken (Landgericht älterer Ordnung): 341 Ansbach: 228, 275, 279 Aretsried (Lkr. Augsburg): 71 Augsburg: 43, 71, 123-148 (Stadtwald Augsburg), 195-205, 214, 328, 359, 423f., 429-441 - B - Babenhausen: 328 (Landgericht ä. O.) Bad Tölz: 36 Baiersdorf (bayreuthisch): 279 Bamberg: 184 Bayreuth: 279 Benediktbeuern (Kreis Bad Tölz - Wolfratshausen): 36 Bergen (Kreis Neuburg- Schrobenhausen): 155, 157f., 167 (kirchliche Gemeinschaft) Berlin: 44f. Bischofsheim: 341 (Landgericht ä. O.) Bissingen: 329 (Landgericht ä. O.) Bremen: 391 Bristol: 391 Burgau: 329f. (Landgericht ä. O.) Burggrub: 173f., 180, 252 Burgstall: 173 Burgthann (Kreis Nürnberger Land): 279 Burtenbach: 330 - C - Cadolzburg (Kreis Fürth): 250f., 279 Colmberg (Kreis Ansbach): 280 Crailsheim: 279 Creglingen (bayreuthisch): 280 Creußen (Kreis Bayreuth): 279 - D - Daßwang (Kreis Neumarkt in der Oberpfalz): 36 Dillingen: 71 Donauwörth: 151, 155f., 168 (kirchliche Frauengemeinschaft), 330 (Landgericht ä. O.) - E - Ebersberg: 161 (Stift) Edelstetten (Kreis Günzburg): 154 (Damenstift) Egling an der Paar: 451 (Landgericht ä. O.) Elgersdorf (Kreis Neustadt an der Aisch - Bad Windsheim): 250f., 253f., 257 Ellingen (Kreis Weißenburg- Gunzenhausen): 233-240 Ellrichshausen (Kreis Schwäbisch Hall): 28f. Eltersdorf (Kreis Erlangen): 256, 259 Emskirchen (Kreis Neustadt an der Aisch - Bad Windsheim): 251 Erasbach (Kreis Neumarkt in der Oberpfalz): 27 Erding (Kreis Erding): 92 Erlangen: 42, 46-52, 225-230, 279 Ortsregister 468 - F - Feuchtwangen (Kreis Ansbach): 279 Frankfurt am Main: 44, 184 Freising: 92, 348f. (Landgericht ä. O.) Friedberg (Bayern): 71 Fürstenfeldbruck: 349f. (Landgericht ä. O.) Fürth: 255f. (Landgericht ä. O.) Füssen: 331 (Landgericht ä. O.) - G - Garmisch: 95 Gefrees (Kreis Bayreuth): 279 Geilsheim (Kreis Ansbach): 245, 252 Geisenfeld (Kreis Pfaffenhofen an der Ilm): 155, 161, 167 (kirchliche Gemeinschaft) Gerchsheim (bei Tauberbischofsheim): 24 Gochsheim (Kreis Schweinfurt): 258 Göggingen: 331 (Landgericht ä. O., heute Stadtteil von Augsburg) Grönenbach: 332 (Landgericht ä. O.) Günzburg: 332f. (Landgericht ä. O.), 420f. Gunzenhausen (bayreuthisch): 279 - H - Halsheim (im Werntal bei Tüngen): 86 Hamburg: 44, 391 Hammelburg/ Oberfranken: 342 (Landgericht ä. O.) Hannover: 411 Hausen (im Rothenburgischen): 26 Hechingen: 262f. Heinrichshofen: 451 Helmbrechts (Kreis Hof): 279 Hersbruck (Kreis Nürnberger Land): 38 Herzenbach: 36 Höchstädt: 333 (Landgericht ä. O.) Hof: 99, 279 Hoheneck (bayreuthisch): 279 Hohentrüdingen (Kreis Weißenburg- Gunzenhausen): 279 Hohenwart: 151, 153-155, 157, 163- 166, 168 (kirchliche Gemeinschaft) Holzen, Kloster (Lkr. Augsburg): 151, 153, 166f. Hopferau (Kreis Ostallgäu): 71 - I - Illereichen (Kreis Neu-Ulm): 232-234 Illertissen: 334 (Landgericht ä. O.) Immenstadt (Kreis Oberallgäu): 217- 220 Imst: 94 Innsbruck (Österreich): 94 - K - Kaisheim (Kreis Donau-Ries): 151 (Reichsstift) Kaltenbrunn: 173 Kaufbeuren: 53, 80, 95 Kelheim: 92 Kempten: 42, 52-64, 111-121, 334f. (Landgericht ä. O.), 423 Kirchrüsselbach (Kreis Forchheim): 257f. Kitzingen: 343 (Landgericht ä. O.) Klingenberg: 343 (Landgericht ä. O.) Kloster Wald (Kreis Unterallgäu): 151, 153 Köln: 170, 184, 213 Kreuth: 36 Ortsregister 469 Krumbach (Kreis Günzburg): 68, 71, 75-83, 335 (Landgericht ä. O.) Kühbach: 151, 153-155, 157, 159, 160-163, 167f. (Kloster) Kulmbach: 279 Kunreuth: 252 - L - Landsberg: 350f. (Landgericht ä. O.) Landshut: 92, 94 Langenzenn (Kreis Fürth): 31 Laufen an der Salzach: 372-377 Lichtenberg (bayreuthisch): 279 Lindau am Bodensee: 55, 154 (Damenstift) - M - Mainbernheim (Kreis Kitzingen): 280 Mainz: 184 Markgröning (Baden-Württemberg): 36 Marktbreit: 343f. (Landgericht ä. O.) Marktheidenfeld: 344f. (Landgericht ä. O.) Markt-Oberdorf: 336 (Landgericht ä. O.) Marlesreuth (Kreis Hof): 100, 103 Martinsbuch (Kreis Dingolfing- Landau): 29f. Matting: 89f., 92 Memmingen: 39, 53, 55, 336 (Landgericht ä. O.) Merching (Lkr. Aichach-Friedberg): 71 Miltenberg: 345 (Landgericht ä. O.) Mindelheim: 336f. (Landgericht ä. O.) Mittelmünster: 161 (Stift) Mittelneufnach (Lkr. Augsburg): 244f. Mittenwald (Kreis Garmisch- Partenkirchen): 93f. Mitwitz (Kreis Kronach): 170f., 173- 175, 187f., 190, 251 Mönchsdeggingen (Kreis Donau- Ries): 151, 155-157, 168 (Kloster) Mommenheim (Rheinhessen): 88 Moosburg (Kreis Freising): 92 Moritzing (bei Bozen in Südtirol): 91 Münchberg (Kreis Hof): 279 München: 71f., 95, 351 (links der Isar, Landgericht ä. O.) Münnerstadt (südlich der Saale): 86f. Murnau: 36, 94 Muttensweiler (Kreis Biberach an der Riß): 71 - N - Naila (Kreis Hof): 102f., 107f., 110, 279 Nestelreuth (Kreis Hof): 100, 103, 105-110 Neuburg (Kloster): 153-157, 162, 168 Neuburg an der Donau: 151, 352 (Landgericht ä. O.) Neuhof (bayreuthisch): 279 Neundorf: 173 Neuss (kurkölnisch): 195, 205-214 Neustadt an der Aisch: 279 Neustadt am Kulm (Kreis Neustadt an der Waldnaab): 279 Neu-Ulm: 71 Niklashausen: 34 Nördlingen: 151 Nürnberg: 81, 94, 291f., 298, 298- 310, 355 (Landgericht ä. O.) Ortsregister 470 - O - Oberammergau: 261 Oberdischingen (Alb-Donau-Kreis): 231f. Oberferrieden (Kreis Nürnberger Land): 257 Obergünzburg (Kreis Ostallgäu): 55, 337 (Landgericht ä. O.) Obermässing (Kreis Roth): 254 Oberndorf (an der Donau): 89-92 Oberrüsselbach (Kreis Forchheim): 257 Oberschönenfeld (Lkr. Augsburg): 23 (Kloster) Oldenburg: 51 Osterdorf (Kreis Weißenburg- Gunzenhausen): 30f. Ottobeuren: 337f. (Landgericht ä. O.) - P - Partenkirchen: 95 Pegnitz (Kreis Bayreuth): 279 Pfaffenhofen an der Ilm: 91 Pfronten: 331 Pommelsbrunn (Kreis Nürnberger Land): 252, 254 Prien: 352f. (Landgericht ä. O.) Prüfening: 89 (Kloster) Prühl (Kreis Neustadt an der Aisch - Bad Windsheim): 258f. - R - Rabenstein (Kreis Regen): 33f. Rain am Lech: 353 (Landgericht ä. O.) Raitenbuch (Nähe Eichstätt): 253, 257 Ravensburg: 55 Rechbergreuthen (Kreis Günzburg): 220-222 Rinchnach (Kreis Regen): 36 Rittsteig (Kreis Cham): 36 Roggenburg: 338f. (Landgericht ä. O.) Roth (Kreis Bayreuth): 279 Rotschreuth (Kreis Kronach): 173 - S - Schauenstein (Kreis Hof): 279 Schnabelwaid (Kreis Bayreuth): 279 Schongau: 95, 354 (Landgericht ä. O.) Schottenhammer (Kreis Hof): 108 Schwabach: 279 Schwärzdorf (Kreis Kronach): 173 Senden (Kreis Neu-Ulm): 71 Senndorf: 258 Siegenburg (Kreis Kelheim): 92 Stadtprozelten: 345f. (Landgericht ä. O.) Starnberg: 95 Stauf (Nähe Bayreuth): 279 St. Johannis (Nähe Bayreuth): 279 - T - Thierhaupten (Lkr. Augsburg): 154 (Kloster) Tückelhausen (Kreis Würzburg): 87 Tünzling (Kreis Regensburg): 92 Türkheim: 339f. (Landgericht ä. O.) - U - Uffenheim (Kreis Neustadt an der Aisch - Bad Windsheim): 279 Unterferrieden (Kreis Nürnberger Land): 257 Unterliezheim (Kreis Dillingen an der Donau): 151, 153, 155f., 158f., 168 Ortsregister 471 - V - Vierzehnheiligen (Kreis Lichtenfels): 33 (Wallfahrtsort) Vogtsreichenbach (Kreis Fürth): 254f., 258 Volkach: 346 (Landgericht ä. O.) - W - Waldkirch (Kreis Günzburg): 224 Wallerstein (Kreis Donau-Ries): 230f. Warzenried (Kreis Cham): 19f., 29 Wassertrüdingen (Kreis Ansbach): 279 Weigenheim (Kreis Neustadt an der Aisch - Bad Windsheim): 26 Weilheim: 94, 354 (Landgericht ä. O.) Weingarten: 252f. Weißenburg (Kreis Weißenburg- Gunzenhausen): 260f. Weißenhorn (Kreis Neu-Ulm): 67-83 Werdenfels: 354 (Landgericht ä. O.) Wertingen: 340 (Landgericht ä. O.) Wien: 44 Wiersberg (Nähe Bayreuth): 279 Wilting (Kreis Cham): 36 Windsbach (Kreis Ansbach): 280 Windsheim (Kreis Neustadt an der Aisch - Bad Windsheim): 64f. Winterbach (Kreis Günzburg): 224 Wolfratshausen (Kreis Bad Tölz - Wolfratshausen): 93f. Würzburg: 174, 184, 347f. (links des Mains, Landgericht ä. O.) Wunsiedel: 279 - Z - Zornheim: 88 Zusmarshausen: 340 (Landgericht ä. O.)